Leseprobe 3
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Leseprobe 3
Gedenkbuch2009-S1-260.qxp:Gedenkbuch 05.10.2009 14:41 Uhr Seite 1 Dienst Dienst am am Menschen Frieden Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V. Gedenkbuch2009-S1-260.qxp:Gedenkbuch 05.10.2009 14:41 Uhr Seite 3 „Die Geschichte Deutschlands ist untrennbar verknüpft mit den beiden Weltkriegen. Die Erinnerung daran hat uns Deutsche tief geprägt. Wir haben die Verantwortung, die Erinnerung an dieses Leid und an seine Ursachen wach zu halten, und wir müssen dafür sorgen, dass es nie wieder dazu kommt. Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V. setzt sich für diese Aufgabe in vorbildlicher Weise ein. Ich freue mich, dass er dabei auch auf die große Unterstützung der Bürgerinnen und Bürger zählen kann. Gemeinsam mit den haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitern des Volksbundes leisten sie ihren wertvollen Beitrag zur Versöhnung über den Gräbern. Im Dezember 2009 wird der Volksbund 90 Jahre alt. Ich wünsche ihm für seine wichtige Arbeit alles erdenklich Gute!“ Bundespräsident Prof. Dr. Horst Köhler Schirmherr des Volksbundes Gedenkbuch2009-S1-260.qxp:Gedenkbuch 05.10.2009 Unser Jubiläumsbuch „Dienst am Menschen – Dienst am Frieden“ ist nicht nur ein besonderes Dankeschön für großzügige und treue Freunde und Förderer des Volksbundes. Es ist auch ein Rückblick in die Geschichte unseres Verbandes. Seit dem Ersten Weltkrieg ist sie auf das engste mit der deutschen und der europäischen Geschichte verbunden. Im Konzept dieses Buches schlägt sich das nieder, wenn Sie auf der einen Seite in Text und Bild eine Auswahl politischer Ereignisse, auf der anderen Seite eine Auswahl von Eckpunkten des „Volksbundlebens“ finden. Selbstverständlich kann eine solche Auswahl nur kleine Teile des wirklichen Geschehens umfassen. Deshalb darf dieses Buch auch nicht als „Geschichtsbuch“ mit Anspruch auf wissenschaftliche Exaktheit gelten. Aber wir sind sehr stolz darauf, dass die ersten Auflagen (das erste Buch erschien 1994 zum 75-jährigen Jubiläum des Volksbundes) gerade von Pädagogen wegen der Anschaulichkeit der Darstellung gelobt worden sind. Dieses Vorwort soll keine Inhaltsangabe sein. Festhalten möchte ich, dass der Volksbund in den vergangenen Jahrzehnten vor immer wieder neuen, scheinbar kaum zu bewältigenden Anforderungen gestanden hat und diese immer wieder – das darf man sicher sagen – hervorragend bewältigen konnte. Andererseits ist seine Geschichte nicht frei von Brüchen. Gegründet wurde der Volksbund als humanitäre Initiative der Bürger und für die Bürger, mit großer Unterstützung aller Schichten der deutschen Bevölkerung. Er überstand mit einigen Blessuren die politischen und wirtschaftlichen Wirren der frühen 20er Jahre. Mit der Stabilisierung kamen auch die Erfolge im Bau und Ausbau von Kriegsgräberstätten. Die frühe Selbstunterwerfung der Volksbundführung unter die Maximen des nationalsozialistischen Regimes rettete möglicherweise die formelle Eigenständigkeit des Verbandes. Der Preis allerdings war – aus heutiger Sicht – viel zu hoch. Denn die Organisation wurde zu einem willigen Erfüllungsgehilfen der unseligen Diktatur, die unser Land und viele Millionen Menschen weltweit in Tod und Verderben führte. Zum unrühmlichen Teil der Verbandsgeschichte gehört zum Beispiel die Verwandlung der Mitgliederzeitschrift in ein Organ zur Verherrlichung nationalsozialistischer Anschauungen und zur Festigung des Durchhaltewillens der Bevölkerung im Krieg. Nach dem Zweiten Weltkrieg galt es nicht nur, die Abgründe der deutschen und auch der eigenen Geschichte zu überwinden – und hier ist noch vieles wissen- 14:41 Uhr Seite 5 schaftlich aufzuarbeiten. Aus dem Nichts heraus waren ungleich größere Aufgaben als nach dem Ersten Weltkrieg zu bewältigen. Gleichzeitig war klar, dass Kriegsgräberstätten und Kriegsgräber mehr sind, einfach mehr sein müssen als nur elementare Bestandteile nationaler Identität und Orte der individuellen Erinnerung und Trauer für die Familien. Der Volksbund hat dem mit seiner internationalen Jugendarbeit, festgeschrieben in seiner Satzung, ein neues Element hinzugefügt. Die Zusammenarbeit mit jungen Menschen zur Förderung von Verständigung und Versöhnung, von Freundschaft und Frieden wird seit Jahrzehnten konsequent ausgebaut. Mit Recht darf man stolz sein auf die großen Leistungen, die der Verband im Friedhofsbau und bei der Pflege der Friedhöfe, bei der Suche nach den Kriegstoten, ihrer Bergung und endgültigen Bestattung, bei der Betreuung der Angehörigen erbracht hat. Die Jugendarbeit des Volksbundes, die Arbeit in den Jugendcamps, den Jugendbegegnungsund -bildungsstätten, die Zusammenarbeit mit den Schulen aber verdient es, besonders herausgehoben zu werden. Nach 90 Jahren ist die Geschichte des Volksbundes nicht „vorbei“. Seine Arbeit wird sich auch künftig nicht auf eine besonders organisierte Friedhofspflege reduzieren lassen. Große Herausforderungen warten, in einer Zeit, in der ihre Finanzierung nicht unbedingt einfacher wird. Die letzten großen Sammelfriedhöfe sind bereits im Bau oder in Planung. Mit aller Kraft gilt es in Mittel-, Ost- und Südosteuropa die Kriegstoten zu bergen, die wir noch finden können. Diese Arbeit wird über das Jahr 2015 deutlich hinausreichen, wenngleich bis dahin der größte Teil des überhaupt Machbaren geschafft sein muss. Es stellt sich bereits jetzt die Frage, welchen Umfang die Aufgabe der Suche, Bergung und Bestattung der deutschen zivilen Opfer des Geschehens bei Flucht und Vertreibung annehmen wird. Es wird eine angemessene Form der Namendokumentation für alle die Opfer geben müssen, die nicht mehr gefunden, identifiziert und bestattet werden können. Und schließlich wird uns allen immer wieder die Frage vorgelegt werden, wie wir mit den Toten umgehen, die während der Auslandseinsätze der Bundeswehr zu beklagen sind und sein werden. Ich bitte Sie herzlich, uns heute und auch in Zukunft dabei zu helfen, Antworten zu finden und unsere Aufgaben zu erfüllen. Mein Dank gilt allen, die uns bis heute geholfen haben und die uns weiter unterstützen. Mit Ihrer Hilfe werden wir es schaffen! Ein Blick in die Geschichte und die Aufgaben der Zukunft Reinhard Führer, Präsident des Volksbundes Gedenkbuch2009-S1-260.qxp:Gedenkbuch Einleitung 05.10.2009 14:41 Uhr Seite 6 Die Geschichte der Menschheit ist auch die Geschichte ständiger Kriege: Immer starben Menschen, weil Waffen eingesetzt wurden, Gewalt angewendet, Krieg geführt wurde. Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft nennen wir sie mit den Worten unseres Gräbergesetzes in der Fassung des Jahres 2007. Und noch immer entstehen neue Gräber für neue Opfer. Wie die Völker mit den Opfern und deren Gräbern umgingen, war im Laufe der Geschichte sehr unterschiedlich. Dies darzustellen ist nicht Aufgabe dieses Buches. Da aber das Entstehen des Volksbundes im Dezember 1919 unter dem Einfluss des Geschehens in den fünf Jahren davor stand, ist es wichtig, diese Jahre in die Betrachtung einzubeziehen. Nur so werden Hintergründe deutlich. Im Ersten Weltkrieg spielt der Gedanke der Kriegsgräberfürsorge im militärischen und zivilen Bereich eine stärkere Rolle als je zuvor. Grundsätzlich will man alle Gefallenen bestatten und ihre Gräber erhalten. Das war bis dahin, auch noch im deutsch-französischen Krieg 1870/71, durchaus nicht selbstverständlich. Erstmals gibt es eine Kriegsgräberfürsorge der deutschen Heeresverwaltung, deren Aufgabe in einer zeitgenössischen Schrift so beschrieben ist: „Bald nach Beginn des Krieges erkannte deshalb die Heeresverwaltung, dass es zur dauernden und würdigen Erhaltung der Gräber einer planmäßigen Nacharbeit bedarf.“ Eine besondere Stelle wird im preußischen Kriegsministerium eingerichtet. Ihre Aufgaben: - Aufsuchen und Feststellen der Gräber, - ihre Festlegung in Verzeichnissen, - die Erforschung der Namen von Unbekannten, - die Erhaltung der Gräber durch feste Gestaltung und Umwehrung und dazu vielfach vorherige Verlegung, - ihre würdige Ausschmückung und Ausstattung mit dauerhaften Grabzeichen, - ihre fotografische Aufnahme. Am 1. August 1914 beginnt der Erste Weltkrieg. 6 Am 17./18. März 1916 werden Vertreter aller in Betracht kommenden Behörden zu einer gemeinsamen Besprechung nach Berlin berufen. Mitten im Krieg wird auch ein Abkommen mit Österreich-Ungarn getroffen, wonach „die Fürsorge für die Gräber gleich, ob eigene, verbündete oder feindliche Heeresangehörige in Frage kommen, von dem Staat übernommen wird, in dessen Verwaltungsgebiet die Gräber liegen.“ Ähnliches wird mit Bulgarien vereinbart. Und schließlich heißt es im Jahre 1917: „Mit den feindlichen Regie- Gedenkbuch2009-S1-260.qxp:Gedenkbuch 05.10.2009 14:41 Uhr Seite 7 7 Gedenkbuch2009-S1-260.qxp:Gedenkbuch Die Siegesgewissheit der ersten Kriegstage weicht bald der Ernüchterung im Stellungskrieg: Bilder von den Schlachten an der Somme und in Flandern. Besonders gefürchtet sind die Giftgasangriffe. 