Bücher am Sonntag - Neue Zürcher Zeitung

Transcription

Bücher am Sonntag - Neue Zürcher Zeitung
Nr. 10 | 24. November 2013
NZZ am Sonntag
John le Carré
Seit 50 Jahren
Autor von
Spionagekrimis
4
Geschenktipp
Literatur für
Kinder und
Jugendliche
14/15
Bernhard Bueb
Interview über
die Macht
der Ehrlichen
16–18
Karl der Grosse
Neue Bücher
zum Kaiser des
Abendlandes
20/21
Bücher
am Sonntag
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Jussi Adler-O
Erwartung
Nicholas Sparks
Kein Ort ohne dich
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Jonas Jonasson
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Die Analphabetin
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die rechnen konn
Jojo Moyes
Eine Handvoll
Worte
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Cecelia Ahern
Die Liebe deines
Lebens
Jo Nesbo/
Koma
Alle Preise inkl. MwSt. und ohne Gewähr.
&
Wünschen
Schenken
Inhalt
Lesen Sie über
Spione, Pädagogen
und mutige Kinder
John le Carré
(Seite 4).
Illustration von
André Carrilho
Belletristik
4
7
8
9
10
11
12
13
John le Carré: Empfindliche Wahrheit
John le Carré: Der Spion, der aus der Kälte kam
Von Peter Studer
Lisa O’Donnell: Bienensterben
Von Simone von Büren
Annette Pehnt: Lexikon der Angst
Von Manfred Koch
Abbé Prévost: Manon Lescaut
Von Stefana Sabin
Hervé Le Tellier: Neun Tage in Lissabon
Von Martin Zingg
Inez van Lamsweerde, Vinoodh Matadin:
Pretty Much Everything
Von Gerhard Mack
Dieter Zwicky: Slugo
Von Bruno Steiger
Otto Frei: Bis sich Nacht in die Augen senkt
Von Manfred Papst
E-Krimi des Monats
Gillian Flynn: Gone Girl
Von Christine Brand
Kurzkritiken Belletristik
13 Charles Bukowski: Das weingetränkte Notizbuch
Von Manfred Papst
Pedro Lenz: I bi meh aus eine
Von Regula Freuler
David Vogel: Eine Wiener Romanze
Von Regula Freuler
Rainer Malkowski: Aphorismen und kleine Prosa
Von Manfred Papst
Kinder- und Jugendbuch
14 Gary Ghislain: Wie ich Johnny Depps Alien-Braut
abschleppte
Von Daniel Ammann
Oliver Scherz: Ben
Von Christine Knödler
Alice Gabathuler: no_way_out
Von Verena Hoenig
Mit «Der Spion, der aus der Kälte kam» gelang John le Carré 1963 ein Welterfolg. Der Thriller spielte im Berlin der 1960er Jahre kurz nach dem Bau
der Mauer, als westliche und östliche Agenten wie Schachfiguren im
zynischen Spiel der Geheimdienste geopfert wurden. 50 Jahre später
erscheint nun der Klassiker, den le Carré in fünf Wochen niedergeschrieben
hatte, in einer mit Dokumenten angereicherten Neuausgabe. Fast gleichzeitig mit seinem neusten 25. Spionageroman: «Empfindliche Wahrheit».
Peter Studer, ein eingefleischter le-Carré-Fan, rezensiert für uns den
packenden Band (Seite 4).
Um Wahrheit und Lüge geht es auch im Gespräch mit Bernhard Bueb über
sein neues Buch «Die Macht der Ehrlichen». Aha, werden Sie denken, das
ist doch dieser Salem-Schulleiter vom Bodensee, der mit seinem «Lob der
Disziplin» die Empörung der deutschen Erzieherkaste auf sich gezogen
hatte. Ja, aber lassen Sie sich überraschen: Bueb kann man auch als
exzellenten Reformpädagogen lesen (S. 16).
Ebenfalls am Bodensee spielen die fünf Steckborner Erzählungen von Otto
Frei, die uns Manfred Papst ans Herz legt (S. 12). Empfehlen können wir
Ihnen nicht zuletzt ein Dutzend Kinder- und Jugendbücher, denen wir wie
immer vor Weihnachten eine Doppelseite widmen (S. 14/15). – Wir
wünschen Ihnen bis zur nächsten Ausgabe von «Bücher am Sonntag» am
26. Januar möglichst viele behagliche Lesestunden! Urs Rauber
Marian de Smet: Kein Empfang
Von Andrea Lüthi
Robert Louis Stevenson: Die Schatzinsel
Von Hans ten Doornkaat
15 Michael Madeja u.a.: Denkste?!
Alexander Rösler u.a.: 29 Fenster zum Gehirn
Von Sabine Sütterlin
Max Kruse: Urmel saust durch die Zeit
Von Andrea Lüthi
Virginie Aladjidi u.a.: Birke, Buche, Baobab
Von Andrea Lüthi
Sonja Eismann u.a.:
Glückwunsch, du bist ein
Mädchen!
Von Christine Knödler
Adam Jaromir: Fräulein
Esthers letzte Vorstellung
Von Verena Hoenig
Interview
16 Bernhard Bueb, Reformpädagoge
Die Wahrheit kommt nicht von selbst
ans Licht
Von Urs Rauber
Kolumne
19 Charles Lewinsky
Das Zitat von Ezra Pound
Kurzkritiken Sachbuch
19 Martin Meyer: Die Welt verstehen
Von Manfred Papst
Joseph Jung: Alfred Eschers Briefwechsel
1852–1866
Von Urs Rauber
Verena Wermuth: Wiedersehen mit Scheich
Khalid
Von Urs Rauber
Susan Sontag: Ich schreibe, um herauszufinden,
was ich denke
Von Kathrin Meier-Rust
Sachbuch
20 Die Zeit Karls des Grossen in der Schweiz
Johannes Fried: Karl der Grosse
Stefan Weinfurter: Karl der Grosse
Steffen Patzold: Ich und Karl der Grosse
Von Alexis Schwarzenbach
22 Barbara Thoma: Selma Lagerlöf
Von Kathrin Meier-Rust
23 Hans Küng: Erlebte Menschlichkeit
Von Klara Obermüller
24 Carlo von Ah: Durch Dschungel und Intrigen
Von Urs Rauber
Florian Fisch: Ein Versuch
Von Patrick Imhasly
26 Ronen Steinke: Fritz Bauer oder Auschwitz vor
Gericht
Devin O. Pendas: Der Auschwitz-Prozess
Von Claudia Kühner
27 Patrick Braun, Axel Christoph Gampp:
Emilie Linder 1797–1867
Von Geneviève Lüscher
28 WolfgangSchuller:Cicero
Von Janika Gelinek
Udo Wachtveitl u.a.: Schauplatz Tatort
Von David Strohm
29 Sytze van der Zee: Schmerz
Von Sieglinde Geisel
30 Adam Grant: Geben und Nehmen
Von Michael Holmes
Das amerikanische Buch
Diane Ravitch: Reign of Error. The Hoax of the
Privatization Movement
Michele Rhee: Radical
Von Andreas Mink
Agenda
31 Elisabeth Fülscher: Kochbuch
Von Kathrin Meier-Rust
Bestseller November 2013
Belletristik und Sachbuch
Agenda Dezember 2013
Veranstaltungshinweise
Chefredaktion Felix E.Müller (fem.) Redaktion Urs Rauber (ura.) (Leitung), Regula Freuler (ruf.), Geneviève Lüscher (glü.), Kathrin Meier-Rust (kmr.), Manfred Papst (pap.)
Ständige Mitarbeit Urs Altermatt, Urs Bitterli, Manfred Koch, Gunhild Kübler, Sandra Leis, Charles Lewinsky, Beatrix Mesmer, Andreas Mink, Klara Obermüller, Angelika Overath,
Martin Zingg Produktion Eveline Roth, Hans Peter Hösli (Art Director), Susanne Meures (Bildredaktion), Manuela Klingler (Layout), Korrektorat St.Galler Tagblatt AG
Verlag NZZ am Sonntag, «Bücher am Sonntag», Postfach, 8021 Zürich, Telefon 0442581111, Fax 0442617070, E-Mail: [email protected]
24. November 2013 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3
Belletristik
Spionageroman Der Kalte Krieg ist Geschichte – und mit ihm der literarische Thriller rund um den Eisernen
Vorhang. Doch John le Carré meldet sich zurück mit einem Plot über Verbrechen im eigenen Land
Vom Kalten Krieg zur
John le Carré: Empfindliche Wahrheit.
Ullstein, Berlin 2013. 394 Seiten,
Fr. 39.90, E-Book 24.40.
John le Carré: Der Spion, der aus der Kälte
kam. Neuauflage mit neuem Vorwort
und Materialien. Ullstein, Berlin 2013.
280 Seiten, Fr. 25.90, E-Book 22.–.
Von Peter Studer
Während täglich neue belegte oder
vermutete Abhörgeschichten aus dem
Privatarchiv des geflüchteten USNachrichtenmanns Edward Snowden erscheinen, mutet le Carrés neuer Thriller
an wie eine vorausgeschriebene Erfindung, die Snowdens Enthüllungen ins
Epische übersetzt. Simon Jenkins vom
linksliberalen «Guardian» bestätigt den
Befund: «Der Autor hat die alten Gewissheiten des Kalten Kriegs hinter sich gelassen und stapft im moralischen Sumpf
rund um den Strahlemann Tony Blair
herum. Der Held, ein junger Diplomat
namens Toby Bell, wirkt wie ein lebendig
gewordener Snowden.»
Worauf spielt der Originaltitel «A Delicate Truth» eigentlich an? Delikat ist,
dass das Personal des Romans nicht
mehr in Versuchung gerät, Gut und Böse,
Richtig und Falsch nach den Fahnen der
ideologischen Lager zu benennen. Le
John le Carré
John le Carré, 1931 in England geboren,
wuchs als Sohn eines wegen Betrugs einsitzenden Vaters und ohne Mutter auf. 1948/49
studierte er in Bern Germanistik. 1950 liess
er sich vom britischen Nachrichtendienst im
besetzten Österreich anstellen. 1963 publizierte er den Bestseller «Der Spion, der aus
der Kälte kam». Es folgten 20 weitere Bücher,
etliche verfilmt. Eines befasste sich mit dem
Schweizer Fall Jeanmaire («Ein guter Soldat»,
1992). Dieses Jahr erschien «Empfindliche
Wahrheit». Die Universität Bern ernannte
ihn 2008 zum Ehrendoktor; 2011 erhielt er
die Goethe-Medaille für sein Lebenswerk.
4 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. November 2013
Carré, der kürzlich der schmucken, mit
Dokumenten angereicherten Neuausgabe von «Der Spion, der aus der Kälte
kam» ein Vorwort mitgab, blickt amüsiert 50 Jahre zurück: Alle echten und
vermeintlichen Experten glaubten damals, hier breite ein Spion seine eigenen
Erlebnisse aus. Das stimmte überhaupt
nicht. «Meine Vorgesetzten hatten den
binnen fünf Wochen niedergeschriebenen Text des kleinen Botschaftssekretärs
in Bonn (meine damalige Tarnung) nur
freigegeben, weil er keine persönliche
Erfahrung wiedergab und somit nicht
gegen die Sicherheitsvorschriften verstiess.» Wenig später verliess le Carré den
Geheimdienst und tat, was er schon
immer tun wollte: schreiben. Längst hat
er sich neben die Pioniere des Fachs gestellt, neben Joseph Conrad, Somerset
Maugham und Graham Greene.
In seinen nächsten Büchern, angefangen mit «Dame, König, As, Spion», baute
le Carré eine Pseudokulisse des britischen Geheimdienstes auf («Der Zirkus»), setzte den alten Geheimdienstmann George Smiley in das Zentrum der
Dramaturgie und liess ihn dem motivisch
halbwegs verwandten sowjetischen Widerpart mit dem Decknamen Karla nachspüren. Alec Guinness verkörperte den
unergründlichen, aber nicht unsympathischen Smiley im Film. Es tauchten Figuren auf, die von ferne an legendäre britische Doppelagenten und Verräter während der 50er bis 70er Jahre erinnerten.
Knappe Prosa
Aber mit dem Ende des Kalten Kriegs
ging der Autor keineswegs in Pension.
Hatte er schon vorher kritisch in britische und koloniale Milieus hineingeleuchtet – immer vor der Folie des OstWest-Konflikts –, so wandte er sich jetzt
voll den gefährlichen Strahlungen der
eigenen Gier- und Konsumgesellschaft
zu. Gewiss, oft in fremdartigen Landschaften, aber immer mit Rückschlüssen
auf vertraute Themen und Akteure. «Der
ewige Gärtner» (2001) beschrieb das Unwesen einer globalen Pharmaziefirma in
Kenia, die Tuberkulosemedikamente mit
Nebenfolgen insgeheim an Afrikanern
ausprobierte; eine grüne Aktivistin, Gattin eines britischen Botschaftssekretärs,
entdeckte den Skandal und wurde ermordet. Ihr Mann machte sich auf die
Spur und stiess auf Verzweigungen bis
ins britische Foreign Office.
Im Nachwort schrieb le Carré trocken:
«Beim Vergleich mit der Realität erweist
sich mein Szenario als harmlose Ferienpostkarte.» «Empfindliche Wahrheit»
nun, le Carrés neues Buch, erinnert in
der raffinierten Personenzeichnung und
knappen Prosa an die besten früheren
Werke des Autors. «Erster Akt (2008),
Erste Szene, Gibraltar»: Der etwas langweilige britische alt Diplomat Christopher, Kit für seine Freunde, wird von Junior Foreign Minister Fergus, einem ehrgeizigen Labour-Mann, für die vertrauliche «Sonderaktion Wildlife» rekrutiert;
sein Deckname ist Paul. Auf Gibraltar soll
er zusammen mit Männern von den Special Forces bei der nächtlichen Festnahme eines gefährlichen mittelöstlichen
Waffenhändlers zuschauen, sozusagen
Internetspionage
«Zweiter Akt, erste Szene, ein Städtchen in Cornwall, drei Jahre später»: Sir
Christopher Kit und seine moralfeste
Frau haben sich in ein geerbtes Herrenhaus zurückgezogen und machen als Ehrengäste an Feiern des Städtchens mit.
Hier hängt der Text etwas durch; das Behagen des Schilderers hängt vielleicht
damit zusammen, dass le Carré selber in
Cornwall wohnt. Ein Hausierer bietet
Ledersachen feil und gibt sich dem abwehrenden Sir Christopher als Unteroffizier des damaligen Special-Forces-Team
auf Gibraltar zu erkennen.
Das Böse mitten unter uns
als beamteter Aufseher. Eine private
amerikanische Sicherheitsfirma, ominös
Ethical Outcomes geheissen, wirkt mit.
Auch ein CIA-Trupp soll von einem Schiff
aus landen. Paul fragt sich, ob Her
Majesty’s Militäroperationen jetzt als
«public private partnership» geführt
würden. Alles ist unklar: Kompetenzen,
Zielobjekt, Drehbuch. Schüsse fallen.
Paul wird in einem Auto schnell weggefahren. «Mission gelungen», versichert
man ihm, ohne dass er Genaueres erfährt. Lohn: Adelstitel für Kit alias Paul,
netter Botschaftsposten in der Karibik,
Pensionierung.
«Erster Akt, Zweite Szene, London,
Foreign Office»: Toby Bell rückt nach ersten Anfängerposten in der Diplomatie
zum Privatsekretär des Junior Ministers
Fergus auf. Toby kann’s mit den Damen,
ist aber Idealist und «will etwas Nützliches bewirken». Der Junior Minister, der
sich oft einschliesst und auf rätselhafte
Auslandreisen fliegt, hat immer wieder
merkwürdigen Umgang, wie Toby feststellt. Ethical Outcomes und eine bizarre
christliche Milliardärin tauchen auf. Vage
Gerüchte über Fergus wollen nicht verstummen. Man bedeutet Toby, sich nicht
um die Sache zu kümmern.
Der neue Thriller
von John le Carré
beginnt in Gibraltar
und endet nach
spannungsgeladenen
Jagden in London.
«Mission gelungen» damals? Keineswegs. Peinliches oder verbrecherisches
Resultat: Es entstand «Collateral damage», Zufallsschaden einer schlecht geplanten Operation. (Die täglichen dürren
Communiqués über zivile Drohnenopfer
in Afghanistan schieben sich in den Lesevorgang). Eine arabische Flüchtlingsfrau
mit Kind war irrtümlich erschossen worden. Der Unteroffizier und Sir Christopher wollen jetzt doch noch das Foreign
Office, notfalls die Öffentlichkeit, einschalten. Der Unteroffizier stirbt in
Schottland unter mysteriösen Umständen – amtlicher Mord, folgert Toby vor
Ort. Mit einer etwas halsbrecherischen
Dramaturgie – John Banville, einer der
meistgepriesenen britischen Autoren,
nennt sie «fehlerhaft» – hat sich unversehens der junge Toby eingemischt und
geht Kit zur Hand.
«Dritter Akt, London»: Toby wird binnen kurzem zum Hauptakteur. Die Ereignisse überschlagen sich. Das Foreign Office wiegelt ab. Alle werden immer und
überall abgehört. Die private Söldnertruppe Ethical Outcomes, die in einer
staatlichen Armeegarnison residiert, jagt
Toby, der sich mit Sir Christophers Tochter verbündet. Die Spannung steigt.
Im Vergleich zum «Spion, der aus der
Kälte kam» sitzt hier das Böse nicht beidseits eines Eisernen Vorhangs, sondern –
mit Fragezeichen – manchmal vielleicht
auch im gemütlichen Grossbritannien.
Jetzt, fast 50 Jahre später, macht es sich
frech mitten in den eigenen Institutionen breit und nutzt deren Instrumente:
Polizei, Personal, Geheimniskult, Drohnen, digitale Hochtechnologie. Wohin
führt das noch? Grosse Hoffnungen
macht der 82-jährige John le Carré weder
sich noch uns. ●
Peter Studer, früher Chefredaktor des
«Tages-Anzeigers» und des Schweizer
Fernsehens, doziert heute Medienrecht
an der Universität St.Gallen.
24. November 2013 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 5
Geschenke
entdecken
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Belletristik
Roman Die Britin Lisa O’Donnell schreibt in
ihrem Erstling mit scharfem Witz
Wenneinem
die«Lottereltern»
fehlen
Lisa O’Donnell: Bienensterben. Aus dem
Englischen von Stefanie Jacobs. Dumont,
Köln 2013. 320 Seiten, Fr. 25.90,
E-Book 22.–.
Aus einer tragischen
Vergangenheit in eine
erträgliche Zukunft:
zwei Schwestern an
einem heiklen Punkt
ihrer Entwicklung.
ALLESALLTAG
Von Simone von Büren
Marnie ist fünfzehn, «zu jung zum Rauchen, zu jung zum Trinken und zu jung
zum Ficken», und tut doch alles bereits.
Ausserdem nimmt sie Ecstasy und «hier
und da mal ein paar Benzos». Um sich
den Sozialdienst vom Leib zu halten, arbeitet sie für einen drogendealenden Eisverkäufer in einer sozial benachteiligten
Gegend Glasgows.
Die abgehärtete Protagonistin von
Lisa O’Donnells Debütroman «Bienensterben» ist die neuste in einer Reihe von
Teenagern aus sozialen Krisenverhältnissen in der zeitgenössischen britischen
Literatur. In einer provokativen Mischung aus Trotz, Humor und Wut
schleudert sie uns ihre Situation entgegen: «Es ist nicht leicht, wenn die eigenen Eltern im Garten vermodern und keiner darf was merken.» Zusammen mit
ihrer jüngeren Schwester hat sie die mit
Drogen vollgepumpten Körper in flachen
Gräbern vergraben und das Haus mit literweise Bleiche geputzt, ohne den Gestank wegzukriegen.
Wie «die Lottereltern» umgekommen
sind und was sie auf dem Gewissen
haben, erfahren die meisten Romanfiguren gar nie und der Leser erst spät. Denn
Marnie und ihre seltsame Schwester
Nelly, die so fanatisch Geige spielt, wie
sie ihren Körper hasst, was – so ahnt man
– wohl mit einem väterlichen Missbrauch
zusammenhängt, halten ihr Geheimnis
unter Verschluss. Sogar gegenüber dem
älteren schwulen Nachbarn Lennie, der
sich liebevoll um sie zu kümmern beginnt.
O’Donnell stellt Marnies eigenwilliger
Stimme die weit weniger überzeugenden
von Nelly und Lennie gegenüber. Nelly
wirkt in ihrer Naivität und ihrer altmodischen Sprechweise konstruiert. Und
Lennie, der sich an seinen verstorbenen
Geliebten wendet, wird zu oft dazu benutzt, Informationen zu vermitteln oder
Bilanz zu ziehen, was ihn als Figur
schwächt. Interessant ist jedoch das Geflecht von Lügen, gegenseitigen Beobachtungen und Unterstellungen, das die
schottische Autorin zwischen den drei
Erzählern webt. Der Leser sieht, wer was
verschweigt oder missversteht, wer wen
belügt oder verdächtigt. Denn so misstrauisch die Figuren einander und der
Welt gegenüber sind, so ungeschützt
äussern sie sich in ihren Gedankenprotokollen: Marnie, die sich aller Welt
als abgebrühte Kämpferin präsentiert,
gesteht hier, dass ihr ihre Eltern, «diese
zwei abartigen Personen», fehlen. Die
scheinbar gefügige Nelly plant heimlich,
das Ruder zu übernehmen. Und Lennie,
der Kuchen backende Gutmensch, bereut einen Moment mit offener Hose auf
einer Kinderschaukel im Park.
In diesen intimen Äusserungen
kommt das Ambivalente zum Ausdruck,
das auch O’Donnells Nebenfiguren prägt
«Schlicht das beste
Buch des Jahres.»
