Bücher am Sonntag - Neue Zürcher Zeitung
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Nr. 10 | 24. November 2013 NZZ am Sonntag John le Carré Seit 50 Jahren Autor von Spionagekrimis 4 Geschenktipp Literatur für Kinder und Jugendliche 14/15 Bernhard Bueb Interview über die Macht der Ehrlichen 16–18 Karl der Grosse Neue Bücher zum Kaiser des Abendlandes 20/21 Bücher am Sonntag Bi s tt ba Ra n tio ak h/ .c ch bu zu w. ww % 20 us, a l h c i m a S Liaba ir: m h c i h c s n das wu lsen Jussi Adler-O Erwartung Nicholas Sparks Kein Ort ohne dich <wm>10CAsNsjY0MDAx1TUyMDMxMQIAUHXb_g8AAAA=</wm> Jonas Jonasson , Die Analphabetin te die rechnen konn Jojo Moyes Eine Handvoll Worte <wm>10CFWMqw7DMBRDvyiRfR-5yy6cwqqCqjxkGt7_ozZjAz4yOPa2pVf88hr7OY4kYF4EzUzSu1eJlg-RCoskaQLqk1T1iN7__AL2ptC5nEIW2rypsooKJ3U9zLUG6_f9uQDE-q3HgAAAAA==</wm> Cecelia Ahern Die Liebe deines Lebens Jo Nesbo/ Koma Alle Preise inkl. MwSt. und ohne Gewähr. & Wünschen Schenken Inhalt Lesen Sie über Spione, Pädagogen und mutige Kinder John le Carré (Seite 4). Illustration von André Carrilho Belletristik 4 7 8 9 10 11 12 13 John le Carré: Empfindliche Wahrheit John le Carré: Der Spion, der aus der Kälte kam Von Peter Studer Lisa O’Donnell: Bienensterben Von Simone von Büren Annette Pehnt: Lexikon der Angst Von Manfred Koch Abbé Prévost: Manon Lescaut Von Stefana Sabin Hervé Le Tellier: Neun Tage in Lissabon Von Martin Zingg Inez van Lamsweerde, Vinoodh Matadin: Pretty Much Everything Von Gerhard Mack Dieter Zwicky: Slugo Von Bruno Steiger Otto Frei: Bis sich Nacht in die Augen senkt Von Manfred Papst E-Krimi des Monats Gillian Flynn: Gone Girl Von Christine Brand Kurzkritiken Belletristik 13 Charles Bukowski: Das weingetränkte Notizbuch Von Manfred Papst Pedro Lenz: I bi meh aus eine Von Regula Freuler David Vogel: Eine Wiener Romanze Von Regula Freuler Rainer Malkowski: Aphorismen und kleine Prosa Von Manfred Papst Kinder- und Jugendbuch 14 Gary Ghislain: Wie ich Johnny Depps Alien-Braut abschleppte Von Daniel Ammann Oliver Scherz: Ben Von Christine Knödler Alice Gabathuler: no_way_out Von Verena Hoenig Mit «Der Spion, der aus der Kälte kam» gelang John le Carré 1963 ein Welterfolg. Der Thriller spielte im Berlin der 1960er Jahre kurz nach dem Bau der Mauer, als westliche und östliche Agenten wie Schachfiguren im zynischen Spiel der Geheimdienste geopfert wurden. 50 Jahre später erscheint nun der Klassiker, den le Carré in fünf Wochen niedergeschrieben hatte, in einer mit Dokumenten angereicherten Neuausgabe. Fast gleichzeitig mit seinem neusten 25. Spionageroman: «Empfindliche Wahrheit». Peter Studer, ein eingefleischter le-Carré-Fan, rezensiert für uns den packenden Band (Seite 4). Um Wahrheit und Lüge geht es auch im Gespräch mit Bernhard Bueb über sein neues Buch «Die Macht der Ehrlichen». Aha, werden Sie denken, das ist doch dieser Salem-Schulleiter vom Bodensee, der mit seinem «Lob der Disziplin» die Empörung der deutschen Erzieherkaste auf sich gezogen hatte. Ja, aber lassen Sie sich überraschen: Bueb kann man auch als exzellenten Reformpädagogen lesen (S. 16). Ebenfalls am Bodensee spielen die fünf Steckborner Erzählungen von Otto Frei, die uns Manfred Papst ans Herz legt (S. 12). Empfehlen können wir Ihnen nicht zuletzt ein Dutzend Kinder- und Jugendbücher, denen wir wie immer vor Weihnachten eine Doppelseite widmen (S. 14/15). – Wir wünschen Ihnen bis zur nächsten Ausgabe von «Bücher am Sonntag» am 26. Januar möglichst viele behagliche Lesestunden! Urs Rauber Marian de Smet: Kein Empfang Von Andrea Lüthi Robert Louis Stevenson: Die Schatzinsel Von Hans ten Doornkaat 15 Michael Madeja u.a.: Denkste?! Alexander Rösler u.a.: 29 Fenster zum Gehirn Von Sabine Sütterlin Max Kruse: Urmel saust durch die Zeit Von Andrea Lüthi Virginie Aladjidi u.a.: Birke, Buche, Baobab Von Andrea Lüthi Sonja Eismann u.a.: Glückwunsch, du bist ein Mädchen! Von Christine Knödler Adam Jaromir: Fräulein Esthers letzte Vorstellung Von Verena Hoenig Interview 16 Bernhard Bueb, Reformpädagoge Die Wahrheit kommt nicht von selbst ans Licht Von Urs Rauber Kolumne 19 Charles Lewinsky Das Zitat von Ezra Pound Kurzkritiken Sachbuch 19 Martin Meyer: Die Welt verstehen Von Manfred Papst Joseph Jung: Alfred Eschers Briefwechsel 1852–1866 Von Urs Rauber Verena Wermuth: Wiedersehen mit Scheich Khalid Von Urs Rauber Susan Sontag: Ich schreibe, um herauszufinden, was ich denke Von Kathrin Meier-Rust Sachbuch 20 Die Zeit Karls des Grossen in der Schweiz Johannes Fried: Karl der Grosse Stefan Weinfurter: Karl der Grosse Steffen Patzold: Ich und Karl der Grosse Von Alexis Schwarzenbach 22 Barbara Thoma: Selma Lagerlöf Von Kathrin Meier-Rust 23 Hans Küng: Erlebte Menschlichkeit Von Klara Obermüller 24 Carlo von Ah: Durch Dschungel und Intrigen Von Urs Rauber Florian Fisch: Ein Versuch Von Patrick Imhasly 26 Ronen Steinke: Fritz Bauer oder Auschwitz vor Gericht Devin O. Pendas: Der Auschwitz-Prozess Von Claudia Kühner 27 Patrick Braun, Axel Christoph Gampp: Emilie Linder 1797–1867 Von Geneviève Lüscher 28 WolfgangSchuller:Cicero Von Janika Gelinek Udo Wachtveitl u.a.: Schauplatz Tatort Von David Strohm 29 Sytze van der Zee: Schmerz Von Sieglinde Geisel 30 Adam Grant: Geben und Nehmen Von Michael Holmes Das amerikanische Buch Diane Ravitch: Reign of Error. The Hoax of the Privatization Movement Michele Rhee: Radical Von Andreas Mink Agenda 31 Elisabeth Fülscher: Kochbuch Von Kathrin Meier-Rust Bestseller November 2013 Belletristik und Sachbuch Agenda Dezember 2013 Veranstaltungshinweise Chefredaktion Felix E.Müller (fem.) Redaktion Urs Rauber (ura.) (Leitung), Regula Freuler (ruf.), Geneviève Lüscher (glü.), Kathrin Meier-Rust (kmr.), Manfred Papst (pap.) Ständige Mitarbeit Urs Altermatt, Urs Bitterli, Manfred Koch, Gunhild Kübler, Sandra Leis, Charles Lewinsky, Beatrix Mesmer, Andreas Mink, Klara Obermüller, Angelika Overath, Martin Zingg Produktion Eveline Roth, Hans Peter Hösli (Art Director), Susanne Meures (Bildredaktion), Manuela Klingler (Layout), Korrektorat St.Galler Tagblatt AG Verlag NZZ am Sonntag, «Bücher am Sonntag», Postfach, 8021 Zürich, Telefon 0442581111, Fax 0442617070, E-Mail: [email protected] 24. November 2013 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3 Belletristik Spionageroman Der Kalte Krieg ist Geschichte – und mit ihm der literarische Thriller rund um den Eisernen Vorhang. Doch John le Carré meldet sich zurück mit einem Plot über Verbrechen im eigenen Land Vom Kalten Krieg zur John le Carré: Empfindliche Wahrheit. Ullstein, Berlin 2013. 394 Seiten, Fr. 39.90, E-Book 24.40. John le Carré: Der Spion, der aus der Kälte kam. Neuauflage mit neuem Vorwort und Materialien. Ullstein, Berlin 2013. 280 Seiten, Fr. 25.90, E-Book 22.–. Von Peter Studer Während täglich neue belegte oder vermutete Abhörgeschichten aus dem Privatarchiv des geflüchteten USNachrichtenmanns Edward Snowden erscheinen, mutet le Carrés neuer Thriller an wie eine vorausgeschriebene Erfindung, die Snowdens Enthüllungen ins Epische übersetzt. Simon Jenkins vom linksliberalen «Guardian» bestätigt den Befund: «Der Autor hat die alten Gewissheiten des Kalten Kriegs hinter sich gelassen und stapft im moralischen Sumpf rund um den Strahlemann Tony Blair herum. Der Held, ein junger Diplomat namens Toby Bell, wirkt wie ein lebendig gewordener Snowden.» Worauf spielt der Originaltitel «A Delicate Truth» eigentlich an? Delikat ist, dass das Personal des Romans nicht mehr in Versuchung gerät, Gut und Böse, Richtig und Falsch nach den Fahnen der ideologischen Lager zu benennen. Le John le Carré John le Carré, 1931 in England geboren, wuchs als Sohn eines wegen Betrugs einsitzenden Vaters und ohne Mutter auf. 1948/49 studierte er in Bern Germanistik. 1950 liess er sich vom britischen Nachrichtendienst im besetzten Österreich anstellen. 1963 publizierte er den Bestseller «Der Spion, der aus der Kälte kam». Es folgten 20 weitere Bücher, etliche verfilmt. Eines befasste sich mit dem Schweizer Fall Jeanmaire («Ein guter Soldat», 1992). Dieses Jahr erschien «Empfindliche Wahrheit». Die Universität Bern ernannte ihn 2008 zum Ehrendoktor; 2011 erhielt er die Goethe-Medaille für sein Lebenswerk. 4 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. November 2013 Carré, der kürzlich der schmucken, mit Dokumenten angereicherten Neuausgabe von «Der Spion, der aus der Kälte kam» ein Vorwort mitgab, blickt amüsiert 50 Jahre zurück: Alle echten und vermeintlichen Experten glaubten damals, hier breite ein Spion seine eigenen Erlebnisse aus. Das stimmte überhaupt nicht. «Meine Vorgesetzten hatten den binnen fünf Wochen niedergeschriebenen Text des kleinen Botschaftssekretärs in Bonn (meine damalige Tarnung) nur freigegeben, weil er keine persönliche Erfahrung wiedergab und somit nicht gegen die Sicherheitsvorschriften verstiess.» Wenig später verliess le Carré den Geheimdienst und tat, was er schon immer tun wollte: schreiben. Längst hat er sich neben die Pioniere des Fachs gestellt, neben Joseph Conrad, Somerset Maugham und Graham Greene. In seinen nächsten Büchern, angefangen mit «Dame, König, As, Spion», baute le Carré eine Pseudokulisse des britischen Geheimdienstes auf («Der Zirkus»), setzte den alten Geheimdienstmann George Smiley in das Zentrum der Dramaturgie und liess ihn dem motivisch halbwegs verwandten sowjetischen Widerpart mit dem Decknamen Karla nachspüren. Alec Guinness verkörperte den unergründlichen, aber nicht unsympathischen Smiley im Film. Es tauchten Figuren auf, die von ferne an legendäre britische Doppelagenten und Verräter während der 50er bis 70er Jahre erinnerten. Knappe Prosa Aber mit dem Ende des Kalten Kriegs ging der Autor keineswegs in Pension. Hatte er schon vorher kritisch in britische und koloniale Milieus hineingeleuchtet – immer vor der Folie des OstWest-Konflikts –, so wandte er sich jetzt voll den gefährlichen Strahlungen der eigenen Gier- und Konsumgesellschaft zu. Gewiss, oft in fremdartigen Landschaften, aber immer mit Rückschlüssen auf vertraute Themen und Akteure. «Der ewige Gärtner» (2001) beschrieb das Unwesen einer globalen Pharmaziefirma in Kenia, die Tuberkulosemedikamente mit Nebenfolgen insgeheim an Afrikanern ausprobierte; eine grüne Aktivistin, Gattin eines britischen Botschaftssekretärs, entdeckte den Skandal und wurde ermordet. Ihr Mann machte sich auf die Spur und stiess auf Verzweigungen bis ins britische Foreign Office. Im Nachwort schrieb le Carré trocken: «Beim Vergleich mit der Realität erweist sich mein Szenario als harmlose Ferienpostkarte.» «Empfindliche Wahrheit» nun, le Carrés neues Buch, erinnert in der raffinierten Personenzeichnung und knappen Prosa an die besten früheren Werke des Autors. «Erster Akt (2008), Erste Szene, Gibraltar»: Der etwas langweilige britische alt Diplomat Christopher, Kit für seine Freunde, wird von Junior Foreign Minister Fergus, einem ehrgeizigen Labour-Mann, für die vertrauliche «Sonderaktion Wildlife» rekrutiert; sein Deckname ist Paul. Auf Gibraltar soll er zusammen mit Männern von den Special Forces bei der nächtlichen Festnahme eines gefährlichen mittelöstlichen Waffenhändlers zuschauen, sozusagen Internetspionage «Zweiter Akt, erste Szene, ein Städtchen in Cornwall, drei Jahre später»: Sir Christopher Kit und seine moralfeste Frau haben sich in ein geerbtes Herrenhaus zurückgezogen und machen als Ehrengäste an Feiern des Städtchens mit. Hier hängt der Text etwas durch; das Behagen des Schilderers hängt vielleicht damit zusammen, dass le Carré selber in Cornwall wohnt. Ein Hausierer bietet Ledersachen feil und gibt sich dem abwehrenden Sir Christopher als Unteroffizier des damaligen Special-Forces-Team auf Gibraltar zu erkennen. Das Böse mitten unter uns als beamteter Aufseher. Eine private amerikanische Sicherheitsfirma, ominös Ethical Outcomes geheissen, wirkt mit. Auch ein CIA-Trupp soll von einem Schiff aus landen. Paul fragt sich, ob Her Majesty’s Militäroperationen jetzt als «public private partnership» geführt würden. Alles ist unklar: Kompetenzen, Zielobjekt, Drehbuch. Schüsse fallen. Paul wird in einem Auto schnell weggefahren. «Mission gelungen», versichert man ihm, ohne dass er Genaueres erfährt. Lohn: Adelstitel für Kit alias Paul, netter Botschaftsposten in der Karibik, Pensionierung. «Erster Akt, Zweite Szene, London, Foreign Office»: Toby Bell rückt nach ersten Anfängerposten in der Diplomatie zum Privatsekretär des Junior Ministers Fergus auf. Toby kann’s mit den Damen, ist aber Idealist und «will etwas Nützliches bewirken». Der Junior Minister, der sich oft einschliesst und auf rätselhafte Auslandreisen fliegt, hat immer wieder merkwürdigen Umgang, wie Toby feststellt. Ethical Outcomes und eine bizarre christliche Milliardärin tauchen auf. Vage Gerüchte über Fergus wollen nicht verstummen. Man bedeutet Toby, sich nicht um die Sache zu kümmern. Der neue Thriller von John le Carré beginnt in Gibraltar und endet nach spannungsgeladenen Jagden in London. «Mission gelungen» damals? Keineswegs. Peinliches oder verbrecherisches Resultat: Es entstand «Collateral damage», Zufallsschaden einer schlecht geplanten Operation. (Die täglichen dürren Communiqués über zivile Drohnenopfer in Afghanistan schieben sich in den Lesevorgang). Eine arabische Flüchtlingsfrau mit Kind war irrtümlich erschossen worden. Der Unteroffizier und Sir Christopher wollen jetzt doch noch das Foreign Office, notfalls die Öffentlichkeit, einschalten. Der Unteroffizier stirbt in Schottland unter mysteriösen Umständen – amtlicher Mord, folgert Toby vor Ort. Mit einer etwas halsbrecherischen Dramaturgie – John Banville, einer der meistgepriesenen britischen Autoren, nennt sie «fehlerhaft» – hat sich unversehens der junge Toby eingemischt und geht Kit zur Hand. «Dritter Akt, London»: Toby wird binnen kurzem zum Hauptakteur. Die Ereignisse überschlagen sich. Das Foreign Office wiegelt ab. Alle werden immer und überall abgehört. Die private Söldnertruppe Ethical Outcomes, die in einer staatlichen Armeegarnison residiert, jagt Toby, der sich mit Sir Christophers Tochter verbündet. Die Spannung steigt. Im Vergleich zum «Spion, der aus der Kälte kam» sitzt hier das Böse nicht beidseits eines Eisernen Vorhangs, sondern – mit Fragezeichen – manchmal vielleicht auch im gemütlichen Grossbritannien. Jetzt, fast 50 Jahre später, macht es sich frech mitten in den eigenen Institutionen breit und nutzt deren Instrumente: Polizei, Personal, Geheimniskult, Drohnen, digitale Hochtechnologie. Wohin führt das noch? Grosse Hoffnungen macht der 82-jährige John le Carré weder sich noch uns. ● Peter Studer, früher Chefredaktor des «Tages-Anzeigers» und des Schweizer Fernsehens, doziert heute Medienrecht an der Universität St.Gallen. 24. November 2013 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 5 Geschenke entdecken <wm>10CAsNsjY0MDAx1TUyMLKwNAcAoZFnvQ8AAAA=</wm> <wm>10CFWMMQ7DMAwDXySDlCzZrsYiW5AhyO6l6Nz_T427deABBI7c9_SCX57bcW1nEqguCu2jpQ8v2iK7akFtSaIqaA-SQbXR_3wBRxhsLkdIQZ036cKYGnex9TDXGiyf1_sLr_2weoAAAAA=</wm> Belletristik Roman Die Britin Lisa O’Donnell schreibt in ihrem Erstling mit scharfem Witz Wenneinem die«Lottereltern» fehlen Lisa O’Donnell: Bienensterben. Aus dem Englischen von Stefanie Jacobs. Dumont, Köln 2013. 320 Seiten, Fr. 25.90, E-Book 22.–. Aus einer tragischen Vergangenheit in eine erträgliche Zukunft: zwei Schwestern an einem heiklen Punkt ihrer Entwicklung. ALLESALLTAG Von Simone von Büren Marnie ist fünfzehn, «zu jung zum Rauchen, zu jung zum Trinken und zu jung zum Ficken», und tut doch alles bereits. Ausserdem nimmt sie Ecstasy und «hier und da mal ein paar Benzos». Um sich den Sozialdienst vom Leib zu halten, arbeitet sie für einen drogendealenden Eisverkäufer in einer sozial benachteiligten Gegend Glasgows. Die abgehärtete Protagonistin von Lisa O’Donnells Debütroman «Bienensterben» ist die neuste in einer Reihe von Teenagern aus sozialen Krisenverhältnissen in der zeitgenössischen britischen Literatur. In einer provokativen Mischung aus Trotz, Humor und Wut schleudert sie uns ihre Situation entgegen: «Es ist nicht leicht, wenn die eigenen Eltern im Garten vermodern und keiner darf was merken.» Zusammen mit ihrer jüngeren Schwester hat sie die mit Drogen vollgepumpten Körper in flachen Gräbern vergraben und das Haus mit literweise Bleiche geputzt, ohne den Gestank wegzukriegen. Wie «die Lottereltern» umgekommen sind und was sie auf dem Gewissen haben, erfahren die meisten Romanfiguren gar nie und der Leser erst spät. Denn Marnie und ihre seltsame Schwester Nelly, die so fanatisch Geige spielt, wie sie ihren Körper hasst, was – so ahnt man – wohl mit einem väterlichen Missbrauch zusammenhängt, halten ihr Geheimnis unter Verschluss. Sogar gegenüber dem älteren schwulen Nachbarn Lennie, der sich liebevoll um sie zu kümmern beginnt. O’Donnell stellt Marnies eigenwilliger Stimme die weit weniger überzeugenden von Nelly und Lennie gegenüber. Nelly wirkt in ihrer Naivität und ihrer altmodischen Sprechweise konstruiert. Und Lennie, der sich an seinen verstorbenen Geliebten wendet, wird zu oft dazu benutzt, Informationen zu vermitteln oder Bilanz zu ziehen, was ihn als Figur schwächt. Interessant ist jedoch das Geflecht von Lügen, gegenseitigen Beobachtungen und Unterstellungen, das die schottische Autorin zwischen den drei Erzählern webt. Der Leser sieht, wer was verschweigt oder missversteht, wer wen belügt oder verdächtigt. Denn so misstrauisch die Figuren einander und der Welt gegenüber sind, so ungeschützt äussern sie sich in ihren Gedankenprotokollen: Marnie, die sich aller Welt als abgebrühte Kämpferin präsentiert, gesteht hier, dass ihr ihre Eltern, «diese zwei abartigen Personen», fehlen. Die scheinbar gefügige Nelly plant heimlich, das Ruder zu übernehmen. Und Lennie, der Kuchen backende Gutmensch, bereut einen Moment mit offener Hose auf einer Kinderschaukel im Park. In diesen intimen Äusserungen kommt das Ambivalente zum Ausdruck, das auch O’Donnells Nebenfiguren prägt «Schlicht das beste Buch des Jahres.» Schweizer Buchhandel Buchtaufe Donnerstag, 5. Dezember 2013, 19.30 Mit Urs Allemann, Endo Anaconda, Isabelle Menke, Roger Perret, Schifer Schafer Migros-Hochhaus Limmatplatz, Zürich Reservation www.literaturhaus.ch Moderne Poesie in der Schweiz | Eine Anthologie von Roger Perret 640 Seiten | 40 Abbildungen vierfarbig und s/w | Leinen | Fr. 54.