8 05.10.2009 14:41 Uhr Seite 8 rungen sind Verhandlungen eingeleitet, damit den Gräbern deutscher Krieger in Feindesland die gleiche Fürsorge zuteil wird, wie die deutsche Heeresverwaltung sie unterschiedslos auch den Gräbern der feindlichen Krieger widmet, nicht nur den Gefallenen auf den Schlachtfeldern, sondern auch den in der Kriegsgefangenschaft Verstorbenen.“ Am 28. Februar 1917 finden diese Grundsätze Eingang in eine sogenannte Allerhöchste Kabinetts-Order. Hervorzuheben ist einerseits, dass danach weder Unterschiede nach Dienstgraden oder -rängen der Toten gemacht werden sollen, noch nach deren Zugehörigkeit zur deutschen, zu einer verbündeten oder einer gegnerischen Armee. Andererseits durchzieht der Grundsatz der soldatischen Schlichtheit sämtliche Festlegungen. Über den Wandel in Bezug auf die Einstellung zu den Kriegsgräbern in der Geschichte heißt es in einem Aufsatz des Jahres 1917: „Die Art, wie wir unsere Krieger beigesetzt wissen möchten, kann gar nicht streng, schlicht und in gewissem Sinne kunstlos genug sein; von allen persönlich allzu auszeichnenden Formen der Heldenverehrung möchten wir angesichts der überwältigenden sozialen Tatsache des Volksheeres und des Massentodes absehen.“ Bemerkenswert ist auch die Ablehnung eines jeden „Monumentalismus.“ Auf der zivilen Seite gibt es im Jahre 1917 überall Beratungsstellen für Kriegerehrungen, in Preußen mit einer beachtlichen Organisation. Auch in Bayern wird eine Beratungsstelle, dort schlicht „für Kriegsgräber”, eingerichtet, in Sachsen bleibt man bei der Bezeichnung „Landesberatungsstelle für Kriegerehrung.“ Eine Zusammenstellung der Publikationen allein dieser Landesstelle ist eindrucksvoll. Am 9. November 1918 wird der Waffenstillstand geschlossen. Der Kaiser dankt ab und geht ins Exil. Das geschlagene deutsche Heer kehrt – ganz anders als nach 1945 – in relativ guter militärischer Ordnung in eine im wesentlichen unzerstörte Heimat zurück. Aber die Verluste sind ungeheuer: über zwei Millionen Tote und Vermisste allein auf deutscher Seite, zusammen mit den Verlusten der anderen Staaten über zehn Millionen Menschen! Viele Überlebende kehren mit schweren Schäden an Leib und Seele aus dem Trommelfeuer zurück, aus den Schützengräben, aus den vom Krieg verwüsteten Ländern. In der Heimat herrschen inzwischen große Not und tiefe Verzweiflung, die Hungerblockade der Alliierten wirkt fort und der Staatsbankrott, der 1923 in der Inflation gipfelt, wirft seine langen Schatten voraus. Gedenkbuch2009-S1-260.qxp:Gedenkbuch 05.10.2009 14:41 Uhr Seite 9 Gesichter des Krieges. Der Erste Weltkrieg fordert zehn Millionen Todesopfer. Wie viele Menschen jedoch mit körperlichen und seelischen Schäden nach dem Krieg weiterleben, ist in keiner Statistik erfasst. 9 Gedenkbuch2009-S1-260.qxp:Gedenkbuch 05.10.2009 14:41 Uhr Seite 10 Gedenkbuch2009-S1-260.qxp:Gedenkbuch 05.10.2009 14:41 Uhr Seite 11 Trotz der Schrecken des Krieges ist Menschlichkeit noch möglich – deutsche und britische Verwundete werden versorgt (Pozières, 1916). Der Stellungskrieg verwandelt große Teile Nordfrankreichs und Flanderns in Trümmerwüsten. Oktober 1918: Deutsche Kriegsgefangene in Abbéville – für sie ist der Krieg vorbei (Foto auf Seite 10). 11 Gedenkbuch2009-S1-260.qxp:Gedenkbuch 05.10.2009 14:41 Uhr Seite 12 St. Quentin/Nordfrankreich 1917: Noch während des Krieges wird der Soldatenfriedhof von der deutschen Armee angelegt. Kaiser Wilhelm II. kommt zur Einweihung. 12 Gedenkbuch2009-S1-260.qxp:Gedenkbuch 05.10.2009 14:41 Uhr Seite 13 Mit dem Frieden von Brest-Litowsk scheidet Russland im Frühjahr 1918 endgültig aus dem Krieg aus. Die deutschen Kriegsgefangenen werden entlassen. 13 Gedenkbuch2009-S1-260.qxp:Gedenkbuch 1919 14 05.10.2009 14:41 Uhr Seite 14 Das Jahr 1919 beginnt in Deutschland, wie das letzte Kriegsjahr geendet hat: blutig und politisch turbulent. Noch bevor die Verhandlungen über den kommenden Frieden oder eine neue demokratische Verfassung Deutschlands auch nur begonnen haben, herrschen Gewalt, Umsturzversuche, Revolten und Mord. Allein im März 1919 gibt es in Berlin 1 200 Tote. Man muss sich diesen Hintergrund bewusst machen, wenn man das erste Jahr der Republik, das auch zugleich zum Gründungsjahr des Volksbundes werden soll, beurteilen will: Am 15. Januar werden in Berlin Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht von radikalen Offizieren ermordet. Der Januar-Aufstand der revolutionären Spartakisten (Kommunisten, Spartakusbund) wird von der Reichswehr unter Führung des Sozialdemokraten Gustav Noske niedergeschlagen. Der bayerische Ministerpräsident Kurt Eisner (USPD) wird am 21. Februar in München nach seiner Niederlage bei den Wahlen auf dem Weg zum Landtag von dem Leutnant Graf von Arco-Valley erschossen. Eisner wollte seinen Rücktritt erklären. Nachfolger wird am 28. März der Sozialdemokrat Hoffmann. Er muss aber bereits nach drei Wochen mit seiner Regierung vor den Kommunisten nach Nürnberg, dann nach Bamberg fliehen. Diese rufen die Räterepublik in Bayern aus, München wird von einer Roten Armee beherrscht. Erst am 1. und 2. Mai wird es von Regierungstruppen besetzt. Dies sind nur einige Schlaglichter, die den Hintergrund erhellen, vor dem am 18. Januar die Friedenskonferenz von Versailles beginnt – ohne Deutschland! Am 19. Januar wählt das deutsche Volk seine erste Nationalversammlung, um der Republik eine demokratische Verfassung zu geben. Das Ergebnis ist verblüffend: Von 36,3 Millionen Wahlberechtigten beteiligen sich 83 Prozent an der Wahl. Und dies, obwohl die Kommunisten zum Boykott aufgerufen haben. Die Träger dieser Republik – Sozialdemokraten, Zentrum und Deutsche Demokraten – erhalten zusammen 76 Prozent. Dies ist eine klare Absage sowohl an eine Räterepublik als auch an die Wiedereinführung der Monarchie. Am 11. Februar wird Friedrich Ebert (SPD) Reichspräsident. Die Weimarer Verfassung wird am 13. August verabschiedet. Nun geht in Deutschland zum ersten Mal „alle Staatsgewalt vom Volke aus.“ Das Koalitionsrecht wird verfassungsrechtlich verbürgt. Schwarz-Rot-Gold wird Reichsflagge. Die Siegermächte erzwingen einen Friedensvertrag, der diesen Namen nicht verdient und der nicht geeignet ist, Hoffnung auf eine bessere Zukunft kei- men zu lassen. So treffend das Wort des britschen Premierministers Lloyd George ist, 1914 seien „die Völker in den Weltkrieg hineingeschlittert,“ so wenig weise ist der Vertrag von Versailles. Eine große Chance zu einer stabilen und gerechten Friedensordnung, wie sie dem amerikanischen Präsidenten Wilson vorschwebt und nach der sich wohl alle Völker sehnen, wird vertan. In Deutschland jedoch wirkt sich dieser Vertrag und die Art seines Zustandekommens verheerend aus: politisch, wirtschaftlich und moralisch. Da ist die von den Siegern erzwungene, historisch unhaltbare Anerkennung der Alleinschuld Deutschlands am Krieg (Artikel 231 Versailler Vertrag), durchgesetzt als Rechtfertigung für 1919 noch unbezifferbare Reparationen. In Deutschland wird er in erster Linie als moralische Diffamierung empfunden. Und die Gebietsabtretungen tragen erkennbar den Keim künftiger Konflikte (Lloyd George) in sich. Noch schlimmer ist, dass sich keine zukunftsweisende neue Friedensordnung abzeichnet, für die es gelohnt hätte, positiv einzutreten – trotz des Völkerbundes. Damit wird die spätere, unglückliche Entwicklung in Europa eingeleitet. Zugleich aber liegt hier eine der wichtigsten Ursachen für die innere Entwicklung in Deutschland, die den Feinden der Demokratie und der Republik immer mehr Trümpfe in die Hände spielt. Truppen der Siegermächte besetzen am 1. Dezember Saarbrücken, das Rheinland und die Pfalz. In Weimar gründet der Architekt Walter Gropius das Bauhaus, Richard Dehmel veröffentlicht ein Jahr vor seinem Tod sein Kriegstagebuch „Zwischen Volk und Menschheit”, Heinrich Mann „Macht und Menschen,“ Max Reinhardt eröffnet in Berlin das umgebaute Schauspielhaus. Gedenkbuch2009-S1-260.qxp:Gedenkbuch 05.10.2009 14:41 Uhr Seite 15 Der Kaiser hat abgedankt. Der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann ruft in Berlin am 9. November 1918 die Republik aus (das Bild unten zeigt ihn bei einer Kundgebung gegen den Versailler Vertrag). Die gesellschaftliche Ordnung des Kaiserreiches bricht zusammen. Der Vertrag von Versailles mit seinen harten Bedingungen gibt den rechten Kräften Auftrieb (unten: Unterzeichnung im Schloss von Versailles, rechts: die deutsche Delegation). 