Schweizer Buchhandel
Buchtaufe
Donnerstag, 5. Dezember 2013, 19.30
Mit Urs Allemann, Endo Anaconda,
Isabelle Menke, Roger Perret, Schifer Schafer
Migros-Hochhaus Limmatplatz, Zürich
Reservation www.literaturhaus.ch
Moderne Poesie in der Schweiz | Eine Anthologie von Roger Perret
640 Seiten | 40 Abbildungen vierfarbig und s/w | Leinen | Fr. 54.– | www.limmatverlag.ch
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und eine Einteilung der Welt in Schwarz
und Weiss erschwert: der russische Lehrer, der Marnie bei den Prüfungen hilft,
aber Drogen handelt, weil er als Asylant
in Schottland nicht unterrichten darf.
Oder der streng religiöse Grossvater, der
sich plötzlich um die Mädchen kümmern
will, um das Vergehen an deren Mutter
wiedergutzumachen, das sie ihm nicht
zu verzeihen bereit sind. O’Donnells Figuren und ihre Biografien werfen alle
möglichen moralischen Dilemmata auf:
Kann man Drogengeld benutzen, um die
Miete zu bezahlen? Darf man zwei vernachlässigte Kinder betreuen, ohne den
Sozialdienst zu benachrichtigen? Soll
man die Lüge eines andern stehen lassen, wenn sie einem das Leben rettet?
O’Donnell zeigt die Schwestern an
einem heiklen Punkt ihrer Entwicklung.
Sie sind drauf und dran, dieselben Fehler
zu begehen, die die älteren Figuren bereuen. «Mit meiner Vorgeschichte müsste ich eigentlich eine Serienmörderin
sein», sagt Marnie. Dass sie es nicht ist,
macht das Hoffnungsvolle dieses starken, wenn auch sprachlich etwas holprigen Debüts aus, in dem Abgründiges und
Grausames auf scharfen Humor trifft und
auf einen trotzigen Glauben an die Fähigkeit der Mädchen, sich herauszuarbeiten
aus einer tragischen Vergangenheit in
eine erträglichere Zukunft. ●
«Wir Leser, wir sind
dankbar, dass diese
Texte endlich dem
Vergessen entrissen
wurden. Wir ahnen,
da wurde ein Schatz
gehoben.»
Elke Heidenreich
Alfonsina Storni | Meine Seele hat kein Geschlecht | Erzählungen, Kolumnen, Provokationen
Herausgegeben, übersetzt und eingeleitet von Hildegard Elisabeth Keller | 320 Seiten | Leinen
Fr. 44.– | www. limmatverlag.ch
24. November 2013 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 7
Belletristik
Kurzgeschichten Annette Pehnt erkundet die
Abgründe der Seele
DieAngstvor
derbrennenden
Herdplatte
Annette Pehnt: Lexikon der Angst. Piper,
München 2013. 176 Seiten, Fr. 27.90,
E-Book 16.–.
Von Manfred Koch
«In der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden»,
spricht Jesus Christus in der Bibel. Die
moderne Existenzphilosophie – von
Kierkegaard über Heidegger bis Sartre –
ist nicht mehr getrost, sie hat die Angst
konsequent zur Grundbefindlichkeit des
menschlichen Daseins erklärt. In der
Welt sein, so lesen wir es bei Heidegger,
heisst Angst haben, Angst gerade auch
vor jener unheimlichen Gabe der Freiheit, über die der Mensch im Unterschied
zum instinktgeleiteten Tier verfügt. Wir
können unser Leben frei gestalten, in bestimmten Grenzen alles Mögliche aus
uns machen. Wir können uns grundsätzlich aber auch vor allem und jedem
fürchten. Vermutlich ist das eine nur die
Kehrseite des anderen.
Phobien von A bis Z
Annette Pehnts neuestes Buch wartet
mit vielen ungewöhnlichen Ängsten auf:
der Angst vor dem Weiss der Milch. Der
Angst vor explodierenden Frühlingsknospen. Der Angst einer Tochter vor
den Kaugeräuschen ihrer Mutter (die,
auf ein Zuckerstück beissend, wiederum
Angst vor der unwirschen Reaktion der
Tochter hat). Daneben gibt es in Pehnts
«Lexikon der Angst» aber auch die jedermann vertrauten Ängste, die vor allem
«Angst um» sind: die Furcht, den eigenen Kindern, dem Partner, dem geliebten Haustier könnte etwas zustossen.
Und schliesslich begegnen wir den kleinen Verstörungen und Abwehrreaktionen, die unser Alltagsleben durchlöchern. Habe ich vergessen, den Herd auszuschalten, als ich die Wohnung verlassen habe? Wird von mir im Taxi erwartet,
dass ich mit dem Fahrer rede? Muss ich
der Einladung der Nachbarn zum Grillabend auf ihrem Balkon Folge leisten?
Pehnt schildert diese Befindlichkeiten
nicht als persönliches Erleben, sondern
anhand der Heldinnen und Helden von
45 Kurzgeschichten, die – mit zwei Ausnahmen – jeweils nur ein einziges Wort
als Titel haben. Daraus ergibt sich die alphabetische, «lexikalische» Anordnung.
Am Ende steht ein Gedicht, «Zittern», das
nach dem Muster von Brechts berühmtem Poem «Vergnügungen» beängstigende Vorstellungen aneinanderreiht: «Den
eigenen Bruder mit dem falschen Namen
begrüssen. / Den Hund in der Tür zerquetschen. / Schweigend beim Essen sitzen. / Streitend beim Essen sitzen. / Gar
nicht beim Essen sitzen. / Im Restaurant
deutlich hörbar furzen müssen. / Einen
Körperteil abgetrennt bekommen. / Sich
beim Verwelken zusehen.»
Die Schlusszeile lautet lakonisch: «Zittern, einfach so.» Die gleichmütige Haltung, mit der hier Schlimmes und Harmloses auf einer Ebene abgehandelt wird,
bestimmt auch den Ton der Geschichten.
Da ist die Frau, die an Verfolgungswahn
leidet und ihren Vermieter verdächtigt,
heimlich ihre Unterwäsche zu entwenden. Da ist der Mann, der beständig «ein
hohes Sirren von elektronischer Gleichförmigkeit im linken Ohr» hört und
Erlösung allenfalls im «wohltuenden
Brausen» des Stadtverkehrs findet. Die
Gedanken- und Gefühlswelt dieser
Annette Pehnt kleidet fixe Ideen, die uns im Alltag begleiten, in bisweilen
surreale Geschichten.
Unglücksfiguren wird mit der gleichen
unpathetischen Aufmerksamkeit dargelegt wie diejenige der «Gesunden», die
nur schüchtern sind oder verbreitete fixe
Ideen pflegen (die brennende Herdplatte). Vor dem Auge dieser Erzählerin
haben alle Ängste ihre eigene Würde.
Lohnende Spracharbeit
Bewusst mischt Pehnt auch ausgesprochen surreale Geschichten darunter.
Eine Frau bekämpft ihre Weltangst,
indem sie sich einen «schiefen Indianer»
zulegt, der nur leider nicht spricht und
sogleich, einer verwelkten Pflanze
gleich, an ihrer Seite einschläft. Ein
«Die tragische Biografie hat das Zeug zu einem Roman.» Schweizer Illustrierte
Sie war die selbstbewusste Tochter eines mächtigen Pioniers, die unterforderte Ehefrau eines
farblosen Bundesrat-Sohnes sowie für wenige Tage
glückliche Geliebte eines leidenschaftlichen
Künstlers, mit dem gemeinsam sie die Flucht nach
Rom ergriff: Lydia Welti-Escher. Doch der Preis
für den Versuch eines selbstbestimmten Lebens
war ihr früher Tod.
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Joseph Jung
Lydia Welti-Escher (1858–1891)
Mit einer Einführung
von Hildegard Elisabeth Keller
Neuausgabe 2013. 270 Seiten,
153 Abbildungen, Halbleinen
Format 17 × 24 cm
Fr. 39.–* / € 34.–
nzz-libro.ch
8 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. November 2013
GETTYIMAGES
EUGENE DELACROIX / LOUVRE
Mann fürchtet nichts mehr als den Schatten, den seine Mitmenschen und die
Dinge um ihn herum werfen. Zu selten
gelingt es Pehnt hier, das Absurde so ins
Extrem zu treiben, dass es poetische
Funken schlägt. Überzeugender sind die
Passagen, in denen die ganz normalen,
alltäglichen Ängste sinnlich spürbar gemacht werden. Worin verdichtet sich der
Widerwille der Frau gegen die Einladung
zum nachbarlichen Grillfest? In der Erinnerung an ihren ersten Besuch, bei dem
man ihr, kaum dass sie eingetreten war,
«schon etwas zwischen die Finger geschoben hatte, Lammkotelett in einer
Serviette, die sich am heissen Fleischrand
auflöste, jemand goss ihr Ketchup über
die Hand, lass es dir schmecken, wie
heisst du eigentlich, du wohnst da drüben, wir haben was zu feiern».
Was tut eine Mutter, die ihren Sohn zu
verlieren fürchtet, nicht plötzlich, durch
einen Unfall, sondern ganz selbstverständlich durchs Erwachsenwerden? Sie
beginnt, an ihm zu riechen, wenn er
abends nach Hause kommt, auf der
Suche nach Spuren von Nikotin, Alkohol
oder anderen Drogen. «Aber er wich zurück und wollte nicht mehr umarmt werden, und so presste sie nur seine Kleider
an ihr Gesicht, bevor sie in die Wäsche
kamen, atmete tief ein und schämte sich
ihres Verdachts und roch doch nur den
sauren Achselschweiss eines Mannes,
der neulich noch ein Kind gewesen war.»
In solchen Abschnitten, solchen Gesten nehmen gerade die unscheinbaren
Ängste literarische Gestalt an. «Man
kann an allem arbeiten, auch an der
Angst», sagt eine der Figuren. Pehnts
Buch zeigt, dass die Spracharbeit der lohnendste Weg ist. ●
Manon Lescaut ist eine Femme fatale, die ihre Liebhaber ins Unglück reisst. Im Bild eine Kurtisane des 19. Jahrhunderts, gemalt
von Eugene Delacroix.
Roman Abbé Prévosts berühmte, vielleicht biografische Liebesgeschichte
Getrieben von Gier und Luxus
Abbé Prévost: Manon Lescaut. Aus dem
Französischen von Jörg Trobitius.
Manesse, Zürich 2013. 384 Seiten,
Fr. 34.90.
Von Stefana Sabin
Er war ein Dichter-Abenteurer wie Casanova und Da Ponte und wechselte zwischen einer militärischen und einer
geistlichen Existenz: Antoine-François
Prévost d’Exiles, 1697–1763, musste aus
Paris fliehen, ging zuerst nach London,
dann nach Holland und veröffentlichte
dort 1731 die «Histoire du Chevalier des
Grieux et de Manon Lescaut». Obwohl er
zwanzig Romane schrieb, ist sein Ruhm
mit diesem einen eher schmalen Band
verbunden. Vielleicht hat Prévost darin
die Erlebnisse eines Freundes, des Herzogs von Brancas, oder gar seine eigene
fulminante Affäre mit der Haager Kurtisane Lenki Eckhardt verarbeitet – jedenfalls hat er eine spannungs- und emotionsgeladene Geschichte gesponnen,
deren Abenteuereinlagen an die Robinsonaden des 17. und deren Seeleneinblicke an die Liebesromane des
18. Jahrhunderts anknüpfen.
Prévost beschreibt eine verhängnisvolle Affäre: Der Chevalier des Grieux ist
in die Lebedame Manon Lescaut derart
verliebt, dass er trotz Lügen, Täuschungen und Erniedrigungen immer wieder
zu ihr zurückkehrt und ihr auf einem
Weg folgt, der zwar mit erfüllten Liebeserlebnissen gepflastert ist, aber gleichwohl ins Gefängnis und zur Deportation
in die Neue Welt führt.
Manon ist eine Femme fatale, die ihre
Liebhaber und sich selbst ins Unglück
reisst. Von einer unbändigen Gier nach
Luxus und Unterhaltung getrieben,
kennt sie weder Empathie noch Güte –
noch Reue. Schliesslich bezahlt sie für
ihr ausschweifendes Leben mit dem Tod.
Es ist der verliebte Chevalier, der als Erzähler fungiert und von seiner Liebe zu
Manon Lescaut und seinen Abenteuern
mit ihr erzählt – ein dankbarer Opernstoff, wie die zahlreichen Vertonungen
von Auber, Massenet, Puccini bis hin zu
Henze bezeugen.
Schon 1756 erschien die erste deutsche Übersetzung, der in regelmässigen
Zeitabständen weitere folgten. Nun hat
Jörg Trobitius den Roman von Prévost in
ein sparsam-schmiegsames Deutsch gebracht. ●
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24. November 2013 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 9
Belletristik
Roman Hervé Le Tellier erzählt mit Humor und Raffinement von der Leidenschaft
eines Journalisten
EinMannsuchtdieGeliebteseinesFreundes
Hervé Le Tellier: Neun Tage in Lissabon.
Aus dem Französischen von Jürgen und
Romy Ritte. Deutscher Taschenbuch
Verlag, München 2013. 278 Seiten,
Fr. 21.90, E-Book 14.90.
Von Martin Zingg
Lissabon, im September 1985. Auf der
Agenda der europäischen Medien steht
in jenen Tagen der Prozess gegen Ricardo
Pinheiro, einen Serienmörder. Vincent
Balmer, Portugalkorrespondent einer Pariser Zeitung, soll aus dem Gerichtssaal
darüber berichten, zusammen mit António Flores, der als Fotograf arbeitet und
nach langer Zeit wieder in seine Heimatstadt zurückkehrt.
Die beiden lassen sich in einem Hotel
nieder – und hier setzt Hervé Le Telliers
Roman «Neun Tage in Lissabon» ein. Erzählt wird er von Vincent, und zwar 26
Jahre später, gestützt auf Notizen aus
dem Jahr 1985, dem Jahr, als Italo Calvino starb und in Mexiko die Erde bebte.
Vincent arbeitet in jener Zeit an zwei literarischen Projekten. Zum einen übersetzt er täglich kurze Prosastücke eines
gewissen Jaime Montestrela, bizarre Anekdoten. Montestrela – eine Erfindung
Le Telliers, die es übrigens, wie so manche Fiktion, zu einem echten WikipediaEintrag gebracht hat – kommt im Roman
Fotografie Stars, Mode, Kunst
Paare haben ihre eigene Dynamik. Wie man nach solider
Partnerschaft immer noch aufeinander fliegen kann,
zeigen Inez van Lamsweerde und Vinoodh Matadin. Das
niederländische Fotografenpaar lebt und arbeitet seit
siebzehn Jahren zusammen und hat sich für unkonventionelle Bilder zwischen Kunst und Mode einen Namen
gemacht. Gleich, ob sie die Sängerin Björk porträtierten
oder eine Werbekampagne für Givenchy schossen, stets
haben sie das Spiel mit Erwartungen und Klischees
kultiviert. Ein wenig Verrücktheit gehört im LifestyleBereich zu den Musts. So darf die Dame auf dem Selbstporträt «Me Kissing Vinoodh (Eternally)» von 2010
(s. Bild) auch einmal ganz konventionell den wilden,
nackten Part samt Ganzkörperbemalung übernehmen
und der Mann schön zurückhaltend bleiben. Der Band
10 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. November 2013
«Pretty Much Everything» versammelt von den Körpermanipulationen der neunziger Jahre bis zum Horrorporträt von Julianne Moore 2011 alles, was das Fotografenpaar in Werbung und Kunst berühmt und begehrt gemacht hat. Nach der Luxusausgabe für die Reichen und Angesagten ist der muntere Band nun auch für
uns Normalos erhältlich. Zur Sicherheit im Flexi-Einband
und im Schuber. Könnte ja sein, uns fällt beim Blättern in
der Küche die Kinnlade runter, und der Kaffee sabbert
aufs Buch. Dann kann man das einfach abwischen. Das
Fotografenduo hat sich auch hier nach allen Seiten abgesichert. Gerhard Mack
Inez van Lamsweerde, Vinoodh Matadin: Pretty Much
Everything. Taschen, Köln 2013. 704 Seiten, zahlreiche
Abbildungen, Fr. 66.90.
immer wieder zu Wort, zusammen mit
seinem Heteronym Jaime Caixas, der berührende Gedichte hinterlassen hat. Wir
sind in der Stadt Pessoas. Und Hervé Le
Tellier ist aktiv beim «Oulipo», dem
«Ouvroir de littérature potentielle», der
Werkstatt für potenzielle Literatur, zu
der einst auch Italo Calvino und Georges
Perec zählten.
Vincent übersetzt nicht nur, er müht
sich auch ab mit einem Roman, der in der
Zusammenfassung ziemlich schwurbelig
erscheint. Und er ist ein Mensch, das
wird schon bald einmal deutlich, dem
bisher nichts richtig gelingen wollte.
Nach Lissabon ist er gezogen, weil die
Liebe zu Irene seit ihren Anfängen eine
verkorkste Sache geblieben ist. Sie kann
seine Leidenschaft nicht erwidern, und
er verzehrt sich nach ihr.
Lissabon verspricht Distanz. Mit Empathie hört er António zu, der von seiner
Lissaboner Jugendliebe erzählt, von
«Pata», wie sie sich nannte, «Ente». Vincent erfährt von einer glühenden Liebe,
die auch zu tun hatte mit dem «Carro
eléctrico», der legendären Strassenbahn
Lissabons. Dem «Eléctrico W» – den es als
Linie nicht gibt, aber mit dem «W» an
Georges Perecs «W oder die Kindheitserinnerungen» erinnert – ist der junge António seinerzeit nachgerannt, als die beiden erstmals aufeinander getroffen sind.
Irgendwann wurde Pata von ihm
schwanger, und damals war die Moral rigide, die Diktatur von Salazar noch lange
nicht am Ende. Der Vater brachte seine
Tochter bei Verwandten unter, und António zog nach Paris, die beiden Liebenden
verloren sich aus den Augen. Inzwischen
ist er längst mit einer anderen Frau zusammen, aber diese scheint, wie António
gelegentlich andeutet, ziemlich anstrengend zu sein.
Heimlich beginnt Vincent, nach Pata
zu suchen: Vielleicht kann er, dem in Sachen Liebe nichts glücken will, für andere nach Jahrzehnten etwas retten. Zugleich kündigt Antónios Freundin ihren
Besuch in Lissabon an – dass es ausgerechnet Irene ist, bringt den Erzähler und
damit den Roman gehörig in Fahrt. Er
will der einst Geliebten nicht zu nahe
kommen, und das steuert ihn in etliche
komische Situationen, die Le Tellier seinen Erzähler auf wunderbare Weise inszenieren und berichten lässt. Das von
Vincent ziemlich naiv angestrebte Happy
End kann es indes nicht geben, und mit
Irene hat inzwischen auch António seine
Mühe.
«Alle schlechten Romane ähneln sich,
aber jeder gute Roman ist auf seine Art
gelungen», heisst es am Schluss in einer
kleinen Tolstoi-Anspielung. Vincent Balmer und seinem Schirmherrn Le Tellier
ist es tatsächlich gelungen, einen guten,
ja höchst vergnüglichen, sprachspielund anspielungsreichen Roman aus den
Notizen zu heben. Und Jürgen und Romy
Ritte haben ihn auf präzise und bewundernswert elegante Weise aus dem Französischen ins Deutsche übersetzt. ●
Prosa Der in Uster lebende Autor
Dieter Zwicky erweist sich wieder einmal
als phantasievoller Sprachkünstler
Warten
aufRobert
Von Bruno Steiger
Die Frage nach einer vergleichbaren
«stofflichen» Essenz von Welt, Wahrnehmung und Sprache beschäftigte Dieter
Zwicky schon in seinem 2002 erschienenen ersten Buch. «Der Schwan, die Ratte
in mir» lautete der Titel der Sammlung
von lyrischer Kurzprosa; als «Buchwunder» feierte die einschlägige Kritik
das Debüt des damals 45-Jährigen. In all
den äusserst sinnlichen Meditationen
etwa über die verheerende Schönheit
von verirrten Brieftauben und höhnisch
gestimmten Gartenzwergen zeigte sich
eine Imaginationskraft, die als absolut
einzigartig wahrgenommen wurde. Ob
man es mit Sur- oder gar Pararealismus
zu tun hatte, liess sich nicht schlüssig beantworten; dasselbe galt auch für die
nachfolgenden Bücher, mit denen Zwicky seine Position als exorbitanter, sich
jeder simplen Enigmatik enthaltender
Wortkünstler zu festigen vermochte.
Was bloss bedeutet Slugo?
Dem Befund, Zwicky schreibe ausserhalb aller herkömmlichen Raster, begegnet der Autor nun mit der Etablierung
eines neuen Genres. Als «Privatflughafengedicht» deklariert er sein Buch.
Was es damit auf sich hat, wird schon im
ersten Absatz deutlich – und wie! «Judith, das Essen ist fertig! / Ich rufe so
froh, so frisch, weil ich auf dem Flughafen koche.» Man liest solches beinah
schaudernd vor Freude, hier aber soll
vorerst Inhaltliches zur Sprache kommen, mit einem Blick auf Dieter Zwickys
Personal. Es ist Bodenpersonal in jedem
Sinn des Wortes. Es setzt sich – auch wo
man ab und an «in Dreierkolonne» auf
dem Dach des Hangars zu stehen meint
– aus gerade mal zwei Leuten zusammen: dem erzählenden Koch und seiner
Frau Judith.
Alles, was man Nebenfigur nennen
könnte, hat sich vom Flughafen abgesetzt. Dies gilt für den «näselnden» Sohn
Geoffrey ebenso wie für die beiden Stewards namens Brian und Holland, als
«ausrangierte Flugplatzgeister» werden
sie bezeichnet. Den einzigen die Stellung
Haltenden bleibt das Warten auf den
Südafrikaner Robert, der mit dem
«Nachmittagsflugzeug» eintreffen soll.
Als «kirchliches Geschäft» betrachten Judith und der Koch ihr Warten im ewigen
Nachmittag des Flughafens. Die Zeit vertreiben sie sich mit Spekulationen über
den Verbleib von Roberts Bruder Jean,
Ein Hangar spielt im
neuen Roman von
Dieter Zwicky eine
zentrale Rolle: Er
ist Sperrbezirk und
Spielfeld in einem.