– | www.limmatverlag.ch <wm>10CAsNsjY0MDAx1TUyMDOzMAcAvRqAIQ8AAAA=</wm> <wm>10CFWMoQ7DMAxEv8jRnVPbSQOnsmpgKjepivv_aEvZwNORd2_fhxU8vLb3sX0GgcVE4d5iWLei4YNdS9hvSVWwrlQE0dj_fAG7V9ScjpBCTarART2jLck6CznfQLnP6wtcXklugAAAAA==</wm> und eine Einteilung der Welt in Schwarz und Weiss erschwert: der russische Lehrer, der Marnie bei den Prüfungen hilft, aber Drogen handelt, weil er als Asylant in Schottland nicht unterrichten darf. Oder der streng religiöse Grossvater, der sich plötzlich um die Mädchen kümmern will, um das Vergehen an deren Mutter wiedergutzumachen, das sie ihm nicht zu verzeihen bereit sind. O’Donnells Figuren und ihre Biografien werfen alle möglichen moralischen Dilemmata auf: Kann man Drogengeld benutzen, um die Miete zu bezahlen? Darf man zwei vernachlässigte Kinder betreuen, ohne den Sozialdienst zu benachrichtigen? Soll man die Lüge eines andern stehen lassen, wenn sie einem das Leben rettet? O’Donnell zeigt die Schwestern an einem heiklen Punkt ihrer Entwicklung. Sie sind drauf und dran, dieselben Fehler zu begehen, die die älteren Figuren bereuen. «Mit meiner Vorgeschichte müsste ich eigentlich eine Serienmörderin sein», sagt Marnie. Dass sie es nicht ist, macht das Hoffnungsvolle dieses starken, wenn auch sprachlich etwas holprigen Debüts aus, in dem Abgründiges und Grausames auf scharfen Humor trifft und auf einen trotzigen Glauben an die Fähigkeit der Mädchen, sich herauszuarbeiten aus einer tragischen Vergangenheit in eine erträglichere Zukunft. ● «Wir Leser, wir sind dankbar, dass diese Texte endlich dem Vergessen entrissen wurden. Wir ahnen, da wurde ein Schatz gehoben.» Elke Heidenreich Alfonsina Storni | Meine Seele hat kein Geschlecht | Erzählungen, Kolumnen, Provokationen Herausgegeben, übersetzt und eingeleitet von Hildegard Elisabeth Keller | 320 Seiten | Leinen Fr. 44.– | www. limmatverlag.ch 24. November 2013 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 7 Belletristik Kurzgeschichten Annette Pehnt erkundet die Abgründe der Seele DieAngstvor derbrennenden Herdplatte Annette Pehnt: Lexikon der Angst. Piper, München 2013. 176 Seiten, Fr. 27.90, E-Book 16.–. Von Manfred Koch «In der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden», spricht Jesus Christus in der Bibel. Die moderne Existenzphilosophie – von Kierkegaard über Heidegger bis Sartre – ist nicht mehr getrost, sie hat die Angst konsequent zur Grundbefindlichkeit des menschlichen Daseins erklärt. In der Welt sein, so lesen wir es bei Heidegger, heisst Angst haben, Angst gerade auch vor jener unheimlichen Gabe der Freiheit, über die der Mensch im Unterschied zum instinktgeleiteten Tier verfügt. Wir können unser Leben frei gestalten, in bestimmten Grenzen alles Mögliche aus uns machen. Wir können uns grundsätzlich aber auch vor allem und jedem fürchten. Vermutlich ist das eine nur die Kehrseite des anderen. Phobien von A bis Z Annette Pehnts neuestes Buch wartet mit vielen ungewöhnlichen Ängsten auf: der Angst vor dem Weiss der Milch. Der Angst vor explodierenden Frühlingsknospen. Der Angst einer Tochter vor den Kaugeräuschen ihrer Mutter (die, auf ein Zuckerstück beissend, wiederum Angst vor der unwirschen Reaktion der Tochter hat). Daneben gibt es in Pehnts «Lexikon der Angst» aber auch die jedermann vertrauten Ängste, die vor allem «Angst um» sind: die Furcht, den eigenen Kindern, dem Partner, dem geliebten Haustier könnte etwas zustossen. Und schliesslich begegnen wir den kleinen Verstörungen und Abwehrreaktionen, die unser Alltagsleben durchlöchern. Habe ich vergessen, den Herd auszuschalten, als ich die Wohnung verlassen habe? Wird von mir im Taxi erwartet, dass ich mit dem Fahrer rede? Muss ich der Einladung der Nachbarn zum Grillabend auf ihrem Balkon Folge leisten? Pehnt schildert diese Befindlichkeiten nicht als persönliches Erleben, sondern anhand der Heldinnen und Helden von 45 Kurzgeschichten, die – mit zwei Ausnahmen – jeweils nur ein einziges Wort als Titel haben. Daraus ergibt sich die alphabetische, «lexikalische» Anordnung. Am Ende steht ein Gedicht, «Zittern», das nach dem Muster von Brechts berühmtem Poem «Vergnügungen» beängstigende Vorstellungen aneinanderreiht: «Den eigenen Bruder mit dem falschen Namen begrüssen. / Den Hund in der Tür zerquetschen. / Schweigend beim Essen sitzen. / Streitend beim Essen sitzen. / Gar nicht beim Essen sitzen. / Im Restaurant deutlich hörbar furzen müssen. / Einen Körperteil abgetrennt bekommen. / Sich beim Verwelken zusehen.» Die Schlusszeile lautet lakonisch: «Zittern, einfach so.» Die gleichmütige Haltung, mit der hier Schlimmes und Harmloses auf einer Ebene abgehandelt wird, bestimmt auch den Ton der Geschichten. Da ist die Frau, die an Verfolgungswahn leidet und ihren Vermieter verdächtigt, heimlich ihre Unterwäsche zu entwenden. Da ist der Mann, der beständig «ein hohes Sirren von elektronischer Gleichförmigkeit im linken Ohr» hört und Erlösung allenfalls im «wohltuenden Brausen» des Stadtverkehrs findet. Die Gedanken- und Gefühlswelt dieser Annette Pehnt kleidet fixe Ideen, die uns im Alltag begleiten, in bisweilen surreale Geschichten. Unglücksfiguren wird mit der gleichen unpathetischen Aufmerksamkeit dargelegt wie diejenige der «Gesunden», die nur schüchtern sind oder verbreitete fixe Ideen pflegen (die brennende Herdplatte). Vor dem Auge dieser Erzählerin haben alle Ängste ihre eigene Würde. Lohnende Spracharbeit Bewusst mischt Pehnt auch ausgesprochen surreale Geschichten darunter. Eine Frau bekämpft ihre Weltangst, indem sie sich einen «schiefen Indianer» zulegt, der nur leider nicht spricht und sogleich, einer verwelkten Pflanze gleich, an ihrer Seite einschläft. Ein «Die tragische Biografie hat das Zeug zu einem Roman.» Schweizer Illustrierte Sie war die selbstbewusste Tochter eines mächtigen Pioniers, die unterforderte Ehefrau eines farblosen Bundesrat-Sohnes sowie für wenige Tage glückliche Geliebte eines leidenschaftlichen Künstlers, mit dem gemeinsam sie die Flucht nach Rom ergriff: Lydia Welti-Escher. Doch der Preis für den Versuch eines selbstbestimmten Lebens war ihr früher Tod. <wm>10CAsNsjY0MDAx1TUyMDMzNgEAzJJ9Ww8AAAA=</wm> <wm>10CFWMoQ7DMBBDv-giOxcnuQVOZdXANH5kGt7_o7VlA9YDfva-LxVcuW-P1_ZcBJqsondvS6FSR1-MWoYOkq2CfkNoYrr45xsY3eF5OkYaWyJM4yhyaiT9fMhrjfJ9f36a1L_2gAAAAA==</wm> Joseph Jung Lydia Welti-Escher (1858–1891) Mit einer Einführung von Hildegard Elisabeth Keller Neuausgabe 2013. 270 Seiten, 153 Abbildungen, Halbleinen Format 17 × 24 cm Fr. 39.–* / € 34.– nzz-libro.ch 8 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. November 2013 GETTYIMAGES EUGENE DELACROIX / LOUVRE Mann fürchtet nichts mehr als den Schatten, den seine Mitmenschen und die Dinge um ihn herum werfen. Zu selten gelingt es Pehnt hier, das Absurde so ins Extrem zu treiben, dass es poetische Funken schlägt. Überzeugender sind die Passagen, in denen die ganz normalen, alltäglichen Ängste sinnlich spürbar gemacht werden. Worin verdichtet sich der Widerwille der Frau gegen die Einladung zum nachbarlichen Grillfest? In der Erinnerung an ihren ersten Besuch, bei dem man ihr, kaum dass sie eingetreten war, «schon etwas zwischen die Finger geschoben hatte, Lammkotelett in einer Serviette, die sich am heissen Fleischrand auflöste, jemand goss ihr Ketchup über die Hand, lass es dir schmecken, wie heisst du eigentlich, du wohnst da drüben, wir haben was zu feiern». Was tut eine Mutter, die ihren Sohn zu verlieren fürchtet, nicht plötzlich, durch einen Unfall, sondern ganz selbstverständlich durchs Erwachsenwerden? Sie beginnt, an ihm zu riechen, wenn er abends nach Hause kommt, auf der Suche nach Spuren von Nikotin, Alkohol oder anderen Drogen. «Aber er wich zurück und wollte nicht mehr umarmt werden, und so presste sie nur seine Kleider an ihr Gesicht, bevor sie in die Wäsche kamen, atmete tief ein und schämte sich ihres Verdachts und roch doch nur den sauren Achselschweiss eines Mannes, der neulich noch ein Kind gewesen war.» In solchen Abschnitten, solchen Gesten nehmen gerade die unscheinbaren Ängste literarische Gestalt an. «Man kann an allem arbeiten, auch an der Angst», sagt eine der Figuren. Pehnts Buch zeigt, dass die Spracharbeit der lohnendste Weg ist. ● Manon Lescaut ist eine Femme fatale, die ihre Liebhaber ins Unglück reisst. Im Bild eine Kurtisane des 19. Jahrhunderts, gemalt von Eugene Delacroix. Roman Abbé Prévosts berühmte, vielleicht biografische Liebesgeschichte Getrieben von Gier und Luxus Abbé Prévost: Manon Lescaut. Aus dem Französischen von Jörg Trobitius. Manesse, Zürich 2013. 384 Seiten, Fr. 34.90. Von Stefana Sabin Er war ein Dichter-Abenteurer wie Casanova und Da Ponte und wechselte zwischen einer militärischen und einer geistlichen Existenz: Antoine-François Prévost d’Exiles, 1697–1763, musste aus Paris fliehen, ging zuerst nach London, dann nach Holland und veröffentlichte dort 1731 die «Histoire du Chevalier des Grieux et de Manon Lescaut». Obwohl er zwanzig Romane schrieb, ist sein Ruhm mit diesem einen eher schmalen Band verbunden. Vielleicht hat Prévost darin die Erlebnisse eines Freundes, des Herzogs von Brancas, oder gar seine eigene fulminante Affäre mit der Haager Kurtisane Lenki Eckhardt verarbeitet – jedenfalls hat er eine spannungs- und emotionsgeladene Geschichte gesponnen, deren Abenteuereinlagen an die Robinsonaden des 17. und deren Seeleneinblicke an die Liebesromane des 18. Jahrhunderts anknüpfen. Prévost beschreibt eine verhängnisvolle Affäre: Der Chevalier des Grieux ist in die Lebedame Manon Lescaut derart verliebt, dass er trotz Lügen, Täuschungen und Erniedrigungen immer wieder zu ihr zurückkehrt und ihr auf einem Weg folgt, der zwar mit erfüllten Liebeserlebnissen gepflastert ist, aber gleichwohl ins Gefängnis und zur Deportation in die Neue Welt führt. Manon ist eine Femme fatale, die ihre Liebhaber und sich selbst ins Unglück reisst. Von einer unbändigen Gier nach Luxus und Unterhaltung getrieben, kennt sie weder Empathie noch Güte – noch Reue. Schliesslich bezahlt sie für ihr ausschweifendes Leben mit dem Tod. Es ist der verliebte Chevalier, der als Erzähler fungiert und von seiner Liebe zu Manon Lescaut und seinen Abenteuern mit ihr erzählt – ein dankbarer Opernstoff, wie die zahlreichen Vertonungen von Auber, Massenet, Puccini bis hin zu Henze bezeugen. Schon 1756 erschien die erste deutsche Übersetzung, der in regelmässigen Zeitabständen weitere folgten. Nun hat Jörg Trobitius den Roman von Prévost in ein sparsam-schmiegsames Deutsch gebracht. ● Onlineshop für gebrauchte Bücher Angebot Über 35’000 Bücher aus zweiter Hand Kontakt 071 393 41 71 <wm>10CAsNsjY0MDAx1TW0MLM0NAQAk3qZpA8AAAA=</wm> <wm>10CE2MsQ6AIBBDv-hIy3EgMho24mDcWYyz_z8JTg5N2-S1rRVz-LTV_axHIRBMuMRMFsvmfIqF2btkw8HkQV2pwVMH8ccFzFGhfSJCCFMfIVCUHYGjzIM-x6B7rvsFR7ojjH8AAAA=</wm> http://facebook.com/buchplanet.ch http://blog.buchplanet.ch Ein soziales Projekt der Stiftung Tosam www.tosam.ch 24. November 2013 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 9 Belletristik Roman Hervé Le Tellier erzählt mit Humor und Raffinement von der Leidenschaft eines Journalisten EinMannsuchtdieGeliebteseinesFreundes Hervé Le Tellier: Neun Tage in Lissabon. Aus dem Französischen von Jürgen und Romy Ritte. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2013. 278 Seiten, Fr. 21.90, E-Book 14.90. Von Martin Zingg Lissabon, im September 1985. Auf der Agenda der europäischen Medien steht in jenen Tagen der Prozess gegen Ricardo Pinheiro, einen Serienmörder. Vincent Balmer, Portugalkorrespondent einer Pariser Zeitung, soll aus dem Gerichtssaal darüber berichten, zusammen mit António Flores, der als Fotograf arbeitet und nach langer Zeit wieder in seine Heimatstadt zurückkehrt. Die beiden lassen sich in einem Hotel nieder – und hier setzt Hervé Le Telliers Roman «Neun Tage in Lissabon» ein. Erzählt wird er von Vincent, und zwar 26 Jahre später, gestützt auf Notizen aus dem Jahr 1985, dem Jahr, als Italo Calvino starb und in Mexiko die Erde bebte. Vincent arbeitet in jener Zeit an zwei literarischen Projekten. Zum einen übersetzt er täglich kurze Prosastücke eines gewissen Jaime Montestrela, bizarre Anekdoten. Montestrela – eine Erfindung Le Telliers, die es übrigens, wie so manche Fiktion, zu einem echten WikipediaEintrag gebracht hat – kommt im Roman Fotografie Stars, Mode, Kunst Paare haben ihre eigene Dynamik. Wie man nach solider Partnerschaft immer noch aufeinander fliegen kann, zeigen Inez van Lamsweerde und Vinoodh Matadin. Das niederländische Fotografenpaar lebt und arbeitet seit siebzehn Jahren zusammen und hat sich für unkonventionelle Bilder zwischen Kunst und Mode einen Namen gemacht. Gleich, ob sie die Sängerin Björk porträtierten oder eine Werbekampagne für Givenchy schossen, stets haben sie das Spiel mit Erwartungen und Klischees kultiviert. Ein wenig Verrücktheit gehört im LifestyleBereich zu den Musts. So darf die Dame auf dem Selbstporträt «Me Kissing Vinoodh (Eternally)» von 2010 (s. Bild) auch einmal ganz konventionell den wilden, nackten Part samt Ganzkörperbemalung übernehmen und der Mann schön zurückhaltend bleiben. Der Band 10 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. November 2013 «Pretty Much Everything» versammelt von den Körpermanipulationen der neunziger Jahre bis zum Horrorporträt von Julianne Moore 2011 alles, was das Fotografenpaar in Werbung und Kunst berühmt und begehrt gemacht hat. Nach der Luxusausgabe für die Reichen und Angesagten ist der muntere Band nun auch für uns Normalos erhältlich. Zur Sicherheit im Flexi-Einband und im Schuber. Könnte ja sein, uns fällt beim Blättern in der Küche die Kinnlade runter, und der Kaffee sabbert aufs Buch. Dann kann man das einfach abwischen. Das Fotografenduo hat sich auch hier nach allen Seiten abgesichert. Gerhard Mack Inez van Lamsweerde, Vinoodh Matadin: Pretty Much Everything. Taschen, Köln 2013. 704 Seiten, zahlreiche Abbildungen, Fr. 66.90. immer wieder zu Wort, zusammen mit seinem Heteronym Jaime Caixas, der berührende Gedichte hinterlassen hat. Wir sind in der Stadt Pessoas. Und Hervé Le Tellier ist aktiv beim «Oulipo», dem «Ouvroir de littérature potentielle», der Werkstatt für potenzielle Literatur, zu der einst auch Italo Calvino und Georges Perec zählten. Vincent übersetzt nicht nur, er müht sich auch ab mit einem Roman, der in der Zusammenfassung ziemlich schwurbelig erscheint. Und er ist ein Mensch, das wird schon bald einmal deutlich, dem bisher nichts richtig gelingen wollte. Nach Lissabon ist er gezogen, weil die Liebe zu Irene seit ihren Anfängen eine verkorkste Sache geblieben ist. Sie kann seine Leidenschaft nicht erwidern, und er verzehrt sich nach ihr. Lissabon verspricht Distanz. Mit Empathie hört er António zu, der von seiner Lissaboner Jugendliebe erzählt, von «Pata», wie sie sich nannte, «Ente». Vincent erfährt von einer glühenden Liebe, die auch zu tun hatte mit dem «Carro eléctrico», der legendären Strassenbahn Lissabons. Dem «Eléctrico W» – den es als Linie nicht gibt, aber mit dem «W» an Georges Perecs «W oder die Kindheitserinnerungen» erinnert – ist der junge António seinerzeit nachgerannt, als die beiden erstmals aufeinander getroffen sind. Irgendwann wurde Pata von ihm schwanger, und damals war die Moral rigide, die Diktatur von Salazar noch lange nicht am Ende. Der Vater brachte seine Tochter bei Verwandten unter, und António zog nach Paris, die beiden Liebenden verloren sich aus den Augen. Inzwischen ist er längst mit einer anderen Frau zusammen, aber diese scheint, wie António gelegentlich andeutet, ziemlich anstrengend zu sein. Heimlich beginnt Vincent, nach Pata zu suchen: Vielleicht kann er, dem in Sachen Liebe nichts glücken will, für andere nach Jahrzehnten etwas retten. Zugleich kündigt Antónios Freundin ihren Besuch in Lissabon an – dass es ausgerechnet Irene ist, bringt den Erzähler und damit den Roman gehörig in Fahrt. Er will der einst Geliebten nicht zu nahe kommen, und das steuert ihn in etliche komische Situationen, die Le Tellier seinen Erzähler auf wunderbare Weise inszenieren und berichten lässt. Das von Vincent ziemlich naiv angestrebte Happy End kann es indes nicht geben, und mit Irene hat inzwischen auch António seine Mühe. «Alle schlechten Romane ähneln sich, aber jeder gute Roman ist auf seine Art gelungen», heisst es am Schluss in einer kleinen Tolstoi-Anspielung. Vincent Balmer und seinem Schirmherrn Le Tellier ist es tatsächlich gelungen, einen guten, ja höchst vergnüglichen, sprachspielund anspielungsreichen Roman aus den Notizen zu heben. Und Jürgen und Romy Ritte haben ihn auf präzise und bewundernswert elegante Weise aus dem Französischen ins Deutsche übersetzt. ● Prosa Der in Uster lebende Autor Dieter Zwicky erweist sich wieder einmal als phantasievoller Sprachkünstler Warten aufRobert Von Bruno Steiger Die Frage nach einer vergleichbaren «stofflichen» Essenz von Welt, Wahrnehmung und Sprache beschäftigte Dieter Zwicky schon in seinem 2002 erschienenen ersten Buch. «Der Schwan, die Ratte in mir» lautete der Titel der Sammlung von lyrischer Kurzprosa; als «Buchwunder» feierte die einschlägige Kritik das Debüt des damals 45-Jährigen. In all den äusserst sinnlichen Meditationen etwa über die verheerende Schönheit von verirrten Brieftauben und höhnisch gestimmten Gartenzwergen zeigte sich eine Imaginationskraft, die als absolut einzigartig wahrgenommen wurde. Ob man es mit Sur- oder gar Pararealismus zu tun hatte, liess sich nicht schlüssig beantworten; dasselbe galt auch für die nachfolgenden Bücher, mit denen Zwicky seine Position als exorbitanter, sich jeder simplen Enigmatik enthaltender Wortkünstler zu festigen vermochte. Was bloss bedeutet Slugo? Dem Befund, Zwicky schreibe ausserhalb aller herkömmlichen Raster, begegnet der Autor nun mit der Etablierung eines neuen Genres. Als «Privatflughafengedicht» deklariert er sein Buch. Was es damit auf sich hat, wird schon im ersten Absatz deutlich – und wie! «Judith, das Essen ist fertig! / Ich rufe so froh, so frisch, weil ich auf dem Flughafen koche.» Man liest solches beinah schaudernd vor Freude, hier aber soll vorerst Inhaltliches zur Sprache kommen, mit einem Blick auf Dieter Zwickys Personal. Es ist Bodenpersonal in jedem Sinn des Wortes. Es setzt sich – auch wo man ab und an «in Dreierkolonne» auf dem Dach des Hangars zu stehen meint – aus gerade mal zwei Leuten zusammen: dem erzählenden Koch und seiner Frau Judith. Alles, was man Nebenfigur nennen könnte, hat sich vom Flughafen abgesetzt. Dies gilt für den «näselnden» Sohn Geoffrey ebenso wie für die beiden Stewards namens Brian und Holland, als «ausrangierte Flugplatzgeister» werden sie bezeichnet. Den einzigen die Stellung Haltenden bleibt das Warten auf den Südafrikaner Robert, der mit dem «Nachmittagsflugzeug» eintreffen soll. Als «kirchliches Geschäft» betrachten Judith und der Koch ihr Warten im ewigen Nachmittag des Flughafens. Die Zeit vertreiben sie sich mit Spekulationen über den Verbleib von Roberts Bruder Jean, Ein Hangar spielt im neuen Roman von Dieter Zwicky eine zentrale Rolle: Er ist Sperrbezirk und Spielfeld in einem. RALF MEYER / VISUM Dieter Zwicky: Slugo. Ein Privatflughafengedicht. Edition pudelundpinscher, Erstfeld 2013. 