15 Gedenkbuch2009-S1-260.qxp:Gedenkbuch 05.10.2009 14:41 Uhr Seite 16 Am 10. September beschließen acht Männer in Berlin die Gründung einer deutschen Kriegsgräberfürsorge. Jeder zahlt 100 Mark ein. Unter ihnen sind der Architekt Heinrich Straumer, der bereits gegen Ende des Krieges in der Gräberfürsorge tätig gewesen ist, und Siegfried Emmo Eulen, der während des Krieges nach Polen und in die Türkei entsandt war, um dort Friedhöfe zu bauen und die Kriegsgräberfürsorge zu organisieren. Dem vorbereitenden Gründungs- 16 kongress am 26. November liegt als Arbeitsunterlage die Broschüre Deutsche Kriegsgräberfürsorge vor. Am 16. Dezember wird der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V. gegründet. Erster Präsident ist Oberst a. D. Joseph Koeth (bis 1923). Am 23. August hat Eulen den Entwurf für die Statuten einer Internationalen Kriegsgräberfürsorge verfasst. Als ihr Sitz ist Genf vorgesehen, um eine enge Zusammenarbeit mit dem Völkerbund zu ermöglichen. Diese Pläne werden nicht verwirklicht. Die Reichsregierung ist weder politisch noch wirtschaftlich in der Lage, sich um die Gräber der Gefallenen jenseits der Reichsgrenzen zu kümmern. Sie müssen zunächst ihrem Schicksal überlassen bleiben. Heimkehrende Soldaten, Hinterbliebene der Opfer und andere Bürger suchen nach Wegen, um diesen von der Mehrheit als unerträglich empfundenen Zustand zu ändern. In Sorge um die Kriegsgräber im Ausland haben sich in Deutschland bereits einige Organisationen gebildet, die sich um Grabpflege und Erteilung von Auskünften an Angehörige bemühen wollen. So gibt es in Bayern seit dem 14. September den Deutschen Kriegsgräber-Schutzbund, in Braunschweig den Verein zur Erforschung und Erhaltung Deutscher Kriegsgräber e. V., in Salzwedel die Deutsche Kriegsgräber-Interessenten-Vereinigung und in Hagen (Westfalen) den Bund Heimatdank. Der Volksbund, aus der Not geboren, nimmt seinen Anfang. Im heutigen Sprachgebrauch würden wir ihn eine Bürgerinitiative nennen. Gedenkbuch2009-S1-260.qxp:Gedenkbuch 05.10.2009 Am 10. Januar tritt der Vertrag von Versailles in Kraft. Am 1. Februar wird Danzig von den Engländern besetzt. Am 10. Februar stimmt Nord-Schleswig ab: Hadersleben, Apenrade, Tondern und die Insel Alsen fallen an Dänemark. Am 13. März versuchen Reichswehroffiziere, der Nationalist Wolfgang Kapp – ein ehemaliger politischer Beamter – und einige rechtsradikale Politiker eine „Gegenrevolution“ gegen die demokratische Republik: Kapp marschiert mit General von Lüttwitz an der Spitze eines sogenannten Freikorps, der Brigade Ehrhardt, in Berlin ein, um die Regierung mit Waffengewalt zu stürzen. Die Reichswehr versagt der Regierung ihre Hilfe. Der Chef der Heeresleitung, der loyale General Reinhardt, setzt sich vergeblich für den Truppeneinsatz gegen die Putschisten ein. Mit dem Ausspruch „Reichswehr schießt nicht auf Reichswehr“ verhindert der Chef des Truppenamtes, General von Seeckt, regierungstreues Verhalten der Truppe. Dennoch bricht der Putsch nach wenigen Tagen zusammen: Die Gewerkschaften retten die Republik durch einen Generalstreik, die Beamtenschaft hilft, indem sie jede Zusammenarbeit mit den Hochverrätern verweigert. Wenig später stürzt die Regierung Bauer. Der Reichskanzler und Reichswehrminister Noske müssen gehen; General Reinhardt nimmt – angewidert von der Weigerung der Reichswehr, der Regierung die schuldige Hilfe zu leisten – den Abschied. Sein Nachfolger als Chef der Heeresleitung wird der für diese Illoyalität Hauptverantwortliche: General von Seeckt. Im Ruhrgebiet entsteht eine Rote Armee von ca. 50 000 Mann. Sie besetzt vom 15. März bis 10. Mai Düsseldorf, Remscheid, Duisburg und Mühlheim. Der Aufstand wird von der Reichswehr niedergeschlagen. Durch die Volksabstimmung am 11. Juli in Ost- und Westpreußen verbleiben Allenstein und Marienwerder bei Deutschland. Am 16. Dezember setzen die Siegermächte die deutsche Gesamtschuld auf 269 Milliarden Goldmark fest: Deutschland soll bis Ende 1962 jährlich 6,4 Milliarden zahlen. Der Reichstag verabschiedet das erste Betriebsrätegesetz – eine Mitbestimmung der Arbeitnehmer ist noch nicht enthalten. Bei Demonstrationen dagegen gibt es in Berlin 42 Tote. Es erscheinen die ersten beiden Kriegsbücher namhafter Schriftsteller: in Frankreich „Paroles d’un combattant“ von Henri Barbusse, in Deutschland „In Stahlgewittern“ von Ernst Jünger. Von Thomas Mann erscheint das Buch „Herr und Hund,“ von Kurt Tucholsky „Träumereien an preußischen Kaminen“ – anti- 14:41 Uhr Seite 17 nationalistische Satiren. Karl Binding und Alfred Hoche veröffentlichen ihr Buch „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens.“ 1920 Die Unruhen halten an: Kapp-Putsch in Berlin. Bewaffnete patrouillieren in den Straßen. Truppen der Alliierten besetzen während des Aufstandes am 6. April den Maingau: Frankfurt (Bild unten), Homburg, Hanau und Darmstadt. 17 Gedenkbuch2009-S1-260.qxp:Gedenkbuch 05.10.2009 14:41 Uhr Seite 18 Der Deutsche Kriegsgräber-Schutzbund, München, gliedert sich am 5. März als bayerischer Landesverband in den Volksbund ein. Diesem Beispiel folgt u. a. der Braunschweiger Verein zur Erforschung und Erhaltung deutscher Kriegsgräber. Der Volksbund hält am 22. November in Berlin seinen ersten Vertretertag ab. Bereits zum Jahresende liegen zahlreiche Berichte über den Zustand von Friedhöfen vor, geliefert von ehemaligen Soldaten: 430 aus Frankreich, 74 aus Bel- gien, vier aus Italien, drei aus Polen, sechs aus Jugoslawien, fünf aus Rumänien. In den Berichten heißt es: „guter Zustand,“ „gepflegt,“ „verunkrautet,“ „verwahrlost,“ „bei den Kampfhandlungen der letzten Monate stark oder vollkommen zerstört,“ „von deutschen Kriegsgefangenen hergerichtet,“ „nach Abreise der Kriegsgefangenen verwahrlost.“ Bei einzelnen Friedhofsorten ist vermerkt: „Einwohner des Ortes sind noch nicht zurückgekehrt.“ Von „Grabschändungen“ ist allerdings – entgegen späteren Behauptungen – nicht die Rede. Der Volksbund in Hamburg wird von Frauen gegründet: Amanda Fera, Dr. Almuth Hartmann und Thekla Haerlin (von links). Viele Kriegsgräberstätten im ehemaligen Frontgebiet sind durch die Kämpfe völlig verwüstet. Die Bilder unten zeigen den gleichen Friedhof in den Jahren 1917 und 1918. 18 Gedenkbuch2009-S1-260.qxp:Gedenkbuch 05.10.2009 14:41 Uhr Seite 19 92 Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens unterzeichnen den Aufruf zur Gründung, darunter Persönlichkeiten, deren Namen noch heute ein Begriff sind: Dr. Konrad Adenauer, Dr. Richard Dehmel, Bischof D. Dr. Otto Dibelius, Dr. Michael von Faulhaber, Gerhart Hauptmann, Paul von Hindenburg, Prof. Dr. Max Liebermann, Franz von Mendelssohn, Max Pechstein, Dr. Walther Rathenau. 19 Gedenkbuch2009-S1-260.qxp:Gedenkbuch 1921 Matthias Erzberger (1875 – 1921) In den schraffierten Landesteilen gibt es bereits Verbände des Volksbundes. Rechts die erste Ausgabe der Mitgliederzeitschrift. 20 05.10.2009 14:41 Uhr Seite 20 In der Zeit vom 8. März bis 6. April besetzen die Siegermächte Düsseldorf, Duisburg, Ruhrort, Mühlheim und Oberhausen. Die Unruhen dauern an. In Thüringen und Sachsen tobt im März ein kommunistischer Aufruhr. Betroffen sind vor allem Merseburg, Eisleben, Sangerhausen, Halle und Leipzig. Auch in Hamburg herrscht Aufruhr. Am 27. April werden die Reparationen auf 132 Milliarden Goldmark ermäßigt. Am 29. Juli wird Adolf Hitler Vorsitzender der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP). Der ehemalige Reichsfinanzminister Matthias Erzberger (Zentrum) fällt am 26. August einem Attentat von Rechtsradikalen zum Opfer. Die Mörder gehören der berüchtigten „Organisation Consul“ an, die dem aus dem Kapp-Putsch bekannten Kapitän Ehrhardt untersteht. Nach der Tat erhalten sie falsche Pässe, die ihnen der nationalsozialistische Polizeipräsident Pöhner verschafft. Sie entkommen nach Ungarn und kehren kurz vor der Übernahme der Macht durch die Nationalsozialisten nach Deutschland zurück. Ende Februar erscheint die erste Ausgabe der Zeitschrift „Kriegsgräberfürsorge.“ Zu diesem Zeitpunkt können von 14 Friedhöfen Grabfotos beschafft werden. Grabschmuckwünsche werden im April für 33 Friedhöfe in Frankreich und Belgien, im September bereits für 90 Friedhöfe in sieben Ländern ausgeführt. Der Antrag des Volksbundes auf Einführung eines Nationaltrauertages, der vom Landesverband Bayern angeregt worden ist, wird vom Reichsrat zurückgestellt. Am 9. Mai bezeichnet das Reichsinnenministerium den Volksbund „als einzige von den beteiligten Reichsund Staatsbehörden für das Gebiet der Kriegsgräberfürsorge anerkannte Organisation.“ Aus der Bundestagung (Vertretertag) vom 28. und 29. Mai in Nürnberg: Der Volksbund hat neben Länderzentralen 300 Ortsgruppen und 30 000 Mitglieder. Der Reichsverkehrsminister lehnt die Eingabe des Bundesvorstandes auf Fahrpreisermäßigung für Angehörige, die die Gräber ihrer Gefallenen besuchen wollen, ab. Gedenkbuch2009-S1-260.qxp:Gedenkbuch 05.10.2009 Der Abschluss des deutsch-sowjetischen Vertrages von Rapallo am 17. April bedeutet einen großen politischen Erfolg von Reichsaußenminister Walther Rathenau. Wichtigster Passus: „Alle Ansprüche aus der Zeit des Krieges sind hiermit erledigt.“ Ende Mai leben in Deutschland eine Million Flüchtlinge aus dem Ausland und den ehemaligen Kolonien, aus Elsass-Lothringen, Westpreußen, Posen, Oberschlesien, aus Russland und dem Baltikum, Juden aus Osteuropa sowie im Ausland interniert gewesene Deutsche. Am 24. Juni wird Rathenau, einer der begabtesten Staatsmänner der Republik, von rechtsradikalen Mördern aus der „Organisation Consul“ umgebracht. Die Erregung ist ungeheuer. Im Reichstag kommt es zu Schlägereien. Reichskanzler Joseph Wirth (Zentrum) zeigt auf die Hintermänner im Parlament und spricht seinen berühmt gewordenen Satz: „Da steht der Feind! Und dieser Feind steht rechts!