RALF MEYER / VISUM
Dieter Zwicky: Slugo. Ein Privatflughafengedicht. Edition pudelundpinscher,
Erstfeld 2013. 160 Seiten, Fr. 28.-.
mit allerlei Betrachtungen über die Tierund Pflanzenwelt des Areals, mit der
Frage, ob sich ein Wort wie «hochwirksam» träumen lässt – und mit dem Verzehr von «Slugo-Crackers».
Womit wir beim Buchtitel und der
Frage wären, was «Slugo», so es denn
mehr wäre als bloss eine Art Jokerwort,
sein und bedeuten könnte. Es bleibt
lange offen; erst gegen Schluss des Buchs
gibt der Koch seiner Erkenntnis Ausdruck, dass das Wort «kraft seiner Kürze
von seinem Gehalt eigentümlich ablenkt». Nach einem denkbar knapp gehaltenen Exkurs zum Begriff «Verkürzung» wird er konkreter: «Slugo versteckt
sich, es schiebt Schottland vor, Scotland.
Slugo nimmt sich einen Fjord und steckt
Scotland direkt ans spitze Fjordende:
Slugo. / Oder kanadische Waffeln. / Oder
kanadisches Süssbrot, in das mittels
Einwegpipetten vitamintechnisch wertvolle Lachssekrete eingespritzt worden
sind.»
Das ist nicht in irgendeine überinstrumentierte Beliebigkeit durchgesackte Metaphorik, das ist ZwickySound in Vollendung und damit so etwas
wie Klartext pur. Gleichwohl sieht man
sich, als kritischer Leser und Agent eines
Vermittlungsauftrags, herausgefordert,
«Slugo», dem Wort wie der damit bezeichneten Sache, auf den Grund zu
gehen. Wenn man weiss, dass Zwicky in
Theologie ebenso bewandert ist wie in
philosophischen Fragen, bietet sich zuallererst eine allegorische Lesart an.
Darin könnte Slugo als erste und eigentliche Ursubstanz der Materie gesehen
werden, als etwas, was dem innersten
Kern der Schöpfung Masse und Bestand
verleiht. Eine mindestens ebenso plausible Interpretation ergibt sich aus der Recherche im Netz, wo das Wort als Name
einer Firma auftaucht, die «alternative»
Bauklötzchen für Drei- bis Sechsjährige
anbietet.
In beiden Versionen bestätigt sich der
Eindruck, dass Dieter Zwicky seinen
Flugplatz als geschütztes, vollständig separiertes Spielfeld angelegt hat, als
Sperrbezirk im Grunde, in welchem endlich einmal alles möglich werden darf,
Betonung auf möglich. So kann er denn
auf das, was man gemeinhin Handlung
nennt, grosszügig verzichten. Er beschränkt sich auf die Entfaltung eines
Settings. In einer ingeniösen Dramaturgie vielfältig geschichteter Zeitverläufe
hält er sich vorzugsweise an ein selbstvergessenes Abschweifen, in welchem
«Slugo» als essenzieller blinder Fleck
alles Sagbaren Gestalt annimmt.
Wollüstige Höhenflüge
In dem augenscheinlich schwer zu bändigenden dunklen Enthusiasmus, der in
und zwischen den Zeilen wirkt, erlaubt
sich der Autor nebst so manchen fast
wollüstig zelebrierten sprachlichen Höhenflügen immer wieder auch lapidare
Einwürfe von geradezu monströser Erhabenheit. «Judith atmete. / Ich atmete.»
Gerade bei solchen Sätzen kann man nur
noch leer schlucken. Das dumme Wort
Lesevergnügen darf bei diesem Buch unausgesprochen bleiben, das Lesen, das
Sich-Einverleiben von «Slugo» bewirkt
viel, viel mehr: Es macht schlicht und
einfach froh. ●
24. November 2013 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 11
Belletristik
Romanzyklus Der Schweizer Autor Otto Frei (1924–1990) verewigte in fünf Büchern seine frühen Jahre
in Steckborn am Bodensee
MonologendetimVatermord
gleichwohl sehr unterschiedlich. Die
nostalgische Kindheitserzählung «Jugend am Ufer» und die Schilderung der
Studienjahre in «Zu Vaters Zeit» sind in
einem lockeren, episodischen Stil gehalten. In den anderen drei Bänden ist die
Textur dichter, Träume und Reflexionen
erweitern die Erzählung, und der abschliessende «Rebell» enthält einen heftigen inneren Monolog, der im Vaterund Sohnesmord endet.
Freis ganze Pentalogie schildert den
Kampf eines Sohnes mit seinem übermächtigen Vater, einem von der bäuerlichen Welt geprägten Unternehmer und
passionierten Jäger ohne intellektuelle
Ankränkelung. Der Sohn ist der erste in
der Familie, der die Matura macht und
studiert – zum Missfallen des Vaters, der
sich unter dem Fach Geschichte nichts
vorstellen kann und sich erst durch die
Erklärung des Sohnes beruhigen lässt,
man könne damit Professor in Frauenfeld werden.
Otto Frei: Bis sich Nacht in die Augen senkt.
Die Steckborner Pentalogie. Hrsg. Charles
Linsmayer. Reprinted by Huber,
Frauenfeld 2013. 520 Seiten, Fr. 41.90.
Von Manfred Papst
Der Ostschweizer Schriftsteller Otto Frei
zählt zu den zu Unrecht vergessenen
Schweizer Autoren des 20. Jahrhunderts.
Er war neben seiner Tätigkeit als langjähriger Korrespondent der «Neuen Zürcher
Zeitung», für die er aus Berlin, Rom und
dem Welschland berichtete, auch ein
fruchtbarer Erzähler. Der 1924 als Sohn
eines katholischen Holz- und Obsthändlers in Steckborn geborene Autor, der die
Kantonsschule Frauenfeld besucht und
in Zürich und Paris Geschichte sowie
Germanistik studiert hatte, wirkte von
1951 bis 1989 für die NZZ.
Seiner Heimat am Bodensee hat Otto
Frei fünf schmale, höchst unterschiedliche Bücher gewidmet, die nun erstmals
in einem Band der verdienstvollen Reihe
«Reprinted by Huber» vorliegen. Natürlich verdanken wir diesen Fund einmal
mehr dem so kundigen wie unermüdlichen Herausgeber Charles Linsmayer. Er
stellt in seinem 85-seitigen, illustrierten
Nachwort, das den Rang der bislang besten und gründlichsten Frei-Monografie
beanspruchen darf, das Schaffen seines
Protagonisten umsichtig in den Kontext
der Zeit. Zu Recht würdigt er die thematische und stilistische Vielfalt von Freis
Schreiben, in dem sich Tragik, Humor
und markige Fabulierfreude verbinden
und das neben dem Steckborner Zyklus
den Genfersee-Roman »Dorf am Rebhang« (1974), den Erzählband »Berliner
Herbst« (1979) und die kritische KurortDarstellung »Abschied in Zermatt« (1980)
umfasst.
NZZ-Autor wird Romancier
Linsmayers besonderes Augenmerk gilt
indes dem biografisch grundierten Werk
des Autors. Es besteht aus den Publikationen «Jugend am Ufer» (1973), «Beim
Wirt am scharfen Eck» (1976), «Zu Vaters
Zeit» (1978), «Bis sich Nacht in die Augen
senkt» (1982) sowie «Rebell» (1987). Die
fünf Bücher sind nun als «Steckborner
Pentalogie» endlich wieder lieferbar, und
sie laden dazu ein, Otto Frei, den welschen Alemannen und Thurgauer Romand, neu zu lesen.
Otto Frei war schon 49 Jahre alt, als
sein literarischer Erstling erschien, und
er wurde von der Kritik kaum wahrgenommen. Für die meisten nahmen sich
Freis Bücher, wie Linsmayer treffend
schreibt, als «unzeitgemässe, harmlosburleske, ländlich provinzielle Unterhaltungsliteratur aus, Resultate der Freizeitbeschäftigung eines politischen Redaktors, der, wie man herablassend anzutö12 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. November 2013
Ewiger Aussenseiter
Der angehende Journalist Otto Frei, frisch verliebt, mit seiner Frau Ruth
Zimmerli 1949 in Venedig.
nen nicht verfehlte, offenbar nach höheren Weihen strebte». Hinzu kam ein Politikum: Als NZZ-Mann stand Frei in der
damals von links engagierten Autoren
wie Frisch, Muschg und Diggelmann
geprägten Schweizer Literaturszene auf
der falschen Seite, auf jener des konservativen Bürgertums nämlich. Über die
Studentenunruhen in Berlin schrieb er
derart negativ, dass es selbst der NZZ zu
viel wurde; sie rief ihren Mitarbeiter in
die Schweiz zurück.
Bürgertum hin oder her: Epische Breite war nicht Otto Freis Fall. Vielmehr
pflegte er einen schmucklosen, an seinen
grossen welschen Kollegen Charles-Albert Cingria erinnernden Stil. Er beschrieb in kurzen Sätzen knappe Szenen,
zog Dialoge Beschreibungen vor. Seine
fünf autobiografischen Bücher sind
Das Jahr 1949 markiert die entscheidende Zäsur in Otto Freis Leben. Am Neujahrstag stirbt der Vater mit knapp 65
Jahren. Der Sohn hat diesen Tod immer
wieder literarisch geschildert – und jedes
Mal anders. Nun erst fühlt er sich frei.
Die Doktorprüfung hat er abgelegt, das
Diplom für das höhere Lehramt erworben; zudem hat er mit Ruth Zimmerli die
Frau seines Lebens kennengelernt. Er
wird Volontär bei den «Schaffhauser
Nachrichten», bereist Italien, Frankreich,
England, versucht sich als Dramatiker –
und landet bei der NZZ. Willy Bretscher
stellt ihn ein. Fünfzehn Jahre lang berichtet Frei aus Berlin, unterbrochen lediglich durch eine einjährige Stellvertretung in Rom. Dann wird er von Fred
Luchsinger zum Welschland-Korrespondenten berufen. Er zieht in den Weiler
Bursinel bei Lyon. Dort wird er zum Romancier. Doch die Suche nach einem
Verleger gestaltet sich schwierig. Es ist
schliesslich kein Geringerer als Friedrich
Dürrenmatt, der ihn in seinem Verlag unterbringt – in Peter Schifferlis «Arche».
Klara Obermüller, damals 33 Jahre alt,
bespricht «Jugend am Ufer» in der NZZ.
Der Autor liest die Rezension als «höflich
verschleierten Verriss».
Der 1978 erschienene Band «Zu Vaters
Zeit» findet dagegen breite Zustimmung.
Gleichwohl bleibt Otto Frei zeit seines
Lebens ein Aussenseiter des Literaturbetriebs, wie Charles Linsmayer, der als damaliger Lektor des Arche-Verlags die Geschichte aufs Genaueste kennt, darlegt.
Gewiss: Otto Frei war ein poeta minor. Es
lohnt sich dennoch, ihn zu lesen: aus literarischen wie aus zeitgeschichtlichen
Gründen. Und auch Psychologen dürften
in dieser Bewältigung eines Sohn-VaterKonflikts ihre fette Beute finden. ●
Kurzkritiken Belletristik
E-Krimi des Monats
Horror einer Bilderbuchehe
Gillian Flynn: Gone Girl. Das perfekte
Opfer. Aus dem Amerikanischen von
Christine Strüh. Fischer Scherz,
Frankfurt 2013. 576 Seiten, Fr. 25.90,
E-Book Fr. 18.–.
«Vermutlich hängen solche Fragen wie
Gewitterwolken über jeder Ehe: Woran
denkst Du? Wer bist Du? Was haben wir
einander angetan? Was werden wir
noch tun?» Diese Gedanken stolpern
Nick Dunne durch den Kopf – am Tag,
an dem seine Frau Amy verschwindet.
Es ist ihr fünfter Hochzeitstag, an dem
die Lifestyle-Fassade ihrer Leben zerbricht und der Hass, der dahinter lauert,
zum Vorschein kommt.
Ein klassischer Thriller ist «Gone
Girl» von Gillian Flynn nicht, eher ein
hochspannendes Psychogramm einer
Ehe mit kriminalistischem Hintergrund. Aufgebaut ist der Plot als Parallelmontage zweier sich abwechselnder
Ich-Erzählungen – bald berichtet Amy,
teils in Form von Tagebucheinträgen,
bald berichtet Nick. Amy und Nick, das
sind zwei trendige Mittdreissiger mit
Luxusappartement in New York, mit
Jobs in der Medienbranche, sie führen
eine Vorzeige-Ehe in einem Bilderbuchleben. Bis beide ihre Stelle verlieren. Das Geld reicht nicht mehr für die
Wohnung, nicht mehr für das teure
Hipster-Leben. Und so ziehen sie weg,
in die Kleinstadt, in der Nick gross geworden ist. Wo er unter trendigem
Namen eine alte Bar neu eröffnet. Und
wo sein Untergang beginnt. Weil sich
die Oberflächlichkeit ihres New Yorker
Lebens im Kleinstadtalltag nicht aufrechterhalten lässt und sich plötzlich
zeigt, dass der Partner die Idealvorstellungen des anderen nicht erfüllt.
Eines Tages ist Amy weg. Im Haus
finden sich Spuren eines Kampfes. Nick
gerät unter Verdacht. Es gibt Lügen. Es
gibt Intrigen. Aber es gibt keine Leiche.
Und am Schluss ist vieles anders, als
man denkt. Das Buch ist ein eigentlicher Wettstreit zweier unzuverlässiger
Erzähler, denen man beiden nicht so
recht glauben mag, und die um das Vertrauen der Leser buhlen. Amy und Nick
schildern die an sich gleiche Geschichte, die aus den unterschiedlichen Perspektiven nicht ein und dieselbe ist.
Lange bleibt unklar, was am Tag von
Amys Verschwinden geschah. Der rasante Perspektivenwechsel deckt Stück
um Stück den Horror auf, der sich in
der Beziehung von Amy und Nick eingenistet hat und ihre Leben kaputtzumachen droht. Dieser ist
umso verstörender, als in
ihrer Ehe viel Normalität steckt. Letztlich
geht es darum, wie
zwei, die sich einst
liebten, so sehr voneinander entfernen
können. Und um
die Frage, ob man
seinen Partner
wirklich kennt.
Von Christine
Brand ●
Charles Bukowski: Das weingetränkte
Notizbuch. Fischer, Frankfurt a. M. 2013.
350 Seiten, Fr. 28.90, E-Book 22.–.
Pedro Lenz: I bi meh aus eine. Cosmos 2013.
75 Seiten, Fr. 25.90. Als Hörbuch, mit
Patrik Neuhaus am Piano: Fr. 29.–.
Charles Bukowski (1920–1994) war einer
der unterhaltsamsten Skandalautoren
des 20. Jahrhunderts. Der in Deutschland geborene Amerikaner schöpfte aus
seinem Leben in zahllosen schlecht bezahlten Jobs und dem Mix seiner Passionen: Alkohol, Sex, Pferderennen, klassische Musik. Er schilderte sein verrücktes
Leben in Los Angeles mit Lakonie und
Witz – in Gedichten, Storys und Romanen. Seit den späten 1970er-Jahren war
Bukowski auch im deutschen Sprachraum ein Kultautor. Übersetzt wurde er
über Jahrzehnte von seinem Freund Carl
Weissner (1940–2012). Dessen Verdienste
in Ehren – es ist gut, dass wir Bukowski
nun auch einmal in anderer Auslegung
lesen können. Malte Krutzsch hat «Das
weingetränkte Notizbuch», einen 2008
im Original erschienenen Band von
«Uncollected Stories and Essays» aus den
Jahren 1944 bis 1990 mit Leidenschaft
und Umsicht ins Deutsche gebracht.
«Andere Schriftsteller haben einen Brotjob als Lehrer. Mein Brotjob ist das Auftreten», sagte Pedro Lenz neulich in
einem Interview. Ein sauer verdientes
Brot, denkt man mit Blick auf seine volle
Agenda, die bis zu fünf Auftritte pro
Woche aufführt. Aber der Berner Spoken-Word-Künstler und Mundart-Autor
weiss es sich zu versüssen mit Bühnenpartnern. Einer von ihnen ist der Pianist
Patrik Neuhaus. Zusammen treten sie
seit 2002 als Duo «Hohe Stirnen» auf,
«I bi meh aus eine» ist ihre fünfte Produktion. Erzählt wird die wahre Geschichte des Emmentalers namens Peter
Wingeier, der in den 1860er-Jahren nach
Argentinien auswandert und dort ein
Dorf gründet. Lenz hat den Text so wunderbar rhythmisiert, dass viele Stellen
wie Liedzeilen klingen. Die Geschichte
böte Stoff zu üppigem Fabulieren, umso
bedauerlicher, dass der Autor sich auf
diese Kürze beschränkt hat.
David Vogel: Eine Wiener Romanze. Roman.
A. d. Hebräischen v. R. Achlama. Aufbau,
Berlin 2013. 316 S., Fr. 33.90, E-Book 19.–.
Rainer Malkowski: Aphorismen und kleine
Prosa. Wallstein, Göttingen 2013.
123 Seiten, Fr. 28.40, E-Book 19.–.
Michael Rost, 18 Jahre jung, verliess sein
Elternhaus, weil er «neugierig auf sich
selbst» war. Er kommt in eine Grossstadt,
wo sich ihm ein Millionär als Mäzen anbietet. Rost ergreift die Gelegenheit. Er
mietet ein Zimmer bei der schönen Gertrud Stift und beginnt mit ihr ein Liebesverhältnis, bis sich ihre 16-jährige Tochter in ihn verliebt. Im letzten Kapitel erleben wir einen kaltschnäuzigen Michael
Rost mit einer anderen Frau. Vermutlich
hatte David Vogel, der 1891 in Podolien
(Russisches Kaiserreich) zur Welt kam
und 1944 in Auschwitz ermordet wurde,
den Text in den 1920er-Jahren in Paris
verfasst und nicht abgeschlossen. Dafür
spricht der Zustand des Manuskripts im
Nachlass. Mit seiner «Wiener Romanze»
zeigt uns Vogel ein lebenspralles Bild von
Wien, wo er 1912 bis 1922 gelebt hat. Eine
Entdeckung, die einen frösteln lässt ob
der menschlichen Kälte.
Der in Berlin geborene Lyriker Rainer
Malkowski (1939–2003) war in jungen
Jahren als höchst erfolgreicher Werber
tätig. Doch mit 33 Jahren zog er sich völlig aus dem Betrieb zurück und lebte bis
zu seinem Tod abgeschieden im bayrischen Brannenburg am Inn. In regelmässigen Abständen veröffentlichte er nun
Lyrikbände, die ersten acht bei Suhrkamp, den letzten bei Hanser. Er war ein
Meister der kleinen Wahrnehmung und
pflegte den freien Vers. Die Sorgfalt seiner Diktion kam ohne jede Überhöhung
aus. Er gab dem brüchigen, fragmentierten Leben eine dichterische Form. Sein
lyrisches Werk liegt bei Wallstein vor.
Nun folgt als Nachlese ein wunderbarer
kleiner Band mit Aphorismen und kleiner Prosa, «Was sein könnte, ist», lesen
wir da. Mit einem emphatischen Nachwort herausgegeben wurde das Buch von
keinem Geringeren als Michael Krüger.
Manfred Papst
Regula Freuler
Regula Freuler
Manfred Papst
24. November 2013 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 13
Kinder- und Jugendbuch
Kurzkritiken
Gary Ghislain: Wie ich Johnny Depps
Alien-Braut abschleppte. Fischer 2013.
223 Seiten, Fr. 21.90, E-Book 16.– (ab 12 J.).
Klassiker Neue Übersetzung
Oliver Scherz: Ben. Mit farbigen
Illustrationen. Thienemann, Stuttgart
2013. 112 Seiten, Fr. 19.90 (Vorlesen ab 5).
Die Schatzinsel in
voller Länge
Robert Louis Stevenson: Die Schatzinsel.
Hanser, München 2013. 384 Seiten,
Fr. 39.90, E-Book 29.90 (ab 12 Jahren).
Hörbuch, ungekürzte Lesung von Harry
Rowohlt. Roof Music/tacheles!. 6 CDs,
489 Minuten, Fr. 38.90.
Von Hans ten Doornkaat
Für einen Verliebten ist die Auserwählte
ein Wesen von einem anderen Stern. Da
bildet der 14-jährige David keine Ausnahme, nur handelt es sich bei der delinquenten Patientin seines Vaters tatsächlich um eine Ausserirdische. Zelda kann
astralzoomen, die Zeit krümmen und
nimmt es trotz galaktischem Jetlag locker mit einer Horde Polizisten auf. Der
Besucherin vom Planeten Vahalal bleibt
wenig Zeit, auf der Erde ihren Seelenverwandten zu finden. Dass der Kandidat
Johnny Depp heisst, macht die Mission
nicht einfacher. David fügt sich in die
Rolle des Gehilfen und versucht, das
Schlimmste zu verhindern. Gary Ghislain
erzählt das turbulente Erdling-trifftSpacegirl-Abenteuer mit gehörigem
Wort- und Aberwitz. Dabei spielt er mit
popkulturellen Versatzstücken und lehnt
sich literarisch ans Comicgenre an.
Inmitten der Superhelden, Hexen und
anderer Überflieger im Kinderbuch ist
Ben eine wohltuende Ausnahme: Er ist
so herrlich normal. Mit seinem besten
Freund, der Schildkröte Herrn Sowa, flutet er das Badezimmer, entert das Baumhaus seines grossen Bruders, geht nachts
angeln in Nachbars Garten und gemeinsam überstehen sie den Besuch beim
Arzt – kurz: sie erleben schönste, bewältigbare Abenteuer und sammeln Erfahrungen. Zum Beispiel die, dass man sich
ruhig fürchten darf (vor dem Keller, der
Dunkelheit, der Schule) und dass Heimweh zum Leben gehört, weil man dann
erst weiss, wie lieb man sich hat. Die
zehn in sich abgeschlossenen VorleseGeschichten sind mit Poesie und Fantasie geschrieben; sie unterhalten mitten
aus der Kinderwelt auf sachte Art und
helfen, grösser zu werden.