160 Seiten, Fr. 28.-. mit allerlei Betrachtungen über die Tierund Pflanzenwelt des Areals, mit der Frage, ob sich ein Wort wie «hochwirksam» träumen lässt – und mit dem Verzehr von «Slugo-Crackers». Womit wir beim Buchtitel und der Frage wären, was «Slugo», so es denn mehr wäre als bloss eine Art Jokerwort, sein und bedeuten könnte. Es bleibt lange offen; erst gegen Schluss des Buchs gibt der Koch seiner Erkenntnis Ausdruck, dass das Wort «kraft seiner Kürze von seinem Gehalt eigentümlich ablenkt». Nach einem denkbar knapp gehaltenen Exkurs zum Begriff «Verkürzung» wird er konkreter: «Slugo versteckt sich, es schiebt Schottland vor, Scotland. Slugo nimmt sich einen Fjord und steckt Scotland direkt ans spitze Fjordende: Slugo. / Oder kanadische Waffeln. / Oder kanadisches Süssbrot, in das mittels Einwegpipetten vitamintechnisch wertvolle Lachssekrete eingespritzt worden sind.» Das ist nicht in irgendeine überinstrumentierte Beliebigkeit durchgesackte Metaphorik, das ist ZwickySound in Vollendung und damit so etwas wie Klartext pur. Gleichwohl sieht man sich, als kritischer Leser und Agent eines Vermittlungsauftrags, herausgefordert, «Slugo», dem Wort wie der damit bezeichneten Sache, auf den Grund zu gehen. Wenn man weiss, dass Zwicky in Theologie ebenso bewandert ist wie in philosophischen Fragen, bietet sich zuallererst eine allegorische Lesart an. Darin könnte Slugo als erste und eigentliche Ursubstanz der Materie gesehen werden, als etwas, was dem innersten Kern der Schöpfung Masse und Bestand verleiht. Eine mindestens ebenso plausible Interpretation ergibt sich aus der Recherche im Netz, wo das Wort als Name einer Firma auftaucht, die «alternative» Bauklötzchen für Drei- bis Sechsjährige anbietet. In beiden Versionen bestätigt sich der Eindruck, dass Dieter Zwicky seinen Flugplatz als geschütztes, vollständig separiertes Spielfeld angelegt hat, als Sperrbezirk im Grunde, in welchem endlich einmal alles möglich werden darf, Betonung auf möglich. So kann er denn auf das, was man gemeinhin Handlung nennt, grosszügig verzichten. Er beschränkt sich auf die Entfaltung eines Settings. In einer ingeniösen Dramaturgie vielfältig geschichteter Zeitverläufe hält er sich vorzugsweise an ein selbstvergessenes Abschweifen, in welchem «Slugo» als essenzieller blinder Fleck alles Sagbaren Gestalt annimmt. Wollüstige Höhenflüge In dem augenscheinlich schwer zu bändigenden dunklen Enthusiasmus, der in und zwischen den Zeilen wirkt, erlaubt sich der Autor nebst so manchen fast wollüstig zelebrierten sprachlichen Höhenflügen immer wieder auch lapidare Einwürfe von geradezu monströser Erhabenheit. «Judith atmete. / Ich atmete.» Gerade bei solchen Sätzen kann man nur noch leer schlucken. Das dumme Wort Lesevergnügen darf bei diesem Buch unausgesprochen bleiben, das Lesen, das Sich-Einverleiben von «Slugo» bewirkt viel, viel mehr: Es macht schlicht und einfach froh. ● 24. November 2013 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 11 Belletristik Romanzyklus Der Schweizer Autor Otto Frei (1924–1990) verewigte in fünf Büchern seine frühen Jahre in Steckborn am Bodensee MonologendetimVatermord gleichwohl sehr unterschiedlich. Die nostalgische Kindheitserzählung «Jugend am Ufer» und die Schilderung der Studienjahre in «Zu Vaters Zeit» sind in einem lockeren, episodischen Stil gehalten. In den anderen drei Bänden ist die Textur dichter, Träume und Reflexionen erweitern die Erzählung, und der abschliessende «Rebell» enthält einen heftigen inneren Monolog, der im Vaterund Sohnesmord endet. Freis ganze Pentalogie schildert den Kampf eines Sohnes mit seinem übermächtigen Vater, einem von der bäuerlichen Welt geprägten Unternehmer und passionierten Jäger ohne intellektuelle Ankränkelung. Der Sohn ist der erste in der Familie, der die Matura macht und studiert – zum Missfallen des Vaters, der sich unter dem Fach Geschichte nichts vorstellen kann und sich erst durch die Erklärung des Sohnes beruhigen lässt, man könne damit Professor in Frauenfeld werden. Otto Frei: Bis sich Nacht in die Augen senkt. Die Steckborner Pentalogie. Hrsg. Charles Linsmayer. Reprinted by Huber, Frauenfeld 2013. 520 Seiten, Fr. 41.90. Von Manfred Papst Der Ostschweizer Schriftsteller Otto Frei zählt zu den zu Unrecht vergessenen Schweizer Autoren des 20. Jahrhunderts. Er war neben seiner Tätigkeit als langjähriger Korrespondent der «Neuen Zürcher Zeitung», für die er aus Berlin, Rom und dem Welschland berichtete, auch ein fruchtbarer Erzähler. Der 1924 als Sohn eines katholischen Holz- und Obsthändlers in Steckborn geborene Autor, der die Kantonsschule Frauenfeld besucht und in Zürich und Paris Geschichte sowie Germanistik studiert hatte, wirkte von 1951 bis 1989 für die NZZ. Seiner Heimat am Bodensee hat Otto Frei fünf schmale, höchst unterschiedliche Bücher gewidmet, die nun erstmals in einem Band der verdienstvollen Reihe «Reprinted by Huber» vorliegen. Natürlich verdanken wir diesen Fund einmal mehr dem so kundigen wie unermüdlichen Herausgeber Charles Linsmayer. Er stellt in seinem 85-seitigen, illustrierten Nachwort, das den Rang der bislang besten und gründlichsten Frei-Monografie beanspruchen darf, das Schaffen seines Protagonisten umsichtig in den Kontext der Zeit. Zu Recht würdigt er die thematische und stilistische Vielfalt von Freis Schreiben, in dem sich Tragik, Humor und markige Fabulierfreude verbinden und das neben dem Steckborner Zyklus den Genfersee-Roman »Dorf am Rebhang« (1974), den Erzählband »Berliner Herbst« (1979) und die kritische KurortDarstellung »Abschied in Zermatt« (1980) umfasst. NZZ-Autor wird Romancier Linsmayers besonderes Augenmerk gilt indes dem biografisch grundierten Werk des Autors. Es besteht aus den Publikationen «Jugend am Ufer» (1973), «Beim Wirt am scharfen Eck» (1976), «Zu Vaters Zeit» (1978), «Bis sich Nacht in die Augen senkt» (1982) sowie «Rebell» (1987). Die fünf Bücher sind nun als «Steckborner Pentalogie» endlich wieder lieferbar, und sie laden dazu ein, Otto Frei, den welschen Alemannen und Thurgauer Romand, neu zu lesen. Otto Frei war schon 49 Jahre alt, als sein literarischer Erstling erschien, und er wurde von der Kritik kaum wahrgenommen. Für die meisten nahmen sich Freis Bücher, wie Linsmayer treffend schreibt, als «unzeitgemässe, harmlosburleske, ländlich provinzielle Unterhaltungsliteratur aus, Resultate der Freizeitbeschäftigung eines politischen Redaktors, der, wie man herablassend anzutö12 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. November 2013 Ewiger Aussenseiter Der angehende Journalist Otto Frei, frisch verliebt, mit seiner Frau Ruth Zimmerli 1949 in Venedig. nen nicht verfehlte, offenbar nach höheren Weihen strebte». Hinzu kam ein Politikum: Als NZZ-Mann stand Frei in der damals von links engagierten Autoren wie Frisch, Muschg und Diggelmann geprägten Schweizer Literaturszene auf der falschen Seite, auf jener des konservativen Bürgertums nämlich. Über die Studentenunruhen in Berlin schrieb er derart negativ, dass es selbst der NZZ zu viel wurde; sie rief ihren Mitarbeiter in die Schweiz zurück. Bürgertum hin oder her: Epische Breite war nicht Otto Freis Fall. Vielmehr pflegte er einen schmucklosen, an seinen grossen welschen Kollegen Charles-Albert Cingria erinnernden Stil. Er beschrieb in kurzen Sätzen knappe Szenen, zog Dialoge Beschreibungen vor. Seine fünf autobiografischen Bücher sind Das Jahr 1949 markiert die entscheidende Zäsur in Otto Freis Leben. Am Neujahrstag stirbt der Vater mit knapp 65 Jahren. Der Sohn hat diesen Tod immer wieder literarisch geschildert – und jedes Mal anders. Nun erst fühlt er sich frei. Die Doktorprüfung hat er abgelegt, das Diplom für das höhere Lehramt erworben; zudem hat er mit Ruth Zimmerli die Frau seines Lebens kennengelernt. Er wird Volontär bei den «Schaffhauser Nachrichten», bereist Italien, Frankreich, England, versucht sich als Dramatiker – und landet bei der NZZ. Willy Bretscher stellt ihn ein. Fünfzehn Jahre lang berichtet Frei aus Berlin, unterbrochen lediglich durch eine einjährige Stellvertretung in Rom. Dann wird er von Fred Luchsinger zum Welschland-Korrespondenten berufen. Er zieht in den Weiler Bursinel bei Lyon. Dort wird er zum Romancier. Doch die Suche nach einem Verleger gestaltet sich schwierig. Es ist schliesslich kein Geringerer als Friedrich Dürrenmatt, der ihn in seinem Verlag unterbringt – in Peter Schifferlis «Arche». Klara Obermüller, damals 33 Jahre alt, bespricht «Jugend am Ufer» in der NZZ. Der Autor liest die Rezension als «höflich verschleierten Verriss». Der 1978 erschienene Band «Zu Vaters Zeit» findet dagegen breite Zustimmung. Gleichwohl bleibt Otto Frei zeit seines Lebens ein Aussenseiter des Literaturbetriebs, wie Charles Linsmayer, der als damaliger Lektor des Arche-Verlags die Geschichte aufs Genaueste kennt, darlegt. Gewiss: Otto Frei war ein poeta minor. Es lohnt sich dennoch, ihn zu lesen: aus literarischen wie aus zeitgeschichtlichen Gründen. Und auch Psychologen dürften in dieser Bewältigung eines Sohn-VaterKonflikts ihre fette Beute finden. ● Kurzkritiken Belletristik E-Krimi des Monats Horror einer Bilderbuchehe Gillian Flynn: Gone Girl. Das perfekte Opfer. Aus dem Amerikanischen von Christine Strüh. Fischer Scherz, Frankfurt 2013. 576 Seiten, Fr. 25.90, E-Book Fr. 18.–. «Vermutlich hängen solche Fragen wie Gewitterwolken über jeder Ehe: Woran denkst Du? Wer bist Du? Was haben wir einander angetan? Was werden wir noch tun?» Diese Gedanken stolpern Nick Dunne durch den Kopf – am Tag, an dem seine Frau Amy verschwindet. Es ist ihr fünfter Hochzeitstag, an dem die Lifestyle-Fassade ihrer Leben zerbricht und der Hass, der dahinter lauert, zum Vorschein kommt. Ein klassischer Thriller ist «Gone Girl» von Gillian Flynn nicht, eher ein hochspannendes Psychogramm einer Ehe mit kriminalistischem Hintergrund. Aufgebaut ist der Plot als Parallelmontage zweier sich abwechselnder Ich-Erzählungen – bald berichtet Amy, teils in Form von Tagebucheinträgen, bald berichtet Nick. Amy und Nick, das sind zwei trendige Mittdreissiger mit Luxusappartement in New York, mit Jobs in der Medienbranche, sie führen eine Vorzeige-Ehe in einem Bilderbuchleben. Bis beide ihre Stelle verlieren. Das Geld reicht nicht mehr für die Wohnung, nicht mehr für das teure Hipster-Leben. Und so ziehen sie weg, in die Kleinstadt, in der Nick gross geworden ist. Wo er unter trendigem Namen eine alte Bar neu eröffnet. Und wo sein Untergang beginnt. Weil sich die Oberflächlichkeit ihres New Yorker Lebens im Kleinstadtalltag nicht aufrechterhalten lässt und sich plötzlich zeigt, dass der Partner die Idealvorstellungen des anderen nicht erfüllt. Eines Tages ist Amy weg. Im Haus finden sich Spuren eines Kampfes. Nick gerät unter Verdacht. Es gibt Lügen. Es gibt Intrigen. Aber es gibt keine Leiche. Und am Schluss ist vieles anders, als man denkt. Das Buch ist ein eigentlicher Wettstreit zweier unzuverlässiger Erzähler, denen man beiden nicht so recht glauben mag, und die um das Vertrauen der Leser buhlen. Amy und Nick schildern die an sich gleiche Geschichte, die aus den unterschiedlichen Perspektiven nicht ein und dieselbe ist. Lange bleibt unklar, was am Tag von Amys Verschwinden geschah. Der rasante Perspektivenwechsel deckt Stück um Stück den Horror auf, der sich in der Beziehung von Amy und Nick eingenistet hat und ihre Leben kaputtzumachen droht. Dieser ist umso verstörender, als in ihrer Ehe viel Normalität steckt. Letztlich geht es darum, wie zwei, die sich einst liebten, so sehr voneinander entfernen können. Und um die Frage, ob man seinen Partner wirklich kennt. Von Christine Brand ● Charles Bukowski: Das weingetränkte Notizbuch. Fischer, Frankfurt a. M. 2013. 350 Seiten, Fr. 28.90, E-Book 22.–. Pedro Lenz: I bi meh aus eine. Cosmos 2013. 75 Seiten, Fr. 25.90. Als Hörbuch, mit Patrik Neuhaus am Piano: Fr. 29.–. Charles Bukowski (1920–1994) war einer der unterhaltsamsten Skandalautoren des 20. Jahrhunderts. Der in Deutschland geborene Amerikaner schöpfte aus seinem Leben in zahllosen schlecht bezahlten Jobs und dem Mix seiner Passionen: Alkohol, Sex, Pferderennen, klassische Musik. Er schilderte sein verrücktes Leben in Los Angeles mit Lakonie und Witz – in Gedichten, Storys und Romanen. Seit den späten 1970er-Jahren war Bukowski auch im deutschen Sprachraum ein Kultautor. Übersetzt wurde er über Jahrzehnte von seinem Freund Carl Weissner (1940–2012). Dessen Verdienste in Ehren – es ist gut, dass wir Bukowski nun auch einmal in anderer Auslegung lesen können. Malte Krutzsch hat «Das weingetränkte Notizbuch», einen 2008 im Original erschienenen Band von «Uncollected Stories and Essays» aus den Jahren 1944 bis 1990 mit Leidenschaft und Umsicht ins Deutsche gebracht. «Andere Schriftsteller haben einen Brotjob als Lehrer. Mein Brotjob ist das Auftreten», sagte Pedro Lenz neulich in einem Interview. Ein sauer verdientes Brot, denkt man mit Blick auf seine volle Agenda, die bis zu fünf Auftritte pro Woche aufführt. Aber der Berner Spoken-Word-Künstler und Mundart-Autor weiss es sich zu versüssen mit Bühnenpartnern. Einer von ihnen ist der Pianist Patrik Neuhaus. Zusammen treten sie seit 2002 als Duo «Hohe Stirnen» auf, «I bi meh aus eine» ist ihre fünfte Produktion. Erzählt wird die wahre Geschichte des Emmentalers namens Peter Wingeier, der in den 1860er-Jahren nach Argentinien auswandert und dort ein Dorf gründet. Lenz hat den Text so wunderbar rhythmisiert, dass viele Stellen wie Liedzeilen klingen. Die Geschichte böte Stoff zu üppigem Fabulieren, umso bedauerlicher, dass der Autor sich auf diese Kürze beschränkt hat. David Vogel: Eine Wiener Romanze. Roman. A. d. Hebräischen v. R. Achlama. Aufbau, Berlin 2013. 316 S., Fr. 33.90, E-Book 19.–. Rainer Malkowski: Aphorismen und kleine Prosa. Wallstein, Göttingen 2013. 123 Seiten, Fr. 28.40, E-Book 19.–. Michael Rost, 18 Jahre jung, verliess sein Elternhaus, weil er «neugierig auf sich selbst» war. Er kommt in eine Grossstadt, wo sich ihm ein Millionär als Mäzen anbietet. Rost ergreift die Gelegenheit. Er mietet ein Zimmer bei der schönen Gertrud Stift und beginnt mit ihr ein Liebesverhältnis, bis sich ihre 16-jährige Tochter in ihn verliebt. Im letzten Kapitel erleben wir einen kaltschnäuzigen Michael Rost mit einer anderen Frau. Vermutlich hatte David Vogel, der 1891 in Podolien (Russisches Kaiserreich) zur Welt kam und 1944 in Auschwitz ermordet wurde, den Text in den 1920er-Jahren in Paris verfasst und nicht abgeschlossen. Dafür spricht der Zustand des Manuskripts im Nachlass. Mit seiner «Wiener Romanze» zeigt uns Vogel ein lebenspralles Bild von Wien, wo er 1912 bis 1922 gelebt hat. Eine Entdeckung, die einen frösteln lässt ob der menschlichen Kälte. Der in Berlin geborene Lyriker Rainer Malkowski (1939–2003) war in jungen Jahren als höchst erfolgreicher Werber tätig. Doch mit 33 Jahren zog er sich völlig aus dem Betrieb zurück und lebte bis zu seinem Tod abgeschieden im bayrischen Brannenburg am Inn. In regelmässigen Abständen veröffentlichte er nun Lyrikbände, die ersten acht bei Suhrkamp, den letzten bei Hanser. Er war ein Meister der kleinen Wahrnehmung und pflegte den freien Vers. Die Sorgfalt seiner Diktion kam ohne jede Überhöhung aus. Er gab dem brüchigen, fragmentierten Leben eine dichterische Form. Sein lyrisches Werk liegt bei Wallstein vor. Nun folgt als Nachlese ein wunderbarer kleiner Band mit Aphorismen und kleiner Prosa, «Was sein könnte, ist», lesen wir da. Mit einem emphatischen Nachwort herausgegeben wurde das Buch von keinem Geringeren als Michael Krüger. Manfred Papst Regula Freuler Regula Freuler Manfred Papst 24. November 2013 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 13 Kinder- und Jugendbuch Kurzkritiken Gary Ghislain: Wie ich Johnny Depps Alien-Braut abschleppte. Fischer 2013. 223 Seiten, Fr. 21.90, E-Book 16.– (ab 12 J.). Klassiker Neue Übersetzung Oliver Scherz: Ben. Mit farbigen Illustrationen. Thienemann, Stuttgart 2013. 112 Seiten, Fr. 19.90 (Vorlesen ab 5). Die Schatzinsel in voller Länge Robert Louis Stevenson: Die Schatzinsel. Hanser, München 2013. 384 Seiten, Fr. 39.90, E-Book 29.90 (ab 12 Jahren). Hörbuch, ungekürzte Lesung von Harry Rowohlt. Roof Music/tacheles!. 6 CDs, 489 Minuten, Fr. 38.90. Von Hans ten Doornkaat Für einen Verliebten ist die Auserwählte ein Wesen von einem anderen Stern. Da bildet der 14-jährige David keine Ausnahme, nur handelt es sich bei der delinquenten Patientin seines Vaters tatsächlich um eine Ausserirdische. Zelda kann astralzoomen, die Zeit krümmen und nimmt es trotz galaktischem Jetlag locker mit einer Horde Polizisten auf. Der Besucherin vom Planeten Vahalal bleibt wenig Zeit, auf der Erde ihren Seelenverwandten zu finden. Dass der Kandidat Johnny Depp heisst, macht die Mission nicht einfacher. David fügt sich in die Rolle des Gehilfen und versucht, das Schlimmste zu verhindern. Gary Ghislain erzählt das turbulente Erdling-trifftSpacegirl-Abenteuer mit gehörigem Wort- und Aberwitz. Dabei spielt er mit popkulturellen Versatzstücken und lehnt sich literarisch ans Comicgenre an. Inmitten der Superhelden, Hexen und anderer Überflieger im Kinderbuch ist Ben eine wohltuende Ausnahme: Er ist so herrlich normal. Mit seinem besten Freund, der Schildkröte Herrn Sowa, flutet er das Badezimmer, entert das Baumhaus seines grossen Bruders, geht nachts angeln in Nachbars Garten und gemeinsam überstehen sie den Besuch beim Arzt – kurz: sie erleben schönste, bewältigbare Abenteuer und sammeln Erfahrungen. Zum Beispiel die, dass man sich ruhig fürchten darf (vor dem Keller, der Dunkelheit, der Schule) und dass Heimweh zum Leben gehört, weil man dann erst weiss, wie lieb man sich hat. Die zehn in sich abgeschlossenen VorleseGeschichten sind mit Poesie und Fantasie geschrieben; sie unterhalten mitten aus der Kinderwelt auf sachte Art und helfen, grösser zu werden. Alice Gabathuler: no_way_out. Thienemann, Stuttgart 2013. 