“ Der Reichspräsident erlässt eine Verordnung zum 14:41 Uhr Seite 21 Schutze der Republik. Einer der Mörder Rathenaus wird beim Versuch der Festnahme von der Polizei erschossen. Der andere begeht Selbstmord. Hitler lässt den beiden später ein Denkmal setzen! Im selben Jahr werden von rechtsradikaler Seite Attentate auf den ehemaligen Reichskanzler Philipp Scheidemann sowie auf den bekannten Publizisten Maximilian Harden verübt. Beide kommen mit dem Leben davon. Oswald Spengler veröffentlicht Band II seines Buches „Der Untergang des Abendlandes“ (Band I ist 1918 erschienen). Das Deutschlandlied wird durch Verordnung des Reichspräsidenten Nationalhymne. 1922 Dr. Walther Rathenau (1867 – 1921) Das Denkmal für sieben streikende Arbeiter, die von Putschisten während des Kapp-Putsches in Weimar erschossen wurden, wird am 1. Mai enthüllt. Der Entwurf stammt von Walter Gropius, dem Gründer des Bauhauses. Der zunehmende Währungsverfall begünstigt den „Schwarzmarkt“: hier z. B. Straßenhandel mit Hemdkragen. 21 Gedenkbuch2009-S1-260.qxp:Gedenkbuch Paul Löbe (1875 – 1967) Aus der Ansprache zum Volkstrauertag im Plenarsaal des Reichstags: „Noch sind die Wunden des Krieges nicht vernarbt. Eines aber liegt hinter uns, das Massensterben durch körperliche Gewalt. Eines kann uns niemand verwehren, die Ehrung derjenigen, die in der Schlacht gefällt wurden, die nach langer Qual der Tod erlöste ....“ 05.10.2009 14:41 Uhr Seite 22 Anfang Januar kostet den Volksbund eine Auskunft aus fremden Ländern ca. 16 Mark Porto, das Juli-Heft der Zeitschrift 12,15 Mark; ein französischer Franc ist zu diesem Zeitpunkt 111 Mark wert. Die Erfüllung von Angehörigenwünschen ist dadurch wesentlich erschwert. Das November- und Dezemberheft erscheinen nicht. Städte, Körperschaften, Vereinigungen, Firmen und auch Einzelpersonen werden um Übernahme der Betriebskosten für jeweils einen Tag gebeten (sog. Patronat), um die Weiterarbeit sicherzustellen. In dem Aufruf heißt es: „In dieser Notlage hat der Volksbund beschlossen, den Schutz der deutschen Kriegsgräber durch Werbung von Patronaten zu mindestens 10 000 Mark zu sichern. Die Inhaber der Patronate werden auf allen Schreiben des betreffenden Tages bekannt gegeben ....“ In ähnlicher Weise wird versucht, durch Patenschaften die Pflege einzelner Friedhöfe im Ausland zu gewährleisten. Die Frankfurter Opferwoche für die Erhaltung unserer fernen Gräber vom 5. bis 12. März erbringt 284 525,35 Reichsmark. Zum Volkstrauertag am 5. März im Berliner Reichstag hält Reichtagspräsident Paul Löbe die Gedenkrede. Zitat: „Leiden zu lindern, Wunden zu heilen, aber auch Tote zu ehren, Verlorene zu beklagen, bedeutet Abkehr vom Hass, bedeutet Hinkehr zur Liebe, und unsere Welt hat die Liebe Not: wo rauer Materialismus immer weitere Kreise zieht, wo Reichtum und Gewinn oft mehr gilt als Würde und Arbeit, da ist es zur Einkehr Zeit, und wo könnten wir die Selbstbesinnung eher finden als im Gedanken an gemeinsamen Verlust.“ Bis Ende April hat der Volksbund insgesamt 10 000 Anfragen, Auskünfte und Zwischenbescheide, davon 1 600 in sieben Fremdsprachen, ins Ausland versandt. 20 000 Anfragen nach Gräbern liegen vor. Die Bilanz auf der dritten Bundestagung (Vertretertag) in Leipzig am 29. und 30. April lautet: Der Volksbund hat 31 Verbände, 530 Ortsgruppen. Ein außerordentlicher Vertretertag wählt Pfarrer Fritz Siems zum Präsidenten. Siegfried Emmo Eulen führt als Generalsekretär mit Sitz im Vorstand die Geschäfte. Der Sonntag Invocavit (sechster Sonntag vor Ostern) wird als Volkstrauertag vorgeschlagen. Friedrich Ebert (1871 – 1925) Er hat im Krieg zwei Söhne verloren und gehört zu den besonderen Förderern des Volksbundes. 22 Gedenkbuch2009-S1-260.qxp:Gedenkbuch 05.10.2009 Am 10. Januar besetzen die Litauer das Memelland, einen Tag später die Franzosen das Ruhrgebiet. Die Engländer distanzieren sich von dem einseitigen Vorgehen Frankreichs und lassen durch ihre Kronjuristen die Völkerrechtswidrigkeit der Ruhrbesetzung feststellen. Die Reichsregierung (Wilhelm Cuno, parteilos) beginnt den aussichtslosen Ruhrkampf. Sie ruft zum passiven Widerstand auf. Am 12. August wird der Kampf als totaler Misserfolg abgebrochen. Die Spätfolgen des Krieges und dieser Ruhrkampf führen zum Staatsbankrott. Die Inflation in Deutschland erreicht ihren Höhepunkt: 1 Dollar = 4,2 Billionen Papiermark. Gustav Stresemann (Deutsche Volkspartei) wird Reichskanzler an der Spitze einer großen Koalition aus Zentrum, Sozialdemokraten, Deutscher Demokratischer Partei und Deutscher Volkspartei. Am 16. Oktober fällt die Entscheidung zur Errichtung der Deutschen Rentenbank. Die neue deutsche Währung, die Rentenmark, wird stabilisiert – ein verheißungsvoller Auftakt einer neuen wirtschaftlichen Entwicklung. Jedoch: Am 2. November verlassen die Sozialdemokraten die Regierung, Stresemann wird nach 100 Tagen Amtszeit gestürzt. Reichspräsident Ebert zu seinen Parteifreunden: „Was euch veranlasst, den Kanzler zu stürzen, ist in sechs Wochen vergessen, aber die Folgen eurer Dummheit werdet ihr noch in zehn Jahren spüren.“ Die KPD plant auf Weisung der sowjetischen Parteiführung eine Neuauflage der russischen Oktoberrevolution in Deutschland. In München putschen Ludendorff und Hitler. An der Feldherrnhalle kommt es zu einem Blutbad. Beide werden in Haft genommen. NSDAP und KPD werden verboten. Heinrich Mann veröffentlicht seine Betrachtung „Die Diktatur der Vernunft,“ Thomas Mann sowohl die „Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“ als auch seine Rede „Von deutscher Republik.“ 14:41 Uhr Seite 23 Das Märzheft der „Kriegsgräberfürsorge“ kostet 400 Mark, das Aprilheft 500 Mark pro Exemplar bei nur vier Seiten Umfang. Auf dem Vertretertag in Münster/Westfalen am 6. Mai wird berichtet: „Die guten Erfolge der Werbung von Patronaten für den Schutz der deutschen Kriegergräber trugen wesentlich dazu bei, die Weiterführung der Volksbundarbeit zu ermöglichen. Die Erträge der Reichssammlung werden im Einvernehmen mit dem preußischen Staatskommissar für die Regelung der Wohlfahrtspflege sowie mit den zuständigen Reichsbehörden verwendet. Sie fließen mindestens zur Hälfte der Gräberpflege, zur Hälfte den Bundeszwecken – Förderung der Kriegsgräberfürsorge und Unterstützung der Angehörigen von Gefallenen in allen Angelegenheiten der Kriegsgräberfürsorge – zu. Das Ergebnis der Sammlung beläuft sich bisher auf rund 30 Millionen Mark.“ 1923 Gustav Stresemann (1878 – 1929)) Die galoppierende Inflation betrifft alle Lebensbereiche. Lebensmittelmangel in der Wirtschaftskrise: Menschenmenge vor der Freibank des Berliner Schlachthofes. Die Arbeit des Volksbundes kommt fast völlig zum Erliegen. 23 Gedenkbuch2009-S1-260.qxp:Gedenkbuch 1924 Soldatenfriedhof Neuville-St. Vaast (44 833 Kriegstote) – endlose Reihen mit Holzkreuzen. Vertretertag in Hamburg; fünfter von rechts: Präsident Fritz Siems, links neben ihm Dr. Poelchau, Vorsitzender des Landesverbandes Hamburg. 24 05.10.2009 14:41 Uhr Seite 24 Am 22. Februar wird das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold gegründet. Es ist eine Selbstschutzorganisation „republikanischer Kriegsteilnehmer“ aus SPD, DDP und Zentrum. Im gleichen Monat beginnt der Hochverratsprozess gegen Hitler wegen seines Münchner Putschversuches. Er wird lediglich zu fünf Jahren Festungshaft verurteilt und bereits im gleichen Jahr amnestiert. Wieder bleibt ein blutiger Hochverrat ungesühnt. Der Reichstag nimmt im August den DawesPlan an. Dieser regelt die deutschen Reparationen: Bis 1927 sind jährlich zwischen 1,2 und 1,75 Milliarden Goldmark zu zahlen, ab 1928 jährlich – ohne zeitliche Begrenzung – 2,5 Milliarden Goldmark. Deutschland erhält einen 800-Millionen-Dollar-Kredit, um seine Währung zu stabilisieren, die Wirtschaft anzukurbeln und die Zahlungsfähigkeit des Reiches sicherzustellen. Thomas Mann veröffentlicht seinen großen Roman „Der Zauberberg.