Alice Gabathuler: no_way_out.
Thienemann, Stuttgart 2013. 336 Seiten,
Fr. 19.90, E-Book 15.- (ab 16 Jahren).
Marian de Smet: Kein Empfang.
Gerstenberg, Hildesheim 2013.
192 Seiten, Fr. 19.90 (ab 13 Jahren).
Mick lebt auf der Strasse. Eines Tages
fährt ein Luxuswagen den 17-Jährigen
an. Gezielt, wie sich bald zeigt. Kurz darauf wird Mick ein Mord untergeschoben.
Er gerät in Panik, reagiert falsch und
muss in der Folge untertauchen. Hinter
den Machenschaften steht ein rechtsgerichteter Bund, der «asoziale Elemente»
aus der Gesellschaft entfernen will,
indem er sie für nicht begangene Straftaten ins Gefängnis bringt. Jetzt erhält
der hochspannende Thriller eine politische Dimension. Er macht auch deutlich,
wie leicht die Berichterstattung ein falsches Bild der Geschehnisse evozieren
kann. Aber da bilden Mick und seine
Freunde eine Online-Community, ein
neuer Kampf beginnt. Gabathulers Bücher behandeln brisante Themen, die Jugendliche interessieren und bewegen. Zu
Recht wächst ihre Fangemeinde stetig.
Leo ist beim Wandern in ein Loch gefallen. Der Akku des Handys ist leer, der
Fuss gebrochen – jetzt gilt es abzuwarten. Da taucht die rätselhafte Nanou auf.
Das Mädchen bringt Leo Essen, verarztet
ihn, holt aber keine Hilfe. Nanou wird
von ihrer Mutter versteckt gehalten und
kennt keine anderen Menschen. Während sie zaghaft auf Leo zugeht und die
beiden sich verlieben, belagern Journalisten unten im Tal Leos Freund David.
Auch eine Familie taucht auf, deren Kind
vor dreizehn Jahren hier spurlos verschwand. Der Thriller wird abwechselnd
aus Nanous, Leos und Davids Perspektive erzählt. Rasch erahnt man die Zusammenhänge, die de Smet geschickt
anklingen lässt. Ob die Vermutungen
richtig sind, erfährt man nicht. Indem sie
das Meiste offen lässt, vermeidet die Autorin ein kitschiges Happy-End.
Daniel Ammann
Verena Hoenig
14 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. November 2013
Christine Knödler
Andrea Lüthi
Glücklich, wer das Heben dieses Schatzes noch vor sich hat. Viele haben «Die
Schatzinsel» nur in gekürzter Fassung
«bearbeitet für die Jugend» gelesen. Die
neueren Ausgaben mit den Bildern von
John Lawrence (Sauerländer) oder den
Farbtafeln von Robert Ingpen (Knesebeck) bedienen sich einer Übersetzung
von 1967. Doch warum nicht Jugendliche
erfahren lassen, dass auch ein klassischer Text beste Spannung bietet? Wenn
die Piraten auftrumpfen, oder wenn
Long John Silver als Kopf der Meuterei
sein falsches Spiel spielt, dann ist die
Neuübersetzung von Andreas Nohl den
bisherigen vorzuziehen.
Als Stevenson sich entschliesst, für
alle Alter und Schichten zu schreiben,
entwickelt er ein Spannungskonzept wie
später Hitchcock: Wir wissen meist Bescheid über Taten und Widersacher, und
werden doch laufend überrascht. Allzu
rasch sieht der Halbwaise Jim den geselligen Schiffskoch als väterlichen Freund.
Zwar streut der Autor Hinweise ein, die
unsere Zweifel und die Spannung erhöhen, aber der Junge muss erst – im
Apfelfass versteckt – die Prahlereien der
Verschwörer mit anhören, ehe er das
Doppelspiel durchschaut. Dass ausgerechnet eine Vaterfigur sich als Verräter
entpuppt, ist in einem Jugendklassiker
brisant, und dass auch die gestandenen
Herren darauf angewiesen sind, mit dem
Schurken gemeinsame Sache zu machen, irritiert selbst ältere Leser.
Harry Rowohlt kann in der ungekürzten Lesung nicht so ausschweifend auftrumpfen, wie er und sein Stammpublikum es mögen. Aber wie er mit seinem
rauen Bass die wechselnden Rollen des
Schiffskochs inszeniert, und bei allzu
viel Abenteuerromantik auch mal einen
ironischen Unterton anklingen lässt, das
ist ein Vergnügen im Sinne des Autors.
Hoch anzurechnen ist dem Hörbuch
auch, dass nach dem 32. Kapitel ein vom
Übersetzer neu entdeckter Text von Stevenson eingefügt ist, ein Dialog zwischen Silver und Kapitän Smollett über
den Autor. Ohnehin sind Nachwort, Materialien über die Entstehung des Romans und Gedanken zur neuen Übertragung, ein Genuss für erwachsene Leser –
und, falls gewünscht, eine Legitimation
für den populären Lesestoff. Nötig ist sie
indes nicht, denn von Henry James bis
Ernst Bloch gibt es ausreichend Bekenntnisse zu dem Roman. ●
Neurobiologie Zwei reich bebilderte
Sachbücher über das Hirn
Was im Kopf passiert
Michael Madeja, Jan von Holleben, Katja
Naie: Denkste?! Verblüffende Fragen und
Antworten rund ums Gehirn. Gabriel,
Stuttgart 2013. 184 S., Fr. 25.90 (ab 8 J.).
Alexander Rösler, Philipp Sterzer, Kai
Pannen: 29 Fenster zum Gehirn. Genial
einfach erklärt, was in unserem Kopf
passiert. Arena, Würzburg 2013.
224 Seiten, Fr. 19.50 (ab 12 Jahren).
Von Sabine Sütterlin
Was im Kopf vorgeht, fasziniert alle –
aber alle anders. «Jüngere Kinder interessieren sich vor allem für Tiere und
deren Gehirne, ältere Schüler für das
Selbst und die Gehirnentwicklung, Erwachsene für die Frage nach dem freien
Willen und die Alzheimer-Erkrankung»,
sagt der Hirnforscher Michael Madeja.
Er hat gemeinsam mit der Neurobiologin Katja Naie ein Buch für Kinder geschrieben. Wie viele Gehirnwindungen
hat eine Ameise? Ist das Gehirn innen
hohl? Selbst solch verblüffende Fragen
beantworten die Autoren ernsthaft, geradlinig und einfach. Doch obwohl die
Texte jeweils höchstens eine halbe Seite
lang sind, dürften sie es schwer haben,
die Aufmerksamkeit der Leser von den
vielen bunten, aufwendig inszenierten
Foto-Illustrationen abzuziehen, auf
denen beispielsweise ein Mädchen mit
drei Kindern zu jonglieren scheint.
Grafisch weit weniger anspruchsvoll,
aber vielfältiger in der Wahl der Vermittlungsformen und lockerer im Ton ist
«29 Fenster zum Gehirn». Die Neurologen Alexander Rösler und Philipp Sterzer
wenden sich damit an Jugendliche ab
zwölf. Die 29 Einblicke ins Gehirn und
seine Funktionen sind in sieben Kapiteln
von «Wahrnehmung und Bewusstsein»
bis «Entscheidung und freier Wille» gegliedert. Dank Querverweisen und Glossar lassen sich aber problemlos einzelne
Themen herauspicken.
Die Autoren präsentieren den Stand
der Forschung denkbar kurzweilig. Sie
verblüffen mit Schilderungen aus ihrer
Forschungspraxis, regen zu eigenen
Experimenten an und verweisen auf
weiterführende Internet-Links. Zwischendurch erzählt der pawlowsche Hund in radebrechendem
Deutsch von der Entdeckung der
Konditionierung. Und der Neurobiologe Professor Rastlos streitet
sich mit der soziologischen Anthropologin und Theologin Professor Dr. Dr. Wirrwarr über Intelligenz und freien Willen.
Der direkte Vergleich der zwei
Gehirnbücher ist vielleicht unfair, da
sie sich an unterschiedliche Altersgruppen richten. Aber die «29 Fenster» werden junge Menschen immer
wieder gern in die Hand nehmen –
auch noch als Erwachsene. ●
Kurzkritiken
Max Kruse: Urmel saust durch die Zeit.
Illustr. G. Jakobs. Thienemann, Stuttgart
2013. 176 Seiten, Fr. 18.90 (ab 8 Jahren).
Virginie Aladjidi, Emmanuelle Tchoukriel:
Birke, Buche, Baobab. Gerstenberg,
Hildesheim 2013. 72 S., Fr. 19.90 (ab 6 J.).
Dreizehn Jahre nach dem letzten UrmelBand erklärt Max Kruse anhand seiner
berühmten Figur die Evolution: Unabsichtlich betätigt das Urmel den
Starthebel von Professor Tibatongs Zeitmaschine und reist mit seinen Freunden
durch die Zeit. Von der Ursuppe gelangen
sie zu den Dinosauriern, erleben einen
Meteoriteneinschlag, begegnen Urmenschen und den ersten Siedlungen. Über
ein Handy erläutert der Professor die
Evolutionsstufen, während die Reisenden die Perspektive des Kindes einnehmen und bei unbekannten Begriffen
nachfragen. Eingebettet in witziges Geplänkel und abenteuerliche Begegnungen wird hier in kleinen Portionen Wissen vermittelt. Die Geschichte wirkt
nicht aufgesetzt, am Ende des Buches
sind alle Informationen noch einmal verständlich aufbereitet.
Aus dem Holz der Gemeinen Esche entstehen Snowboards oder Werkzeugstiele,
die stinkenden Früchte des Durianbaums
schmecken nach Vanille, und die SilberPappel soll ihre Farbe dem silbrigen
Schweiss von Herakles verdanken. Gegliedert nach Laub-, Nadelbäumen und
Palmen und nach Blatttypen aufgeteilt,
gibt es zu jedem Baum eine kurze Beschreibung. Da geht es um Historisches,
Symbolik, Mythologie sowie um Besonderheiten des Holzes oder der Früchte.
Leider wirken manche Formulierungen
der deutschsprachigen Ausgabe etwas
umständlich. In seiner edlen Retro-Aufmachung, mit den bezifferten Bildtafeln
und den kolorierten feinen Strichzeichnungen von Emmanuelle Tchoukriel erinnert das Buch an botanische Werke aus
dem 19. Jahrhundert und ist damit auch
ein Liebhaberbuch für Erwachsene.
Sonja Eismann u. a.: Glückwunsch, du bist
ein Mädchen! Beltz & Gelberg, Weinheim
2013. 152 Seiten, Fr. 24.50 (ab 14 Jahren).
Adam Jaromir: Fräulein Esthers letzte
Vorstellung. Gimpel, Langenhagen 2013.
124 Seiten, Fr. 40.90 (ab 12 Jahren).
Braucht es den Untertitel «Eine Anleitung zum Klarkommen» für Mädchen
heute wirklich noch? Ist diese noch
nötig? Der Ratgeber will bekennend Mut
machen und wirft dafür einen explizit
weiblichen Blick aufs (noch nicht ganz)
starke Geschlecht. Rosarot nebst Brille
in derselben Farbe haben ausgedient,
Schönheitsideale (wer sagt, dass dick
hässlich ist?), Rollenverständnis (wer
sagt, dass Mädchen dümmer sind?),
Mode- und Selbstbewusstsein, Gefühle
(Wut ist gut!), Verhaltensweisen (Schluss
mit Lästern) werden auf den Prüfstand
gestellt und gegen Klischees gebürstet.
Der eigene Körper, Sex, Sport, Beziehungen, Freundschaft, Liebe – die Facetten
zeigen ein buntes Bild. Das ist zwar nicht
neu, aber sehenswert, damit es irgendwann ohne Einschränkung heisst:
«Glückwunsch, du bist ein Mädchen!»
Es ist Mai, doch das Leben im Warschauer Ghetto ist grau. Den 200 Waisen fehlt
es an allem. Täglich geht der Arzt Janusz
Korczak für seine Schützlinge betteln.
Resignation macht sich breit. Um die
Kinder auf andere Gedanken zu bringen,
studiert Fräulein Esther, eine der Angestellten, ein Theaterstück ein. Ausdrucksstarke Collagen, Dialoge und Tagebuchaufzeichnungen lassen die letzten Monate des Heims lebendig werden.
Im August 1942 wird es aufgelöst, die
Nationalsozialisten ermorden seine Bewohner in Treblinka. Fräulein Esthers
Plan aber ist aufgegangen: Wenigstens
für kurze Zeit hat sie die Kinder aus ihrer
Apathie reissen können. Das aufwendig
gestaltete, dokumentarische wie lyrisch
verdichtete Buch erinnert an Menschen,
die Kindern auch in finsteren Zeiten mit
Respekt und Kunst beistehen.
Andrea Lüthi
Christine Knödler
Andrea Lüthi
Verena Hoenig
24. November 2013 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 15
Interview
Tagtäglich lügen Menschen, betrügen Firmen und tricksen Regierungen. Ist Ehrlichkeit nur noch eine
antiquierte Tugend? Reformpädagoge Bernhard Bueb hält dagegen und findet, dass wir vermehrt der
Ehrlichkeit zum Durchbruch verhelfen sollten – mit Klugheit und Phantasie. Interview: Urs Rauber
DieWahrheit
kommtnichtvon
selbstansLicht
In Ihrem Buch schreiben Sie: «Der Wille zur Ehrlichkeit gehört zur menschlichen Natur wie der
Macht- oder der Sexualtrieb.» Gilt das nicht auch
für das Gegenteil: Lüge, Gier und Eigennutz?
Die Lüge ist in meinen Augen keine aktive Kraft,
sondern das Ergebnis einer Schwäche. Sie entsteht immer dann, wenn Menschen sich selbst
nicht akzeptieren, wie sie sind. Sei’s, weil sie
sich weniger begabt fühlen als andere oder benachteiligt. Sei’s, weil sie lieber reich oder schön
oder mächtig sein wollen. Und da sie das nicht
Bernhard Bueb
Bernhard Bueb ist einer der profiliertesten Pädagogen Deutschlands. Geboren 1938 in Tansania,
studierte er Philosophie und katholische Theologie. Von 1974 bis 2005 war er Leiter der internationalen Privatschule Schloss Salem in BadenWürttemberg. Seine Bücher «Lob der Disziplin»
(2006) und «Von der Pflicht zu führen» (2008)
wurden zu Bestsellern: in Erziehungskreisen umstritten, stiessen sie in der Öffentlichkeit teils auf
grosse Zustimmung. Sein neustes Buch «Die
Macht der Ehrlichen. Eine Provokation» (158 Seiten, Fr. 27.90, E-Book 22.–) erschien soeben im
Ullstein Verlag in Berlin. Bernhard Bueb ist verheiratet, hat zwei erwachsene Töchter und lebt in
Überlingen am Bodensee.
16 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. November 2013
sind, beginnen sie, andern, aber auch sich selbst,
etwas vorzumachen oder durch Betrug ihre Situation zu verbessern. Diese Deutung der Lüge
aus Schwäche unterscheidet sich von jener der
Religion, die die Lüge als aktive Kraft in Satan
personifiziert. Die Aufgabe der Eltern und Lehrer besteht darin, dieser Schwäche beizukommen.
Und wie tut man das?
Ehrlichkeit ist eine vertrauensvolle Art zu leben.
Die Bedingungen der Ehrlichkeit entstehen in
der frühen Kindheit mit dem, was Psychologen
das Urvertrauen nennen. Durch die liebevolle
Zuwendung der Eltern gewinnt das Kind Vertrauen in sich und die Welt und legt den Grund
dafür, dass es ja zu sich sagen kann. Kinder, die
kein Urvertrauen haben, haben es schwer im
Leben, ehrliche Menschen zu werden. Sie werden auf Kontrolle und Strafe angewiesen sein.
Bei Kindern mit wenig Selbstvertrauen haben
der Kindergarten und die Schule eine hohe Aufgabe, ergänzend zu wirken, wenn die Eltern es
nicht geschafft haben. Die Eltern haben immer
als Erste den Auftrag, Kinder in ihrem Selbstwertgefühl zu stärken.
Ist die Schaffung des Urvertrauens sozusagen der
Schlüssel zur späteren Ehrlichkeit?
Ja, aber wenn Urvertrauen vorhanden ist, heisst
das nicht, dass solche Kinder nicht auch ab und
zu lügen. Es hat niemand ein derartiges Selbstvertrauen, dass er auf Lügen vollständig verzichten kann. Wir sind bis zum Lebensende – ich
bin jetzt 75 – immer gefährdet, uns selbst zu belügen. Der Ehrliche unterscheidet sich dadurch,
dass er es weiss.
Sie sagen, Ehrlichkeit wirke ansteckend. Trifft das
nicht auch auf die Lüge zu?
Richtig, auch die Lüge wirkt ansteckend. Es wird
immer eine Auseinandersetzung zwischen Lüge
und Wahrheit sein. Aber wichtig ist, dass die
Welt im Gleichgewicht bleibt, dass die Lüge
nicht überhandnimmt.
Gibt’s auch Gefahren bei der Ehrlichkeit?
Das grösste Unheil richten Menschen an, die die
Wahrheit genau kennen: die Fundamentalisten.
Sie beherrschen sehr viele Teile der Welt. Die Va-
tikan-Ideologen, die Evangelikalen, die Islamisten – die plakativen grossen Bewegungen. Aber
es gibt auch die Fundamentalisten im Alltag.
Zum Beispiel?
Es gibt Menschen, die wissen genau, wo’s langgeht: Eltern, die von den Kindern nur ein bestimmtes moralisches Verhalten akzeptieren
und sie, wenn sie davon abweichen, verwerfen.
Das hat fundamentalistische Züge, denn sie
«Die Lüge ist keine aktive
Kraft, sondern das Ergebnis
einer Schwäche. Sie entsteht
immer dann, wenn Menschen
sich selbst nicht akzeptieren,
wie sie sind.»
scheinen zu wissen, was für das Kind das Richtige ist. Für das Kind ist das aber eine Katastrophe. Eltern müssen offen sein. Oder wenn Lehrer ihre Noten auf zwei Dezimalstellen berechnen und glauben, dass das objektiv sei. Das ist
natürlich Quatsch. Ich kann einen Aufsatz, der
so viele Variationen an Bewertungen zulässt,
nicht mit einem 2,34 bewerten.
Sie behaupten, die Schule verführe zum Lügen:
durch Abschreiben, Lehreraustricksen und so weiter. Ein hartes Urteil für einen Pädagogen.
Würden Sie das bestreiten?
Nicht völlig. Doch wie verändert man die Schule,
dass sie zur Wahrheit statt zum Tricksen verleitet?
Die Schule beruht auf einer Fiktion – nämlich
dass alle Schüler gleich akademisch begabt
seien. Und dass sie deswegen dieselben Prüfungen bestehen könnten. Akademisch gut begabt
sind vielleicht ein Drittel der Schüler, deswegen
können die anders Begabten die Prüfungen
nicht bestehen, wenn sie nicht betrügen. Also
tun sie es. Es gibt ja kaum eine Einrichtung, in
der es so viel Aufsicht gibt, so viel Kontrolle, so
viel Strafe wie die Schule. Das ist abenteuerlich!
Hier läuft fundamental etwas falsch. Man
▼
Bücher am Sonntag: Ihre bisherigen Bücher
waren Streitschriften: «Lob der Disziplin» (2006)
und «Von der Pflicht zu führen» (2009). Ihr jetziges Buch «Die Macht der Ehrlichen» trägt den Untertitel: Eine Provokation. Warum glauben Sie,
provozieren zu müssen?
Bernhard Bueb: Konservativen sagt man nach,
dass sie ein pessimistisches Menschenbild
haben. Als Konservativer provoziere ich dadurch, dass ich ein optimistisches Buch schreibe. Damit möchte ich Menschen ermutigen, den
Blick von Lug und Trug, denen sie überall in der
Welt begegnen, zu wechseln auf die Macht der
Wahrheit. So dass sie abends, wenn sie in den
Nachrichten das Böse in der Welt sehen, sagen
können: Welches Glück, dass es Menschen gibt,
die das alles aufdecken und der Lüge das Handwerk legen.
DAN CERMAK
«Es gibt erlaubte Lügen, wenn dem Wert der Wahrhaftigkeit ein anderer Wert entgegensteht, der ebenbürtig ist», sagt der Pädagoge Bernhard Bueb (4.11.2013 am Bodensee).
24. November 2013 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 17
Interview
Trotz Individualisierung wird es aber Kinder
geben, die die Schulziele nicht erreichen?
Ja, ein Kind erfüllt vielleicht ein Ziel nicht, ist
aber nicht so frustriert, weil der Lehrer mit ihm
sehr früh festgestellt hat: dieser Weg ist für dich
zu steinig. Was ich vom Kind erwarte, sind
Anstrengungsbereitschaft und Neugier. Ich
muss versuchen, ihm einen Weg anzubieten, auf
dem es entsprechend seinen Möglichkeiten
seine Neugier befriedigen und sich anstrengen
kann. Es gibt viele begabte Menschen, die zum
lebensfernen Lernen der Schule keinen Zugang
finden und doch erfolgreich ihr Leben meistern.
Oder andere laufen weg von der Schule wie Thomas Mann. Jeder soll nach seiner Façon selig
werden, ohne betrügen zu müssen.
Sie schildern im Buch ein sehr schönes Beispiel,
wie Eltern ein Kind zur Ehrlichkeit erziehen.
Es ist ja so schwierig, eine Lüge oder Fehlleistung einzugestehen, weil es das Bild gefährdet,
das ich bei anderen aufgebaut habe. Eltern sollten Kindern phantasievoll Brücken bauen, wie
jener Vater, der seine achtjährige Tochter dabei
ertappt hat, wie sie den Nachtisch des Bruders
weggegessen hat. Nach einer Weile fragt er sie:
«Hast du nun das getan: ja, nein oder vielleicht?»
Und ganz schnell sagt das Mädchen: «Vielleicht.»
Und verschafft sich damit grosse Erleichterung.