336 Seiten, Fr. 19.90, E-Book 15.- (ab 16 Jahren). Marian de Smet: Kein Empfang. Gerstenberg, Hildesheim 2013. 192 Seiten, Fr. 19.90 (ab 13 Jahren). Mick lebt auf der Strasse. Eines Tages fährt ein Luxuswagen den 17-Jährigen an. Gezielt, wie sich bald zeigt. Kurz darauf wird Mick ein Mord untergeschoben. Er gerät in Panik, reagiert falsch und muss in der Folge untertauchen. Hinter den Machenschaften steht ein rechtsgerichteter Bund, der «asoziale Elemente» aus der Gesellschaft entfernen will, indem er sie für nicht begangene Straftaten ins Gefängnis bringt. Jetzt erhält der hochspannende Thriller eine politische Dimension. Er macht auch deutlich, wie leicht die Berichterstattung ein falsches Bild der Geschehnisse evozieren kann. Aber da bilden Mick und seine Freunde eine Online-Community, ein neuer Kampf beginnt. Gabathulers Bücher behandeln brisante Themen, die Jugendliche interessieren und bewegen. Zu Recht wächst ihre Fangemeinde stetig. Leo ist beim Wandern in ein Loch gefallen. Der Akku des Handys ist leer, der Fuss gebrochen – jetzt gilt es abzuwarten. Da taucht die rätselhafte Nanou auf. Das Mädchen bringt Leo Essen, verarztet ihn, holt aber keine Hilfe. Nanou wird von ihrer Mutter versteckt gehalten und kennt keine anderen Menschen. Während sie zaghaft auf Leo zugeht und die beiden sich verlieben, belagern Journalisten unten im Tal Leos Freund David. Auch eine Familie taucht auf, deren Kind vor dreizehn Jahren hier spurlos verschwand. Der Thriller wird abwechselnd aus Nanous, Leos und Davids Perspektive erzählt. Rasch erahnt man die Zusammenhänge, die de Smet geschickt anklingen lässt. Ob die Vermutungen richtig sind, erfährt man nicht. Indem sie das Meiste offen lässt, vermeidet die Autorin ein kitschiges Happy-End. Daniel Ammann Verena Hoenig 14 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. November 2013 Christine Knödler Andrea Lüthi Glücklich, wer das Heben dieses Schatzes noch vor sich hat. Viele haben «Die Schatzinsel» nur in gekürzter Fassung «bearbeitet für die Jugend» gelesen. Die neueren Ausgaben mit den Bildern von John Lawrence (Sauerländer) oder den Farbtafeln von Robert Ingpen (Knesebeck) bedienen sich einer Übersetzung von 1967. Doch warum nicht Jugendliche erfahren lassen, dass auch ein klassischer Text beste Spannung bietet? Wenn die Piraten auftrumpfen, oder wenn Long John Silver als Kopf der Meuterei sein falsches Spiel spielt, dann ist die Neuübersetzung von Andreas Nohl den bisherigen vorzuziehen. Als Stevenson sich entschliesst, für alle Alter und Schichten zu schreiben, entwickelt er ein Spannungskonzept wie später Hitchcock: Wir wissen meist Bescheid über Taten und Widersacher, und werden doch laufend überrascht. Allzu rasch sieht der Halbwaise Jim den geselligen Schiffskoch als väterlichen Freund. Zwar streut der Autor Hinweise ein, die unsere Zweifel und die Spannung erhöhen, aber der Junge muss erst – im Apfelfass versteckt – die Prahlereien der Verschwörer mit anhören, ehe er das Doppelspiel durchschaut. Dass ausgerechnet eine Vaterfigur sich als Verräter entpuppt, ist in einem Jugendklassiker brisant, und dass auch die gestandenen Herren darauf angewiesen sind, mit dem Schurken gemeinsame Sache zu machen, irritiert selbst ältere Leser. Harry Rowohlt kann in der ungekürzten Lesung nicht so ausschweifend auftrumpfen, wie er und sein Stammpublikum es mögen. Aber wie er mit seinem rauen Bass die wechselnden Rollen des Schiffskochs inszeniert, und bei allzu viel Abenteuerromantik auch mal einen ironischen Unterton anklingen lässt, das ist ein Vergnügen im Sinne des Autors. Hoch anzurechnen ist dem Hörbuch auch, dass nach dem 32. Kapitel ein vom Übersetzer neu entdeckter Text von Stevenson eingefügt ist, ein Dialog zwischen Silver und Kapitän Smollett über den Autor. Ohnehin sind Nachwort, Materialien über die Entstehung des Romans und Gedanken zur neuen Übertragung, ein Genuss für erwachsene Leser – und, falls gewünscht, eine Legitimation für den populären Lesestoff. Nötig ist sie indes nicht, denn von Henry James bis Ernst Bloch gibt es ausreichend Bekenntnisse zu dem Roman. ● Neurobiologie Zwei reich bebilderte Sachbücher über das Hirn Was im Kopf passiert Michael Madeja, Jan von Holleben, Katja Naie: Denkste?! Verblüffende Fragen und Antworten rund ums Gehirn. Gabriel, Stuttgart 2013. 184 S., Fr. 25.90 (ab 8 J.). Alexander Rösler, Philipp Sterzer, Kai Pannen: 29 Fenster zum Gehirn. Genial einfach erklärt, was in unserem Kopf passiert. Arena, Würzburg 2013. 224 Seiten, Fr. 19.50 (ab 12 Jahren). Von Sabine Sütterlin Was im Kopf vorgeht, fasziniert alle – aber alle anders. «Jüngere Kinder interessieren sich vor allem für Tiere und deren Gehirne, ältere Schüler für das Selbst und die Gehirnentwicklung, Erwachsene für die Frage nach dem freien Willen und die Alzheimer-Erkrankung», sagt der Hirnforscher Michael Madeja. Er hat gemeinsam mit der Neurobiologin Katja Naie ein Buch für Kinder geschrieben. Wie viele Gehirnwindungen hat eine Ameise? Ist das Gehirn innen hohl? Selbst solch verblüffende Fragen beantworten die Autoren ernsthaft, geradlinig und einfach. Doch obwohl die Texte jeweils höchstens eine halbe Seite lang sind, dürften sie es schwer haben, die Aufmerksamkeit der Leser von den vielen bunten, aufwendig inszenierten Foto-Illustrationen abzuziehen, auf denen beispielsweise ein Mädchen mit drei Kindern zu jonglieren scheint. Grafisch weit weniger anspruchsvoll, aber vielfältiger in der Wahl der Vermittlungsformen und lockerer im Ton ist «29 Fenster zum Gehirn». Die Neurologen Alexander Rösler und Philipp Sterzer wenden sich damit an Jugendliche ab zwölf. Die 29 Einblicke ins Gehirn und seine Funktionen sind in sieben Kapiteln von «Wahrnehmung und Bewusstsein» bis «Entscheidung und freier Wille» gegliedert. Dank Querverweisen und Glossar lassen sich aber problemlos einzelne Themen herauspicken. Die Autoren präsentieren den Stand der Forschung denkbar kurzweilig. Sie verblüffen mit Schilderungen aus ihrer Forschungspraxis, regen zu eigenen Experimenten an und verweisen auf weiterführende Internet-Links. Zwischendurch erzählt der pawlowsche Hund in radebrechendem Deutsch von der Entdeckung der Konditionierung. Und der Neurobiologe Professor Rastlos streitet sich mit der soziologischen Anthropologin und Theologin Professor Dr. Dr. Wirrwarr über Intelligenz und freien Willen. Der direkte Vergleich der zwei Gehirnbücher ist vielleicht unfair, da sie sich an unterschiedliche Altersgruppen richten. Aber die «29 Fenster» werden junge Menschen immer wieder gern in die Hand nehmen – auch noch als Erwachsene. ● Kurzkritiken Max Kruse: Urmel saust durch die Zeit. Illustr. G. Jakobs. Thienemann, Stuttgart 2013. 176 Seiten, Fr. 18.90 (ab 8 Jahren). Virginie Aladjidi, Emmanuelle Tchoukriel: Birke, Buche, Baobab. Gerstenberg, Hildesheim 2013. 72 S., Fr. 19.90 (ab 6 J.). Dreizehn Jahre nach dem letzten UrmelBand erklärt Max Kruse anhand seiner berühmten Figur die Evolution: Unabsichtlich betätigt das Urmel den Starthebel von Professor Tibatongs Zeitmaschine und reist mit seinen Freunden durch die Zeit. Von der Ursuppe gelangen sie zu den Dinosauriern, erleben einen Meteoriteneinschlag, begegnen Urmenschen und den ersten Siedlungen. Über ein Handy erläutert der Professor die Evolutionsstufen, während die Reisenden die Perspektive des Kindes einnehmen und bei unbekannten Begriffen nachfragen. Eingebettet in witziges Geplänkel und abenteuerliche Begegnungen wird hier in kleinen Portionen Wissen vermittelt. Die Geschichte wirkt nicht aufgesetzt, am Ende des Buches sind alle Informationen noch einmal verständlich aufbereitet. Aus dem Holz der Gemeinen Esche entstehen Snowboards oder Werkzeugstiele, die stinkenden Früchte des Durianbaums schmecken nach Vanille, und die SilberPappel soll ihre Farbe dem silbrigen Schweiss von Herakles verdanken. Gegliedert nach Laub-, Nadelbäumen und Palmen und nach Blatttypen aufgeteilt, gibt es zu jedem Baum eine kurze Beschreibung. Da geht es um Historisches, Symbolik, Mythologie sowie um Besonderheiten des Holzes oder der Früchte. Leider wirken manche Formulierungen der deutschsprachigen Ausgabe etwas umständlich. In seiner edlen Retro-Aufmachung, mit den bezifferten Bildtafeln und den kolorierten feinen Strichzeichnungen von Emmanuelle Tchoukriel erinnert das Buch an botanische Werke aus dem 19. Jahrhundert und ist damit auch ein Liebhaberbuch für Erwachsene. Sonja Eismann u. a.: Glückwunsch, du bist ein Mädchen! Beltz & Gelberg, Weinheim 2013. 152 Seiten, Fr. 24.50 (ab 14 Jahren). Adam Jaromir: Fräulein Esthers letzte Vorstellung. Gimpel, Langenhagen 2013. 124 Seiten, Fr. 40.90 (ab 12 Jahren). Braucht es den Untertitel «Eine Anleitung zum Klarkommen» für Mädchen heute wirklich noch? Ist diese noch nötig? Der Ratgeber will bekennend Mut machen und wirft dafür einen explizit weiblichen Blick aufs (noch nicht ganz) starke Geschlecht. Rosarot nebst Brille in derselben Farbe haben ausgedient, Schönheitsideale (wer sagt, dass dick hässlich ist?), Rollenverständnis (wer sagt, dass Mädchen dümmer sind?), Mode- und Selbstbewusstsein, Gefühle (Wut ist gut!), Verhaltensweisen (Schluss mit Lästern) werden auf den Prüfstand gestellt und gegen Klischees gebürstet. Der eigene Körper, Sex, Sport, Beziehungen, Freundschaft, Liebe – die Facetten zeigen ein buntes Bild. Das ist zwar nicht neu, aber sehenswert, damit es irgendwann ohne Einschränkung heisst: «Glückwunsch, du bist ein Mädchen!» Es ist Mai, doch das Leben im Warschauer Ghetto ist grau. Den 200 Waisen fehlt es an allem. Täglich geht der Arzt Janusz Korczak für seine Schützlinge betteln. Resignation macht sich breit. Um die Kinder auf andere Gedanken zu bringen, studiert Fräulein Esther, eine der Angestellten, ein Theaterstück ein. Ausdrucksstarke Collagen, Dialoge und Tagebuchaufzeichnungen lassen die letzten Monate des Heims lebendig werden. Im August 1942 wird es aufgelöst, die Nationalsozialisten ermorden seine Bewohner in Treblinka. Fräulein Esthers Plan aber ist aufgegangen: Wenigstens für kurze Zeit hat sie die Kinder aus ihrer Apathie reissen können. Das aufwendig gestaltete, dokumentarische wie lyrisch verdichtete Buch erinnert an Menschen, die Kindern auch in finsteren Zeiten mit Respekt und Kunst beistehen. Andrea Lüthi Christine Knödler Andrea Lüthi Verena Hoenig 24. November 2013 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 15 Interview Tagtäglich lügen Menschen, betrügen Firmen und tricksen Regierungen. Ist Ehrlichkeit nur noch eine antiquierte Tugend? Reformpädagoge Bernhard Bueb hält dagegen und findet, dass wir vermehrt der Ehrlichkeit zum Durchbruch verhelfen sollten – mit Klugheit und Phantasie. Interview: Urs Rauber DieWahrheit kommtnichtvon selbstansLicht In Ihrem Buch schreiben Sie: «Der Wille zur Ehrlichkeit gehört zur menschlichen Natur wie der Macht- oder der Sexualtrieb.» Gilt das nicht auch für das Gegenteil: Lüge, Gier und Eigennutz? Die Lüge ist in meinen Augen keine aktive Kraft, sondern das Ergebnis einer Schwäche. Sie entsteht immer dann, wenn Menschen sich selbst nicht akzeptieren, wie sie sind. Sei’s, weil sie sich weniger begabt fühlen als andere oder benachteiligt. Sei’s, weil sie lieber reich oder schön oder mächtig sein wollen. Und da sie das nicht Bernhard Bueb Bernhard Bueb ist einer der profiliertesten Pädagogen Deutschlands. Geboren 1938 in Tansania, studierte er Philosophie und katholische Theologie. Von 1974 bis 2005 war er Leiter der internationalen Privatschule Schloss Salem in BadenWürttemberg. Seine Bücher «Lob der Disziplin» (2006) und «Von der Pflicht zu führen» (2008) wurden zu Bestsellern: in Erziehungskreisen umstritten, stiessen sie in der Öffentlichkeit teils auf grosse Zustimmung. Sein neustes Buch «Die Macht der Ehrlichen. Eine Provokation» (158 Seiten, Fr. 27.90, E-Book 22.–) erschien soeben im Ullstein Verlag in Berlin. Bernhard Bueb ist verheiratet, hat zwei erwachsene Töchter und lebt in Überlingen am Bodensee. 16 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. November 2013 sind, beginnen sie, andern, aber auch sich selbst, etwas vorzumachen oder durch Betrug ihre Situation zu verbessern. Diese Deutung der Lüge aus Schwäche unterscheidet sich von jener der Religion, die die Lüge als aktive Kraft in Satan personifiziert. Die Aufgabe der Eltern und Lehrer besteht darin, dieser Schwäche beizukommen. Und wie tut man das? Ehrlichkeit ist eine vertrauensvolle Art zu leben. Die Bedingungen der Ehrlichkeit entstehen in der frühen Kindheit mit dem, was Psychologen das Urvertrauen nennen. Durch die liebevolle Zuwendung der Eltern gewinnt das Kind Vertrauen in sich und die Welt und legt den Grund dafür, dass es ja zu sich sagen kann. Kinder, die kein Urvertrauen haben, haben es schwer im Leben, ehrliche Menschen zu werden. Sie werden auf Kontrolle und Strafe angewiesen sein. Bei Kindern mit wenig Selbstvertrauen haben der Kindergarten und die Schule eine hohe Aufgabe, ergänzend zu wirken, wenn die Eltern es nicht geschafft haben. Die Eltern haben immer als Erste den Auftrag, Kinder in ihrem Selbstwertgefühl zu stärken. Ist die Schaffung des Urvertrauens sozusagen der Schlüssel zur späteren Ehrlichkeit? Ja, aber wenn Urvertrauen vorhanden ist, heisst das nicht, dass solche Kinder nicht auch ab und zu lügen. Es hat niemand ein derartiges Selbstvertrauen, dass er auf Lügen vollständig verzichten kann. Wir sind bis zum Lebensende – ich bin jetzt 75 – immer gefährdet, uns selbst zu belügen. Der Ehrliche unterscheidet sich dadurch, dass er es weiss. Sie sagen, Ehrlichkeit wirke ansteckend. Trifft das nicht auch auf die Lüge zu? Richtig, auch die Lüge wirkt ansteckend. Es wird immer eine Auseinandersetzung zwischen Lüge und Wahrheit sein. Aber wichtig ist, dass die Welt im Gleichgewicht bleibt, dass die Lüge nicht überhandnimmt. Gibt’s auch Gefahren bei der Ehrlichkeit? Das grösste Unheil richten Menschen an, die die Wahrheit genau kennen: die Fundamentalisten. Sie beherrschen sehr viele Teile der Welt. Die Va- tikan-Ideologen, die Evangelikalen, die Islamisten – die plakativen grossen Bewegungen. Aber es gibt auch die Fundamentalisten im Alltag. Zum Beispiel? Es gibt Menschen, die wissen genau, wo’s langgeht: Eltern, die von den Kindern nur ein bestimmtes moralisches Verhalten akzeptieren und sie, wenn sie davon abweichen, verwerfen. Das hat fundamentalistische Züge, denn sie «Die Lüge ist keine aktive Kraft, sondern das Ergebnis einer Schwäche. Sie entsteht immer dann, wenn Menschen sich selbst nicht akzeptieren, wie sie sind.» scheinen zu wissen, was für das Kind das Richtige ist. Für das Kind ist das aber eine Katastrophe. Eltern müssen offen sein. Oder wenn Lehrer ihre Noten auf zwei Dezimalstellen berechnen und glauben, dass das objektiv sei. Das ist natürlich Quatsch. Ich kann einen Aufsatz, der so viele Variationen an Bewertungen zulässt, nicht mit einem 2,34 bewerten. Sie behaupten, die Schule verführe zum Lügen: durch Abschreiben, Lehreraustricksen und so weiter. Ein hartes Urteil für einen Pädagogen. Würden Sie das bestreiten? Nicht völlig. Doch wie verändert man die Schule, dass sie zur Wahrheit statt zum Tricksen verleitet? Die Schule beruht auf einer Fiktion – nämlich dass alle Schüler gleich akademisch begabt seien. Und dass sie deswegen dieselben Prüfungen bestehen könnten. Akademisch gut begabt sind vielleicht ein Drittel der Schüler, deswegen können die anders Begabten die Prüfungen nicht bestehen, wenn sie nicht betrügen. Also tun sie es. Es gibt ja kaum eine Einrichtung, in der es so viel Aufsicht gibt, so viel Kontrolle, so viel Strafe wie die Schule. Das ist abenteuerlich! Hier läuft fundamental etwas falsch. Man ▼ Bücher am Sonntag: Ihre bisherigen Bücher waren Streitschriften: «Lob der Disziplin» (2006) und «Von der Pflicht zu führen» (2009). Ihr jetziges Buch «Die Macht der Ehrlichen» trägt den Untertitel: Eine Provokation. Warum glauben Sie, provozieren zu müssen? Bernhard Bueb: Konservativen sagt man nach, dass sie ein pessimistisches Menschenbild haben. Als Konservativer provoziere ich dadurch, dass ich ein optimistisches Buch schreibe. Damit möchte ich Menschen ermutigen, den Blick von Lug und Trug, denen sie überall in der Welt begegnen, zu wechseln auf die Macht der Wahrheit. So dass sie abends, wenn sie in den Nachrichten das Böse in der Welt sehen, sagen können: Welches Glück, dass es Menschen gibt, die das alles aufdecken und der Lüge das Handwerk legen. DAN CERMAK «Es gibt erlaubte Lügen, wenn dem Wert der Wahrhaftigkeit ein anderer Wert entgegensteht, der ebenbürtig ist», sagt der Pädagoge Bernhard Bueb (4.11.2013 am Bodensee). 24. November 2013 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 17 Interview Trotz Individualisierung wird es aber Kinder geben, die die Schulziele nicht erreichen? Ja, ein Kind erfüllt vielleicht ein Ziel nicht, ist aber nicht so frustriert, weil der Lehrer mit ihm sehr früh festgestellt hat: dieser Weg ist für dich zu steinig. Was ich vom Kind erwarte, sind Anstrengungsbereitschaft und Neugier. Ich muss versuchen, ihm einen Weg anzubieten, auf dem es entsprechend seinen Möglichkeiten seine Neugier befriedigen und sich anstrengen kann. Es gibt viele begabte Menschen, die zum lebensfernen Lernen der Schule keinen Zugang finden und doch erfolgreich ihr Leben meistern. Oder andere laufen weg von der Schule wie Thomas Mann. Jeder soll nach seiner Façon selig werden, ohne betrügen zu müssen. Sie schildern im Buch ein sehr schönes Beispiel, wie Eltern ein Kind zur Ehrlichkeit erziehen. Es ist ja so schwierig, eine Lüge oder Fehlleistung einzugestehen, weil es das Bild gefährdet, das ich bei anderen aufgebaut habe. Eltern sollten Kindern phantasievoll Brücken bauen, wie jener Vater, der seine achtjährige Tochter dabei ertappt hat, wie sie den Nachtisch des Bruders weggegessen hat. Nach einer Weile fragt er sie: «Hast du nun das getan: ja, nein oder vielleicht?» Und ganz schnell sagt das Mädchen: «Vielleicht.» Und verschafft sich damit grosse Erleichterung. Man müsste dieses «vielleicht» auch in die Erwachsenenwelt einführen… Wie glücklich wären oft Erwachsene, könnten sie «vielleicht» sagen. In der Erwachsenenwelt wird ja täglich gelogen. Zum Beispiel Prominente, deren wissenschaftliche Arbeiten als Plagiate aufgedeckt werden. Eine neue empirische Untersuchung der Universität Bielefeld besagt, dass 79 Prozent der deutschen Studenten selbstverständlich plagiieren und dass die Dozenten das wenig kontrollieren, weil sie Angst haben vor den Konflikten. Hier meine ich, gibt es eine technische Lösung, indem man, wie an angelsächsischen Schulen üblich, jede studentische Arbeit ein Computerprogramm durchlaufen lässt, das diese auf Plagiate durchsucht. Schüler, die das wissen, werden sich dem nicht aussetzen. Ich finde, man sollte die Menschen so weit wie möglich von moralischen Anstrengungen entlasten. Sie haben Ihre Dissertation 1968 über «Nietzsches Kritik der praktischen Vernunft» geschrieben. Haben Sie da nirgends geschummelt? Ich war nicht unversucht, genau das zu machen, was Annette Schavan, die frühere Bildungsministerin, getan hat. Es gab nämlich Zusammenfassungen von Gedankengängen, die einfach viel besser waren, als ich das hätte machen können. Aus irgendeinem Grund habe ich davon abgelassen, wahrscheinlich weil ich Angst hatte, dass mein Doktorvater, der sehr akribisch meine Elaborate las, dies entdeckt hätte. Gibt es erlaubte Lügen? Ja, wenn dem Wert der Wahrhaftigkeit ein anderer Wert entgegensteht, der ebenbürtig ist. Wenn Sie vor der Frage stehen, soll ich einem Todkranken die Wahrheit sagen, wissend, dass ihn das sofort umbringt oder depressiv macht, kann das Verschweigen geboten sein – zum Schutze des Kranken. Hier steht nicht Wahrheit gegen Lüge, sondern Wahrheit gegen Schutz des Lebens. 