“ Die Zeitschrift „Kriegsgräberfürsorge,“ sieben Monate lang während des allgemeinen Niederganges nicht erschienen, kommt ab 1. April wieder heraus. Bei acht Seiten Umfang beträgt der Bezugspreis vierteljährlich 1,50 Mark. Am Ende dieses Monats gibt es 34 Verbände und 649 Ortsgruppen. Beim Vertretertag am 16. und 17. Mai in Hamburg hat der Volksbund 58 590 Mitglieder. Die Versammlung appelliert erneut an die Reichsregierung, den Sonntag Invocavit als Volkstrauertag festzulegen. Am 26. November beschließt der Vorstand, darauf hinzuwirken, dass der Volkstrauertag auch ohne gesetzliche Festlegung im ganzen Reich begangen wird. Im Laufe des Jahres wird bekannt, dass 700 Friedhöfe in Frankreich und Belgien aufgehoben worden sind. Große Sammelanlagen mit Massengräbern unbekannter Toter sind vor allem in Frankreich entstanden. Möglichkeiten zur Identifizierung der Gefallenen sind kaum noch vorhanden. Gedenkbuch2009-S1-260.qxp:Gedenkbuch 05.10.2009 Am 28. Februar stirbt Friedrich Ebert, der erste deutsche Reichspräsident. Zu seinem Nachfolger wird im April Paul von Hindenburg, der Generalfeldmarschall des Kaiserreiches, gewählt. Er ist 78 Jahre alt. Im Februar gründet Hitler die NSDAP wieder. Am 1. Dezember wird, nach intensiver Vorarbeit zwischen dem französischen Außenminister Aristide Briand und dem deutschen Außenminister Gustav Stresemann, der Vertrag von Locarno unterzeichnet. Er bedeutet eine Garantie der Grenzen im Westen und einen wichtigen Schritt auf eine europäische Friedensordnung hin. Die Räumung der besetzten Gebiete beginnt, ist jedoch erst 1930 vollständig abgeschlossen. Der IGFarben-Konzern wird gegründet. Werner Heisenberg entwickelt die Theorie der „quantenmechanischen Atomenergie.“ Emil Ludwig veröffentlicht die Biografien „Napoleon“ und „Wilhelm II.“ Aus dem Nachlass von Franz Kafka erscheint der Roman „Der Prozess.“ 14:41 Uhr Seite 25 Die vom Volksbund mehrfach angeregte gesetzliche Festlegung eines Volkstrauertages ist durch den Erlass des Reichsministers des Inneren vom 19. Januar nicht voll erreicht. Es wird nur empfohlen, für den Sonntag Invocavit im Verwaltungsweg sicherzustellen, dass Lustbarkeiten an diesem Tage unterbleiben, halbmast geflaggt wird und die Gedenkfeiern des Volksbundes unterstützt werden. Reichskanzler Hans Luther und Außenminister Stresemann werden Mitglieder des Volksbundes. Zum Vertretertag am 17./18. April in Karlsruhe hat der Volksbund 75 410 Mitglieder. 2 300 Briefe sind ins Ausland, 20 000 Briefe und Karten im Inland versandt worden. Am 6. Juli lehnt die Reichsbahn erneut einen Antrag auf Fahrpreisermäßigung für den Besuch von Kriegsgräbern ab. Am Totensonntag lässt der Volksbund auf 113 Soldatenfriedhöfen in Belgien und Frankreich Kränze niederlegen. Am Jahresende ist der Volksbund in 39 Verbände und 871 Ortsgruppen gegliedert. 1925 Großes Foto unten: Gedenkfeier zum Volkstrauertag 1925 im Plenarsaal des Reichstages. Sie arbeiten für die deutschfranzösische Versöhnung: Aristide Briand und Gustav Stresemann. 25 Gedenkbuch2009-S1-260.qxp:Gedenkbuch 1926 05.10.2009 14:41 Uhr Briand und Stresemann erhalten den Friedensnobelpreis. Am 24. April schließen Deutschland und die Sowjetunion in Berlin einen Freundschafts- und Neutralitätsvertrag. Nach Ende der Inflation und mit dem Einströmen amerikanischer Kredite bessern sich die wirtschaftlichen Verhältnisse. Am 8. September wird Deutschland in den Völkerbund aufgenommen und erhält einen ständigen Ratssitz. Die letzten britischen und belgischen Truppen haben die Stadt verlassen. Am Festempfang in Köln nehmen Oberbürgermeister Dr. Konrad Adenauer, Reichspräsident Paul von Hindenburg und Erzbischof Schulte teil. Am 10. Februar wählt der Volksbund einen Kunstbeirat. Am 29. März entscheidet ein Ausschuss für die Annahme des von Prof. E. Böhm, Berlin, entworfenen Plakates und Signets. Im Kopf des Mai-Heftes der Zeitschrift „Kriegsgräberfürsorge“ erscheinen zum ersten Male die fünf weißen Kreuze auf schwarzem Grund. Die Anregung zu diesem Zeichen gab das Vier-Grenadier-Grab in Grabowiec/Polen. 26 Seite 26 Mit Zustimmung der drei großen Religionsgemeinschaften wird der Volkstrauertag vom Sonntag Invocavit auf den Sonntag Reminiscere verlegt (fünfter Sonntag vor Ostern). Auf Initiative des späteren langjährigen Generalsekretärs Otto Margraf beginnt die Gemeindewerbung. Im April sind in der Provinz Hannover 1 200 Landgemeinden Mitglied und zahlen einen Beitrag von einer Reichsmark für jeden ihrer Gefallenen. Beim Vertretertag am 14./15. Mai in Düsseldorf hat der Volksbund 82 847 Mitglieder. Am 1. Juni wird unter der Leitung von Siegfried Emmo Eulen und des Gartenarchitekten Robert Tischler in München ein Baubüro des Volksbundes, die spätere Bauleitung, eingerichtet. Eulen verabredet am 26. Juni in Paris mit der Leitung der französischen Kriegsgräberfürsorge die Zusammenarbeit beider Verbände. Zum Jahresende hat der Volksbund 133 Friedhöfe in 14 Ländern instand gesetzt. Für 200 Friedhöfe bestehen Patenschaften. 3 014 Grabschmuck- und 1 278 Fotowünsche sind erfüllt worden. 21 049 Anfragen gehen ein. Gedenkbuch2009-S1-260.qxp:Gedenkbuch 05.10.2009 Die politische und wirtschaftliche Situation festigt sich weiter. Am 16. Juli wird eine Pflichtversicherung gegen Arbeitslosigkeit eingeführt. Im August wird der erste deutsch-französische Handelsvertrag nach dem Krieg abgeschlossen. Deutschland tritt im September dem Ständigen Internationalen Schiedsgerichtshof in Den Haag bei. Der Amerikaner Charles Lindbergh überquert als erster allein mit einem Flugzeug nonstop den Atlantik. 14:41 Uhr Seite 27 Am 11. April richtet der Volksbund eine Verbindungsstelle beim Zentralnachweisamt für Kriegerverluste und Kriegergräber in Berlin ein. Der Volksbund zählt im Mai 104 000 Mitglieder. Der Vertretertag findet vom 26. bis 28. Mai in München statt. Ab dem 1. Juni kann der Volksbund zum Preis von je einer Reichsmark Grabfotos von 215 Friedhöfen in Frankreich und 59 in Belgien liefern. Aus der Jahresbilanz 1927: 24 605 Anfragen sind eingegangen, 44 209 Auskünfte erteilt worden. Der Volksbund kann in Osteuropa bei der Instandsetzung von 310 Friedhöfen in 13 Ländern mitwirken. Er gibt dafür 276 600 Reichsmark aus. Unter anderem heißt es in den Berichten: „Der Kriegerfriedhof Hawrylki/Polen wird völlig neu ausgestaltet. Mit den Arbeiten hat man begonnen. Der Friedhof Holowo wurde auf unsere Kosten instand gesetzt und von Unkraut gesäubert. Unser Landesverband Bayern hat als Pate des Friedhofes Rosenau/Rumänien (Siebenbürgen) 10 000 Lei zur Errichtung eines Ehrenmals zur Verfügung gestellt.“ 1927 Reichskanzler a. D. Dr. Hans Luther (1879 – 1962) wird am 23. Mai zum Stellvertretenden Präsidenten des Volksbundes gewählt. Volksbundmitarbeiter informieren sich über den Zustand der deutschen Kriegsgräber im Ausland. Der deutsche Historiker Ludwig Quidde teilt sich den Friedensnobelpreis mit dem Franzosen Ferdinand Buisson. In Hohenstein/Ostpreußen wird das Ehrenmal zur Erinnerung an die Schlacht von Tannenberg (August 1914) eingeweiht. Reichspräsident von Hindenburg beschwört vor 70 000 Teilnehmern die Unschuld Deutschlands am Weltkrieg. Die Gräber des Friedhofes Bauske/ Lettland werden hergerichtet und mit einheitlichen Kreuzen versehen. 27 Gedenkbuch2009-S1-260.qxp:Gedenkbuch 1928 Dr. Otto Geßler (1875 – 1955) Der deutsche Bildhauer Ernst Barlach (links, mit dem französischen Bildhauer Maillol) schafft eindrucksvolle Mahnstätten im Stil des Expressionismus. Der „Schwebende Engel“ in Güstrow ist eine seiner Schöpfungen. Soldatenfriedhöfe in Frankreich. Typisch für den Baustil des Volksbundes sind schmale Eingänge wie beim Friedhof Hautecourt (7 885 Kriegstote). Hier sollte jegliches Gespräch abbrechen. Der Friedhof Maissemy (30 478 Kriegstote) vor dem Ausbau. 28 05.10.2009 14:41 Uhr Seite 28 Am 27. August unterzeichnet Stresemann für Deutschland den KelloggPakt (auch Briand-Kellog-Pakt), der eine Ächtung des Krieges als Mittel internationaler Politik zum Gegenstand hat. Der Kölner Oberbürgermeister Dr. Konrad Adenauer macht den ersten Spatenstich zur Autobahn Köln-Bonn, der ersten in Deutschland. Der Transatlantikflug des deutschen Flugzeuges „Bremen“ erregt Begeisterung im In- und Ausland, nachdem im Vorjahr der Amerikaner Charles Lindbergh den Atlantik in West-Ost-Richtung überquert hatte. Im November fliegt Dr. Hugo Eckener mit dem Luftschiff „Graf Zeppelin“ nach Amerika. Im Winter 1928/29 tauchen Anzeichen einer neuen Wirtschaftskrise auf. Die Jahre der wirtschaftlichen Erholung sind zu Ende. Zwei Millionen Menschen sind arbeitslos. Der Bildhauer Ernst Barlach gestaltet das Güstrower und das Magdeburger Ehrenmal. Der zehnte Vertretertag am 25. und 26. Juni in Magdeburg spricht für 112 429 Mitglieder. Reichspräsident Paul von Hindenburg sendet ein Grußwort: „Mit meiner dankbaren Anerkennung für die geleistete segensreiche Arbeit auf den deutschen Kriegerfriedhöfen im In- und Auslande verbinde ich meine besten Wünsche für erfolgreiche Tätigkeit des Volksbundes.“ Präsident Fritz Siems tritt zurück und wird zum Ehrenmitglied ernannt. Ein außerordentlicher Vertretertag wählt am 7. Dezember Reichswehrminster a. D. Dr. Otto Geßler zum Präsidenten. Seit dem 26. Juni hat Reichskanzler a. D. Dr. Luther als Stellvertretender Präsident die Geschäfte geführt. Der Volksbund erhält die Genehmigung von Reichsbahn und Reichspost zur Plakatwerbung. Über 500 Lichtbildvorträge werden veranstaltet. Das Bauprogramm des Volksbundes umfaßt 42 Friedhöfe mit 280 000 Gefallenen. Der Schwerpunkt der Arbeit liegt in Frankreich. Für den Friedhofsbau gibt er 258 823 Reichsmark aus. Gedenkbuch2009-S1-260.qxp:Gedenkbuch 05.10.2009 14:41 Uhr Seite 29 An die Stelle des Dawes-Planes tritt der Young-Plan. Dieser bedeutet eine weitere Herabsetzung der deutschen Reparationsverpflichtungen und sieht deutsche Zahlungen bis zum Jahre 1988 vor. Deutschland erreicht dabei die Zusage der vorzeitigen Räumung des gesamten Rheinlandes. Wieder gibt es in Berlin blutige Zusammenstöße zwischen Polizei und Demonstranten. Briand, unterstützt von Stresemann, legt am 4. September dem Völkerbund einen Plan für ein Vereinigtes Europa vor. Am 3. Oktober stirbt Stresemann. Am Ende des Jahres beträgt das Haushaltsdefizit des Reiches 1,7 Milliarden Reichsmark. Erich Maria Remarque veröffentlicht „Im Westen nichts Neues.