Man müsste dieses «vielleicht» auch in die Erwachsenenwelt einführen…
Wie glücklich wären oft Erwachsene, könnten
sie «vielleicht» sagen.
In der Erwachsenenwelt wird ja täglich gelogen.
Zum Beispiel Prominente, deren wissenschaftliche Arbeiten als Plagiate aufgedeckt werden.
Eine neue empirische Untersuchung der Universität Bielefeld besagt, dass 79 Prozent der deutschen Studenten selbstverständlich plagiieren
und dass die Dozenten das wenig kontrollieren,
weil sie Angst haben vor den Konflikten. Hier
meine ich, gibt es eine technische Lösung,
indem man, wie an angelsächsischen Schulen
üblich, jede studentische Arbeit ein Computerprogramm durchlaufen lässt, das diese auf Plagiate durchsucht. Schüler, die das wissen, werden sich dem nicht aussetzen. Ich finde, man
sollte die Menschen so weit wie möglich von
moralischen Anstrengungen entlasten.
Sie haben Ihre Dissertation 1968 über «Nietzsches
Kritik der praktischen Vernunft» geschrieben.
Haben Sie da nirgends geschummelt?
Ich war nicht unversucht, genau das zu machen,
was Annette Schavan, die frühere Bildungsministerin, getan hat. Es gab nämlich Zusammenfassungen von Gedankengängen, die einfach
viel besser waren, als ich das hätte machen können. Aus irgendeinem Grund habe ich davon abgelassen, wahrscheinlich weil ich Angst hatte,
dass mein Doktorvater, der sehr akribisch meine
Elaborate las, dies entdeckt hätte.
Gibt es erlaubte Lügen?
Ja, wenn dem Wert der Wahrhaftigkeit ein anderer Wert entgegensteht, der ebenbürtig ist. Wenn
Sie vor der Frage stehen, soll ich einem Todkranken die Wahrheit sagen, wissend, dass ihn das
sofort umbringt oder depressiv macht, kann das
Verschweigen geboten sein – zum Schutze des
Kranken. Hier steht nicht Wahrheit gegen Lüge,
sondern Wahrheit gegen Schutz des Lebens.
18 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. November 2013
AP
▼
kann das systembedingte Lügen minimieren,
wenn man das Lernen individualisiert, das
heisst, jedem Kind die Chance gibt, entsprechend seiner Begabung, seinen psychischen
Voraussetzungen seinen Lernweg zu gehen. Moderne reformpädagogische Schulen machen das
ja: die Montessori-Schulen zum Beispiel.
«Die Spareinlagen sind sicher»: Angela Merkel und Peer Steinbrück bei ihrer Notlüge am 5. Oktober 2008.
Oder ein aktuelles Beispiel: Als in Deutschland
2008 Angela Merkel und Peer Steinbrück vor die
Presse traten und erklärten, die Spareinlagen
der Bürger sind sicher, war das glatt gelogen.
Denn sie waren weder legitimiert noch mächtig
genug, um das sicherzustellen. Aber sie haben
mit Recht ihre Hände schmutzig gemacht, das
heisst gelogen, weil der Wert des Schutzes der
Wirtschaft höher war als der Wert der Ehrlichkeit. Das war eine Notlüge.
Würden Sie deswegen Frau Merkel nicht als Lügnerin bezeichnen?
Nein. Dieses Verhalten würde ich sogar erwarten
von einem Politiker. Das kommt ja auch im Alltag vor. Sie müssen zum Beispiel ein Kind schützen vor der Wahrheit, weil es diese nicht erträgt.
sehen, dann geht so ein deutscher Tollpatsch
hin und will ihn sehen. Die Deutschen neigen zu
einer Art lutherischen Ehrlichkeit und wollen
gleich mit der Wahrheit ins Haus fallen, was
auch anstrengend ist.
Sehen Sie Vorbilder an Ehrlichkeit?
Die sehe ich haufenweise. Es gibt sehr viele aufrechte, ehrliche Journalisten zum Beispiel. Oder
es gibt unglaublich viele ehrliche mittelständische Unternehmer, denen es nicht nur um das
Geldverdienen, sondern darum geht, ihre Kunden zu beraten, und nicht, sie zu verführen.
Oder die vielen, die ehrenamtlichen Tätigkeiten
nachgehen und sich für andere Menschen einsetzen, ohne dafür Geld zu verlangen.
Ist es nicht auch so, dass Wähler gelegentlich belogen werden wollen, weil sie gewisse Wahrheiten
nicht ertragen? Wer die Wahrheit sagt, wird oft an
der Urne abgestraft.
Frau Merkel sagt ihren Wählern: Ihr kennt mich,
Ihr braucht sozusagen nicht mehr nachzuden-
Und die grossen Vorbilder?
Die sind rar geworden. Bei den Politikern fällt
einem immer nur Mandela ein. Ich behaupte,
dass es früher mehr Vorbilder gab – zu meiner
Zeit: de Gaulle, Churchill, Macmillan, Adenauer.
Sie waren auch Trickser, aber authentisch,
glaubwürdig. Heute sind sie dünner gesät.
«Kontrollen sind für uns ein
Hilfsmittel, moralischer zu
sein. Wenn ich weiss, dass der
Schaffner regelmässig durch
den Zug kommt, werde ich
immer ein Ticket kaufen.»
Sie sagen, dass keine Gesellschaft auf Kontrolle
und Strafe verzichten kann. Erhöhen Kontrollen
die Ehrlichkeit?
Kontrollen sind für jeden Menschen ein Hilfsmittel, moralischer zu sein, weil sie ihn weniger
der Verführung aussetzen. Wenn ich weiss, dass
der Schaffner regelmässig durch den Zug
kommt, werde ich immer ein Ticket kaufen.
Wenn ich weiss, dass er nicht kommt, werde ich
es weniger tun.
ken, weil Ihr wisst, dass ich das Richtige tue. Die
Bürger lieben das, sie wollen nicht alles wissen,
sondern einfach Ruhe haben, ihren Wohlstand
und ihre Sicherheit geniessen. Dafür sind sie leider bereit, ihren Verstand abzugeben.
Im Alltag schwindeln wir ja alle, zum Beispiel bei
der Höflichkeit.
Dazu kann ich nur Wilhelm Busch zitieren mit
dem wunderbaren Gedicht: «Da lob ich mir die
Höflichkeit, das zierliche Betrügen: Du weisst
Bescheid, ich weiss Bescheid, und allen macht’s
Vergnügen.» Man sollte unterscheiden zwischen
Notlügen, die einem höheren Wert dienen, und
Eigennutz. Moralisch zu verurteilen ist das
Lügen aus Eigennutz: wenn man selber mehr
sein möchte, sein Geld vermehren oder einem
anderen schaden will. Bei der Höflichkeit aber
ist es keine Frage von Lüge und Wahrheit, sondern einer Übereinkunft. Die Engländer haben
mehr Sinn für solche Konventionen. Wenn
ihnen ein Engländer nach einer kurzen Begegnung sagt: Ich würde Sie gerne wieder mal
Ein weiterer von vielen Merksätzen in Ihrem Buch
lautet: Es gibt keine ehrlichen Systeme, sondern
nur ehrliche Menschen.
Systeme sind neutral. Es gibt auch keine heilige
Kirche, sondern es gibt Heilige in der Kirche. Die
Ehrlichen sind immer Einzelne. Versuche, ehrliche Systeme zu schaffen, misslingen ständig. Es
gibt ganz selten eine Revolution, die ohne eine
Lüge gross geworden ist. Die sozialistischen Systeme waren die grössten Lügengebäude, die
überhaupt entstehen konnten – unter dem Anspruch, die Wahrheit zu vertreten. Viel zu viele
Ehrliche meinen allerdings, die Wahrheit
komme von selbst ans Licht. Das ist aber nicht
der Fall, sondern dazu bedarf es der aktiven Aufklärung. Jeder Ehrliche ist aufgerufen, wo er
Lüge entdeckt, mitzuhelfen, dass diese Lüge
aufgedeckt wird. Daran hindert ihn aber oft die
Feigheit und die Trägheit.
Braucht Ehrlichkeit Zivilcourage?
Unbedingt. Ehrlichkeit braucht Klugheit, Empathie und Phantasie. Und sie benötigt ebenso
Ausdauer wie Zivilcourage. l
Kolumne
Charles LewinskysZitatenlese
Literature is news that
STAYS news.
GAËTAN BALLY / KEYSTONE
Ezra Pound
Der Autor Charles
Lewinsky arbeitet in
den verschiedensten
Sparten. Sein neues
Stück «Weg damit!»
wird am 11. Dezember
im Theater Rigiblick in
Zürich uraufgeführt.
Wussten Sie, dass «Sense And Sensibility» von Joanna Trollope stammt? Dass
Alexander McCall Smith der Autor von
«Emma» ist?
Das wussten Sie nicht? Dann sind Sie
nicht auf der Höhe des zeitgenössischen
Literaturbetriebs. Und wenn Sie jetzt
auch noch einwenden, das seien doch
zwei klassische Romane von Jane
Austen, dann sind Sie, sorry, nachgerade
altmodisch.
Ein englischer Verleger ist nämlich
auf den Gedanken gekommen, alle Romane von Jane Austen neu schreiben zu
lassen. Aktualisiert und ins 21. Jahrhundert verlegt. Damit auch heutige Leser
endlich etwas mit den Geschichten anfangen können. Man kann, so seine
Überlegung, von den Vertretern der
YouTube-Generation nicht erwarten,
dass sie sich ins Seelenleben von Figuren des frühen neunzehnten Jahrhunderts einfühlen. Mit anderen Worten:
Er hält moderne Leser für blöd.
Ausgerechnet «Sense And Sensibility», zu Deutsch: «Verstand und Vernunft»! Wo es diesem Projekt doch an
beidem fehlt. Das Ganze ausgeheckt von
einem Mann, der von Beruf Verleger ist
– eine Berufsbezeichnung, die in seinem
Fall wahrscheinlich daher stammt, dass
er seinen literarischen Geschmack verlegt und nie wieder gefunden hat.
Es ist ihm, das hat mich an der Ankündigung am meisten überrascht, auch
tatsächlich gelungen, namhafte Autoren
für diesen Akt literarischer Leichenschändung zu gewinnen. Sie müssen
alle, so scheint mir, das Zehnfingersystem blind beherrschen. Man sieht ja
die Tastatur nicht, wenn man den Blick
beim Schreiben die ganze Zeit stur auf
die Kasse gerichtet hat.
Es steht zu befürchten, dass die Umsatzzahlen zufriedenstellend ausfallen.
Auch chemisch zusammengemixte
Lebensmittel-Imitate mit «naturähnlichen Aromen» verkaufen sich
schliesslich gut.
Und weil, im Gegensatz zum Sprichwort, das Schlechtere stets der Feind
des Guten ist, werden wir bald neuverfasste deutsche Klassiker in den
Schaufenstern der Buchhandlungen
sehen. Da wird dann der junge Werther
seine Lotte bei einem Internet-DatingDienst kennenlernen, und Annebäbi
Jowäger ihre Familie mit homöopathischen Kügelchen traktieren. Wenn Jane
Austen nicht sicher ist, ist niemand
mehr sicher,
Mark Twain mochte Jane Austen
nicht. Er erklärte einmal, jede Bibliothek, die keines ihrer Bücher enthalte,
sei nur schon deshalb
eine gute Bibliothek.
Aber dieses Schicksal
hätte nicht einmal er ihr
gewünscht.
Kurzkritiken Sachbuch
Martin Meyer (Hrsg.): Die Welt verstehen.
35 Beiträge. NZZ Libro, Zürich 2013.
538 Seiten, Fr. 39.90.
Joseph Jung (Hrsg.): Alfred Eschers
Briefwechsel 1852–1866. NZZ Libro,
Zürich 2013. 441 Seiten, Fr. 74.90.
Das Schweizerische Institut für Auslandforschung (SIAF) wurde 1943 gegründet.
In schwierigen Zeiten sollte es für qualifizierte Information und Meinungsbildung sorgen. Nun kann das SIAF seinen
70. Geburtstag feiern. Aus diesem Anlass
hat sein derzeitiger Präsident, der langjährige
NZZ-Feuilletonchef
Martin
Meyer, einen Band mit 35 Vorträgen zusammengestellt, die im Lauf der Jahrzehnte am Institut gehalten wurden.
Eindrücklich ist die Liste der zwei Referentinnen und dreiunddreissig Referenten: Sie reicht von Hannah Arendt und
Karl R. Popper bis zu Ulrich Bremi und
Urs Schoettli, von Otto Graf Lambsdorff
und Helmut Schelsky bis zu Kaspar Villiger und Gerhard Schwarz. Es geht um
Moral, Freiheit und Verantwortung, um
die Wirtschaftspolitik der Schweiz und
Europas im Wandel, um die Positionierung der Länder des Fernen Ostens im
Kräftespiel der Weltmächte.
Mit dem fünften und bisher letzten Band
gibt Joseph Jung, Geschäftsführer der Alfred-Escher-Stiftung, 106 Briefe von und
an Alfred Escher zwischen 1852 und 1866
heraus. Die Korrespondenz, die erstmals
im vollen Wortlaut publiziert wird, gibt
einen Einblick in die vielfältigen Themen, mit denen sich der damalige Zürcher Regierungspräsident, National- und
Kantonsrat, Eisenbahnpionier und Kreditanstalt-Chef beschäftigt hat. Dabei
bleibt auch seine persönliche Entwicklung nicht ausgespart: seine Heirat und
die Geburt der ersten Tochter, Lydia,
aber auch der Tod der zweiten Tochter
im Kindsalter 1862 («wie gross unser aller
Schmerz ist»). Die sorgfältig edierte und
kommentierte Briefsammlung illustriert
auch die aus heutiger Sicht schier unglaubliche Machtballung in einer Person,
die in Bern wie in Zürich die Wirtschafts-,
Bildungs-, Bahn- und Aussenpolitik wie
keine zweite geprägt hat.
Verena Wermuth: Wiedersehen mit Scheich
Khalid. Weltbild, Olten 2013. 175 Seiten,
Fr. 28.90.
Susan Sontag: Ich schreibe, um
herauszufinden, was ich denke. Hanser,
München 2013. 558 Seiten, Fr. 36.90.
Die Kritiker-Gilde mag über solche Literatur lächeln: Doch Verena Wermuth hat
mit «Die verbotene Frau» über ihre heimliche Liebe zu einem Scheich aus Dubai,
den sie als 23-Jährige in London kennengelernt hatte, aber nicht heiraten durfte,
2007 einen Bestseller geschrieben. Über
300 000 mal wurde das Buch allein im
deutschen Sprachraum verkauft. Nächste Woche wird das gleichnamige TV-Drama auf Sat.1 ausgestrahlt. Und Wermuth,
inzwischen 57, die über ein bemerkenswertes Schreibtalent verfügt, legt einen
Folgeband über das Wiedersehen mit
Khalid vor. Beide sind heute mit andern
Partnern verheiratet, treffen sich aber erneut nach 18 Jahren. Das Buch enthält
alles, was den Erfolg ausmacht: Sehnsucht, Schmerz, unerfüllte Liebe und
einen verzehrenden Mail- und SMS-Verkehr. Kitschig, aber wahr – ein Traum,
den in dieser Welt ja so viele träumen.
Der erste Band der Tagebücher von
Susan Sontag (Wiedergeboren, 2010) betraf einen unglaublich begabten und
frühreifen Teenager. Dieses Faszinosum
fällt nun weg. Im zweiten Band ist die
Autorin eine 31- bis knapp 50-jährige Intellektuelle. Was diese tut, wo sie sich
aufhält, wohin sie reist, wen sie trifft –
davon erfahren wir leider nichts. Noch
nicht mal über ihre Erkrankung an Brustkrebs, die in diese Jahre fällt, schreibt sie
mehr als einige Worte. Nein, in ihren Tagebuchnotizen geht es einzig darum,
was sie denkt – über Bücher, Filme, Menschen, was sie sehnlichst will – eine gute
Schriftstellerin sein, und wo sie versagt
– beim disziplinierten Aufstehen. Über
Sontags Leben und Lieben erfahren wir
hier nahezu nichts, über ihr Wesen umso
mehr. Auch dank einem wie immer klugen und einfühlsamen Vorwort ihres
Sohnes und Herausgebers David Rieff.
Manfred Papst
Urs Rauber
Urs Rauber
Kathrin Meier-Rust
24. November 2013 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 19
Sachbuch
Geschichte Am 28. Januar 2014 jährt sich der Todestag von Karl dem Grossen (742–814). Der römische
Kaiser, der auch auf dem Boden der Schweiz Klöster gegründet hat, gilt als einer der bedeutendsten
Herrscher des Abendlandes
Erführtedie
Schönschriftein
Die Zeit Karls des Grossen in der Schweiz.
Begleitband zur Ausstellung im
Landesmuseum Zürich. Hrsg. Georges
Descoeudres, Jürg Goll, Markus Riek.
Benteli, Sulgen 2013. 336 Seiten,
Fr. 84.90.
Johannes Fried: Karl der Grosse. Gewalt
und Glaube. C. H. Beck, München 2013.
736 Seiten, Fr. 44.90, E-Book 30.90.
Stefan Weinfurter: Karl der Grosse. Der
heilige Barbar. Piper, München 2013.
352 Seiten, Fr. 34.90.
Steffen Patzold: Ich und Karl der Grosse. Das
Leben des Höflings Einhard. Klett-Cotta,
Stuttgart 2013. 408 Seiten, Fr. 35.90,
E-Book 30.90.
Von Alexis Schwarzenbach
Der 1200. Todestag von Karl dem Grossen am 28. Januar 2014 beflügelt die Kulturindustrie. Während zahlreiche Verlage schon Publikationen auf den Markt
gebracht haben, beginnt die ambitionierteste museale Auseinandersetzung mit
dem grossen Karolinger im Juni 2014 in
seiner Lieblingsresidenz Aachen. Der
König soll die Stadt unter anderem ihrer
heissen Quellen wegen geschätzt haben
und fand dort auch seine letzte Ruhestätte. Nicht weniger als drei Ausstellungen werden sich in Aachen den Themenkreisen Macht, Kunst und Schätze widmen. Das Patronat hat der deutsche Bundespräsident übernommen, und man
hofft mit Attraktionen wie dem Lorscher
Evangeliar oder dem Karlschrein in 3D
auf Besuchermassen.
Die Resultate der Jahrestagskultur
sind von unterschiedlicher Qualität. Die
seit September im Landesmuseum Zürich gezeigte Schau «Karl der Grosse und
die Schweiz» legt den Fokus auf die kulturelle Hinterlassenschaft der Karolinger
auf dem Gebiet der heutigen Schweiz. Da
die Eidgenossenschaft mit den Klöstern
St.Gallen und Müstair über kulturelle
20 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. November 2013
Hot Spots der Epoche verfügt, kann die
karolingische Renaissance mit eindrücklichen Objekten veranschaulicht werden. Neben zahlreichen Büchern, in
denen die unter Karl dem Grossen eingeführte Schönschrift, die karolingische
Minuskel, bewundert werden kann, belegen auch Steinmetzarbeiten und Reliquiare den hohen kulturellen Stand der
damaligen Zeit.
Der Begleitband zur Ausstellung ist
eine klassische Sammlung von Gelehrtenaufsätzen, auf die sich die Ausstellung teilweise stützt. Er beleuchtet
nacheinander Architektur, Skulptur,
Wandmalereien, Kunsthandwerk sowie
Schrift- und Buchkultur. Reich illustriert
und mit einem ausführlichen Apparat
versehen kann der Band dank einer
Landkarte über «sichtbare karolingische
Kunst in der Schweiz» auch zur Ausflugsplanung verwendet werden.
Weinfurters Meisterwerk
Wer sich anhand eines historischen Textes ein Bild von Karl dem Grossen machen möchte, hat die Qual der Wahl. Die
drei für diese Rezension untersuchten
Bücher stammen von Historikern, die an
renommierten deutschen Universitäten
lehren bzw. gelehrt haben. Zwei davon
ziert das Aachener Büstenreliquiar Karls
aus dem Jahr 1349. Damit sind die Gemeinsamkeiten der Werke des emeritierten Frankfurter Historikers Johannes
Fried und seines Heidelberger Kollegen
Stefan Weinfurter indes bereits erschöpft. Denn wer sich auf eine erhellende Darstellung einer historischen Figur
freut, mit der man sich, wie der Autor des
vorliegenden Beitrags, seit der Schule
nicht mehr beschäftigt hat, wird bei der
Lektüre von Johannes Frieds 736 Seiten
starkem Werks bitter enttäuscht.
Neben mangelndem Vorwissen auf
Seiten des Lesers liegt dies vermutlich
auch an einer allzu grossen Nähe des Autors zu seinem Thema. Denn obwohl
Fried nicht weniger als 14 eigene Werke
über Karl den Grossen in der Bibliografie
aufführt, bietet er interessierten Laien
keinen einfachen Zugang zu seinem Spezialgebiet.
Eine romanhafte, mit Metaphern und
szenischen Beschreibungen durchsetzte
Sprache verschleiert den Zugang zu den
wichtigsten Fakten, die für das Verständnis einer Epoche unabdingbar sind. Den
verwirrten Leser lässt Fried mit Aussagen
wie «Annäherungen also, nur Annäherungen an jene fernen Epochen sind
möglich», buchstäblich in dem Regen
stehen, mit dessen Beschreibung er sein
Buch beginnt.
Einen ganz anderen
Zugang zum Protagonisten vermittelt Stefan Weinfurter. Sein
351 Seiten starkes
Buch ist so gut geschrieben, dass man es
auch dann gerne weiterliest, wenn man eigentlich etwas anderes
tun müsste. Weinfurter stellt
gleich zu Beginn vieles klar, nicht nur die
wichtigsten Fakten und Ereignisse, sondern auch die eigene Position als Forscher. Transparent erklärt der Historiker,
dass für ihn das Streben nach Eindeutigkeit die Herrschaft Karls des Grossen
charakterisiere.