18 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. November 2013 AP ▼ kann das systembedingte Lügen minimieren, wenn man das Lernen individualisiert, das heisst, jedem Kind die Chance gibt, entsprechend seiner Begabung, seinen psychischen Voraussetzungen seinen Lernweg zu gehen. Moderne reformpädagogische Schulen machen das ja: die Montessori-Schulen zum Beispiel. «Die Spareinlagen sind sicher»: Angela Merkel und Peer Steinbrück bei ihrer Notlüge am 5. Oktober 2008. Oder ein aktuelles Beispiel: Als in Deutschland 2008 Angela Merkel und Peer Steinbrück vor die Presse traten und erklärten, die Spareinlagen der Bürger sind sicher, war das glatt gelogen. Denn sie waren weder legitimiert noch mächtig genug, um das sicherzustellen. Aber sie haben mit Recht ihre Hände schmutzig gemacht, das heisst gelogen, weil der Wert des Schutzes der Wirtschaft höher war als der Wert der Ehrlichkeit. Das war eine Notlüge. Würden Sie deswegen Frau Merkel nicht als Lügnerin bezeichnen? Nein. Dieses Verhalten würde ich sogar erwarten von einem Politiker. Das kommt ja auch im Alltag vor. Sie müssen zum Beispiel ein Kind schützen vor der Wahrheit, weil es diese nicht erträgt. sehen, dann geht so ein deutscher Tollpatsch hin und will ihn sehen. Die Deutschen neigen zu einer Art lutherischen Ehrlichkeit und wollen gleich mit der Wahrheit ins Haus fallen, was auch anstrengend ist. Sehen Sie Vorbilder an Ehrlichkeit? Die sehe ich haufenweise. Es gibt sehr viele aufrechte, ehrliche Journalisten zum Beispiel. Oder es gibt unglaublich viele ehrliche mittelständische Unternehmer, denen es nicht nur um das Geldverdienen, sondern darum geht, ihre Kunden zu beraten, und nicht, sie zu verführen. Oder die vielen, die ehrenamtlichen Tätigkeiten nachgehen und sich für andere Menschen einsetzen, ohne dafür Geld zu verlangen. Ist es nicht auch so, dass Wähler gelegentlich belogen werden wollen, weil sie gewisse Wahrheiten nicht ertragen? Wer die Wahrheit sagt, wird oft an der Urne abgestraft. Frau Merkel sagt ihren Wählern: Ihr kennt mich, Ihr braucht sozusagen nicht mehr nachzuden- Und die grossen Vorbilder? Die sind rar geworden. Bei den Politikern fällt einem immer nur Mandela ein. Ich behaupte, dass es früher mehr Vorbilder gab – zu meiner Zeit: de Gaulle, Churchill, Macmillan, Adenauer. Sie waren auch Trickser, aber authentisch, glaubwürdig. Heute sind sie dünner gesät. «Kontrollen sind für uns ein Hilfsmittel, moralischer zu sein. Wenn ich weiss, dass der Schaffner regelmässig durch den Zug kommt, werde ich immer ein Ticket kaufen.» Sie sagen, dass keine Gesellschaft auf Kontrolle und Strafe verzichten kann. Erhöhen Kontrollen die Ehrlichkeit? Kontrollen sind für jeden Menschen ein Hilfsmittel, moralischer zu sein, weil sie ihn weniger der Verführung aussetzen. Wenn ich weiss, dass der Schaffner regelmässig durch den Zug kommt, werde ich immer ein Ticket kaufen. Wenn ich weiss, dass er nicht kommt, werde ich es weniger tun. ken, weil Ihr wisst, dass ich das Richtige tue. Die Bürger lieben das, sie wollen nicht alles wissen, sondern einfach Ruhe haben, ihren Wohlstand und ihre Sicherheit geniessen. Dafür sind sie leider bereit, ihren Verstand abzugeben. Im Alltag schwindeln wir ja alle, zum Beispiel bei der Höflichkeit. Dazu kann ich nur Wilhelm Busch zitieren mit dem wunderbaren Gedicht: «Da lob ich mir die Höflichkeit, das zierliche Betrügen: Du weisst Bescheid, ich weiss Bescheid, und allen macht’s Vergnügen.» Man sollte unterscheiden zwischen Notlügen, die einem höheren Wert dienen, und Eigennutz. Moralisch zu verurteilen ist das Lügen aus Eigennutz: wenn man selber mehr sein möchte, sein Geld vermehren oder einem anderen schaden will. Bei der Höflichkeit aber ist es keine Frage von Lüge und Wahrheit, sondern einer Übereinkunft. Die Engländer haben mehr Sinn für solche Konventionen. Wenn ihnen ein Engländer nach einer kurzen Begegnung sagt: Ich würde Sie gerne wieder mal Ein weiterer von vielen Merksätzen in Ihrem Buch lautet: Es gibt keine ehrlichen Systeme, sondern nur ehrliche Menschen. Systeme sind neutral. Es gibt auch keine heilige Kirche, sondern es gibt Heilige in der Kirche. Die Ehrlichen sind immer Einzelne. Versuche, ehrliche Systeme zu schaffen, misslingen ständig. Es gibt ganz selten eine Revolution, die ohne eine Lüge gross geworden ist. Die sozialistischen Systeme waren die grössten Lügengebäude, die überhaupt entstehen konnten – unter dem Anspruch, die Wahrheit zu vertreten. Viel zu viele Ehrliche meinen allerdings, die Wahrheit komme von selbst ans Licht. Das ist aber nicht der Fall, sondern dazu bedarf es der aktiven Aufklärung. Jeder Ehrliche ist aufgerufen, wo er Lüge entdeckt, mitzuhelfen, dass diese Lüge aufgedeckt wird. Daran hindert ihn aber oft die Feigheit und die Trägheit. Braucht Ehrlichkeit Zivilcourage? Unbedingt. Ehrlichkeit braucht Klugheit, Empathie und Phantasie. Und sie benötigt ebenso Ausdauer wie Zivilcourage. l Kolumne Charles LewinskysZitatenlese Literature is news that STAYS news. GAËTAN BALLY / KEYSTONE Ezra Pound Der Autor Charles Lewinsky arbeitet in den verschiedensten Sparten. Sein neues Stück «Weg damit!» wird am 11. Dezember im Theater Rigiblick in Zürich uraufgeführt. Wussten Sie, dass «Sense And Sensibility» von Joanna Trollope stammt? Dass Alexander McCall Smith der Autor von «Emma» ist? Das wussten Sie nicht? Dann sind Sie nicht auf der Höhe des zeitgenössischen Literaturbetriebs. Und wenn Sie jetzt auch noch einwenden, das seien doch zwei klassische Romane von Jane Austen, dann sind Sie, sorry, nachgerade altmodisch. Ein englischer Verleger ist nämlich auf den Gedanken gekommen, alle Romane von Jane Austen neu schreiben zu lassen. Aktualisiert und ins 21. Jahrhundert verlegt. Damit auch heutige Leser endlich etwas mit den Geschichten anfangen können. Man kann, so seine Überlegung, von den Vertretern der YouTube-Generation nicht erwarten, dass sie sich ins Seelenleben von Figuren des frühen neunzehnten Jahrhunderts einfühlen. Mit anderen Worten: Er hält moderne Leser für blöd. Ausgerechnet «Sense And Sensibility», zu Deutsch: «Verstand und Vernunft»! Wo es diesem Projekt doch an beidem fehlt. Das Ganze ausgeheckt von einem Mann, der von Beruf Verleger ist – eine Berufsbezeichnung, die in seinem Fall wahrscheinlich daher stammt, dass er seinen literarischen Geschmack verlegt und nie wieder gefunden hat. Es ist ihm, das hat mich an der Ankündigung am meisten überrascht, auch tatsächlich gelungen, namhafte Autoren für diesen Akt literarischer Leichenschändung zu gewinnen. Sie müssen alle, so scheint mir, das Zehnfingersystem blind beherrschen. Man sieht ja die Tastatur nicht, wenn man den Blick beim Schreiben die ganze Zeit stur auf die Kasse gerichtet hat. Es steht zu befürchten, dass die Umsatzzahlen zufriedenstellend ausfallen. Auch chemisch zusammengemixte Lebensmittel-Imitate mit «naturähnlichen Aromen» verkaufen sich schliesslich gut. Und weil, im Gegensatz zum Sprichwort, das Schlechtere stets der Feind des Guten ist, werden wir bald neuverfasste deutsche Klassiker in den Schaufenstern der Buchhandlungen sehen. Da wird dann der junge Werther seine Lotte bei einem Internet-DatingDienst kennenlernen, und Annebäbi Jowäger ihre Familie mit homöopathischen Kügelchen traktieren. Wenn Jane Austen nicht sicher ist, ist niemand mehr sicher, Mark Twain mochte Jane Austen nicht. Er erklärte einmal, jede Bibliothek, die keines ihrer Bücher enthalte, sei nur schon deshalb eine gute Bibliothek. Aber dieses Schicksal hätte nicht einmal er ihr gewünscht. Kurzkritiken Sachbuch Martin Meyer (Hrsg.): Die Welt verstehen. 35 Beiträge. NZZ Libro, Zürich 2013. 538 Seiten, Fr. 39.90. Joseph Jung (Hrsg.): Alfred Eschers Briefwechsel 1852–1866. NZZ Libro, Zürich 2013. 441 Seiten, Fr. 74.90. Das Schweizerische Institut für Auslandforschung (SIAF) wurde 1943 gegründet. In schwierigen Zeiten sollte es für qualifizierte Information und Meinungsbildung sorgen. Nun kann das SIAF seinen 70. Geburtstag feiern. Aus diesem Anlass hat sein derzeitiger Präsident, der langjährige NZZ-Feuilletonchef Martin Meyer, einen Band mit 35 Vorträgen zusammengestellt, die im Lauf der Jahrzehnte am Institut gehalten wurden. Eindrücklich ist die Liste der zwei Referentinnen und dreiunddreissig Referenten: Sie reicht von Hannah Arendt und Karl R. Popper bis zu Ulrich Bremi und Urs Schoettli, von Otto Graf Lambsdorff und Helmut Schelsky bis zu Kaspar Villiger und Gerhard Schwarz. Es geht um Moral, Freiheit und Verantwortung, um die Wirtschaftspolitik der Schweiz und Europas im Wandel, um die Positionierung der Länder des Fernen Ostens im Kräftespiel der Weltmächte. Mit dem fünften und bisher letzten Band gibt Joseph Jung, Geschäftsführer der Alfred-Escher-Stiftung, 106 Briefe von und an Alfred Escher zwischen 1852 und 1866 heraus. Die Korrespondenz, die erstmals im vollen Wortlaut publiziert wird, gibt einen Einblick in die vielfältigen Themen, mit denen sich der damalige Zürcher Regierungspräsident, National- und Kantonsrat, Eisenbahnpionier und Kreditanstalt-Chef beschäftigt hat. Dabei bleibt auch seine persönliche Entwicklung nicht ausgespart: seine Heirat und die Geburt der ersten Tochter, Lydia, aber auch der Tod der zweiten Tochter im Kindsalter 1862 («wie gross unser aller Schmerz ist»). Die sorgfältig edierte und kommentierte Briefsammlung illustriert auch die aus heutiger Sicht schier unglaubliche Machtballung in einer Person, die in Bern wie in Zürich die Wirtschafts-, Bildungs-, Bahn- und Aussenpolitik wie keine zweite geprägt hat. Verena Wermuth: Wiedersehen mit Scheich Khalid. Weltbild, Olten 2013. 175 Seiten, Fr. 28.90. Susan Sontag: Ich schreibe, um herauszufinden, was ich denke. Hanser, München 2013. 558 Seiten, Fr. 36.90. Die Kritiker-Gilde mag über solche Literatur lächeln: Doch Verena Wermuth hat mit «Die verbotene Frau» über ihre heimliche Liebe zu einem Scheich aus Dubai, den sie als 23-Jährige in London kennengelernt hatte, aber nicht heiraten durfte, 2007 einen Bestseller geschrieben. Über 300 000 mal wurde das Buch allein im deutschen Sprachraum verkauft. Nächste Woche wird das gleichnamige TV-Drama auf Sat.1 ausgestrahlt. Und Wermuth, inzwischen 57, die über ein bemerkenswertes Schreibtalent verfügt, legt einen Folgeband über das Wiedersehen mit Khalid vor. Beide sind heute mit andern Partnern verheiratet, treffen sich aber erneut nach 18 Jahren. Das Buch enthält alles, was den Erfolg ausmacht: Sehnsucht, Schmerz, unerfüllte Liebe und einen verzehrenden Mail- und SMS-Verkehr. Kitschig, aber wahr – ein Traum, den in dieser Welt ja so viele träumen. Der erste Band der Tagebücher von Susan Sontag (Wiedergeboren, 2010) betraf einen unglaublich begabten und frühreifen Teenager. Dieses Faszinosum fällt nun weg. Im zweiten Band ist die Autorin eine 31- bis knapp 50-jährige Intellektuelle. Was diese tut, wo sie sich aufhält, wohin sie reist, wen sie trifft – davon erfahren wir leider nichts. Noch nicht mal über ihre Erkrankung an Brustkrebs, die in diese Jahre fällt, schreibt sie mehr als einige Worte. Nein, in ihren Tagebuchnotizen geht es einzig darum, was sie denkt – über Bücher, Filme, Menschen, was sie sehnlichst will – eine gute Schriftstellerin sein, und wo sie versagt – beim disziplinierten Aufstehen. Über Sontags Leben und Lieben erfahren wir hier nahezu nichts, über ihr Wesen umso mehr. Auch dank einem wie immer klugen und einfühlsamen Vorwort ihres Sohnes und Herausgebers David Rieff. Manfred Papst Urs Rauber Urs Rauber Kathrin Meier-Rust 24. November 2013 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 19 Sachbuch Geschichte Am 28. Januar 2014 jährt sich der Todestag von Karl dem Grossen (742–814). Der römische Kaiser, der auch auf dem Boden der Schweiz Klöster gegründet hat, gilt als einer der bedeutendsten Herrscher des Abendlandes Erführtedie Schönschriftein Die Zeit Karls des Grossen in der Schweiz. Begleitband zur Ausstellung im Landesmuseum Zürich. Hrsg. Georges Descoeudres, Jürg Goll, Markus Riek. Benteli, Sulgen 2013. 336 Seiten, Fr. 84.90. Johannes Fried: Karl der Grosse. Gewalt und Glaube. C. H. Beck, München 2013. 736 Seiten, Fr. 44.90, E-Book 30.90. Stefan Weinfurter: Karl der Grosse. Der heilige Barbar. Piper, München 2013. 352 Seiten, Fr. 34.90. Steffen Patzold: Ich und Karl der Grosse. Das Leben des Höflings Einhard. Klett-Cotta, Stuttgart 2013. 408 Seiten, Fr. 35.90, E-Book 30.90. Von Alexis Schwarzenbach Der 1200. Todestag von Karl dem Grossen am 28. Januar 2014 beflügelt die Kulturindustrie. Während zahlreiche Verlage schon Publikationen auf den Markt gebracht haben, beginnt die ambitionierteste museale Auseinandersetzung mit dem grossen Karolinger im Juni 2014 in seiner Lieblingsresidenz Aachen. Der König soll die Stadt unter anderem ihrer heissen Quellen wegen geschätzt haben und fand dort auch seine letzte Ruhestätte. Nicht weniger als drei Ausstellungen werden sich in Aachen den Themenkreisen Macht, Kunst und Schätze widmen. Das Patronat hat der deutsche Bundespräsident übernommen, und man hofft mit Attraktionen wie dem Lorscher Evangeliar oder dem Karlschrein in 3D auf Besuchermassen. Die Resultate der Jahrestagskultur sind von unterschiedlicher Qualität. Die seit September im Landesmuseum Zürich gezeigte Schau «Karl der Grosse und die Schweiz» legt den Fokus auf die kulturelle Hinterlassenschaft der Karolinger auf dem Gebiet der heutigen Schweiz. Da die Eidgenossenschaft mit den Klöstern St.Gallen und Müstair über kulturelle 20 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. November 2013 Hot Spots der Epoche verfügt, kann die karolingische Renaissance mit eindrücklichen Objekten veranschaulicht werden. Neben zahlreichen Büchern, in denen die unter Karl dem Grossen eingeführte Schönschrift, die karolingische Minuskel, bewundert werden kann, belegen auch Steinmetzarbeiten und Reliquiare den hohen kulturellen Stand der damaligen Zeit. Der Begleitband zur Ausstellung ist eine klassische Sammlung von Gelehrtenaufsätzen, auf die sich die Ausstellung teilweise stützt. Er beleuchtet nacheinander Architektur, Skulptur, Wandmalereien, Kunsthandwerk sowie Schrift- und Buchkultur. Reich illustriert und mit einem ausführlichen Apparat versehen kann der Band dank einer Landkarte über «sichtbare karolingische Kunst in der Schweiz» auch zur Ausflugsplanung verwendet werden. Weinfurters Meisterwerk Wer sich anhand eines historischen Textes ein Bild von Karl dem Grossen machen möchte, hat die Qual der Wahl. Die drei für diese Rezension untersuchten Bücher stammen von Historikern, die an renommierten deutschen Universitäten lehren bzw. gelehrt haben. Zwei davon ziert das Aachener Büstenreliquiar Karls aus dem Jahr 1349. Damit sind die Gemeinsamkeiten der Werke des emeritierten Frankfurter Historikers Johannes Fried und seines Heidelberger Kollegen Stefan Weinfurter indes bereits erschöpft. Denn wer sich auf eine erhellende Darstellung einer historischen Figur freut, mit der man sich, wie der Autor des vorliegenden Beitrags, seit der Schule nicht mehr beschäftigt hat, wird bei der Lektüre von Johannes Frieds 736 Seiten starkem Werks bitter enttäuscht. Neben mangelndem Vorwissen auf Seiten des Lesers liegt dies vermutlich auch an einer allzu grossen Nähe des Autors zu seinem Thema. Denn obwohl Fried nicht weniger als 14 eigene Werke über Karl den Grossen in der Bibliografie aufführt, bietet er interessierten Laien keinen einfachen Zugang zu seinem Spezialgebiet. Eine romanhafte, mit Metaphern und szenischen Beschreibungen durchsetzte Sprache verschleiert den Zugang zu den wichtigsten Fakten, die für das Verständnis einer Epoche unabdingbar sind. Den verwirrten Leser lässt Fried mit Aussagen wie «Annäherungen also, nur Annäherungen an jene fernen Epochen sind möglich», buchstäblich in dem Regen stehen, mit dessen Beschreibung er sein Buch beginnt. Einen ganz anderen Zugang zum Protagonisten vermittelt Stefan Weinfurter. Sein 351 Seiten starkes Buch ist so gut geschrieben, dass man es auch dann gerne weiterliest, wenn man eigentlich etwas anderes tun müsste. Weinfurter stellt gleich zu Beginn vieles klar, nicht nur die wichtigsten Fakten und Ereignisse, sondern auch die eigene Position als Forscher. Transparent erklärt der Historiker, dass für ihn das Streben nach Eindeutigkeit die Herrschaft Karls des Grossen charakterisiere. Diese These wird anhand zahlreicher Beispiele erläutert, von der Einführung der karolingischen Minuskel bis hin zum politischen Projekt des Frankenkönigs, die Unordnung der nachrömischen Epoche durch die Errichtung eines neuen Kaiserreichs zu beenden. Dabei verweist Weinfurter stets auch auf die neusten Forschungsleistungen anderer und überlässt es seinen Leserinnen und Lesern, ob sie ihm in seiner These folgen möchten oder nicht. Bevor er im vierten Kapitel auf Kindheit und Jugend des Frankenkönigs zu IMAGEBROKER Langzeit-Kaiser, Stratege und Kulturpatron: Karl der Grosse. Bronzestatue aus Hamburg, 19. Jahrhundert. sprechen kommt, beginnt Stefan Weinfurter sein Buch mit der Analyse