“ 1929 Thomas Mann (1875 – 1955) erhält den Nobelpreis für Literatur. Der Schwarze Freitag – der 25. Oktober 1929 – an der Börse von New York leitet die Weltwirtschaftskrise ein, von der Deutschland besonders schwer betroffen wird. 29 Gedenkbuch2009-S1-260.qxp:Gedenkbuch 05.10.2009 14:41 Uhr Seite 30 Bei der Volkstrauertagsfeier in Berlin stehen vor dem Präsidentenplatz im Reichstag die beiden Kränze der Reichsregierung und des Reichstages mit den Inschriften: „Dem lebenden Geist unserer Toten“ und „Den nie vergessenen Söhnen des Volkes.“ Im Juni gibt der Volksbund die Fertigstellung des Friedhofes Connantre (Frankreich) bekannt. Am 5. Juli wird in Polen ein Mitglied des Bundesvorstandes, Stadtbaurat Arendt aus Gelsenkirchen, bei Checiny wegen unerlaubten Fotogra- Reichspräsident Paul von Hindenburg (1847 – 1934) fördert die Arbeit des Volksbundes ganz besonders. Soldatenfriedhof Connantre in Frankreich (8 931 Kriegstote; rechts oben); Bundesvertretertag am 20. Oktober in Berlin. 30 fierens verhaftet und unter dem Verdacht der Spionage ins Gefängnis gebracht. Nach Intervention der deutschen Gesandtschaft wird er gegen eine Kaution freigelassen. Der Volksbund hat bei seinem zehnjährigen Bestehen 133 033 Mitglieder. Zum Vertretertag vom 20. bis 23. Oktober in Berlin wird eine Ausstellung in der Neuen Wache gezeigt. Die Ausgaben für den Friedhofsbau im Ausland betragen in diesem Jahr 461 348 Reichsmark. Gedenkbuch2009-S1-260.qxp:Gedenkbuch 05.10.2009 Mit Reichskanzler Hermann Müller (SPD) stürzt am 27. März die letzte vom Parlament gestützte Regierung der Weimarer Republik, ohne dass dazu ein auch nur halbwegs plausibler Grund vorgelegen hätte. Am 30. März wird Heinrich Brüning (Zentrum) Reichskanzler. Die Weltwirtschaftskrise wirkt sich verheerend auf Deutschland aus. Der Reichspräsident erlässt die erste Notverordnung zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen. Brüning versucht, „den Tiger der Weltwirtschaftskrise zu reiten,“ in der Absicht, dann eine Totalrevision des Versailler Vertrages zu erreichen. Es kommt erst zur Stundung, dann – 1932 – zur Streichung der deutschen Reparationsschulden (Konferenz von Lausanne). Dieser Erfolg, den Brüning als Reichskanzler nicht mehr für sich verbuchen kann, wird zunächst dem Kabinett Papen zugerechnet; dies macht die spätere Legende möglich, es sei Hitler gewesen, der mit den Reparationen Schluss gemacht habe. Die Zahl der Arbeitslosen steigt auf 4,4 Millionen. Bei den Reichstagswahlen erzielt die NSDAP über 18 Prozent der Stimmen (1928: 2,6 Prozent) und 107 (statt 12) Sitze, die Deutschnationalen verfügen über 41 Sitze im neuen Reichstag. Die Kommunisten gewinnen 77 statt 54 Mandate. Die Deutsche Demokratische Partei nennt sich nun Staatspartei. Die letzten Truppen der Siegermächte verlassen das Rheinland. Hitler schwört im Reichswehrprozess vor dem Reichsgericht in Leipzig, die Weimarer Verfassung einzuhalten. 14:41 Uhr Seite 31 Im Volksbund wird darüber diskutiert, wie die Gräberflächen gestaltet werden sollen. Vom aufgehügelten Einzelgrab, das den Vorstellungen der Angehörigen entspricht, soll zugunsten einer einheitlichen Gräberfläche abgegangen werden. Es kommt zu einem Konflikt mit der Preußischen Staatsregierung: Der Präsident des Volksbundes, Reichsminister a. D. Dr. Otto Geßler, verwahrt sich energisch gegen eine Verlautbarung der Amtlichen Preußischen Pressestelle, nach der der Volkstrauertag „keineswegs staatlich anerkannter oder überhaupt öffentlicher Gedenktag“ sei. Der Volksbund gibt 567 963 Reichsmark für den Friedhofsbau in allen Ländern aus. 1930 Am 4. Mai wird in Tarent/Italien das vom Volksbund errichtete Grabmal für die Opfer des dort gesunkenen U-Bootes UC 12 eingeweiht. Die letzten Besatzungstruppen verlassen das Rheinland. Am 1. Juli marschiert die hessische Schutzpolizei in Mainz ein. 31 Gedenkbuch2009-S1-260.qxp:Gedenkbuch 1931 Besichtigungsreise von Mitgliedern des Bundesvorstandes nach Frankreich (von rechts Dr. Siegfried Emmo Eulen, Justizrat Manfred Zimmermann und Ehefrau). Das wirtschaftliche Elend wächst. Millionen Menschen haben keine Arbeit. Nach jeder von den Arbeitsämtern angebotenen Arbeit drängen sich Hunderte von Arbeitslosen. 32 05.10.2009 14:41 Uhr Seite 32 Die Arbeitslosenzahl steigt von 4,77 im Januar auf 5,66 Millionen im Dezember. Am 14. und 15. Juli werden aufgrund der Wirtschafts- und Finanzkrise Banken und Börsen geschlossen. Die Rechtsparteien verschärfen die innenpolitischen Gegensätze. NSDAP (Hitler), DNVP (Deutsch-Nationale Volkspartei; Hugenberg), Stahlhelm (Seldte), der Alldeutsche Verband und andere sogenannte vaterländische Verbände gründen am 11. Oktober 1931 die Harzburger Front gegen die Regierung Brüning. Hjalmar Schacht, der zurückgetretene Reichsbankpräsident (später Hitlers Wirtschaftsminister), General von Seeckt, ehemaliger Reichswehrchef, und viele Generäle sind dabei. Das „Reichsbanner Schwarz-RotGold“ versucht dagegenzuhalten: Am 16. Dezember wird in Berlin die Eiserne Front aus SPD, Reichsbanner, Freien Gewerkschaften und Arbeitersportorganisationen gegründet; Zentrum, Deutsche Staatspartei und die christlichen Gewerkschaften beteiligen sich nicht. Dadurch bleibt die Eiserne Front schwach und gerät zudem in Verdacht, nicht ein republikanisch-demokratischer, sondern ein kommunistischer Verband zu sein. Es erscheinen Kurt Tucholskys „Schloss Gripsholm,“ Carl Zuckmayers Drama „Der Hauptmann von Köpenick,“ Bert Brechts „Dreigroschenoper“ als Film. Albert Einstein unterstützt die Internationale der Kriegsdienstverweigerer. Der Architekt Heinrich Tessenow gestaltet Schinkels Neue Wache zum GefallenenEhrenmal um. Am 12. und 13. Juni findet der Vertretertag in Königsberg statt. Unmittelbar anschließend beteiligen sich führende Mitarbeiter des Volksbundes an Werbeveranstaltungen in verschiedenen ostpreußischen Städten. Im August arbeiten zum ersten Mal deutsche Jugendliche, Schüler aus Halberstadt, an deutschen Kriegsgräbern in Sète in Frankreich. Die wirtschaftliche Krise wirkt sich auf die Arbeit des Volksbundes aus. Er muss im August bekannt geben: „Da durch die Notverordnung des Reichspräsidenten der Ankauf von Devisen beschränkt ist, sind wir z. Z. nicht in der Lage, die bei uns vorliegenden Sonderaufträge von Angehörigen (Kranzniederlegungen, Bepflanzung, Kreuze, Lichtbilder) auszuführen.“ Im November wird in einigen Ländern des Reiches, darunter in allen preußischen Provinzen, die erste von den Behörden genehmigte Haus- und Straßensammlung veranstaltet. Gedenkbuch2009-S1-260.qxp:Gedenkbuch 05.10.2009 Die Weltwirtschaftskrise überschreitet ihren Höhepunkt, jedoch dauern die politische und die wirtschaftliche Spannung in Deutschland an. Es gibt über sechs Millionen Arbeitslose. Am 10. April wird der 85-jährige Hindenburg (53 Prozent der Stimmen) gegen Hitler (37 Prozent) und Thälmann (KPD, 10 Prozent) im zweiten Wahlgang zum Reichspräsidenten wiedergewählt. Reichskanzler Brüning wird von rechtsgerichteten Politikern mit Hilfe des Reichspräsidenten gestürzt, von Papen und nach ihm General von Schleicher bilden kurzlebige Kabinette. Im Juli und November dieses unruhigen Jahres finden jeweils nach Auflösung des Reichstages Neuwahlen statt. Die Feinde der demokratischen Republik von rechts und links – Nationalsozialisten, Deutschnationale und Kommunisten – haben jetzt im Reichstag zusammen die Mehrheit. Da sie gegen jede Reichsregierung zusammengehen, ist die Demokratie am Ende. Prof. Werner Heisenberg erhält den Nobelpreis für Physik. 