Diese These wird anhand zahlreicher
Beispiele erläutert, von der Einführung
der karolingischen Minuskel bis hin zum
politischen Projekt des Frankenkönigs,
die Unordnung der nachrömischen Epoche durch die Errichtung eines neuen
Kaiserreichs zu beenden. Dabei verweist
Weinfurter stets auch auf die neusten
Forschungsleistungen anderer und überlässt es seinen Leserinnen und Lesern,
ob sie ihm in seiner These folgen möchten oder nicht.
Bevor er im vierten Kapitel auf Kindheit und Jugend des Frankenkönigs zu
IMAGEBROKER
Langzeit-Kaiser,
Stratege und
Kulturpatron: Karl der
Grosse. Bronzestatue
aus Hamburg,
19. Jahrhundert.
sprechen kommt, beginnt Stefan Weinfurter sein Buch mit
der Analyse unseres
Verhältnisses zu Karl
dem Grossen sowie
einer ausführlichen
Quellenkritik.
In
einer
einfachen
Sprache vermittelt
er komplexe Sachverhalte, die für das
spätere Verständnis
der Karlsvita erforderlich sind, aber
auch
empirische
Fakten, wie man das
gemeinhin
von
einem Biografen erwartet.
So streicht der
Autor ganz zu Beginn seines Buches
die sehr lange Regentschaft Karls – sie dauerte fast ein halbes
Jahrhundert – als Spezifikum heraus und
erwähnt wenig später,
dass das Skelett des
Kaisers auf eine Körpergrösse von 1,80 bis
1,90 Meter schliessen
lässt. Dazu bemerkt
Weinfurter: «Die heute noch vorhandenen
90 Knochen und Knochenfragmente sind
die Gebeine eines
Greises, so dass man
den einen oder anderen Zentimeter für den
jungen Karl vielleicht
noch
dazurechnen
darf.»
Weinfurters
Werk
überzeugt durch einen
klaren Aufbau, der chro-
nologisch gegliedert ist, aber gleichzeitig
den Bogen von den politischen Ereignissen bis hin zu den kulturellen Errungenschaften schlägt. Die Kriege gegen Langobarden, Baiern und Sachsen werden
ebenso nachvollziehbar dargestellt wie
der Aufbau eines internationalen Gelehrtenkreises oder die mit viel politischem
Kalkül verfolgte Beziehung zum Papsttum. Besonders gelungen ist die Analyse
des Familienlebens von Karl dem Grossen. Die politisch-taktischen Überlegungen für die zahlreichen Ehen und Liebschaften des Monarchen werden ebenso
offengelegt wie biografische Details, die
Familienmitglieder menschlich fassbar
machen. Auch die Kinderschar wird als
Machtfaktor analysiert. Während Karl
seine «allersüssesten Töchter» (dulcissimae filiae) zeitlebens bei sich behielt
ohne sie zu verheiraten, um Machtansprüche von Schwiegersöhnen zu verhindern, schickte er zwei Söhne schon
im Kindesalter als Regenten von Teilreichen in die Ferne.
Aus der Sicht eines Höflings
Eine alternative Perspektive auf das
Karlsthema wählte der Tübinger Geschichtsprofessor Steffen Patzold. Er
schrieb die Lebensgeschichte des Höflings Einhard, der 829 eine Karlsvita verfasste.
Damit schuf Einhard nicht nur eine
der wichtigsten Quellen über Karl den
Grossen, sondern begründete auch das
Genre der Herrscherbiografie neu, das
seit der Antike in Vergessenheit geraten
war. Als enger Berater Karls des Grossen
war Einhard selber ein wichtiger Augenzeuge, blieb darüber hinaus aber auch
noch unter Karls Sohn und Nachfolger
Ludwig dem Frommen bei Hof.
So vermittelt Steffen Petzolds Einhard-Monografie wertvolle Einblicke in
die auf die Karlszeit folgenden Wirren,
die schliesslich in die Aufspaltung des
Reiches mündeten. ●
24. November 2013 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 21
Sachbuch
Biografie Mit «Nils Holgersson» wurde Selma Lagerlöf (1858–1940) zur
Übermutter der schwedischen Literatur
Erlesene
Weine …
Die Sorte Heida wird auch Païen oder Savagnin
genannt und stammt vom Traminer ab. Sie
gehört zum grossen kulturellen Schatz des
Walliser Weinbaus und wird nur in homöopathischen Mengen angebaut.
Mit Chandra Kurt zusammen hat Provins einen
charakterstarken Weisswein produziert, der
sich kraftvoll und geschmeidig an den Gaumen
schmiegt. Ein hervorragender Essensbegleiter
mit viel Schmelz.
Fr. 19.50
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Heida AOC Chandraa Kurt
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AusderschäbigstenSituat
Wunderbareszaubern
Barbara Thoma: Selma Lagerlöf. Von
Wildgänsen und wilden Kavalieren.
Römerhof, Zürich 2013. 350 Seiten,
Fr. 39.90.
Von Kathrin Meier-Rust
Selma Lagerlöf war über vierzig und bereits eine berühmte Schriftstellerin, als
sie eine ungewöhnliche Anfrage erreichte: Das einzige in der Schule nebst Katechismus und Bibel zugelassene Lesebuch sei veraltet, schrieb ihr eine Kommission der Nationalen Schwedischen
Lehrervereinigung. Ob die Schriftstellerin, selbst einmal Lehrerin, an einem «literarischen Geografiebuch» mitarbeiten
möchte, das Schulkindern die verschiedenen Regionen Schwedens mit Naturschilderungen, Sagen, Gedichten und
Erzählungen nahebringen würde? Der
Auftrag interessierte Lagerlöf sehr, erfüllen wollte sie ihn jedoch auf ihre eigene
Art: In höflichen Briefen stellte sie klar,
dass sie ein solches Buch nur ganz alleine
schreiben wolle, damit es «durchgängig
eine … volkliche schwedische Stimmung
habe».
In der Folge unternahm die Schriftstellerin mehrere Recherche-Reisen,
sammelte Unmengen an Fachliteratur
und lokalen Legenden, Sagen und Geschichten, die sie seit Kindertagen liebte.
Lange suchte sie nach einer Erzähltechnik, um das überreiche Material kindgerecht zu präsentieren. Bis ihr, wie sie später erzählte, die Tierbücher von Rudyard
Kipling eingefallen seien – und damit die
Lösung.
Wenn Kraniche tanzen
Schweiz
Wallis
10 – 12°C
Heida
Aperitif oder als
Begleiter zu
Krustentieren
22 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. November 2013
Das Volksschullehrbuch für Geografie,
das 1906/07 in zwei Bänden erschien,
hiess «Nils Holgerssons wunderbare
Reise». Im Zeitalter vor Harry Potter war
es das gewaltigste literarische Werk, das
je für Kinder geschrieben wurde. Die Parallelen zu Kiplings Dschungelbuch sind
tatsächlich frappierend: dem Wolfsrudel
im Dschungel entspricht in Schweden
die Schar der Wildgänse; wie dort die
Elefanten, tanzen hier die Kraniche; der
schwarze Panther wird zum schwarzen
Raben und der schreckliche Tiger Shere
Khan zum gerissenen Fuchs Smirre. Und
doch ist die abenteuerliche Flugreise des
14jährigen Nils, der zur Strafe für seine
Bosheit in einen Däumling verwandelt
wird und nun die Sprache der Tiere versteht, eine ganz und gar eigene Schöpfung, in der sich, wie immer bei Selma
Lagerlöf, die reale Welt mit dem Übernatürlichen und Mythischen ganz zwanglos verbindet.
Mit Nils Holgersson begann ein «Höhenflug» – so Barbara Thoma in ihrer lie-
Mit dem fliegenden
Nils Holgersson wurde
die schwedische
Schriftstellerin
Selma Lagerlöf 1906
weltberühmt.
bevollen neuen Biografie –, der Lagerlöf
als erste Frau zum Literatur-Nobelpreis
trug (1909). Und weiter zur Rolle als prominente Pazifistin und Frauenrechtlerin,
als erstes weibliches Mitglied der Schwedischen Akademie (1914), als Gutsherrin
über den verlorenen elterlichen Hof, den
sie zurückkaufen konnte, und als weltweit verehrte Überfigur der schwedischen Literatur.
Selma – die Biografin nennt sie durchwegs beim Vornamen, wie dies selbst in
der wissenschaftlichen Literatur in
Schweden Brauch sei – wuchs als viertes
von fünf Kindern auf dem Gutshof
Marbacka (heute ein Museum) im schwedischen Värmland auf. Während die beiden Brüder die Schule besuchten, wurden die drei Mädchen von Gouvernanten
unterrichtet. Selma, die an einem Hüftleiden litt, das sie zeitlebens hinken liess,
liebte die Märchen, Spukgeschichten
und Lieder ihrer Grossmutter über alles
und begann schon als kleines Mädchen
zu dichten und zu schreiben.
Während der trunksüchtige Vater den
Hof ruinierte, studierte die begabte
Selma am Königlichen Höheren Lehrerseminar in Stockholm. Als Lehrerin vermochte sie endlich ihre ersten, in alle
Stil- und Gattungsrichtungen ausufernden Schreibversuche zu einem Roman zu
bündeln: Zu «Gösta Berling», der Saga
um zwölf wilde Kavaliere, insbesondere
um den schönen, aber sündigen Pfarrer
Gösta, dem die Frauen reihenweise verfallen, den am Ende aber die wahre Liebe
läutert.
«Gösta Berling» fand enorme Beachtung. Doch im wahren Leben war von
wilden Kavalieren keine Spur zu sehen;
bis heute hat die Lagerlöf-Forschung
noch nicht einmal einen Namen eines
Verehrers der klugen jungen Selma gefunden. Dafür treten nun Frauen in ihr
Ein Machtloser
unter Mächtigen
Hans Küng: Erlebte Menschlichkeit.
Erinnerungen. Piper, München 2013.
752 Seiten, Fr. 39.90, E-Book 25.90.
Von Klara Obermüller
Leben. Zunächst die etwas ältere, ebenso
gebildete wie weltgewandte jüdische
Schriftstellerin Sophie Elkan, die Selma
zu langen exotischen Bildungsreisen entführt: nach Italien, Ägypten, Jerusalem.
«Man lernt, frei zu sein» schrieb Selma
damals nach Hause. 27 Jahre lang, bis zu
Sophies Tod im Jahr 1921, schrieben sich
die Freundinnen regelmässig zwei Briefe
pro Woche.
Längst gab es da schon eine zweite
Briefpartnerin, mit der Selma über
40 Jahre korrespondieren sollte: Valborg
Olander, eine junge Professorin für
schwedische Literatur, die ihr bald zur
unentbehrlichen Lektorin, Sekretärin
und Organisatorin wurde: «Eine richtige
Schriftsteller-Ehefrau» nennt Selma sie
zärtlich-ironisch in einem Brief.
Sophie und Valborg ignorierten sich nach
Kräften. Beide lebten zwar in Lagerlöfs
Haus, jedoch nie gleichzeitig. Gemunkelt
wurde zwar schon damals, doch der
Skandal platzte erst über sechzig Jahre
nach Lagerlöfs Tod, im Jahr 2006, als die
Publikation ihrer Briefe unmissverständlich klarmachte, dass die weibliche ménage à trois durchaus nicht nur platonischer Art gewesen war.
Feinfühlig und klar erzählt Barbara
Thoma von solch komplizierten Verhältnissen, kundig referiert sie über Entstehung, Inhalt und Aufnahme des grossen,
und heute zum grossen Teil vergessenen
Lagerlöf’schen Werkes. Selma selbst
kommt bei alledem ebenso reichlich zu
Wort, wie ihre Zeitgenossen, Schüler,
Verehrer und Kritiker. Damit entsteht ein
abgerundetes Bild dieser leidenschaftlichen Geschichtenerzählerin, deren
Credo es war, «auch aus schäbigsten Situationen das poetisch Wunderschöne
zum Vorschein zu bringen.» ●
CHRISTOPH RUCKSTUHL / NZZ
Frauenliebschaften
Autobiografien schreiben viele. Wenn
Hans Küng es tut, dann wird aus der
Lebensgeschichte persönlich reflektierte
Welt- und Kirchengeschichte. Der
Schweizer Theologe ist in diesem Jahr 85
geworden. Er hat alles erlebt, was nach
1945 in Kirche und Welt von Bedeutung
war. Durch seine unbeugsame Haltung
gegenüber Rom ist er zum Repräsentanten einer kritischen Theologie geworden. Durch seinen Einsatz für den Dialog
unter den Weltreligionen und die Lancierung des Projekts «Weltethos» hat er
sich Gehör bei Regierungschefs und internationalen Organisationen verschafft.
Der soeben erschienene dritte Band seiner Lebenserinnerungen legt davon beredtes Zeugnis ab.
Das Buch setzt dort ein, wo Küngs
Leben seine radikalste Wendung erfahren hat: beim Entzug der Lehrbefugnis
durch Papst Johannes Paul II. Und es
endet an der Schwelle zur unmittelbaren
Gegenwart mit Überlegungen zur jüngsten Papstwahl und ersten Schritten einer
Annäherung zwischen Tübingen und
Rom. Innerhalb dieser beiden Pole lässt
Küng, der sich ein Leben lang als einen
«aufgeklärten, ökumenisch offenen und
gesellschaftskritischen Christen» verstanden hat, die Themen seines Lebens
noch einmal Revue passieren. Es sind
dies: «Die unausweichliche Frage nach
Gott – Orientierung an Jesus Christus –
Kirche, Konzil und Reform – die mögliche Einheit der Christenheit.»
Buchstäblich mit letzter Kraft hat sich
der schwer an Parkinson erkrankte Theologe dieser gewaltigen Aufgabe entledigt
und ein Werk vorgelegt, das durch seine
Klarheit besticht und durch seine Offenheit berührt.
Es mag in manchen Teilen etwas gar
ausführlich geraten sein; doch Küngs gesellschaftliche Bedeutung, seine theologischen Positionen, seine religionspolitischen Impulse und sein
Verständnis einer zwar entschiedenen, aber stets loyalen Opposition
innerhalb der Kirche rechtfertigen
den Umfang des Buches allemal.
Geradezu zum Vermächtnis wird es im letzten Kapitel, in dem ein alt gewordener Kämpfer sich seiner
Endlichkeit stellt und in
schonungsloser Ehrlichkeit der Frage
nachgeht, wie er
dem eigenen Leiden und Sterben
zu begegnen gedenkt. ●
Erlesene
Weine …
Die Familie Tessari produziert seit 130 Jahren
Wein, bei Soave im Veneto. Das Weingut hat
sich ein hervorragendes Renomée im Weisswein erarbeitet. Die Weine zeichnen sich vor
allem durch ihre Eleganz und Trinkfreude aus.
Dieselbe Trinkfreude findet man in den klassisch, traditionellen Rotweinen von Ca’Rugate.
Der Ripasso Campo Bastiglia ist ein sehr schönes Beispiel, wie sich Kraft, Trinkfreude und
Konzentration in perfekter Harmonie ergänzen.
Das Weingut Ca’Rugate wurde im Gambero
Rosso 2013 als einziges Weingut Italiens mit
2 x 3 Bicchieri ausgezeichnet.
Fr. 18.90
Ripasso Valpolicella Campo Bastiglia Ca’Rugate
ionetwas
Theologie Der dritte Teil von Hans Küngs
Lebenserinnerungen wird zu seinem
Vermächtnis
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Italien
Veneto
14 – 16°C
Corvina,
Rondinella,
Corvinone
Zürcher Geschnetzeltes,
Hirschpfeffer und
Hartkäse
24. November 2013 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 23
Sachbuch
Biografie Der Obwaldner Hans Imfeld (1902–1947) war ein
Abenteurer, der als französischer Offizier in Vietnam und
Laos kämpfte
Erlesene
Weine …
Gigondas, im Herzen der Côtes du Rhône
gelegen, wird nicht zu unrecht als kleiner
Bruder von Châteauneuf du Pape gehandelt. Die
Weinberge an den Hängen der Dentelles des
Montmirail bringen kraftvolle und gut strukturierte Weine hervor, die sich durch ihre Harmonie und Eleganz auszeichnen. Der Gigondas der
Domaine Saint-François-Xavier präsentiert sich
kräuterig, würzig mit Noten von roten Früchten. Im Gaumen zeigen sich Aromen von
Kirschen, wirkt vollmundig mit runden Tanninen und einem langanhaltenden Abgang.
Fr. 19.90
Carlo von Ah: Durch Dschungel und Intrigen.
Ein Innerschweizer in Indochinas
Kriegswirren. Martin Wallimann,
Alpnach 2013. 375 Seiten, Fr. 29.–.
Von Urs Rauber
Schweizer Söldner in fremden Diensten
kennen eine lange Tradition. Ein spezieller Fall stellt jener von Hans Imfeld
(1902–1947) aus Sarnen (OW) dar, der als
französischer Offizier am Ende des Zweiten Weltkrieges in Indochina kämpfte
und scheiterte.
Imfeld hatte als Bub das Kollegium in
Sarnen besucht, das Handelsdiplom in
Fribourg erworben und war später als
Sohn einer französischen Mutter nach
Frankreich gezogen. In Fontainebleau
absolviert er die Offiziersschule. 1938
schickte man ihn nach Indochina, um als
militärischer Anführer mitzuhelfen, die
französische Kolonialherrschaft in Vietnam und Laos zu sichern. Imfeld war ein
Abenteurer, Guerillakrieger, Patriot und
Opiumsüchtiger. Zudem ein bigotter Katholik, der viel betete und in höchster
Gefahr gelobte, «eine Wallfahrt zu Fuss
von Sarnen nach Lourdes» zu unternehmen. Konfliktfreudig, oft undiplomatisch, aufbrausend, jähzornig verlangte
er sich und seinen Leuten viel ab, haderte im Unglück und war ein zutiefst vereinsamter Mensch.
Carlo von Ah erzählt Imfelds Lebensgeschichte aufgrund von dessen erhaltenen Tagebüchern, insgesamt rund 800
Seiten, und reichert diese mit fiktiven
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Gigondas Prestige Dentelles
VonSarnenin
denDschungel
Indochinas
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Dialogen an, die er aus weiteren Quellen
und Gesprächen mit Bekannten Imfelds
schöpfte. Der manchmal ausschweifende «Dokumentarroman» gibt Einblick in
das französische Kolonialgebaren im
Fernen Osten, das die fremden Völker
«zivilisieren» wollte und sich gleichzeitig
der japanischen und chinesischen «Konkurrenz» erwehrte, die ebenfalls ihre
Einflusssphären zu vergrössern suchten.
Der Krieg im vietnamesischen und laotischen Dschungel war begleitet von
Angst, Hunger, Elend und Chaos – aber
auch vom Zwist zwischen den französischen Résistance-Anhängern und den
Vichy-Franzosen in Indochina.
Kurz vor der Kapitulation Japans am
11. August 1945 war Imfeld zum französischen Kommissar für das Königreich
Laos in Luang Prabang ernannt worden.
Doch schon im September 1945 entwaffneten die viel stärkeren chinesischen
Truppen die Franzosen; es war für Imfeld «der schlimmste Augenblick meines
Lebens».
Die persönliche Niederlage Imfelds
ist verwoben mit der Agonie der französischen Kolonialherrschaft in Asien.
Gleichzeitig stieg im benachbarten Vietnam der asketische Ho Chi Minh, der clever zwischen den Fronten agierte, zum
Befreier auf. Das Buch schildert diese
weltpolitisch bedeutsame Entwicklung
aus einer eindrücklichen Nahsicht. Sarkastisch werden hingegen de Gaulles
Durchhaltebefehle beschrieben, die er
per Fallschirm an die französischen
Kämpfer absetzen liess. Imfelds Urteil:
de Gaulle habe über «grossartige Rheto-
Forschung Florian Fisch analysiert die Kontroverse um gentechnisch veränderte
Riesenstreit um winzigen Versuch
Florian Fisch: Ein Versuch. Genforschung
zwischen den Fronten. Helden,
Zürich 2013. 224 Seiten, Fr. 36.–.
Von Patrick Imhasly
Frankreich
Côtes du Rhône
16 – 18°C
Grenache, Syrah,
Mourvedre, Cinsault
Wild, Ente und
Coq au vin
24 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. November 2013
Gentechnisch veränderte Pflanzen wachsen weltweit auf Millionen Hektaren
Ackerfläche. Dank ihrer Eigenschaften
sind sie zum Beispiel vor Schädlingen geschützt – zum Nutzen des Menschen.
Einen nachweisbaren Schaden hat von
ihrem Anbau bisher niemand erlitten.
Trotzdem gelten diese Pflanzen in Europa vielen Bauern und Naturfreunden
als des Teufels. Warum ist die Debatte
um die grüne Gentechnik gerade auch in
der Schweiz dermassen emotional aufgeladen? Dieser Frage geht der Wissenschaftsjournalist Florian Fisch in seinem
Buch «Ein Versuch – Genforschung zwischen den Fronten» nach.
Grosse Rätsel lassen sich am besten im
Kleinen erkunden, deshalb hat Fisch den
richtigen Ansatz gewählt, indem er die
Kontroverse an einem Beispiel aufarbeitet. Als Modellfall dient ihm der Freisetzungsversuch von gentechnisch verändertem Weizen durch den ETH-Dozenten Christoph Sautter im Jahre 2004.
Akribisch hat Fisch die Geschichte dieses
Erlesene
Weine …
Unweit von Alba, im Herzen des Piemont, liegt
das Weingut der Familie Grasso. Seit 1927
produziert die Familie hier hochwertige
Piemonteser Weine. Diese spiegeln die Landschaft und Böden in Reinkultur wider. Der
Barbera ist ein ausgezeichnetes Beispiel für das
Schaffen von Federico Grasso, der heute für die
Weine verantwortlich ist. Intensiv, rubinrote
Farbe, duftet nach Himbeeren und Erdbeeren.
Sehr schöne Säure und eine gute Struktur. Der
Barbera ist ein kräftiger Wein, jedoch schön
und saftig zu trinken.
rik» verfügt, doch über keinerlei Kenntnisse der lokalen Verhältnisse.