unseres Verhältnisses zu Karl dem Grossen sowie einer ausführlichen Quellenkritik. In einer einfachen Sprache vermittelt er komplexe Sachverhalte, die für das spätere Verständnis der Karlsvita erforderlich sind, aber auch empirische Fakten, wie man das gemeinhin von einem Biografen erwartet. So streicht der Autor ganz zu Beginn seines Buches die sehr lange Regentschaft Karls – sie dauerte fast ein halbes Jahrhundert – als Spezifikum heraus und erwähnt wenig später, dass das Skelett des Kaisers auf eine Körpergrösse von 1,80 bis 1,90 Meter schliessen lässt. Dazu bemerkt Weinfurter: «Die heute noch vorhandenen 90 Knochen und Knochenfragmente sind die Gebeine eines Greises, so dass man den einen oder anderen Zentimeter für den jungen Karl vielleicht noch dazurechnen darf.» Weinfurters Werk überzeugt durch einen klaren Aufbau, der chro- nologisch gegliedert ist, aber gleichzeitig den Bogen von den politischen Ereignissen bis hin zu den kulturellen Errungenschaften schlägt. Die Kriege gegen Langobarden, Baiern und Sachsen werden ebenso nachvollziehbar dargestellt wie der Aufbau eines internationalen Gelehrtenkreises oder die mit viel politischem Kalkül verfolgte Beziehung zum Papsttum. Besonders gelungen ist die Analyse des Familienlebens von Karl dem Grossen. Die politisch-taktischen Überlegungen für die zahlreichen Ehen und Liebschaften des Monarchen werden ebenso offengelegt wie biografische Details, die Familienmitglieder menschlich fassbar machen. Auch die Kinderschar wird als Machtfaktor analysiert. Während Karl seine «allersüssesten Töchter» (dulcissimae filiae) zeitlebens bei sich behielt ohne sie zu verheiraten, um Machtansprüche von Schwiegersöhnen zu verhindern, schickte er zwei Söhne schon im Kindesalter als Regenten von Teilreichen in die Ferne. Aus der Sicht eines Höflings Eine alternative Perspektive auf das Karlsthema wählte der Tübinger Geschichtsprofessor Steffen Patzold. Er schrieb die Lebensgeschichte des Höflings Einhard, der 829 eine Karlsvita verfasste. Damit schuf Einhard nicht nur eine der wichtigsten Quellen über Karl den Grossen, sondern begründete auch das Genre der Herrscherbiografie neu, das seit der Antike in Vergessenheit geraten war. Als enger Berater Karls des Grossen war Einhard selber ein wichtiger Augenzeuge, blieb darüber hinaus aber auch noch unter Karls Sohn und Nachfolger Ludwig dem Frommen bei Hof. So vermittelt Steffen Petzolds Einhard-Monografie wertvolle Einblicke in die auf die Karlszeit folgenden Wirren, die schliesslich in die Aufspaltung des Reiches mündeten. ● 24. November 2013 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 21 Sachbuch Biografie Mit «Nils Holgersson» wurde Selma Lagerlöf (1858–1940) zur Übermutter der schwedischen Literatur Erlesene Weine … Die Sorte Heida wird auch Païen oder Savagnin genannt und stammt vom Traminer ab. Sie gehört zum grossen kulturellen Schatz des Walliser Weinbaus und wird nur in homöopathischen Mengen angebaut. Mit Chandra Kurt zusammen hat Provins einen charakterstarken Weisswein produziert, der sich kraftvoll und geschmeidig an den Gaumen schmiegt. Ein hervorragender Essensbegleiter mit viel Schmelz. Fr. 19.50 <wm>10CAsNsjY0MDAx1TUyMDU2NwEAzTpvKw8AAAA=</wm> Heida AOC Chandraa Kurt <wm>10CFWMMQ4CMRADX7SRHccXwpbouhMFok-DqPl_xYUOWVNYGvs40gU_bvv9uT-SQHNUWL0l7TKwZb-4cPQk6QrqSpxRs_78AMcmaC4nyKAnERjBOqWzaD3MtQbK5_X-Atj-KZ-AAAAA</wm> AusderschäbigstenSituat Wunderbareszaubern Barbara Thoma: Selma Lagerlöf. Von Wildgänsen und wilden Kavalieren. Römerhof, Zürich 2013. 350 Seiten, Fr. 39.90. Von Kathrin Meier-Rust Selma Lagerlöf war über vierzig und bereits eine berühmte Schriftstellerin, als sie eine ungewöhnliche Anfrage erreichte: Das einzige in der Schule nebst Katechismus und Bibel zugelassene Lesebuch sei veraltet, schrieb ihr eine Kommission der Nationalen Schwedischen Lehrervereinigung. Ob die Schriftstellerin, selbst einmal Lehrerin, an einem «literarischen Geografiebuch» mitarbeiten möchte, das Schulkindern die verschiedenen Regionen Schwedens mit Naturschilderungen, Sagen, Gedichten und Erzählungen nahebringen würde? Der Auftrag interessierte Lagerlöf sehr, erfüllen wollte sie ihn jedoch auf ihre eigene Art: In höflichen Briefen stellte sie klar, dass sie ein solches Buch nur ganz alleine schreiben wolle, damit es «durchgängig eine … volkliche schwedische Stimmung habe». In der Folge unternahm die Schriftstellerin mehrere Recherche-Reisen, sammelte Unmengen an Fachliteratur und lokalen Legenden, Sagen und Geschichten, die sie seit Kindertagen liebte. Lange suchte sie nach einer Erzähltechnik, um das überreiche Material kindgerecht zu präsentieren. Bis ihr, wie sie später erzählte, die Tierbücher von Rudyard Kipling eingefallen seien – und damit die Lösung. Wenn Kraniche tanzen Schweiz Wallis 10 – 12°C Heida Aperitif oder als Begleiter zu Krustentieren 22 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. November 2013 Das Volksschullehrbuch für Geografie, das 1906/07 in zwei Bänden erschien, hiess «Nils Holgerssons wunderbare Reise». Im Zeitalter vor Harry Potter war es das gewaltigste literarische Werk, das je für Kinder geschrieben wurde. Die Parallelen zu Kiplings Dschungelbuch sind tatsächlich frappierend: dem Wolfsrudel im Dschungel entspricht in Schweden die Schar der Wildgänse; wie dort die Elefanten, tanzen hier die Kraniche; der schwarze Panther wird zum schwarzen Raben und der schreckliche Tiger Shere Khan zum gerissenen Fuchs Smirre. Und doch ist die abenteuerliche Flugreise des 14jährigen Nils, der zur Strafe für seine Bosheit in einen Däumling verwandelt wird und nun die Sprache der Tiere versteht, eine ganz und gar eigene Schöpfung, in der sich, wie immer bei Selma Lagerlöf, die reale Welt mit dem Übernatürlichen und Mythischen ganz zwanglos verbindet. Mit Nils Holgersson begann ein «Höhenflug» – so Barbara Thoma in ihrer lie- Mit dem fliegenden Nils Holgersson wurde die schwedische Schriftstellerin Selma Lagerlöf 1906 weltberühmt. bevollen neuen Biografie –, der Lagerlöf als erste Frau zum Literatur-Nobelpreis trug (1909). Und weiter zur Rolle als prominente Pazifistin und Frauenrechtlerin, als erstes weibliches Mitglied der Schwedischen Akademie (1914), als Gutsherrin über den verlorenen elterlichen Hof, den sie zurückkaufen konnte, und als weltweit verehrte Überfigur der schwedischen Literatur. Selma – die Biografin nennt sie durchwegs beim Vornamen, wie dies selbst in der wissenschaftlichen Literatur in Schweden Brauch sei – wuchs als viertes von fünf Kindern auf dem Gutshof Marbacka (heute ein Museum) im schwedischen Värmland auf. Während die beiden Brüder die Schule besuchten, wurden die drei Mädchen von Gouvernanten unterrichtet. Selma, die an einem Hüftleiden litt, das sie zeitlebens hinken liess, liebte die Märchen, Spukgeschichten und Lieder ihrer Grossmutter über alles und begann schon als kleines Mädchen zu dichten und zu schreiben. Während der trunksüchtige Vater den Hof ruinierte, studierte die begabte Selma am Königlichen Höheren Lehrerseminar in Stockholm. Als Lehrerin vermochte sie endlich ihre ersten, in alle Stil- und Gattungsrichtungen ausufernden Schreibversuche zu einem Roman zu bündeln: Zu «Gösta Berling», der Saga um zwölf wilde Kavaliere, insbesondere um den schönen, aber sündigen Pfarrer Gösta, dem die Frauen reihenweise verfallen, den am Ende aber die wahre Liebe läutert. «Gösta Berling» fand enorme Beachtung. Doch im wahren Leben war von wilden Kavalieren keine Spur zu sehen; bis heute hat die Lagerlöf-Forschung noch nicht einmal einen Namen eines Verehrers der klugen jungen Selma gefunden. Dafür treten nun Frauen in ihr Ein Machtloser unter Mächtigen Hans Küng: Erlebte Menschlichkeit. Erinnerungen. Piper, München 2013. 752 Seiten, Fr. 39.90, E-Book 25.90. Von Klara Obermüller Leben. Zunächst die etwas ältere, ebenso gebildete wie weltgewandte jüdische Schriftstellerin Sophie Elkan, die Selma zu langen exotischen Bildungsreisen entführt: nach Italien, Ägypten, Jerusalem. «Man lernt, frei zu sein» schrieb Selma damals nach Hause. 27 Jahre lang, bis zu Sophies Tod im Jahr 1921, schrieben sich die Freundinnen regelmässig zwei Briefe pro Woche. Längst gab es da schon eine zweite Briefpartnerin, mit der Selma über 40 Jahre korrespondieren sollte: Valborg Olander, eine junge Professorin für schwedische Literatur, die ihr bald zur unentbehrlichen Lektorin, Sekretärin und Organisatorin wurde: «Eine richtige Schriftsteller-Ehefrau» nennt Selma sie zärtlich-ironisch in einem Brief. Sophie und Valborg ignorierten sich nach Kräften. Beide lebten zwar in Lagerlöfs Haus, jedoch nie gleichzeitig. Gemunkelt wurde zwar schon damals, doch der Skandal platzte erst über sechzig Jahre nach Lagerlöfs Tod, im Jahr 2006, als die Publikation ihrer Briefe unmissverständlich klarmachte, dass die weibliche ménage à trois durchaus nicht nur platonischer Art gewesen war. Feinfühlig und klar erzählt Barbara Thoma von solch komplizierten Verhältnissen, kundig referiert sie über Entstehung, Inhalt und Aufnahme des grossen, und heute zum grossen Teil vergessenen Lagerlöf’schen Werkes. Selma selbst kommt bei alledem ebenso reichlich zu Wort, wie ihre Zeitgenossen, Schüler, Verehrer und Kritiker. Damit entsteht ein abgerundetes Bild dieser leidenschaftlichen Geschichtenerzählerin, deren Credo es war, «auch aus schäbigsten Situationen das poetisch Wunderschöne zum Vorschein zu bringen.» ● CHRISTOPH RUCKSTUHL / NZZ Frauenliebschaften Autobiografien schreiben viele. Wenn Hans Küng es tut, dann wird aus der Lebensgeschichte persönlich reflektierte Welt- und Kirchengeschichte. Der Schweizer Theologe ist in diesem Jahr 85 geworden. Er hat alles erlebt, was nach 1945 in Kirche und Welt von Bedeutung war. Durch seine unbeugsame Haltung gegenüber Rom ist er zum Repräsentanten einer kritischen Theologie geworden. Durch seinen Einsatz für den Dialog unter den Weltreligionen und die Lancierung des Projekts «Weltethos» hat er sich Gehör bei Regierungschefs und internationalen Organisationen verschafft. Der soeben erschienene dritte Band seiner Lebenserinnerungen legt davon beredtes Zeugnis ab. Das Buch setzt dort ein, wo Küngs Leben seine radikalste Wendung erfahren hat: beim Entzug der Lehrbefugnis durch Papst Johannes Paul II. Und es endet an der Schwelle zur unmittelbaren Gegenwart mit Überlegungen zur jüngsten Papstwahl und ersten Schritten einer Annäherung zwischen Tübingen und Rom. Innerhalb dieser beiden Pole lässt Küng, der sich ein Leben lang als einen «aufgeklärten, ökumenisch offenen und gesellschaftskritischen Christen» verstanden hat, die Themen seines Lebens noch einmal Revue passieren. Es sind dies: «Die unausweichliche Frage nach Gott – Orientierung an Jesus Christus – Kirche, Konzil und Reform – die mögliche Einheit der Christenheit.» Buchstäblich mit letzter Kraft hat sich der schwer an Parkinson erkrankte Theologe dieser gewaltigen Aufgabe entledigt und ein Werk vorgelegt, das durch seine Klarheit besticht und durch seine Offenheit berührt. Es mag in manchen Teilen etwas gar ausführlich geraten sein; doch Küngs gesellschaftliche Bedeutung, seine theologischen Positionen, seine religionspolitischen Impulse und sein Verständnis einer zwar entschiedenen, aber stets loyalen Opposition innerhalb der Kirche rechtfertigen den Umfang des Buches allemal. Geradezu zum Vermächtnis wird es im letzten Kapitel, in dem ein alt gewordener Kämpfer sich seiner Endlichkeit stellt und in schonungsloser Ehrlichkeit der Frage nachgeht, wie er dem eigenen Leiden und Sterben zu begegnen gedenkt. ● Erlesene Weine … Die Familie Tessari produziert seit 130 Jahren Wein, bei Soave im Veneto. Das Weingut hat sich ein hervorragendes Renomée im Weisswein erarbeitet. Die Weine zeichnen sich vor allem durch ihre Eleganz und Trinkfreude aus. Dieselbe Trinkfreude findet man in den klassisch, traditionellen Rotweinen von Ca’Rugate. Der Ripasso Campo Bastiglia ist ein sehr schönes Beispiel, wie sich Kraft, Trinkfreude und Konzentration in perfekter Harmonie ergänzen. Das Weingut Ca’Rugate wurde im Gambero Rosso 2013 als einziges Weingut Italiens mit 2 x 3 Bicchieri ausgezeichnet. Fr. 18.90 Ripasso Valpolicella Campo Bastiglia Ca’Rugate ionetwas Theologie Der dritte Teil von Hans Küngs Lebenserinnerungen wird zu seinem Vermächtnis <wm>10CAsNsjY0MDAx1TUyMDU2NwUAWwpoXA8AAAA=</wm> <wm>10CFXMsQ6DMBCD4Se6yOZwQnpjxYYYEPstiJn3n9p06-Dt879toYLf3ut-rkcQmGUT5E1BqXTUaIsKewuSmkB_fVUlZ_5xA3t1eA5ipFFJGGTOBJn0EchxBspz3R-DNjhFfwAAAA==</wm> Italien Veneto 14 – 16°C Corvina, Rondinella, Corvinone Zürcher Geschnetzeltes, Hirschpfeffer und Hartkäse 24. November 2013 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 23 Sachbuch Biografie Der Obwaldner Hans Imfeld (1902–1947) war ein Abenteurer, der als französischer Offizier in Vietnam und Laos kämpfte Erlesene Weine … Gigondas, im Herzen der Côtes du Rhône gelegen, wird nicht zu unrecht als kleiner Bruder von Châteauneuf du Pape gehandelt. Die Weinberge an den Hängen der Dentelles des Montmirail bringen kraftvolle und gut strukturierte Weine hervor, die sich durch ihre Harmonie und Eleganz auszeichnen. Der Gigondas der Domaine Saint-François-Xavier präsentiert sich kräuterig, würzig mit Noten von roten Früchten. Im Gaumen zeigen sich Aromen von Kirschen, wirkt vollmundig mit runden Tanninen und einem langanhaltenden Abgang. Fr. 19.90 Carlo von Ah: Durch Dschungel und Intrigen. Ein Innerschweizer in Indochinas Kriegswirren. Martin Wallimann, Alpnach 2013. 375 Seiten, Fr. 29.–. Von Urs Rauber Schweizer Söldner in fremden Diensten kennen eine lange Tradition. Ein spezieller Fall stellt jener von Hans Imfeld (1902–1947) aus Sarnen (OW) dar, der als französischer Offizier am Ende des Zweiten Weltkrieges in Indochina kämpfte und scheiterte. Imfeld hatte als Bub das Kollegium in Sarnen besucht, das Handelsdiplom in Fribourg erworben und war später als Sohn einer französischen Mutter nach Frankreich gezogen. In Fontainebleau absolviert er die Offiziersschule. 1938 schickte man ihn nach Indochina, um als militärischer Anführer mitzuhelfen, die französische Kolonialherrschaft in Vietnam und Laos zu sichern. Imfeld war ein Abenteurer, Guerillakrieger, Patriot und Opiumsüchtiger. Zudem ein bigotter Katholik, der viel betete und in höchster Gefahr gelobte, «eine Wallfahrt zu Fuss von Sarnen nach Lourdes» zu unternehmen. Konfliktfreudig, oft undiplomatisch, aufbrausend, jähzornig verlangte er sich und seinen Leuten viel ab, haderte im Unglück und war ein zutiefst vereinsamter Mensch. Carlo von Ah erzählt Imfelds Lebensgeschichte aufgrund von dessen erhaltenen Tagebüchern, insgesamt rund 800 Seiten, und reichert diese mit fiktiven <wm>10CAsNsjY0MDAx1TUyMDU2NwMA4VthxQ8AAAA=</wm> Gigondas Prestige Dentelles VonSarnenin denDschungel Indochinas <wm>10CFXMoQ7DQAwD0C_Kyb4sSW-BU1lVMI2HTMP9f7ReWYElg2dvW1rDlde6f9Z3EniYdJiGJ83agGcs1jgiSVoH9XmqOLvHzQs4XKE1jZBCK0JgoqMivKjzoeYavR3f3x_5ejchgAAAAA==</wm> Dialogen an, die er aus weiteren Quellen und Gesprächen mit Bekannten Imfelds schöpfte. Der manchmal ausschweifende «Dokumentarroman» gibt Einblick in das französische Kolonialgebaren im Fernen Osten, das die fremden Völker «zivilisieren» wollte und sich gleichzeitig der japanischen und chinesischen «Konkurrenz» erwehrte, die ebenfalls ihre Einflusssphären zu vergrössern suchten. Der Krieg im vietnamesischen und laotischen Dschungel war begleitet von Angst, Hunger, Elend und Chaos – aber auch vom Zwist zwischen den französischen Résistance-Anhängern und den Vichy-Franzosen in Indochina. Kurz vor der Kapitulation Japans am 11. August 1945 war Imfeld zum französischen Kommissar für das Königreich Laos in Luang Prabang ernannt worden. Doch schon im September 1945 entwaffneten die viel stärkeren chinesischen Truppen die Franzosen; es war für Imfeld «der schlimmste Augenblick meines Lebens». Die persönliche Niederlage Imfelds ist verwoben mit der Agonie der französischen Kolonialherrschaft in Asien. Gleichzeitig stieg im benachbarten Vietnam der asketische Ho Chi Minh, der clever zwischen den Fronten agierte, zum Befreier auf. Das Buch schildert diese weltpolitisch bedeutsame Entwicklung aus einer eindrücklichen Nahsicht. Sarkastisch werden hingegen de Gaulles Durchhaltebefehle beschrieben, die er per Fallschirm an die französischen Kämpfer absetzen liess. Imfelds Urteil: de Gaulle habe über «grossartige Rheto- Forschung Florian Fisch analysiert die Kontroverse um gentechnisch veränderte Riesenstreit um winzigen Versuch Florian Fisch: Ein Versuch. Genforschung zwischen den Fronten. Helden, Zürich 2013. 224 Seiten, Fr. 36.