14:42 Uhr Seite 33 1932 Im Februar legt Dr. Geßler sein Amt als Präsident des Volksbundes nieder. Die Zahl der Einzelmitglieder geht von 138 000 auf 131 000 zurück. Beim Vertretertag am 28. und 29. Mai in Berlin zählt der Volksbund 5 165 Körperschaften, 442 Städte und 11 658 Gemeinden als korporative Mitglieder. Landesdirektor a. D. Joachim von Winterfeldt-Menkin wird zum neuen Präsidenten gewählt. Der Plan oben links zeigt die Kriegsgräberstätte Nazareth (261 Kriegstote, Stand 2008: 416 Kriegstote). Ganz links sehen Sie ein Modell der Kriegsgräberstätte Bitola (2 000 Kriegstote, Stand 2008: 3 406 Kriegstote). Rechts daneben ist die Zeichnung der Kriegsgräberstätte Langemark (44 296 Kriegstote) abgebildet. Am 10. Juli weiht der Volksbund in Belgien Langemark, den Patenfriedhof der Deutschen Studentenschaft, und den Friedhof De Ruyter ein. Erläuterung zur Aufstellung Nationalversammlung: Wahl zum 1. Reichstag: Wahl zum 2. Reichstag Wahl zum 3. Reichstag: Wahl zum 4. Reichstag: Wahl zum 5. Reichstag: Wahl zum 6. Reichstag: Wahl zum 7. Reichstag: Wahl zum 8. Reichstag: 19.1.1919 6.6.1920 4.5.1924 7.12.1924 20.5.1928 14.9.1930 31.7.1932 6.11.1932 5.3.1933 NSDAP: Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei DNVP: Deutschnationale Volkspartei DVP: Deutsche Volkspartei DDP: Deutsche Demokratische Partei SPD: Sozialdemokratische Partei Deutschlands KPD: Kommunistische Partei Deutschlands 33 Gedenkbuch2009-S1-260.qxp:Gedenkbuch 34 05.10.2009 14:42 Uhr Seite 34 Gedenkbuch2009-S1-260.qxp:Gedenkbuch 05.10.2009 14:42 Uhr Seite 35 35 Gedenkbuch2009-S1-260.qxp:Gedenkbuch 1933 Die Repressionen gegen innenpolitische Gegner der NSDAP werden von der Bevölkerung widerstandslos hingenommen. Die ersten Konzentrationslager werden eingerichtet, willkürliche Verhaftungen vorgenommen. SA- und SS-Leute werden Hilfspolizisten. Angst und Terror sind jetzt Mittel der Politik. Goebbels ruft zum Boykott gegen jüdische Geschäftsleute auf. Bücher vor allem jüdischer Schriftsteller gelten jetzt als „undeutsch“ und werden verbrannt. 36 05.10.2009 14:42 Uhr Seite 36 Der Reichspräsident ernennt Hitler am 30. Januar zum Reichskanzler. Der Historiker Michael Salewski beurteilt diesen Vorgang rückschauend so: „Nicht so sehr der Umstand, dass die Nationalsozialisten tatsächlich an die Macht gekommen waren, wirkte im Nachhinein niederschmetternd, sondern, dass es ihnen so verdammt leicht gemacht wurde, fast von allen gesellschaftlichen Gruppen, den wichtigeren wie Reichswehr, Kirchen und Gewerkschaften ohnehin. Sie versagten kläglich, obwohl das Vaterland in Gefahr war – das hatte man an den Litfasssäulen lesen können: Hitler, das ist der Krieg.“ Die Brandstiftung im Reichstag am 27. Februar liefert Hitler den Vorwand, mit Hilfe der sogenannten „Reichstagsbrandverordnung“ die Demokratie abzuschaffen und die linke Opposition zu verfolgen und auszuschalten. Reichspropagandaminister Joseph Goebbels entfaltet eine ungehemmte Agitation. Der „Tag von Potsdam“ ist eine geschickt inszenierte Reverenz an das alte Preußen, den kaiserlichen General- feldmarschall und Reichspräsidenten der Republik und wird zu einem großen propagandistischen Erfolg für die neuen Machthaber. Und trotz alldem hat die NSDAP bei den Reichstagswahlen am 5. März 1933 nur 43,9 Prozent erhalten. Insofern ist es richtig: Hitler hat in einer freien Wahl vom Volk nie die absolute Mehrheit erhalten. Aber diese Betrachtung täuscht über die Realitäten hinweg. Zusammen mit den Deutschnationalen hat eine Regierung – erstmals wieder seit 1930 – im Parlament eine Mehrheit, jetzt 340 von 647 der Reichstagssitze, allerdings nicht die für eine Verfassungsänderung erforderliche Zweidrittelmehrheit. Der Reichstag nimmt mit 441 von 535 Stimmen das Ermächtigungsgesetz an. Die Kommunisten werden mit Gewalt an der Sitzungsteilnahme gehindert. Nur die Sozialdemokraten stimmen dagegen. Für die SPD hält Otto Wels die letzte freie Oppositionsrede im Reichstag. Er verweist darauf, dass angesichts der Mehrheitsverhältnisse dieses Gesetz überflüssig sei. Gedenkbuch2009-S1-260.qxp:Gedenkbuch 05.10.2009 14:42 Uhr Seite 37 Die Weimarer Demokratie ist damit formal am Ende. Und es geht Schlag auf Schlag weiter: Verbot der KPD, der SPD, aller Parteien außer der NSDAP, Verbot der Gewerkschaften, Gleichschaltung aller Organisationen und Verbot jeglicher Neugründungen, es sei denn nationalsozialistischer. Die von der NSDAP inszenierte öffentliche Verbrennung „undeutscher“ Schriften am 10. Mai auf dem Berliner Opernplatz symbolisiert das Ende des freien Geisteslebens in Deutschland. Unter den verbrannten Büchern befinden sich Werke von Karl Marx, Heinrich Mann, Erich Kästner, Sigmund Freud, Emil Ludwig, Theodor Wolff, Erich Maria Remarque, Alfred Kerr, Kurt Tucholsky und Carl v. Ossietzky. Die Emigration, vor allem der Intelligenz, aus Deutschland beginnt. Deutschland tritt aus dem Völkerbund aus – der erste Schritt ins außenpolitische Abseits. Symbol für das Ende der parlamentarischen Demokratie: Am 27. Februar brennt der Reichstag. 37 Gedenkbuch2009-S1-260.qxp:Gedenkbuch Schattenseiten ... 38 05.10.2009 14:42 Uhr Seite 38 Am Volkstrauertag 1929, zehn Jahre nach der Gründung des Volksbundes, sagte dessen Präsident Dr. Otto Geßler: „Wir können unsere Vergangenheit nicht leugnen, wir müssen uns anständig und ehrlich mit ihr auseinandersetzen.“ In der Tat, Geßler hatte Anlass, so zu sprechen, auch mit Blick auf den Volksbund. Zerrissen wie das deutsche Volk selbst, war der Volksbund ein Kind der deutschen Geschichte und als solches eher im nationalen, später im nationalistischen Spektrum der politischen Überzeugungen angesiedelt. Viele seiner Repräsentanten waren gegenüber der Weimarer Republik kritisch, manche feindlich eingestellt. Zwar gibt es eine Menge von Beispielen, die von der demokratischen Gesinnung und Integrität von Funktionsträgern des Volksbundes zeugen. Und der Beginn seines Wirkens gab auch keinen Anlass, an der Treue des Gesamtverbandes zur Weimarer Republik und zu ihrer Verfassung zu zweifeln. Aber die nationalistische Schlagseite nahm mit der zeitlichen Entfernung vom Tage seiner Gründung stetig zu. Von manchem seiner Gründerväter war er wohl auch mit einer solchen Absicht gegründet worden. Zwar zielte der erste Aufruf des Volksbundes auf „Kriegsgräberfürsorge von Volk zu Volk“ und auf gemeinsame Totenehrung jenseits allen Volkshasses; zwar verlangte Reichstagspräsident Paul Löbe in seiner Rede zum Volkstrauertag im Jahre 1922: „Abkehr vom Hass, ... Hinwendung zur Liebe.“ Und richtig ist auch, dass der Volksbund sich im selben Jahr mit der Bitte an die Weltwirtschaftskonferenz in Genua wandte, der Millionen Toten des Weltkrieges zu gedenken und eine feierliche Proklamation für die dauernde Erhaltung der Ruhestätten zu erlassen. Aber gleichzeitig gab es eben auch dies: „Den Hass, den augenblicklich die deutsche Seele packt, ... den Hass gegen den Erbfeind, ... den Hass sehe ich anders. Das ist ein heiliger Hass, und wir verstehen, was das Alte Testament meinte: Du sollst deinen Freund lieben und deinen Feind hassen, Auge um Auge, Zahn um Zahn. Und ich weiß, auch ein Jesus würde sich mit blitzendem Auge auf unsere Seite stellen, auf die Seite des heiligen Hasses.“ Das sagte der evangelische Pfarrer und Präsident des Volksbundes, Siems, der so im Jahre 1923 redete und in der Zeitschrift des Volksbundes schrieb. Die Empörung über Ereignisse im Zuge der Besetzung des Rheinlandes war berechtigt. Aber solch ein alttestamentarischer Hass als Aufruf des obersten Repräsentanten des Volksbundes und in dessen Namen: Das war offener Bruch des Grundsatzes der „Totenehrung jenseits allen Völkerhasses“ und der „Hinwendung zur Liebe.“ Dabei handelt es sich nicht um eine einmalige Entgleisung und Siems stand auch nicht allein. Siegfried Emmo Eulen, den viele als den eigentlichen Gründer des Volksbundes ansehen, war extremer Nationalist von Anbeginn. Auch er machte aus seinem Revanchismus schon lange vor 1933 keinen Hehl. Das Bemerkenswerteste daran ist: Niemand hat diese (und andere) Männer gezwungen, so zu reden, wie sie es taten. Nichts und niemand war „gleichgeschaltet.“ Dass es auch ganz anders ging, beweist die Rede von Justizrat Dr. Kahl zum Volkstrauertag 1930 – ein Dokument, das der Volksbund auch heute noch mit Stolz zitieren kann: „Und nun die Frage: Werden es die letzten Kriegstoten gewesen sein? ... Denn die Verantwortlichkeit für Tote und Lebende legt sich mit Zentnergewicht auf das nationale Gewissen!“ Notwendig sei, dass „die Menschheit aus den furchtbaren Erfahrungen dieses Krieges die Erkenntnis ziehen wird, dass künftig andere Mittel und Wege gesucht und gefunden werden müssen, um internationale Streitigkeiten zu schlichten.“ Kahl weist darauf hin, dass man sich schon lange um die „Humanisierung des Krieges,“ um Verhinderung von Kriegen bemüht habe (zum Beispiel 1907 bei der zweiten großen Haager Friedenskonferenz). Als Hauptredner des Volkstrauertages 1930 zieht er den Schluss: „Worum es geht, ist Höheres und mehr. Es geht um die Frage der Beseitigung, der Abschaffung des Krieges.“ Und auch das Wort des späteren Bischofs Otto Dibelius, der auch zu den Gründervätern des Volksbundes gehört, geht in dieselbe Richtung: „Krieg soll nicht sein. Gott will nicht, dass Krieg sei! Uns ist das Weihnachtsevangelium ins Herz gefallen: Frieden auf Erden. Das ist ja doch Gottes Botschaft an die Menschheit. Das Wort ist doch ernst.