Die reichlich eingestreuten Tagebuchauszüge geben die Wut, Verzweiflung
und den Schmerz des Verfassers in einer
nicht selten rüden, von Flüchen durchsetzten Sprache wider. Spürbar wird die
Schmach des 44-Jährigen Berufsoffiziers, als er aus Laos abgezogen wird und
für ihn monatelang keine weitere Verwendung in Aussicht steht.
Am 14. Juli 1946 schliesslich wird Imfeld in Saigon zum Ritter der Ehrenlegion
befördert und danach zum Kommandanten der Kampfgruppe Nordwest in Dien
Bien Phu. Doch der Krieg verlief für
Frankreich desaströs, und Imfeld wurde
in die Heimat zurückbeordert. Einen Tag
vor seiner Abreise nach Frankreich fiel er
dem Attentat eines Vietminh-Agenten
zum Opfer, der ihn mit einem anderen
Offizier verwechselt hatte.
Zwei Jahre später – im April 1949 –
wurde Hans Imfeld in Sarnen beigesetzt.
Das gut geschriebene Buch aus dem Obwaldner Wallimann Verlag erzählt diese
unbekannte Söldnergeschichte spannend; nur schade, dass es weder ein Inhaltsverzeichnis noch ein Personenregister enthält. ●
Hans Imfeld (Zweiter
von rechts) in einer
Opiumhöhle in Saigon,
um 1940.
Pflanzen in der Schweiz
Experiments und dessen politische Instrumentalisierung recherchiert. Er hat
mit allen relevanten Akteuren gesprochen, die an dem Versuch beteiligt waren
– vom Chef des zuständigen Bundesamts
(damals Buwal), Philippe Roche, bis zur
Ikone der Gentechgegner, der Basler Biologin Florianne Koechlin.
Florian Fisch erzählt die Geschichte in
einer packenden Mischung von Hintergrundbericht, Interviews und rekonstruierten Reportageelementen. Man ist
dabei, wenn Christoph Sautter beim Versuchsfeld in Lindau übernachtet, aus
Angst die Greenpeace-Aktivisten könnten sein Versuchsfeld vernichten. Unnö-
tig nur, dass sich der Autor Florian Fisch
auf die eine Seite schlägt. «Das Buch . . .
nimmt Stellung für eine Partei, die sich
schwertut, ihre Position klar zu vermitteln: die Wissenschaft», schreibt Fisch.
Dabei hätten die Fakten doch für
sich gesprochen. So gesteht Buwal-Chef
Philippe Roche, der damals neutral hätte
sein sollen, ein, er habe «nicht viel Sympathie für das Projekt» gehabt. Und dass
der Berner Chefbeamte vor der ersten
Ablehnung des Experiments, statt die
Umstände nüchtern abzuwägen, den
Entscheid «in einer Art Meditation» gefällt hat, schlägt dem Fass noch heute
den Boden aus. ●
Barberaa d’Alba
d Alba Silvio Gra
Grasso
asso DOC
Fr. 15.40
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Italien
Piemont
16 – 18°C
Barbera
Pasta, Trockenfleisch,
typisch
italienische Küche
24. November 2013 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25
Sachbuch
Nationalsozialismus Im Dezember vor 50 Jahren begann in Frankfurt der Auschwitz-Prozess. Der
jüdische Emigrant Fritz Bauer dirigierte die Anklage
«IhrhättetNeinsagenmüssen»
Ronen Steinke: Fritz Bauer oder Auschwitz
vor Gericht. Piper, München 2013.
352 Seiten, Fr. 34.90, E-Book 19.–.
Devin O. Pendas: Der Auschwitz-Prozess.
Völkermord vor Gericht. Siedler,
München 2013. 432 Seiten, Fr. 37.90,
E-Book 24.90.
Von Claudia Kühner
«Wenn ich aus dem Büro komme, betrete
ich feindliches Ausland», sagte Fritz
Bauer zu Anfang der sechziger Jahre. Er
war jetzt Generalstaatsanwalt in Hessen
und hatte sich viele Gegner gemacht
durch Verfahren, die mit der NS-Zeit zu
tun hatten. Die Justiz war durchsetzt mit
Altnazis – und mitten unter ihnen wirkte
der Jude, Emigrant und Sozialdemokrat,
der es sich zur Aufgabe gemacht hatte,
die grosse Öffentlichkeit mit den Mitteln
des Rechts über die Verbrechen des Dritten Reichs aufzuklären. Anfeindungen
bis hin zu Morddrohungen gehörten zu
seinem Alltag. Man fand ihn am 1. Juli
1968 tot in der Badewanne. Die Gerichtsmedizin attestierte einen natürlichen
Tod.
Für immer mit Bauers Namen verbunden ist der Auschwitz-Prozess, der im
Dezember 1963 eröffnet wurde. Ohne ihn
hätte es dieses Verfahren nicht gegeben.
Bauers Haltung war: Jeder, der mitgemacht hat, ist schuldig, auch wenn er
nicht eigenhändig gemordet hat. Damit
stand er unter Juristen ziemlich alleine.
Ein einsamer Mensch
Zum 50. Jahrestag des Auschwitz-Prozesses hat der Jurist und Journalist
Ronen Steinke eine Biografie Bauers vorgelegt. Kein leichtes Unterfangen, denn
als Mensch war Fritz Bauer extrem verschlossen. Mutmasslich war er homosexuell. Jedenfalls blieb er zeitlebens allein, und auch einige Freundschaften
wie jene zu Thomas Harlan, dem Sohn
des NS-Filmregisseurs, nahmen ihm die
Einsamkeit nicht. Die flüssig geschriebene Biografie ist dennoch informativ,
denn im Vordergrund steht Bauers öffentliches Wirken. Steinke erschliesst
auch neue Quellen über die frühen Jahre.
1903 in Stuttgart geboren, Sohn assimilierter Juden, studierte Fritz Bauer in
Heidelberg und Tübingen Jura. Er machte bei einer jüdischen Verbindung mit,
war an jüdischen Themen interessiert.
Sein tiefes Engagement aber galt bald der
Sozialdemokratie. Schon dies machte
den jungen Juristen im württembergischen Staatsdienst zum Aussenseiter.
Nach einer mehrmonatigen KZ-Haft entkam Bauer 1936 nach Dänemark und
1943 nach Schweden. Hier schloss er sich
anderen emigrierten Sozialdemokraten
wie Willy Brandt und Bruno Kreisky an.
Hier arbeitete er an seinen Ideen über
Kriegsverbrechen vor Gericht.
Um diese Vorstellungen umzusetzen,
wollte Bauer nach Kriegsende zurück
26 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. November 2013
Am 20. Dezember
1963 begann in
Frankfurt, im
Rathaus Römer, der
Auschwitz-Prozess.
Fritz Bauer dirigierte
die Anklage, blieb
aber selber im
Hintergrund.
nach Deutschland. 1949 wurde er zum
Generalstaatsanwalt in Braunschweig
berufen. Hier führte er 1952 seinen ersten Prozess mit öffentlicher Wirkung.
Verhandelt wurden der 20. Juli und die
Frage, ob es Verleumdung war, die Attentäter als «Verräter» zu bezeichnen.
Für Bauer hatte der Widerstand nicht
nur legitim, sondern auch legal gehandelt, und den Millionen ehemaliger
Wehrmachtsangehörigen hielt er ein «Ihr
hättet Nein sagen müssen» entgegen.
Jenseits des Strafrechts strebte Bauer
eine Art «Reeducation» an. Zu diesem
Zweck zog er Zeithistoriker als Gutachter
heran. Und machte sich damit ringsum
Feinde. Bauer vermied es, seine jüdische
Herkunft zu erwähnen. Nur schon weil
zurückgekehrte Juden, zumal ein Staatsanwalt, im Nachkriegsdeutschland gern
als «Rächer» verunglimpft wurden.
1956 wurde Bauer zum Generalstaatsanwalt nach Hessen berufen, und in
Frankfurt erreichten ihn Hinweise aus
Buenos Aires auf Eichmanns Versteck.
Misstrauisch, wie er inzwischen war, gab
er sie nicht an die deutschen Behörden
weiter, sondern an den israelischen Mossad, der Eichmann 1960 dann entführte.
Bauer wollte verhindern, dass der Organisator des Holocaust gewarnt würde.
Nur durch Zufall gerieten auch erste
konkrete schriftliche Hinweise auf Täter
in Auschwitz in die Hände der Justiz,
und Bauer «lotste» das Verfahren nach
Frankfurt. 22 Angeklagte standen
schliesslich in einem fast zweijährigen
Verfahren vor Gericht. Bauer dirigierte
die Anklage, überliess den Gerichtssaal
aber jungen, nicht belasteten Staatsanwälten, was Steinke als «einzigartigen
Glücksfall» bezeichnet. Bauers grosses
Ziel war es, mit dem Prozess Lehren für
einen demokratischen Rechtsstaat aufzuzeigen. Für die Richter aber standen
die konkreten Tatumstände im Zentrum.
In früheren Verfahren waren Hitler,
Himmler, Heydrich bereits zu «Haupttätern» erklärt worden, alle anderen galten
in der deutschen Rechtssprechung von
da an als Mittäter und wurden meist nur
wegen Beihilfe verurteilt. Dies geschah
dann 1965 auch im Auschwitz-Prozess.
Als fehlgeschlagen bezeichnet Steinke
Bauers Absicht, die Deutschen aufzuklären, obwohl der Prozess medial breit begleitet wurde.
Bauer vereinsamte immer mehr, arbeitete bis zum Umfallen, rauchte Kette.
Wenige Monate vor seinem plötzlichen
Tod 1968 gewann die NPD in BadenWürttemberg, seiner alten Heimat,
9,8 Prozent der Stimmen.
Gescheiterter Prozess
Wer sich vor allem für die rechtlichen,
prozesstaktischen und historiografischen Imperative des Auschwitz-Prozesses interessiert, dem bietet der amerikanische Historiker Devon O. Pendas eine
ausgezeichnete und leicht verständliche
Ergänzung.
Pendas untersucht in erster Linie die
Rolle der Richter, Anwälte und Zeugen,
deren erlebte Wahrheit eine andere war
als die rechtlich massgebende. Er legt
dar, wie unmöglich es war, diesem
Menschheitsverbrechen mit dem Deutschen Strafgesetzbuch von 1871 beizukommen. Pendas wertet den Prozess als
ein gewissenhaft geführtes Verfahren,
das jedoch unfähig blieb, die historische
Dimension mitzuverhandeln. An Fritz
Bauer aber lag dies nicht. ●
Frauengeschichte Die Baslerin Emilie Linder (1797–1867) war eine
bedeutende Mäzenin der europäischen Kulturgeschichte
SiekaufteKunstund
unterstütztedieArmen
Die Schweizerische Radio- und Fernsehgesellschaft SRG, eine von der ganzen
Bevölkerung finanzierte Institution,
strahlte im November eine vierteilige
Serie zur Schweizer Geschichte aus, in
der die Hälfte dieser Bevölkerung keine
Rolle spielte. Als ob Frauen keinen historischen Beitrag zu heutigen Schweiz geleistet hätten. Natürlich haben sie das
getan. Emilie Linder zum Beispiel, auch
wenn dieser Name heute den wenigsten
geläufig sein wird. Die Baslerin stand –
wie so viele Frauen – im Schatten ihrer
Zeitgenossen, zum Beispiel demjenigen
von Clemens Brentano, der sie glühend
verehrte.
Aus diesem Schatten haben sie nun
der Historiker Patrick Braun und der
Kunsthistoriker Axel Christoph Gampp
herausgeholt. Sie lassen in ihrem Sammelband verschiedene Fachleute zu
Wort kommen, die das facettenreiche
Leben dieser Schweizerin beleuchten.
Schon die Kapitelüberschriften lassen
erahnen, dass es keine gewöhnliche
Frauenvita war: Nach Beiträgen zu «Persönlichkeit und Kontext» folgen Artikel
zu den Themen «Nazarener, Künstlerinnen der Romantik, die Malerin», während das letzte Kapitel der «Wohltäterin,
Marienkirche, Kunstökumene» gewidmet ist.
Emilie Linder wurde 1797 in eine
wohlhabende protestantische Basler Familie hineingeboren. Geprägt hat sie ihr
Grossvater, ein bekannter Kunstsammler, der ihren ausgefallenen Berufswunsch «Historienmalerin» unterstützte. Ihr vermachte er auch sein Vermögen
und seine bedeutende Bildersammlung.
Emilie genoss die übliche Erziehung, beschloss aber schon früh, nicht zu heiraten. Damals eine mutige Entscheidung!
Mit 27 Jahren ging sie nach München, um
an der Kunstakademie zu studieren, wo
die religiöse Richtung der Nazarener gefördert wurde. Es folgten Jahre in Basel,
Rom und wieder München, in denen Linder rege am gesellschaftlichen Leben
teilnahm.
Das beträchtliche Vermögen ermöglichte eine unabhängige Lebensweise.
Sie reiste mit anderen Frauen, unter anderem der Malerkollegin Rosalie Wieland-Rottmann, die ihre Freundin einfühlsam porträtierte. Linder malte auch
selber, allerdings war sie der Auffassung,
dass die zentrale Aufgabe der Kunst das
Darstellen und Vermitteln von Glaubensinhalten war. Malen war für sie eine religiöse Handlung, ein spirituelles Gespräch mit Gott.
Undatiertes Porträt
der Baslerin Emilie
Linder, gemalt von
ihrer Freundin Rosalie
Wieland-Rottmann.
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Ein getötetes Mädchen im Straßengraben, ein Schmugglerring,
der keine Gnade kennt: der neue
Fall für Tempe Brennan.
Kathy Reichs’ packende Romane
sind Vorlage für die erfolgreiche
Fernsehserie „BONES – die Knochenjägerin“.
448 Seiten I CHF 28,50 (empf. VK-Preis)
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© iStock
Von Geneviève Lüscher
In Rom entwickelte sie sich immer
mehr von der Malerin zur Mäzenin und
Kunstsammlerin, wobei sie gezielt Bilder
der Nazarener Richtung kaufte und mit
entsprechenden Künstlern Verträge abschloss. Mit der Unterstützung dieser
Kunstrichtung betrieb sie indirekt Gesellschaftspolitik, denn die Nazarener
waren ein Teil der restaurativen Gegenbewegung zur Aufklärung.
In München, wo sie bis zu ihrem Tod
1867 lebte, gab Linder Gesellschaften,
unterhielt einen Salon, in dem sich die
Grössen ihrer Zeit trafen. Hier bot sich
beiden Geschlechtern zwanglos die Möglichkeit des intellektuellen Austauschs
und der Pflege von Freundschaften. Clemens Brentano, der Linder verehrte und
gar heiraten wollte, holte sich allerdings
einen Korb. Die Angebetete bestand auf
einer gleichberechtigten, intellektuellen
Freundschaft und auf Unabhängigkeit.
1843 konvertierte Linder, wie viele Romantiker, zum Katholizismus und zog
sich zurück. Sie half bedürftigen Menschen und Familien, unterstützte Kirchen, Klöster, Schulen und Spitäler. Ihre
zunehmend religiös motivierte Lebensführung prägte später das Bild der frommen Wohltäterin, während ihr Kunstsinn
und ihre Intellektualität aus dem Blick
gerieten. Die vorliegende Publikation
rückt diese Aspekte eines für die damalige Zeit ungewöhnlichen Frauenlebens
wieder ins Licht. ●
KUNSTMUSEUM BASEL
Patrick Braun, Axel Christoph Gampp
(Hrsg.): Emilie Linder 1797–1867. Malerin,
Mäzenin, Kunstsammlerin. Merian,
Basel 2013. 303 Seiten, Fr. 37.90.
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24. November 2013 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27
Sachbuch
Antike Der römische Konsul Marcus Tullius Cicero (106–43 v. Chr.) erhält eine neue Biografie aus der
Feder des Althistorikers Wolfgang Schuller
InMachtkämpfenzerrieben
Wolfgang Schuller: Cicero. Oder der letzte
Kampf um die Republik. C. H. Beck,
München 2013. 256 Seiten, Fr. 37.90.
Von Janika Gelinek
Inmitten einer politisch höchst turbulenten Zeit, in der Cäsar soeben Konsul geworden war und er selbst massiv an Einfluss eingebüsst hatte, schreibt Marcus
Tullius Cicero 59 v. Chr. an seinen Freund
Atticus: «Was aber werden wohl über unzählige Jahrhunderte hin die Geschichtswerke rühmend über mich hervorheben?
Vor diesen empfinde ich in der Tat viel
mehr Scheu als vor dem nichtigen Gerede unserer Zeitgenossen.»
Er hätte sich keine Sorgen machen
müssen. Bereits in der Antike begann
eine bis heute andauernde Cicero-Rezeption. Das liegt zum einen an der ungewöhnlich umfangreichen Quellenlage –
etwa 50 Reden sind neben Ciceros politischen und rhetorischen Schriften erhalten, darüber hinaus fast 1000 Privatbrie-
fe, die einen faszinierenden Einblick in
sein Denken und in den Alltag der ausgehenden römischen Republik geben.
Zum anderen bietet Cicero mit seinen
vielfältigen Tätigkeiten als Anwalt und
Politiker, als Schriftsteller, Philosoph
und Rhetoriker bis heute weitreichende
Anschlussmöglichkeiten. Entsprechend
muss sich eine neue Cicero-Biografie,
wie sie der Althistoriker Wolfgang Schuller nun vorgelegt hat, an der Frage messen lassen, welche Aufschlüsse sie über
diese so sattsam erforschte Persönlichkeit neu zu geben vermag.
Schuller wählt dafür überraschenderweise eine Art moralisch-menschlicher
Verortung: «Er hatte ein Leben voll staunenswerter Stärken und beklagenswerter Schwächen geführt, ein gutes, nicht
in allem beispielhaftes, ein menschliches
Leben.» Cicero sei ein «empfänglicher,
emotionaler, generöser, gelegentlich
leichtgläubiger und weicher Mensch» gewesen, der in den schnell changierenden
Machtkonstellationen der zerfallenden
römischen Republik zum Scheitern ver-
Kultkrimi Lieblingsorte des Grauens
Die Krimiserie ist Kult. Millionen setzen sich sonntagabends vor den Fernseher und schauen das Grauen. Sie
fiebern mit, wenn die populären Ermittlerteams die
«Tatort»-Verbrechen aufklären. Sie freuen sich an den
Running-Gags und Dialogen der Protagonisten, an ihren
Marotten und Schwächen. Die eigentlichen Orte des
Geschehens treten dabei oft in den Hintergrund. Licht
in das Dunkel bringt der Sammelband «Schauplatz Tatort – Die Architektur, der Film und der Tod», an dem
einer der Altmeister des Fachs, der den Münchner Kommissar Franz Leitmayr spielende Schauspieler Udo
28 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. November 2013
Wachtveitl, mitgewirkt hat. Fakten zu allen 36 Kommissaren der Serie, inklusive des Luzerner Duos und der
Lieblinge aus Wien, ihre Familien- und Wohnverhältnisse, die Vorlieben, die Städte und Gebäude, in denen
sie Verbrecher jagen und die Ermittlungen führen – all
das ist in dem 200 Seiten schweren Band vereint. «Tatort»-Fans bietet das Buch einen aufschlussreichen Fundus an Erkenntnissen. David Strohm
Udo Wachtveitl u. a.: Schauplatz Tatort. Die Architektur,
der Film und der Tod. Callwey, München 2013.
192 Seiten, Fr. 56.90.
urteilt war. Dafür versucht Schuller, den
höchst unübersichtlichen Beziehungsgeflechten zwischen 60 und 43 v. Chr., in
denen Cicero sich – zuerst zwischen
Pompeius und Cäsar, dann zwischen Antonius und Octavian lavierend – befand,
zu folgen. Dabei differenziert er allerdings weder hinreichend zwischen politischen (und vor allem rhetorischen)
Strategien Ciceros und seiner persönlichen Integrität, noch gelingt es ihm, dem
Leser einen wirklichen Überblick über
die Geschehnisse zu verschaffen. Stattdessen fragt Schuller, als im Jahr 55
v. Chr. Pompeius und Crassus mit Cäsar
um das Konsulat schachern, reguläre
Wahlen verhindern und schliesslich
unter Tumult gewählt werden: «Wirft es
nicht ein gutes Licht auf Cicero, dass er in
all diese Machenschaften nicht einbezogen wurde?»
Andererseits erscheint es ihm als «bedenkliche Tatsache», wie Cicero in der
Folge in ein Abhängigkeitsverhältnis zu
Cäsar gerät und dieses in «bemüht lockerem Ton» seinem Freund Atticus darzustellen versucht. Während sich Bautätigkeiten für Cäsar nach aussen hin vielleicht noch rechtfertigen liessen, sei die
von Cicero übernommene Verteidigung
Vartinius, der «doch wirklich die übelsten Handlangerdienste in Cäsars tadelnswertesten Unternehmungen geleistet»
hatte, «einfach nur demütigend» gewesen.
Ciceros Position als homo novus, der
auch als Emporkömmling seine Politik in
den Dienst der ideologischen Rechtfertigung der Nobilitätsherrschaft stellte,
wird kaum beleuchtet, vielmehr wird er
als «Erzzivilist» charakterisiert, der den
Untergang der Republik als «persönliche
Beleidigung» empfunden habe.
Doch ist es tatsächlich relevant, mit
Hilfe moralischer Kriterien 2000 Jahre
alte politische Winkelzüge oder auch
persönliches Versagen zu bewerten? Ist
es aus heutiger Perspektive notwendig,
die Gefühlslage Ciceros nachzuvollziehen und als «quälend», «gradlinig»,
«überraschend» oder «erfreulich» zu verstehen? Anstelle einer fundierten These,
die Ciceros politisches Taktieren plausibel machen würde, nimmt Schuller ihn
auch auf sprachlich häufig umständliche
Weise in Schutz, so als gelte es, ihn noch
einmal gegen das historische Diktum
Theodor Mommsens zu verteidigen, der
ihn im 19. Jahrhundert als Wendehals
und Opportunisten beschrieben hatte
und damit das Cicero-Bild auf Jahrzehnte geprägt hatte.