–. Von Patrick Imhasly Frankreich Côtes du Rhône 16 – 18°C Grenache, Syrah, Mourvedre, Cinsault Wild, Ente und Coq au vin 24 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. November 2013 Gentechnisch veränderte Pflanzen wachsen weltweit auf Millionen Hektaren Ackerfläche. Dank ihrer Eigenschaften sind sie zum Beispiel vor Schädlingen geschützt – zum Nutzen des Menschen. Einen nachweisbaren Schaden hat von ihrem Anbau bisher niemand erlitten. Trotzdem gelten diese Pflanzen in Europa vielen Bauern und Naturfreunden als des Teufels. Warum ist die Debatte um die grüne Gentechnik gerade auch in der Schweiz dermassen emotional aufgeladen? Dieser Frage geht der Wissenschaftsjournalist Florian Fisch in seinem Buch «Ein Versuch – Genforschung zwischen den Fronten» nach. Grosse Rätsel lassen sich am besten im Kleinen erkunden, deshalb hat Fisch den richtigen Ansatz gewählt, indem er die Kontroverse an einem Beispiel aufarbeitet. Als Modellfall dient ihm der Freisetzungsversuch von gentechnisch verändertem Weizen durch den ETH-Dozenten Christoph Sautter im Jahre 2004. Akribisch hat Fisch die Geschichte dieses Erlesene Weine … Unweit von Alba, im Herzen des Piemont, liegt das Weingut der Familie Grasso. Seit 1927 produziert die Familie hier hochwertige Piemonteser Weine. Diese spiegeln die Landschaft und Böden in Reinkultur wider. Der Barbera ist ein ausgezeichnetes Beispiel für das Schaffen von Federico Grasso, der heute für die Weine verantwortlich ist. Intensiv, rubinrote Farbe, duftet nach Himbeeren und Erdbeeren. Sehr schöne Säure und eine gute Struktur. Der Barbera ist ein kräftiger Wein, jedoch schön und saftig zu trinken. rik» verfügt, doch über keinerlei Kenntnisse der lokalen Verhältnisse. Die reichlich eingestreuten Tagebuchauszüge geben die Wut, Verzweiflung und den Schmerz des Verfassers in einer nicht selten rüden, von Flüchen durchsetzten Sprache wider. Spürbar wird die Schmach des 44-Jährigen Berufsoffiziers, als er aus Laos abgezogen wird und für ihn monatelang keine weitere Verwendung in Aussicht steht. Am 14. Juli 1946 schliesslich wird Imfeld in Saigon zum Ritter der Ehrenlegion befördert und danach zum Kommandanten der Kampfgruppe Nordwest in Dien Bien Phu. Doch der Krieg verlief für Frankreich desaströs, und Imfeld wurde in die Heimat zurückbeordert. Einen Tag vor seiner Abreise nach Frankreich fiel er dem Attentat eines Vietminh-Agenten zum Opfer, der ihn mit einem anderen Offizier verwechselt hatte. Zwei Jahre später – im April 1949 – wurde Hans Imfeld in Sarnen beigesetzt. Das gut geschriebene Buch aus dem Obwaldner Wallimann Verlag erzählt diese unbekannte Söldnergeschichte spannend; nur schade, dass es weder ein Inhaltsverzeichnis noch ein Personenregister enthält. ● Hans Imfeld (Zweiter von rechts) in einer Opiumhöhle in Saigon, um 1940. Pflanzen in der Schweiz Experiments und dessen politische Instrumentalisierung recherchiert. Er hat mit allen relevanten Akteuren gesprochen, die an dem Versuch beteiligt waren – vom Chef des zuständigen Bundesamts (damals Buwal), Philippe Roche, bis zur Ikone der Gentechgegner, der Basler Biologin Florianne Koechlin. Florian Fisch erzählt die Geschichte in einer packenden Mischung von Hintergrundbericht, Interviews und rekonstruierten Reportageelementen. Man ist dabei, wenn Christoph Sautter beim Versuchsfeld in Lindau übernachtet, aus Angst die Greenpeace-Aktivisten könnten sein Versuchsfeld vernichten. Unnö- tig nur, dass sich der Autor Florian Fisch auf die eine Seite schlägt. «Das Buch . . . nimmt Stellung für eine Partei, die sich schwertut, ihre Position klar zu vermitteln: die Wissenschaft», schreibt Fisch. Dabei hätten die Fakten doch für sich gesprochen. So gesteht Buwal-Chef Philippe Roche, der damals neutral hätte sein sollen, ein, er habe «nicht viel Sympathie für das Projekt» gehabt. Und dass der Berner Chefbeamte vor der ersten Ablehnung des Experiments, statt die Umstände nüchtern abzuwägen, den Entscheid «in einer Art Meditation» gefällt hat, schlägt dem Fass noch heute den Boden aus. ● Barberaa d’Alba d Alba Silvio Gra Grasso asso DOC Fr. 15.40 <wm>10CAsNsjY0MDAx1TUyMDU2NwcAd2tmsg8AAAA=</wm> <wm>10CFXMoQ6AMBAD0C-6pb3jNsYkwREEwZ8haP5fwXCIiiavXdfmCV_mZTuWvREYXBRupTS6p4rcyuiJ9e2kK2hTV6SV_PMC1myw6EZIoQchMDGNQTVo_SH6Bkj3eT1ULJ9hgAAAAA==</wm> Italien Piemont 16 – 18°C Barbera Pasta, Trockenfleisch, typisch italienische Küche 24. November 2013 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25 Sachbuch Nationalsozialismus Im Dezember vor 50 Jahren begann in Frankfurt der Auschwitz-Prozess. Der jüdische Emigrant Fritz Bauer dirigierte die Anklage «IhrhättetNeinsagenmüssen» Ronen Steinke: Fritz Bauer oder Auschwitz vor Gericht. Piper, München 2013. 352 Seiten, Fr. 34.90, E-Book 19.–. Devin O. Pendas: Der Auschwitz-Prozess. Völkermord vor Gericht. Siedler, München 2013. 432 Seiten, Fr. 37.90, E-Book 24.90. Von Claudia Kühner «Wenn ich aus dem Büro komme, betrete ich feindliches Ausland», sagte Fritz Bauer zu Anfang der sechziger Jahre. Er war jetzt Generalstaatsanwalt in Hessen und hatte sich viele Gegner gemacht durch Verfahren, die mit der NS-Zeit zu tun hatten. Die Justiz war durchsetzt mit Altnazis – und mitten unter ihnen wirkte der Jude, Emigrant und Sozialdemokrat, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, die grosse Öffentlichkeit mit den Mitteln des Rechts über die Verbrechen des Dritten Reichs aufzuklären. Anfeindungen bis hin zu Morddrohungen gehörten zu seinem Alltag. Man fand ihn am 1. Juli 1968 tot in der Badewanne. Die Gerichtsmedizin attestierte einen natürlichen Tod. Für immer mit Bauers Namen verbunden ist der Auschwitz-Prozess, der im Dezember 1963 eröffnet wurde. Ohne ihn hätte es dieses Verfahren nicht gegeben. Bauers Haltung war: Jeder, der mitgemacht hat, ist schuldig, auch wenn er nicht eigenhändig gemordet hat. Damit stand er unter Juristen ziemlich alleine. Ein einsamer Mensch Zum 50. Jahrestag des Auschwitz-Prozesses hat der Jurist und Journalist Ronen Steinke eine Biografie Bauers vorgelegt. Kein leichtes Unterfangen, denn als Mensch war Fritz Bauer extrem verschlossen. Mutmasslich war er homosexuell. Jedenfalls blieb er zeitlebens allein, und auch einige Freundschaften wie jene zu Thomas Harlan, dem Sohn des NS-Filmregisseurs, nahmen ihm die Einsamkeit nicht. Die flüssig geschriebene Biografie ist dennoch informativ, denn im Vordergrund steht Bauers öffentliches Wirken. Steinke erschliesst auch neue Quellen über die frühen Jahre. 1903 in Stuttgart geboren, Sohn assimilierter Juden, studierte Fritz Bauer in Heidelberg und Tübingen Jura. Er machte bei einer jüdischen Verbindung mit, war an jüdischen Themen interessiert. Sein tiefes Engagement aber galt bald der Sozialdemokratie. Schon dies machte den jungen Juristen im württembergischen Staatsdienst zum Aussenseiter. Nach einer mehrmonatigen KZ-Haft entkam Bauer 1936 nach Dänemark und 1943 nach Schweden. Hier schloss er sich anderen emigrierten Sozialdemokraten wie Willy Brandt und Bruno Kreisky an. Hier arbeitete er an seinen Ideen über Kriegsverbrechen vor Gericht. Um diese Vorstellungen umzusetzen, wollte Bauer nach Kriegsende zurück 26 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. November 2013 Am 20. Dezember 1963 begann in Frankfurt, im Rathaus Römer, der Auschwitz-Prozess. Fritz Bauer dirigierte die Anklage, blieb aber selber im Hintergrund. nach Deutschland. 1949 wurde er zum Generalstaatsanwalt in Braunschweig berufen. Hier führte er 1952 seinen ersten Prozess mit öffentlicher Wirkung. Verhandelt wurden der 20. Juli und die Frage, ob es Verleumdung war, die Attentäter als «Verräter» zu bezeichnen. Für Bauer hatte der Widerstand nicht nur legitim, sondern auch legal gehandelt, und den Millionen ehemaliger Wehrmachtsangehörigen hielt er ein «Ihr hättet Nein sagen müssen» entgegen. Jenseits des Strafrechts strebte Bauer eine Art «Reeducation» an. Zu diesem Zweck zog er Zeithistoriker als Gutachter heran. Und machte sich damit ringsum Feinde. Bauer vermied es, seine jüdische Herkunft zu erwähnen. Nur schon weil zurückgekehrte Juden, zumal ein Staatsanwalt, im Nachkriegsdeutschland gern als «Rächer» verunglimpft wurden. 1956 wurde Bauer zum Generalstaatsanwalt nach Hessen berufen, und in Frankfurt erreichten ihn Hinweise aus Buenos Aires auf Eichmanns Versteck. Misstrauisch, wie er inzwischen war, gab er sie nicht an die deutschen Behörden weiter, sondern an den israelischen Mossad, der Eichmann 1960 dann entführte. Bauer wollte verhindern, dass der Organisator des Holocaust gewarnt würde. Nur durch Zufall gerieten auch erste konkrete schriftliche Hinweise auf Täter in Auschwitz in die Hände der Justiz, und Bauer «lotste» das Verfahren nach Frankfurt. 22 Angeklagte standen schliesslich in einem fast zweijährigen Verfahren vor Gericht. Bauer dirigierte die Anklage, überliess den Gerichtssaal aber jungen, nicht belasteten Staatsanwälten, was Steinke als «einzigartigen Glücksfall» bezeichnet. Bauers grosses Ziel war es, mit dem Prozess Lehren für einen demokratischen Rechtsstaat aufzuzeigen. Für die Richter aber standen die konkreten Tatumstände im Zentrum. In früheren Verfahren waren Hitler, Himmler, Heydrich bereits zu «Haupttätern» erklärt worden, alle anderen galten in der deutschen Rechtssprechung von da an als Mittäter und wurden meist nur wegen Beihilfe verurteilt. Dies geschah dann 1965 auch im Auschwitz-Prozess. Als fehlgeschlagen bezeichnet Steinke Bauers Absicht, die Deutschen aufzuklären, obwohl der Prozess medial breit begleitet wurde. Bauer vereinsamte immer mehr, arbeitete bis zum Umfallen, rauchte Kette. Wenige Monate vor seinem plötzlichen Tod 1968 gewann die NPD in BadenWürttemberg, seiner alten Heimat, 9,8 Prozent der Stimmen. Gescheiterter Prozess Wer sich vor allem für die rechtlichen, prozesstaktischen und historiografischen Imperative des Auschwitz-Prozesses interessiert, dem bietet der amerikanische Historiker Devon O. Pendas eine ausgezeichnete und leicht verständliche Ergänzung. Pendas untersucht in erster Linie die Rolle der Richter, Anwälte und Zeugen, deren erlebte Wahrheit eine andere war als die rechtlich massgebende. Er legt dar, wie unmöglich es war, diesem Menschheitsverbrechen mit dem Deutschen Strafgesetzbuch von 1871 beizukommen. Pendas wertet den Prozess als ein gewissenhaft geführtes Verfahren, das jedoch unfähig blieb, die historische Dimension mitzuverhandeln. An Fritz Bauer aber lag dies nicht. ● Frauengeschichte Die Baslerin Emilie Linder (1797–1867) war eine bedeutende Mäzenin der europäischen Kulturgeschichte SiekaufteKunstund unterstütztedieArmen Die Schweizerische Radio- und Fernsehgesellschaft SRG, eine von der ganzen Bevölkerung finanzierte Institution, strahlte im November eine vierteilige Serie zur Schweizer Geschichte aus, in der die Hälfte dieser Bevölkerung keine Rolle spielte. Als ob Frauen keinen historischen Beitrag zu heutigen Schweiz geleistet hätten. Natürlich haben sie das getan. Emilie Linder zum Beispiel, auch wenn dieser Name heute den wenigsten geläufig sein wird. Die Baslerin stand – wie so viele Frauen – im Schatten ihrer Zeitgenossen, zum Beispiel demjenigen von Clemens Brentano, der sie glühend verehrte. Aus diesem Schatten haben sie nun der Historiker Patrick Braun und der Kunsthistoriker Axel Christoph Gampp herausgeholt. Sie lassen in ihrem Sammelband verschiedene Fachleute zu Wort kommen, die das facettenreiche Leben dieser Schweizerin beleuchten. Schon die Kapitelüberschriften lassen erahnen, dass es keine gewöhnliche Frauenvita war: Nach Beiträgen zu «Persönlichkeit und Kontext» folgen Artikel zu den Themen «Nazarener, Künstlerinnen der Romantik, die Malerin», während das letzte Kapitel der «Wohltäterin, Marienkirche, Kunstökumene» gewidmet ist. Emilie Linder wurde 1797 in eine wohlhabende protestantische Basler Familie hineingeboren. Geprägt hat sie ihr Grossvater, ein bekannter Kunstsammler, der ihren ausgefallenen Berufswunsch «Historienmalerin» unterstützte. Ihr vermachte er auch sein Vermögen und seine bedeutende Bildersammlung. Emilie genoss die übliche Erziehung, beschloss aber schon früh, nicht zu heiraten. Damals eine mutige Entscheidung! Mit 27 Jahren ging sie nach München, um an der Kunstakademie zu studieren, wo die religiöse Richtung der Nazarener gefördert wurde. Es folgten Jahre in Basel, Rom und wieder München, in denen Linder rege am gesellschaftlichen Leben teilnahm. Das beträchtliche Vermögen ermöglichte eine unabhängige Lebensweise. Sie reiste mit anderen Frauen, unter anderem der Malerkollegin Rosalie Wieland-Rottmann, die ihre Freundin einfühlsam porträtierte. Linder malte auch selber, allerdings war sie der Auffassung, dass die zentrale Aufgabe der Kunst das Darstellen und Vermitteln von Glaubensinhalten war. Malen war für sie eine religiöse Handlung, ein spirituelles Gespräch mit Gott. Undatiertes Porträt der Baslerin Emilie Linder, gemalt von ihrer Freundin Rosalie Wieland-Rottmann. <wm>10CAsNsjY0MDAx1TUyMDW1NAQAfp8LwQ8AAAA=</wm> <wm>10CFWMMQ4CMQwEX-Ro18lezrhE150o0PVuEDX_r1DoKKabmfNMNfy4H4_reCaBIXNIwaTUAsq5qzFmkpSD_cYhkNP3P9_A2Dp6LcdIo4rDRph7jZjFvg61aqB9Xu8vJ3AueoAAAAA=</wm> Ein getötetes Mädchen im Straßengraben, ein Schmugglerring, der keine Gnade kennt: der neue Fall für Tempe Brennan. Kathy Reichs’ packende Romane sind Vorlage für die erfolgreiche Fernsehserie „BONES – die Knochenjägerin“. 448 Seiten I CHF 28,50 (empf. VK-Preis) E-Book und Hörbuch bei Random House Audio © iStock Von Geneviève Lüscher In Rom entwickelte sie sich immer mehr von der Malerin zur Mäzenin und Kunstsammlerin, wobei sie gezielt Bilder der Nazarener Richtung kaufte und mit entsprechenden Künstlern Verträge abschloss. Mit der Unterstützung dieser Kunstrichtung betrieb sie indirekt Gesellschaftspolitik, denn die Nazarener waren ein Teil der restaurativen Gegenbewegung zur Aufklärung. In München, wo sie bis zu ihrem Tod 1867 lebte, gab Linder Gesellschaften, unterhielt einen Salon, in dem sich die Grössen ihrer Zeit trafen. Hier bot sich beiden Geschlechtern zwanglos die Möglichkeit des intellektuellen Austauschs und der Pflege von Freundschaften. Clemens Brentano, der Linder verehrte und gar heiraten wollte, holte sich allerdings einen Korb. Die Angebetete bestand auf einer gleichberechtigten, intellektuellen Freundschaft und auf Unabhängigkeit. 1843 konvertierte Linder, wie viele Romantiker, zum Katholizismus und zog sich zurück. Sie half bedürftigen Menschen und Familien, unterstützte Kirchen, Klöster, Schulen und Spitäler. Ihre zunehmend religiös motivierte Lebensführung prägte später das Bild der frommen Wohltäterin, während ihr Kunstsinn und ihre Intellektualität aus dem Blick gerieten. Die vorliegende Publikation rückt diese Aspekte eines für die damalige Zeit ungewöhnlichen Frauenlebens wieder ins Licht. ● KUNSTMUSEUM BASEL Patrick Braun, Axel Christoph Gampp (Hrsg.): Emilie Linder 1797–1867. Malerin, Mäzenin, Kunstsammlerin. Merian, Basel 2013. 303 Seiten, Fr. 37.90. DU KANNST SIE ZUM SCHWEIGEN BRINGEN – DOCH IHRE KNOCHEN WERDEN DICH VERRATEN Lese- und Hörprobe auf blessing-verlag.de 24. November 2013 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27 Sachbuch Antike Der römische Konsul Marcus Tullius Cicero (106–43 v. Chr.) erhält eine neue Biografie aus der Feder des Althistorikers Wolfgang Schuller InMachtkämpfenzerrieben Wolfgang Schuller: Cicero. Oder der letzte Kampf um die Republik. C. H. Beck, München 2013. 256 Seiten, Fr. 37.90. Von Janika Gelinek Inmitten einer politisch höchst turbulenten Zeit, in der Cäsar soeben Konsul geworden war und er selbst massiv an Einfluss eingebüsst hatte, schreibt Marcus Tullius Cicero 59 v. Chr. an seinen Freund Atticus: «Was aber werden wohl über unzählige Jahrhunderte hin die Geschichtswerke rühmend über mich hervorheben? Vor diesen empfinde ich in der Tat viel mehr Scheu als vor dem nichtigen Gerede unserer Zeitgenossen.» Er hätte sich keine Sorgen machen müssen. Bereits in der Antike begann eine bis heute andauernde Cicero-Rezeption. Das liegt zum einen an der ungewöhnlich umfangreichen Quellenlage – etwa 50 Reden sind neben Ciceros politischen und rhetorischen Schriften erhalten, darüber hinaus fast 1000 Privatbrie- fe, die einen faszinierenden Einblick in sein Denken und in den Alltag der ausgehenden römischen Republik geben. Zum anderen bietet Cicero mit seinen vielfältigen Tätigkeiten als Anwalt und Politiker, als Schriftsteller, Philosoph und Rhetoriker bis heute weitreichende Anschlussmöglichkeiten. Entsprechend muss sich eine neue Cicero-Biografie, wie sie der Althistoriker Wolfgang Schuller nun vorgelegt hat, an der Frage messen lassen, welche Aufschlüsse sie über diese so sattsam erforschte Persönlichkeit neu zu geben vermag. Schuller wählt dafür überraschenderweise eine Art moralisch-menschlicher Verortung: «Er hatte ein Leben voll staunenswerter Stärken und beklagenswerter Schwächen geführt, ein gutes, nicht in allem beispielhaftes, ein menschliches Leben.» Cicero sei ein «empfänglicher, emotionaler, generöser, gelegentlich leichtgläubiger und weicher Mensch» gewesen, der in den schnell changierenden Machtkonstellationen der zerfallenden römischen Republik zum Scheitern ver- Kultkrimi Lieblingsorte des Grauens Die Krimiserie ist Kult. Millionen setzen sich sonntagabends vor den Fernseher und schauen das Grauen. Sie fiebern mit, wenn die populären Ermittlerteams die «Tatort»-Verbrechen aufklären. Sie freuen sich an den Running-Gags und Dialogen der Protagonisten, an ihren Marotten und Schwächen. Die eigentlichen Orte des Geschehens treten dabei oft in den Hintergrund. Licht in das Dunkel bringt der Sammelband «Schauplatz Tatort – Die Architektur, der Film und der Tod», an dem einer der Altmeister des Fachs, der den Münchner Kommissar Franz Leitmayr spielende Schauspieler Udo 28 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. November 2013 Wachtveitl, mitgewirkt hat. Fakten zu allen 36 Kommissaren der Serie, inklusive des Luzerner Duos und der Lieblinge aus Wien, ihre Familien- und Wohnverhältnisse, die Vorlieben, die Städte und Gebäude, in denen sie Verbrecher jagen und die Ermittlungen führen – all das ist in dem 200 Seiten schweren Band vereint. «Tatort»-Fans bietet das Buch einen aufschlussreichen Fundus an Erkenntnissen. David Strohm Udo Wachtveitl u. a.: Schauplatz Tatort. Die Architektur, der Film und der Tod. Callwey, München 2013. 192 Seiten, Fr. 56.90. urteilt war. Dafür versucht Schuller, den höchst unübersichtlichen Beziehungsgeflechten zwischen 60 und 43 v. Chr., in denen Cicero sich – zuerst zwischen Pompeius und Cäsar, dann zwischen Antonius und Octavian lavierend – befand, zu folgen. Dabei differenziert er allerdings weder hinreichend zwischen politischen (und vor allem rhetorischen) Strategien Ciceros und seiner persönlichen Integrität, noch gelingt es ihm, dem Leser einen wirklichen Überblick über die Geschehnisse zu verschaffen. Stattdessen fragt Schuller, als im Jahr 55 v. Chr. Pompeius und Crassus mit Cäsar um das Konsulat schachern, reguläre Wahlen verhindern und schliesslich unter Tumult gewählt werden: «Wirft es nicht ein gutes Licht auf Cicero, dass er in all diese Machenschaften nicht einbezogen wurde?» Andererseits erscheint es ihm als «bedenkliche Tatsache», wie Cicero in der Folge in ein Abhängigkeitsverhältnis zu Cäsar gerät und dieses in «bemüht lockerem Ton» seinem Freund Atticus darzustellen versucht. Während sich Bautätigkeiten für Cäsar nach aussen hin vielleicht noch rechtfertigen liessen, sei die von Cicero übernommene Verteidigung Vartinius, der «doch wirklich die übelsten Handlangerdienste in Cäsars tadelnswertesten Unternehmungen geleistet» hatte, «einfach nur demütigend» gewesen. Ciceros Position als homo novus, der auch als Emporkömmling seine Politik in den Dienst der ideologischen Rechtfertigung der Nobilitätsherrschaft stellte, wird kaum beleuchtet, vielmehr wird er als «Erzzivilist» charakterisiert, der den Untergang der Republik als «persönliche Beleidigung» empfunden habe. Doch ist es tatsächlich relevant, mit Hilfe moralischer Kriterien 2000 Jahre alte politische Winkelzüge oder auch persönliches Versagen zu bewerten? Ist es aus heutiger Perspektive notwendig, die Gefühlslage Ciceros nachzuvollziehen und als «quälend», «gradlinig», «überraschend» oder «erfreulich» zu verstehen? Anstelle einer fundierten These, die Ciceros politisches Taktieren plausibel machen würde, nimmt Schuller ihn auch auf sprachlich häufig umständliche Weise in Schutz, so als gelte es, ihn noch einmal gegen das historische Diktum Theodor Mommsens zu verteidigen, der ihn im 19. Jahrhundert als Wendehals und Opportunisten beschrieben hatte und damit das Cicero-Bild auf Jahrzehnte geprägt hatte. Doch die umfangreiche Rezeptionsgeschichte Ciceros spielt bei Wolfgang Schuller keine Rolle; seine Bibliografie bleibt auch weitgehend auf den deutschen Sprachraum begrenzt. So sehr ihm daran gelegen ist, Cicero der Leserschaft nahezubringen, gilt am Ende das Bonmot des römischen Historikers Livius, der in seinem Nekrolog nach Ciceros Tod bemerkte: «Um ihn recht zu loben, hätte man einen Cicero als Lobredner gebraucht.» ● Gesundheit Jederman kennt Schmerzen, dennoch wissen wir erstaunlich wenig über sie WodieSchulmedizin anihreGrenzenstösst Sytze van der Zee: Schmerz. Eine Biografie. Knaus, München 2013. 