Doch die umfangreiche Rezeptionsgeschichte Ciceros spielt bei Wolfgang
Schuller keine Rolle; seine Bibliografie
bleibt auch weitgehend auf den deutschen Sprachraum begrenzt. So sehr ihm
daran gelegen ist, Cicero der Leserschaft
nahezubringen, gilt am Ende das Bonmot des römischen Historikers Livius,
der in seinem Nekrolog nach Ciceros Tod
bemerkte: «Um ihn recht zu loben, hätte
man einen Cicero als Lobredner gebraucht.» ●
Gesundheit Jederman kennt Schmerzen, dennoch wissen wir erstaunlich wenig über sie
WodieSchulmedizin
anihreGrenzenstösst
Sytze van der Zee: Schmerz. Eine Biografie.
Knaus, München 2013. 377 Seiten,
Fr. 34.90, E-Book 23.90.
Von Sieglinde Geisel
Jeder Mensch, auch jeder gesunde,
macht regelmässig Erfahrungen mit
Schmerz – und doch wissen wir erstaunlich wenig über diese Empfindung. Für
viele Arten von Schmerz hat die Medizin
keine schlüssige Erklärung parat, und die
Frage danach, wie man Schmerzen bekämpfen kann, ist ebenso komplex wie
diejenige, warum Schmerz unter bestimmten Umständen Lust erzeugen
kann.
Der niederländische Journalist Sytze van
der Zee hat eine «Biografie» des Schmerzes geschrieben. In 37 kurzen Kapiteln
nähert er sich dem Schmerz aus den verschiedensten Perspektiven: Patientenberichte wechseln ab mit recherchierten
Passagen, in denen wiederum Ärzte und
Therapeuten zu Wort kommen. Der Alltag in einem Schmerzzentrum wird geschildert, zwischendurch geht es um
Meilensteine in der Geschichte der
Schmerztherapie: die Entwicklung der
Anästhesie etwa, die «Tiefe Hirnstimulation» oder die Spiegeltherapie für die Behandlung von Phantomschmerzen. Und
fast jede Art von Schmerz kommt vor: die
Migräne-Attacken einer 13-Jährigen
ebenso wie die Leiden eines Patienten
mit Schmetterlingskrankheit, es geht um
Krebskranke, Amputierte mit Phantomschmerzen und um Menschen, die sich
selbst verletzen.
Montaigne zählte den Schmerz bekanntlich zu «den grössten Übeln der
Menschheit». Doch gerade weil wir ihn
nicht aushalten, ist der Schmerz der
beste Selbstschutz, das zeigt ein Kapitel
über Menschen, die ohne Schmerzempfinden geboren werden. Der Preis für ein
Leben, das keinen Schmerz kennt, ist
hoch: Die durchschnittliche Lebenserwartung beträgt in diesem Fall nur gerade fünfzehn Jahre. Die Schulmedizin
hadert mit dem Schmerz: Lange Zeit
habe man auf Schmerztherapeuten herabgeschaut, so van der Zee. Auch in den
Patientenberichten seines Buchs spiegelt
sich die Nachlässigkeit, ja Kälte mancher
Ärzte. «Dann lassen sie’s eben bleiben»,
soll ein Arzt einer Patientin geantwortet
haben, die vor Schmerzen kaum mehr
gehen konnte.
Der zynisch anmutende Terminus
«failed back surgery syndrom» lässt
ahnen, dass die Medizin Schmerzen
nicht nur bekämpfen, sondern auch verursachen kann. In der Tat verhält sich gerade die orthopädische Medizin bisweilen überraschend lebensfern. In den Industriestaaten leiden, je nach Land,
GETTY IMAGES
Funktion als Selbstschutz
Viele Menschen
leiden – an Kopf,
Rücken und Nerven.
Oft sind Schmerzen
Ausdruck seelischer
Spannungen.
zwölf bis dreissig Prozent der Menschen
an chronischen Schmerzen, wobei Rückenschmerzen am häufigsten genannt
werden. Obwohl man in jeder Gymnastik- oder Yogastunde am eigenen Leib erfahren kann, in welchem Mass gerade
diese Schmerzen eine Folge unserer Lebensweise sind, greifen viele Ärzte
schnell zum Skalpell – auch in van der
Zees Buch spielt der Bewegungsmangel
eine überraschend geringe Rolle.
Die legendären Irrtümer der Medizin
in Sachen Schmerzbehandlung dagegen
beschreibt der Autor detailliert: Bis in die
1980er-Jahre wurde bei Operationen an
Säuglingen auf eine Narkose verzichtet,
denn aufgrund der noch nicht ausgebildeten Myelinschicht ihrer Nervenbahnen hätten Säuglinge kein Schmerzempfinden, so die damalige Lehrmeinung.
Dies lässt sich aus heutiger Sicht ebenso
wenig nachvollziehen wie die Tatsache,
dass die Lobotomie, bei der durch eine
krude Operation die Nervenverbindungen zwischen dem Frontallappen und
dem restlichen Gehirn durchtrennt werden, im Jahr 1946 mit dem Nobelpreis für
Medizin ausgezeichnet wurde.
Enorme Stofffülle
Bei Schmerzpatienten stösst die Medizin
an ihre Grenzen: Wenn sich keine körperliche Ursache finden lässt, sind Schmerzen oft Ausdruck seelischer Spannungen. Schmerzen seien «auch etwas, hinter dem man sich verstecken kann und
sich irgendwann für nichts mehr verantwortlich fühlt», so eine Therapeutin.
«Der Patient muss mitmachen.» Auch die
Gesellschaft hat einen Einfluss auf die
Schmerzwahrnehmung: Die Leute ak-
zeptierten heute nicht mehr, «dass
Schmerz zum Leben dazugehört», wird
etwa ein Schmerz-Arzt zitiert.
Angesichts all dieser Befunde ist es
kein Wunder, dass sich viele Patienten
der Alternativmedizin zuwenden. Sytze
van der Zee allerdings bekennt sich zur
Schulmedizin, entsprechend nachlässig
behandelt er das – zugegebenermassen
kaum überschaubare – Feld der alternativen Heilmethoden.
Im Kapitel über Akupunktur erfährt
man etwa, dass die Kommunistische Partei Chinas die Traditionelle Chinesische
Medizin (TCM) in jüngster Zeit wieder
stärker favorisiere, hingegen bestünden
Zweifel an der Seriosität des WHO-Berichts von 1979, der die Wirksamkeit von
Akupunktur für eine Liste von Krankheiten belegte. Über manche Heilmethoden
der TCM schüttelten westliche Mediziner nur den Kopf, vermerkt van der Zee
– nur um wenige Seiten später einen Arzt
mit der Überzeugung zu zitieren, dass es
für Akupunktur eine biologische Erklärung geben müsse und dass man vor
allem bei chronischem Schmerz viel
damit erreichen könne.
Hier spricht kein Experte, sondern ein
unermüdlich recherchierender Publizist.
Sytze van der Zee ist durch einen Magendurchbruch auf das Thema Schmerz gestossen – dabei war es gerade die auffallend geringe Schmerzempfindlichkeit,
die sein Interesse weckte. Seinem vielstimmigen Buch mangelt es bisweilen
etwas an Stringenz, oft muss man sich als
Leser selbst ein Urteil bilden. Doch die
enorme Stofffülle bietet viele Anregungen in alle Richtungen der Schmerzerforschung. ●
24. November 2013 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29
Sachbuch
Verhalten Der US-Psychologe Adam Grant plädiert für eine altruistische Lebensführung
Mit Hilfsbereitschaft zum Erfolg
Adam Grant: Geben und Nehmen.
Erfolgreich sein zum Vorteil aller.
Droemer, München 2013. 448 Seiten,
Fr. 29.90, E-Book 22.–.
Von Michael Holmes
Viele glauben es, wenige sagen es laut:
Wahre Hilfsbereitschaft zeigen wir gegenüber Verwandten, Freunden und
Notleidenden. Aber im Geschäftsleben,
wo der Kampf aller gegen alle tobt, ist
Mitgefühl eine Schwäche und Rücksichtslosigkeit ein Gewinn.
In seinem US-Bestseller «Geben und
Nehmen» widerlegt der amerikanische
Psychologieprofessor Adam Grant dieses
traurige Menschenbild. Er unterscheidet
drei Persönlichkeitstypen: Nehmer wollen möglichst viel für sich selbst herausholen. Geber möchten ihren Mitmen-
schen behilflich sein. Die meisten Menschen bewegen sich als Tauscher im Mittelfeld des Verhaltensspektrums. Für gewöhnlich handeln sie gemäss der Devise:
«Wie du mir, so ich dir». Studien zufolge
besitzen wir feine Antennen für diese
Verhaltensmuster.
Adam Grant belegt, dass die Geber in
vielen Berufen sowohl die untersten als
auch die obersten Stufen der Erfolgsleiter dominieren. Sie sind überdurchschnittlich häufig Fussabtreter, aber
auch Überflieger.
Für diesen bemerkenswerten Forschungsbefund bietet er mehrere Erklärungen, die er mit zahlreichen Studien
untermauert. Geber gehen unter, wenn
sie eigene Bedürfnisse leugnen und sich
alles gefallen lassen. Sie haben die Nase
vorn, wenn sie viele Herzen für altruistische Ziele gewinnen und Kraft aus der
Gemeinschaft ziehen. «Gebt, so wird
euch gegeben» – Grants Analysen bestätigen diese biblische Weisheit.
Er illustriert seine Thesen mit vergnüglichen Geschichten von Alltagshelden, die wie im Märchen zu Ruhm und
Reichtum kommen, obwohl sie nur
Gutes im Schilde führen. Ein SoftwareUnternehmer steigt mit Wohltaten zum
besten Netzwerker der USA auf. Ein erfolgreicher Risikoanleger lädt Rivalen zu
Konferenzen ein. Eine Lehrerin findet
nach einem Burnout neuen Sinn in der
harten Arbeit mit Unterschichtskindern.
Untersuchungen legen nahe, dass
jeder Mensch die Kunst des Gebens erlernen kann. Wer allerdings nur aus taktischem Kalkül gibt, wird den Zauber wahrer Nächstenliebe nicht erleben. Manchmal besteht die beste Erfolgsstrategie
darin, keine zu haben. Dieses faktenreiche Buch ist ein Meilenstein auf dem
Weg zu einer Wissenschaft vom Guten. ●
Das amerikanische Buch Streit um die Zukunft der Schule
Lassen die öffentlichen Schulen Amerikas Jugend im Stich? Sind standardisierte Leistungstests die beste Messlatte für die Beurteilung des Bildungswesens? Und wer soll das Sagen haben in
den Klassenzimmern – Behörden und
Lehrergewerkschaften, oder Privatschulen unter Kontrolle von Stiftungen
und Hedge-Funds? Diese Debatte rührt
an die Grundfesten der amerikanischen
Gesellschaft und hat nun die Bestseller-Listen erreicht. Wurzel des Konflikts ist die Erziehungsreform von
George W. Bush, die Tests vorgeschrieben hat, ohne Bildungshaushalte aufzustocken. Daran knüpft auch Barack
Obama an, der die Privatisierung von
Schulen unterstützt und nationale Bildungsziele eingeführt hat. Diese sind
ebenfalls an Tests gekoppelt und haben
wegen mangelhafter Ergebnisse bereits
zu der Schliessung Hunderter Lehranstalten geführt.
den Leistungen in wohlhabenden, vorwiegend von Weissen bewohnten Bezirken zurück.
Um hier gegenzusteuern, plädiert
Ravitch für staatliche Hilfen und die
Reduktion der Leistungstests. Und sie
attackiert die seit der Bush-Ära gegründeten «Charter Schools», die nicht lokalen Schulbehörden unterstehen, aber
dennoch aus Steuergeldern mitfinanziert werden. Dieser Aspekt lockt Investoren an, die Privatschulen als neue
Profitzentren und Lehrergewerkschaften als Störenfriede betrachten.
Ravitch führt den Nachweis, dass derartige Anstalten bei staatlichen Tests
deshalb besser abschneiden, weil sie
behinderte und schwer erziehbare Kinder abweisen und zusätzlich von Stiftungen und vermögenden Eltern unterstützt werden.
Hoax of the Privatization Movement
and the Danger to America´s Public
Schools (Knopf, 396 Seiten) ablesen
lässt, dem neuen Bestseller von Diane
Ravitch. Die an der New York Univer-
sity lehrende Erziehungswissenschaftlerin gilt als führende Expertin ihres
Fachs, so die «New York Review of
Books» in einer positiven Besprechung.
«Reign of Error» («Herrschaft des Irrtums») ist eine Kampfschrift gegen die
Privatisierungs-Bewegung. Dabei tritt
Ravitch den Behauptungen der «SchulReformer» mit einer Flut von Statistiken und wissenschaftlichen Studien
entgegen. Sie benutzt dabei einen hitzigen Ton, der den Leser zu ermüden
30 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. November 2013
GETTY IMAGES
In Zeiten knapper Budgets und wachsender Einkommens-Unterschiede hat
der Streit um die Zukunft der Schulen
Amerikas eine Hitze erreicht, die sich
eindrücklich an Reign of Error. The
Schulen in den USA:
Privatisierung oder
Reform? Autorin
Diane Ravitch (unten).
droht. Aber Ravitch kann belegen, dass
Amerikas öffentliche Schulen den Leistungsstand ihrer Zöglinge seit Jahrzehnten stetig erhöht haben. Dennoch sieht
sie dringenden Handlungsbedarf: Die
Vorbereitung auf Pflichttests nehme
Lehrern Zeit von ihren eigentlichen Aufgaben weg, nämlich die Heranbildung
von Urteilsvermögen und Bürgersinn
bei ihren Schülern. Zudem schlage die
Armut in den von Schwarzen und Latinos bewohnten Bezirken direkt auf die
Qualität der von lokalen Steuern finanzierten Schulen durch. Dort bleiben die
Zöglinge weiterhin und deutlich hinter
Besonders scharf geht Ravitch indes
mit Michele Rhee ins Gericht, die 2007
bis 2010 die Schulen der amerikanischen Hauptstadt verwaltet hat und
seither die Entstaatlichung des Erziehungswesens im ganzen Land propagiert. Rhee will die Lehrergewerkschaften entmachten, die etwa die Entlassung selbst nachweislich unfähiger
Pädagogen zu blockieren pflegen.
Dafür hat sie nun mit Radical. Fighting
to Put Students First (Harper, 286 Seiten) ebenfalls eine Kampfschrift publiziert. Diese dient über viele Seiten auch
der Darstellung ihrer eigenen Leistungen. Ravitch weist dagegen nach, dass
überraschend gute Testergebnisse in
Washington unter Rhee zumindest teilweise auf Fälschungen beruhten. Dass
Ravitch die von vielen Eltern beklagten
Probleme mit den Lehrergewerkschaften weitgehend ignoriert, stärkt dagegen die Argumente Rhees.
Von Andreas Mink ●
Agenda
Fülscher Standardwerk der Schweizer Küche
Agenda Dezember 13
Basel
Dienstag, 3.Dezember, 19 Uhr
Monika Maron: Zwischenspiel. Lesung, Fr. 17.–.
Literaturhaus, Barfüssergasse 3, Tel. 061 261 29 50.
Donnerstag, 5. Dezember, 19 Uhr
Veranstaltung Friedrich Glauser zum
75. Todestag. Collage aus Texten und
Briefen, mit Bernhard Echte und Manfred
Papst, Fr. 17.–. Literaturhaus (s. oben).
Dienstag, 10. Dezember, 19 Uhr
Friederike Mayröcker: Vom Umhalsen
der Sperlingswand. Lesung mit Musik
von Petra Ronner und Peter Schweiger,
Fr. 17.–. Literaturhaus (s. oben).
Bern
Mittwoch, 4. Dezember, 20.30 Uhr
Bern ist überall: Ir Chuchi. Hörbuchtaufe
mit Performance, Fr. 20.–. Stauffacher
Buchhandlungen, Neuengasse 25/37,
Reservation: Tel. 031 313 63 63.
Die Speisen wurden auf Platten angerichtet damals, und
die Platten waren voll, randvoll, genauso wie die Farbtafeln im Fülscher, die auch immer randvoll sind, denn
Farbbilder waren teuer, und so musste jedes von ihnen
ein ganzes Arrangement von Gerichten zeigen. Wie ein
Proustsches Madeleine verströmt die Neuauflage des
Kochbuchs von Elisabeth Fülscher – sie ist ein Faksimile
der 8. Auflage von 1966 – den Duft einer Kindheit in den
5oer Jahren. Über 1700 Rezepte hat Elisabeth Fülscher
(1895–1970) versammelt, jedes mit einer Nummer, dazu
Bildtafeln von Hans Finsler (schwarz-weiss) und Hans
Moosbrugger (Farbe). Auf unserem Bild sehen wir das
Riz Colonial Nr. 739 mit Currysauce Nr. 568. Das Ganze
ergänzt mit genauen Anweisungen zum fachgerechten
Blanchieren, Tranchieren, Dressieren, Flambieren und
Verzieren. Werden wir es wieder brauchen? Für Auberginen mit Mayonnaise-Füllung, Spaghetti-Salat – oder
vielleicht Madeleines? Kathrin Meier-Rust
Elisabeth Fülscher: Kochbuch. Kommentierte Neuauflage. Herausgegeben von Susanne Vögeli und Max
Rigendinger. Hier + Jetzt, Baden 2013. 823 Seiten,
50 Abbildungen, Fr. 68.–.
Belletristik
Sachbuch
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Jussi Adler-Olsen: Erwartung.
dtv. 576 Seiten, Fr. 27.90.
Cecelia Ahern: Die Liebe deines Lebens.
Fischer Krüger. 400 Seiten, Fr. 25.90.
Joël Dicker: Die Wahrheit über den Fall Harry
Quebert. Piper. 736 Seiten, Fr. 36.90.
Jonas Jonasson: Der Hundertjährige.
Carl’s Books. 412 Seiten, Fr. 21.90.
Henning Mankell: Mord im Herbst.
Zsolnay. 144 Seiten, Fr. 24.90.
Jens Steiner: Carambole.
Dörlemann. 224 Seiten, Fr. 27.–.
Gillian Flynn: Gone Girl – Das perfekte Opfer.
Fischer Scherz. 576 Seiten, Fr. 25.90.
Alex Capus: Der Fälscher, die Spionin und der
Bombenbauer. Hanser. 281 Seiten, Fr. 23.90.
Franz Hohler: Gleis 4.
Luchterhand. 224 Seiten, Fr. 23.90.
Freitag, 13.Dezember, 12.30 Uhr
Roswitha Menke: Advent, Advent, ein
jeder rennt! Adventsgeschichten und
heisse Suppe. Buchhandlung Haupt,
Falkenplatz 14. Res.: Tel. 031 309 09 09.
Zürich
Bestseller November 2013
Khaled Hosseini: Traumsammler.
S. Fischer. 448 Seiten, Fr. 31.90.
Freitag, 13.Dezember, 17 Uhr
Paul Niederhauser (Text) und Werner
Aeschbacher (Musik): Bärndütschi Wienachtsgschichte, Fr. 22.–. Ab 12 Jahren.
Berner Puppentheater, Gerechtigkeitsgasse 31. Reservation: Tel. 031 311 95 85.
Christiane V. Felscherinow: Christiane F. – Mein
zweites Leben. Levante, 336 Seiten, Fr. 22.90.
Verena Wermuth: Wiedersehen mit Scheich
Khalid. Weltbild. 175 Seiten, Fr. 28.90.
Malala Yousafzai, Christina Lamb: Ich bin Malala.
Droemer/Knaur. 400 Seiten, Fr. 32.90.
Guinness World Records 2014.
Bibliographisches Institut. 272 S., Fr. 28.90.
Alain Sutter: Stressfrei glücklich sein.
Giger. 200 Seiten, Fr. 37.90.
Mary C. Neal: Einmal Himmel und zurück.
Allegria. 208 Seiten, Fr. 27.90.
Bronnie Ware: 5 Dinge, die Sterbende am
meisten bereuen. Arkana. 351 Seiten, Fr. 29.90.
Hans Küng: Erlebte Menschlichkeit.
Piper. 752 Seiten, Fr. 39.90.
Ruth Maria Kubitschek: Anmutig älter werden.
Nymphenburger. 156 Seiten, Fr. 29.90.
Pascal Voggenhuber: Kinder in der geistigen
Welt. Giger. 200 Seiten, Fr. 35.90.
Erhebung Media Control im Auftrag des SBVV; 12.11.2013. Preise laut Angaben von www.buch.ch.
Montag, 2. Dezember, 20 Uhr
Regula Stämpfli und Bascha Mika: Schön
ungeschminkt. Live-Literaturclub,
Fr. 25.–. Kaufleuten, Festsaal, Pelikanplatz 1, Tel. 044 225 33 77.
Montag, 9. Dezember, 20 Uhr
Hans Magnus Enzensberger liest aus seinen Werken. Fr. 25.–. Kaufleuten (s. oben).
Donnerstag, 12.Dezember, 19 Uhr
Rea Brändle: Wildfremd, hautnah.
Zürcher Völkerschauen. Lesung und Gespräch, Apéro. Völkerkundemuseum Uni
Zürich, Pelikanstr. 40. Tel. 044 634 90 11.
Donnerstag, 12.Dezember, 19 Uhr
Matthias Senn: Leseabend voller schräger
Weihnachtsgeschichten im Schweizerischen Landesmuseum.
Reservation: Tel. 044 218 65 11.
Donnerstag, 12. Dezember,
20 Uhr
René Lüchinger: Elisabeth
Kopp. Buchvernissage
mit Elisabeth Kopp, Fr. 25.–.
Kaufleuten (s. oben).
Bücher am Sonntag Nr.1
erscheint am 26.1.2014
Weitere Exemplare der Literaturbeilage «Bücher am
Sonntag» können bestellt werden per Fax 044 258 13 60
oder E-Mail [email protected]. Oder sind
– solange Vorrat – beim Kundendienst der NZZ,
Falkenstrasse 11, 8001 Zürich, erhältlich.
24. November 2013 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 31
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