377 Seiten, Fr. 34.90, E-Book 23.90. Von Sieglinde Geisel Jeder Mensch, auch jeder gesunde, macht regelmässig Erfahrungen mit Schmerz – und doch wissen wir erstaunlich wenig über diese Empfindung. Für viele Arten von Schmerz hat die Medizin keine schlüssige Erklärung parat, und die Frage danach, wie man Schmerzen bekämpfen kann, ist ebenso komplex wie diejenige, warum Schmerz unter bestimmten Umständen Lust erzeugen kann. Der niederländische Journalist Sytze van der Zee hat eine «Biografie» des Schmerzes geschrieben. In 37 kurzen Kapiteln nähert er sich dem Schmerz aus den verschiedensten Perspektiven: Patientenberichte wechseln ab mit recherchierten Passagen, in denen wiederum Ärzte und Therapeuten zu Wort kommen. Der Alltag in einem Schmerzzentrum wird geschildert, zwischendurch geht es um Meilensteine in der Geschichte der Schmerztherapie: die Entwicklung der Anästhesie etwa, die «Tiefe Hirnstimulation» oder die Spiegeltherapie für die Behandlung von Phantomschmerzen. Und fast jede Art von Schmerz kommt vor: die Migräne-Attacken einer 13-Jährigen ebenso wie die Leiden eines Patienten mit Schmetterlingskrankheit, es geht um Krebskranke, Amputierte mit Phantomschmerzen und um Menschen, die sich selbst verletzen. Montaigne zählte den Schmerz bekanntlich zu «den grössten Übeln der Menschheit». Doch gerade weil wir ihn nicht aushalten, ist der Schmerz der beste Selbstschutz, das zeigt ein Kapitel über Menschen, die ohne Schmerzempfinden geboren werden. Der Preis für ein Leben, das keinen Schmerz kennt, ist hoch: Die durchschnittliche Lebenserwartung beträgt in diesem Fall nur gerade fünfzehn Jahre. Die Schulmedizin hadert mit dem Schmerz: Lange Zeit habe man auf Schmerztherapeuten herabgeschaut, so van der Zee. Auch in den Patientenberichten seines Buchs spiegelt sich die Nachlässigkeit, ja Kälte mancher Ärzte. «Dann lassen sie’s eben bleiben», soll ein Arzt einer Patientin geantwortet haben, die vor Schmerzen kaum mehr gehen konnte. Der zynisch anmutende Terminus «failed back surgery syndrom» lässt ahnen, dass die Medizin Schmerzen nicht nur bekämpfen, sondern auch verursachen kann. In der Tat verhält sich gerade die orthopädische Medizin bisweilen überraschend lebensfern. In den Industriestaaten leiden, je nach Land, GETTY IMAGES Funktion als Selbstschutz Viele Menschen leiden – an Kopf, Rücken und Nerven. Oft sind Schmerzen Ausdruck seelischer Spannungen. zwölf bis dreissig Prozent der Menschen an chronischen Schmerzen, wobei Rückenschmerzen am häufigsten genannt werden. Obwohl man in jeder Gymnastik- oder Yogastunde am eigenen Leib erfahren kann, in welchem Mass gerade diese Schmerzen eine Folge unserer Lebensweise sind, greifen viele Ärzte schnell zum Skalpell – auch in van der Zees Buch spielt der Bewegungsmangel eine überraschend geringe Rolle. Die legendären Irrtümer der Medizin in Sachen Schmerzbehandlung dagegen beschreibt der Autor detailliert: Bis in die 1980er-Jahre wurde bei Operationen an Säuglingen auf eine Narkose verzichtet, denn aufgrund der noch nicht ausgebildeten Myelinschicht ihrer Nervenbahnen hätten Säuglinge kein Schmerzempfinden, so die damalige Lehrmeinung. Dies lässt sich aus heutiger Sicht ebenso wenig nachvollziehen wie die Tatsache, dass die Lobotomie, bei der durch eine krude Operation die Nervenverbindungen zwischen dem Frontallappen und dem restlichen Gehirn durchtrennt werden, im Jahr 1946 mit dem Nobelpreis für Medizin ausgezeichnet wurde. Enorme Stofffülle Bei Schmerzpatienten stösst die Medizin an ihre Grenzen: Wenn sich keine körperliche Ursache finden lässt, sind Schmerzen oft Ausdruck seelischer Spannungen. Schmerzen seien «auch etwas, hinter dem man sich verstecken kann und sich irgendwann für nichts mehr verantwortlich fühlt», so eine Therapeutin. «Der Patient muss mitmachen.» Auch die Gesellschaft hat einen Einfluss auf die Schmerzwahrnehmung: Die Leute ak- zeptierten heute nicht mehr, «dass Schmerz zum Leben dazugehört», wird etwa ein Schmerz-Arzt zitiert. Angesichts all dieser Befunde ist es kein Wunder, dass sich viele Patienten der Alternativmedizin zuwenden. Sytze van der Zee allerdings bekennt sich zur Schulmedizin, entsprechend nachlässig behandelt er das – zugegebenermassen kaum überschaubare – Feld der alternativen Heilmethoden. Im Kapitel über Akupunktur erfährt man etwa, dass die Kommunistische Partei Chinas die Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) in jüngster Zeit wieder stärker favorisiere, hingegen bestünden Zweifel an der Seriosität des WHO-Berichts von 1979, der die Wirksamkeit von Akupunktur für eine Liste von Krankheiten belegte. Über manche Heilmethoden der TCM schüttelten westliche Mediziner nur den Kopf, vermerkt van der Zee – nur um wenige Seiten später einen Arzt mit der Überzeugung zu zitieren, dass es für Akupunktur eine biologische Erklärung geben müsse und dass man vor allem bei chronischem Schmerz viel damit erreichen könne. Hier spricht kein Experte, sondern ein unermüdlich recherchierender Publizist. Sytze van der Zee ist durch einen Magendurchbruch auf das Thema Schmerz gestossen – dabei war es gerade die auffallend geringe Schmerzempfindlichkeit, die sein Interesse weckte. Seinem vielstimmigen Buch mangelt es bisweilen etwas an Stringenz, oft muss man sich als Leser selbst ein Urteil bilden. Doch die enorme Stofffülle bietet viele Anregungen in alle Richtungen der Schmerzerforschung. ● 24. November 2013 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29 Sachbuch Verhalten Der US-Psychologe Adam Grant plädiert für eine altruistische Lebensführung Mit Hilfsbereitschaft zum Erfolg Adam Grant: Geben und Nehmen. Erfolgreich sein zum Vorteil aller. Droemer, München 2013. 448 Seiten, Fr. 29.90, E-Book 22.–. Von Michael Holmes Viele glauben es, wenige sagen es laut: Wahre Hilfsbereitschaft zeigen wir gegenüber Verwandten, Freunden und Notleidenden. Aber im Geschäftsleben, wo der Kampf aller gegen alle tobt, ist Mitgefühl eine Schwäche und Rücksichtslosigkeit ein Gewinn. In seinem US-Bestseller «Geben und Nehmen» widerlegt der amerikanische Psychologieprofessor Adam Grant dieses traurige Menschenbild. Er unterscheidet drei Persönlichkeitstypen: Nehmer wollen möglichst viel für sich selbst herausholen. Geber möchten ihren Mitmen- schen behilflich sein. Die meisten Menschen bewegen sich als Tauscher im Mittelfeld des Verhaltensspektrums. Für gewöhnlich handeln sie gemäss der Devise: «Wie du mir, so ich dir». Studien zufolge besitzen wir feine Antennen für diese Verhaltensmuster. Adam Grant belegt, dass die Geber in vielen Berufen sowohl die untersten als auch die obersten Stufen der Erfolgsleiter dominieren. Sie sind überdurchschnittlich häufig Fussabtreter, aber auch Überflieger. Für diesen bemerkenswerten Forschungsbefund bietet er mehrere Erklärungen, die er mit zahlreichen Studien untermauert. Geber gehen unter, wenn sie eigene Bedürfnisse leugnen und sich alles gefallen lassen. Sie haben die Nase vorn, wenn sie viele Herzen für altruistische Ziele gewinnen und Kraft aus der Gemeinschaft ziehen. «Gebt, so wird euch gegeben» – Grants Analysen bestätigen diese biblische Weisheit. Er illustriert seine Thesen mit vergnüglichen Geschichten von Alltagshelden, die wie im Märchen zu Ruhm und Reichtum kommen, obwohl sie nur Gutes im Schilde führen. Ein SoftwareUnternehmer steigt mit Wohltaten zum besten Netzwerker der USA auf. Ein erfolgreicher Risikoanleger lädt Rivalen zu Konferenzen ein. Eine Lehrerin findet nach einem Burnout neuen Sinn in der harten Arbeit mit Unterschichtskindern. Untersuchungen legen nahe, dass jeder Mensch die Kunst des Gebens erlernen kann. Wer allerdings nur aus taktischem Kalkül gibt, wird den Zauber wahrer Nächstenliebe nicht erleben. Manchmal besteht die beste Erfolgsstrategie darin, keine zu haben. Dieses faktenreiche Buch ist ein Meilenstein auf dem Weg zu einer Wissenschaft vom Guten. ● Das amerikanische Buch Streit um die Zukunft der Schule Lassen die öffentlichen Schulen Amerikas Jugend im Stich? Sind standardisierte Leistungstests die beste Messlatte für die Beurteilung des Bildungswesens? Und wer soll das Sagen haben in den Klassenzimmern – Behörden und Lehrergewerkschaften, oder Privatschulen unter Kontrolle von Stiftungen und Hedge-Funds? Diese Debatte rührt an die Grundfesten der amerikanischen Gesellschaft und hat nun die Bestseller-Listen erreicht. Wurzel des Konflikts ist die Erziehungsreform von George W. Bush, die Tests vorgeschrieben hat, ohne Bildungshaushalte aufzustocken. Daran knüpft auch Barack Obama an, der die Privatisierung von Schulen unterstützt und nationale Bildungsziele eingeführt hat. Diese sind ebenfalls an Tests gekoppelt und haben wegen mangelhafter Ergebnisse bereits zu der Schliessung Hunderter Lehranstalten geführt. den Leistungen in wohlhabenden, vorwiegend von Weissen bewohnten Bezirken zurück. Um hier gegenzusteuern, plädiert Ravitch für staatliche Hilfen und die Reduktion der Leistungstests. Und sie attackiert die seit der Bush-Ära gegründeten «Charter Schools», die nicht lokalen Schulbehörden unterstehen, aber dennoch aus Steuergeldern mitfinanziert werden. Dieser Aspekt lockt Investoren an, die Privatschulen als neue Profitzentren und Lehrergewerkschaften als Störenfriede betrachten. Ravitch führt den Nachweis, dass derartige Anstalten bei staatlichen Tests deshalb besser abschneiden, weil sie behinderte und schwer erziehbare Kinder abweisen und zusätzlich von Stiftungen und vermögenden Eltern unterstützt werden. Hoax of the Privatization Movement and the Danger to America´s Public Schools (Knopf, 396 Seiten) ablesen lässt, dem neuen Bestseller von Diane Ravitch. Die an der New York Univer- sity lehrende Erziehungswissenschaftlerin gilt als führende Expertin ihres Fachs, so die «New York Review of Books» in einer positiven Besprechung. «Reign of Error» («Herrschaft des Irrtums») ist eine Kampfschrift gegen die Privatisierungs-Bewegung. Dabei tritt Ravitch den Behauptungen der «SchulReformer» mit einer Flut von Statistiken und wissenschaftlichen Studien entgegen. Sie benutzt dabei einen hitzigen Ton, der den Leser zu ermüden 30 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. November 2013 GETTY IMAGES In Zeiten knapper Budgets und wachsender Einkommens-Unterschiede hat der Streit um die Zukunft der Schulen Amerikas eine Hitze erreicht, die sich eindrücklich an Reign of Error. The Schulen in den USA: Privatisierung oder Reform? Autorin Diane Ravitch (unten). droht. Aber Ravitch kann belegen, dass Amerikas öffentliche Schulen den Leistungsstand ihrer Zöglinge seit Jahrzehnten stetig erhöht haben. Dennoch sieht sie dringenden Handlungsbedarf: Die Vorbereitung auf Pflichttests nehme Lehrern Zeit von ihren eigentlichen Aufgaben weg, nämlich die Heranbildung von Urteilsvermögen und Bürgersinn bei ihren Schülern. Zudem schlage die Armut in den von Schwarzen und Latinos bewohnten Bezirken direkt auf die Qualität der von lokalen Steuern finanzierten Schulen durch. Dort bleiben die Zöglinge weiterhin und deutlich hinter Besonders scharf geht Ravitch indes mit Michele Rhee ins Gericht, die 2007 bis 2010 die Schulen der amerikanischen Hauptstadt verwaltet hat und seither die Entstaatlichung des Erziehungswesens im ganzen Land propagiert. Rhee will die Lehrergewerkschaften entmachten, die etwa die Entlassung selbst nachweislich unfähiger Pädagogen zu blockieren pflegen. Dafür hat sie nun mit Radical. Fighting to Put Students First (Harper, 286 Seiten) ebenfalls eine Kampfschrift publiziert. Diese dient über viele Seiten auch der Darstellung ihrer eigenen Leistungen. Ravitch weist dagegen nach, dass überraschend gute Testergebnisse in Washington unter Rhee zumindest teilweise auf Fälschungen beruhten. Dass Ravitch die von vielen Eltern beklagten Probleme mit den Lehrergewerkschaften weitgehend ignoriert, stärkt dagegen die Argumente Rhees. Von Andreas Mink ● Agenda Fülscher Standardwerk der Schweizer Küche Agenda Dezember 13 Basel Dienstag, 3.Dezember, 19 Uhr Monika Maron: Zwischenspiel. Lesung, Fr. 17.–. Literaturhaus, Barfüssergasse 3, Tel. 061 261 29 50. Donnerstag, 5. Dezember, 19 Uhr Veranstaltung Friedrich Glauser zum 75. Todestag. Collage aus Texten und Briefen, mit Bernhard Echte und Manfred Papst, Fr. 17.–. Literaturhaus (s. oben). Dienstag, 10. Dezember, 19 Uhr Friederike Mayröcker: Vom Umhalsen der Sperlingswand. Lesung mit Musik von Petra Ronner und Peter Schweiger, Fr. 17.–. Literaturhaus (s. oben). Bern Mittwoch, 4. Dezember, 20.30 Uhr Bern ist überall: Ir Chuchi. Hörbuchtaufe mit Performance, Fr. 20.–. Stauffacher Buchhandlungen, Neuengasse 25/37, Reservation: Tel. 031 313 63 63. Die Speisen wurden auf Platten angerichtet damals, und die Platten waren voll, randvoll, genauso wie die Farbtafeln im Fülscher, die auch immer randvoll sind, denn Farbbilder waren teuer, und so musste jedes von ihnen ein ganzes Arrangement von Gerichten zeigen. Wie ein Proustsches Madeleine verströmt die Neuauflage des Kochbuchs von Elisabeth Fülscher – sie ist ein Faksimile der 8. Auflage von 1966 – den Duft einer Kindheit in den 5oer Jahren. Über 1700 Rezepte hat Elisabeth Fülscher (1895–1970) versammelt, jedes mit einer Nummer, dazu Bildtafeln von Hans Finsler (schwarz-weiss) und Hans Moosbrugger (Farbe). Auf unserem Bild sehen wir das Riz Colonial Nr. 739 mit Currysauce Nr. 568. Das Ganze ergänzt mit genauen Anweisungen zum fachgerechten Blanchieren, Tranchieren, Dressieren, Flambieren und Verzieren. Werden wir es wieder brauchen? Für Auberginen mit Mayonnaise-Füllung, Spaghetti-Salat – oder vielleicht Madeleines? Kathrin Meier-Rust Elisabeth Fülscher: Kochbuch. Kommentierte Neuauflage. Herausgegeben von Susanne Vögeli und Max Rigendinger. Hier + Jetzt, Baden 2013. 823 Seiten, 50 Abbildungen, Fr. 68.–. Belletristik Sachbuch 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 Jussi Adler-Olsen: Erwartung. dtv. 576 Seiten, Fr. 27.90. Cecelia Ahern: Die Liebe deines Lebens. Fischer Krüger. 400 Seiten, Fr. 25.90. Joël Dicker: Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert. Piper. 736 Seiten, Fr. 36.90. Jonas Jonasson: Der Hundertjährige. Carl’s Books. 412 Seiten, Fr. 21.90. Henning Mankell: Mord im Herbst. Zsolnay. 144 Seiten, Fr. 24.90. Jens Steiner: Carambole. Dörlemann. 224 Seiten, Fr. 27.–. Gillian Flynn: Gone Girl – Das perfekte Opfer. Fischer Scherz. 576 Seiten, Fr. 25.90. Alex Capus: Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer. Hanser. 281 Seiten, Fr. 23.90. Franz Hohler: Gleis 4. Luchterhand. 224 Seiten, Fr. 23.90. Freitag, 13.Dezember, 12.30 Uhr Roswitha Menke: Advent, Advent, ein jeder rennt! Adventsgeschichten und heisse Suppe. Buchhandlung Haupt, Falkenplatz 14. Res.: Tel. 031 309 09 09. Zürich Bestseller November 2013 Khaled Hosseini: Traumsammler. S. Fischer. 448 Seiten, Fr. 31.90. Freitag, 13.Dezember, 17 Uhr Paul Niederhauser (Text) und Werner Aeschbacher (Musik): Bärndütschi Wienachtsgschichte, Fr. 22.–. Ab 12 Jahren. Berner Puppentheater, Gerechtigkeitsgasse 31. Reservation: Tel. 031 311 95 85. Christiane V. Felscherinow: Christiane F. – Mein zweites Leben. Levante, 336 Seiten, Fr. 22.90. Verena Wermuth: Wiedersehen mit Scheich Khalid. Weltbild. 175 Seiten, Fr. 28.90. Malala Yousafzai, Christina Lamb: Ich bin Malala. Droemer/Knaur. 400 Seiten, Fr. 32.90. Guinness World Records 2014. Bibliographisches Institut. 272 S., Fr. 28.90. Alain Sutter: Stressfrei glücklich sein. Giger. 200 Seiten, Fr. 37.90. Mary C. Neal: Einmal Himmel und zurück. Allegria. 208 Seiten, Fr. 27.90. Bronnie Ware: 5 Dinge, die Sterbende am meisten bereuen. Arkana. 351 Seiten, Fr. 29.90. Hans Küng: Erlebte Menschlichkeit. Piper. 752 Seiten, Fr. 39.90. Ruth Maria Kubitschek: Anmutig älter werden. Nymphenburger. 156 Seiten, Fr. 29.90. Pascal Voggenhuber: Kinder in der geistigen Welt. Giger. 200 Seiten, Fr. 35.90. Erhebung Media Control im Auftrag des SBVV; 12.11.2013. Preise laut Angaben von www.buch.ch. Montag, 2. Dezember, 20 Uhr Regula Stämpfli und Bascha Mika: Schön ungeschminkt. Live-Literaturclub, Fr. 25.–. Kaufleuten, Festsaal, Pelikanplatz 1, Tel. 044 225 33 77. Montag, 9. Dezember, 20 Uhr Hans Magnus Enzensberger liest aus seinen Werken. Fr. 25.–. Kaufleuten (s. oben). Donnerstag, 12.Dezember, 19 Uhr Rea Brändle: Wildfremd, hautnah. Zürcher Völkerschauen. Lesung und Gespräch, Apéro. Völkerkundemuseum Uni Zürich, Pelikanstr. 40. Tel. 044 634 90 11. Donnerstag, 12.Dezember, 19 Uhr Matthias Senn: Leseabend voller schräger Weihnachtsgeschichten im Schweizerischen Landesmuseum. Reservation: Tel. 044 218 65 11. Donnerstag, 12. Dezember, 20 Uhr René Lüchinger: Elisabeth Kopp. Buchvernissage mit Elisabeth Kopp, Fr. 25.–. Kaufleuten (s. oben). Bücher am Sonntag Nr.1 erscheint am 26.1.2014 Weitere Exemplare der Literaturbeilage «Bücher am Sonntag» können bestellt werden per Fax 044 258 13 60 oder E-Mail [email protected]. Oder sind – solange Vorrat – beim Kundendienst der NZZ, Falkenstrasse 11, 8001 Zürich, erhältlich. 24. November 2013 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 31 Damit Ihre Neugierde gestillt wird: Wir unterstützen gute Literatur. <wm>10CAsNsjY0MDAx1TUyMDQ0NAUA5O7Uhg8AAAA=</wm> <wm>10CFWMqw6AMBRDv2hLex9sY5LgCILgZwia_1eMOUSTpuek21Y9YmRZ93M9KgHzICDp1YtHSVPNIhGWOmTuSGcqiaImPz-AZVJo-5xABOZGjoKWXMSsD_q9tPGA-Fz3C7U2VL2EAAAA</wm> Mehr unter www.zkb.ch/sponsoring Mit einer Karte der Zürcher Kantonalbank erhalten Sie eine Reduktion von 6.– CHF für alle «Literaturhaus»-Veranstaltungen.