“ Geßler war also mit seiner Sorge um die Lehren aus der eigenen Vergangenheit nicht allein. Und er stand später für seine Grundüberzeugung im KZ ein. Aber diejenigen, die dachten wie er, verloren gegen Ende der Weimarer Republik zunehmend an Einfluss, und auch aus heutiger Sicht erscheint es mehr als zweifelhaft, ob sein Rücktritt als Präsident des Volksbundes wirklich aus „gesundheitlichen Gründen“ erfolgte und weil er nicht nach Berlin übersiedeln und deshalb seine ehrenamtliche Funktion „nicht nützlich“ ausfüllen könne. So fehlt denn auch in der Bekanntmachung seines Gedenkbuch2009-S1-260.qxp:Gedenkbuch 05.10.2009 Rücktritts durch den Vorstand des Volksbundes jedes Wort des Dankes. Dieser Präsident passte eben nicht in die Linie, man war offensichtlich froh, ihn los zu sein – und zeigte das auch! Reaktionen auf diese Entwicklung blieben nicht aus. So sagte beispielsweise der preußische Ministerpräsident Otto Braun am 16. März 1930 auf einer „Feier zur Erinnerung an die erfolgreiche Niederschlagung des Kapp-Putsches,“ dass man „bei den Veranstaltungen des privaten Vereins für Kriegsgräberfürsorge sich nicht des Verdachts erwehren könne, dass hier das Gedächtnis der Toten missbraucht werde, um einen gewissen, verderblichen Revanchegedanken zu wecken und wachzuhalten.“ Für Eulen und andere Führungspersönlichkeiten war der 30. Januar 1933 der Tag der Erfüllung. Und so waren die „ehrerbietigen Grüße,“ die die „versammelten deutschen Männer und Frauen (des Volksbundes) ... dem Führer des deutschen Volkes, dem Kämpfer für Deutschlands Ehre und Macht“ entboten, nichts Besonderes mehr. Das wurde formuliert auf dem Vertretertag am 2. Dezember 1933. Am 31. Dezember 1933 befand Eulen, nunmehr „Bundesführer,“ dass die „Adventszeit 1933 ... für Deutschland voll Jubel und Hoffnung ist, wie noch nie eine Zeit deutscher Jahreswende ....“ Die Gründung des Volksbundes war also von Anfang an mit einem Zwiespalt behaftet: Da waren die, die den Gründungsaufruf ernst nahmen, die den Völkerhass abbauen, mit Hilfe der Errichtung würdiger Grab- und Gedenkstätten auch Zeichen für Versöhnung und Frieden setzten wollten, und die als Demokraten den Volksbund unterstützten, wo immer sie konnten: Reichspräsident Ebert, Reichstagspräsident Löbe, die Reichskanzler Stresemann und Luther, die Reichsminister Rathenau, Erzberger und Geßler, Oberbürgermeister Adenauer und andere. Und auch die Gründungsversammlung beschloss am 16. Dezember 1919 nicht den von Eulen vorgeschlagenen autoritären Satzungstext, sondern eine Fassung, die zwar einige zeitbedingte Merkwürdigkeiten aufweist, die aber durchaus demokratisch war. Da gab es einen jährlich neu zu wählenden „Vorstand“ und einen vom „Vertretertag“ gewählten dreißigköpfigen „Verwaltungsrat.“ Im Vertretertag waren die Delegierten „mit der Zahl der von ihnen zu vertretenden Mitglieder stimmberechtigt.“ Da gab es klare Aufgabenzuweisungen – ein Dokument der Nüchternheit, ohne Großmannssucht und Versuche einer internationalen Bevor- 14:42 Uhr Seite 39 mundung. Auf der anderen Seite standen jene, die schon bei der Gründung erkennbar anderes wollten, auch wenn sie das mit letzter Deutlichkeit erst bekannten, als sie keinen demokratisch orientierten Widerspruch mehr fürchten mussten. So wies Eulen am 1. Dezember 1933 darauf hin, dass immer schon „nach dem Führergrundsatz“ gearbeitet worden sei. Die Verwirklichung der Bundesziele hätte selbstverständlich nur von deutsch-fühlenden Männern und Frauen geleistet werden können. Die Führer im Volksbund hätten sich siegreich in 15 Jahren durchgesetzt, auf dass das von allen miterkämpfte und ersehnte Dritte Reich erbaut werde, zu dem die Gefallenen draußen die Fundamente gelegt hätten. Damit schloss sich in Eulens Augen der Kreis: Die Toten des Ersten Weltkrieges wurden zu Schöpfern der Grundlagen des Dritten Reiches erklärt. Was Eulen 1919 nicht durchsetzen konnte, wurde 14 Jahre später erreicht – vorbereitet durch die Gespräche mit Reichsminister Frick, Staatssekretär Lammers (am 24. März in der Reichskanzlei) und endlich mit Hitler selbst in dessen Wohnung. Kein Wunder, dass der sächsische Gauleiter Martin Mutschmann den Delegierten empfahl, die neue Satzung in Bausch und Bogen anzunehmen, was sie auch taten. Damit hat sich der Volksbund am 1./2. Dezember 1933 zwar nicht formal, aber faktisch selbst gleichgeschaltet. Die Weimarer Republik war am 30. Januar 1933 am Ende. Wie hätte der Volksbund noch zehn Monate später „heil“ sein können? Eulens Selbstbekenntnisse erwiesen sich nicht etwa als nachträgliche Schönfärberei, um sich bei den neuen Machthabern um der relativen Unversehrtheit des Volksbundes willen anzubiedern. Das wäre immerhin ein zwar falsches, aber diskutables Motiv gewesen. Es ist auch nicht der peinliche Kniefall vor den neuen Machthabern, der nach dem März 1933 zum Landesüblichen gehörte. Es ist undemokratische, nationalistische Geisteshaltung, die offen zu Tage trat. 39 Gedenkbuch2009-S1-260.qxp:Gedenkbuch 05.10.2009 14:42 Uhr Seite 40 Volkstrauertag 1933: Reichskanzler Adolf Hitler neben Reichspräsident Paul von Hindenburg. Der Volksbund arbeitet auf den Soldatenfriedhöfen Connantre und Rancourt (8 931 und 11 422 Kriegstote). In dieser Zeit entstehen Eingänge und Gedenkkapellen, Bäume werden gepflanzt und Einfriedungen geschaffen. In der Mitgliederzeitschrift werden die Fortschritte der Arbeit dokumentiert: Soldatenfriedhöfe Hohrod, Rancourt und Romagne-sous-Montfaucon (Frankreich), Nazareth (Palästina; Modell); unten Entwurf für einen Gedenkstein. 40 Gedenkbuch2009-S1-260.qxp:Gedenkbuch 05.10.2009 14:42 Uhr Seite 41 Gedenkbuch2009-S1-260.qxp:Gedenkbuch 1934 05.10.2009 14:42 Uhr Seite 42 Am 30. Januar werden die Länder entmachtet. Ihre Hoheitsrechte gehen auf das Reich über. Am 30. Juni schafft Hitler auf seine Weise „Klarheit“ in den eigenen Reihen: Der sogenannte RöhmPutsch ist in Wahrheit ein Mordanschlag auf die SA-Führung und andere, die Hitler für potenzielle Gegner hält. Unter den Ermordeten befinden sich Hitlers Amtsvorgänger von Schleicher und dessen Frau, Gregor Strasser (Reichsorganisationsleiter der NSDAP bis 1932), Erich Klausener (Katholische Aktion), Edgar Jung (Mitarbeiter von Vizekanzler von Papen) und Gustav von Kahr (1923 bayerischer Generalstaatskommissar). Mindestens 83 Menschen werden ermordet. Ein Reichsgesetz vom 3. Juli 1934 erklärt die Morde nachträglich für rechtens. Und der auch heute noch von manchen angesehene Staatsrechtslehrer Carl Schmitt rechtfertigt diese Taten: „Der Führer schützte das Recht.“ Hindenburg und Papen beglückwünschen Hitler. Das Reich schließt einen Nichtangriffspakt mit Polen. Das „Gesetz über die Feiertage“ wird am 27. Februar verabschiedet. An die Stelle des Volkstrauertages tritt nunmehr im ganzen Reich der „Heldengedenktag“ mit neuem Sinngehalt. Er findet jeweils am 5. Sonntag vor Ostern (Reminiscere) statt. Bei der Feierstunde in der Berliner Staatsoper Unter den Linden hält zum ersten Mal der Reichswehrminister die Ansprache. Im Rahmen einer Großausstellung des Volksbundes im Lichthof des Dresdener Rathauses (Juni/Juli) werden die Modelle für die Friedhöfe Liny-devant-Dun, Haubourdin und Quero gezeigt. In einem Aufruf zum 20. Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkrieges empfiehlt der Volksbund, auf alle Feiern zu verzichten. Er appelliert an alle Mitglieder, in diesem Jahr mindestens ein neues Mitglied zu werben. Am 1. September übernimmt der langjährige Leiter der Werbe- und Presseabteilung, Otto Margraf, die Geschäftsführung der Bundesgeschäftsstelle in Berlin. Im November gibt der Volksbund bekannt, dass wegen der Devisenknappheit für die Totentage keine Angehörigenaufträge erfüllt werden können. Der Vertretertag, jetzt Reichstagung genannt, findet in Kiel statt. Zum Ende des Jahres gehören 1 830 Ortsgruppen mit insgesamt 151 110 Einzelmitgliedern zum Volksbund. Ausstellung des Volksbundes in der Münchner Feldherrenhalle. Die Reichsparteitage der NSDAP in Nürnberg mit ihren Massenaufmärschen charakterisieren den Stil des Regimes. Die Gesellschaft ist „gleichgeschaltet.“ 42 Gedenkbuch2009-S1-260.qxp:Gedenkbuch 05.10.2009 14:42 Uhr Seite 43 43 Gedenkbuch2009-S1-260.qxp:Gedenkbuch 1935 Carl von Ossietzky wird wie viele andere verhaftet und ins Konzentrationslager gebracht. Er darf den ihm 1936 verliehenen Friedensnobelpreis nicht annehmen. Nach seiner Freilassung stirbt er am 4. Mai 1938 an den Folgen dieser Haft. Foto ganz rechts: Stimmzettel bei der Volksabstimmung im Saarland. Soldatenfriedhof Nazareth im damaligen Palästina. Hier ruhen 261 Kriegstote (Stand 2008: 416 Kriegstote). Heute liegt die Kriegsgräberstätte auf dem Staatsgebiet Israels. 44 05.10.2009 14:42 Uhr Seite 44 Eine Volksabstimmung am 13. Januar führt zur Rückgabe des Saargebietes an Deutschland. Am 16. März beginnt mit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht die offene Wiederaufrüstung des Reiches. Dieser einseitige, ohne Verhandlungen unternommene Schritt ist ein klarer Bruch geltender Verträge, der um so schwerer wiegt, als die Westmächte bereits informell mitgeteilt hatten, dass sie einer deutschen Aufrüstung bis zu 200 000 Mann zustimmen würden. Deutschland verlässt mit den berüchtigten Nürnberger Gesetzen am 15. September endgültig den Weg eines am Menschenrecht orientierten Staatswesens. Sie legen den Grundstein für eine verbrecherische Politik, die später in der sogenannten „Endlösung der Judenfrage,“ im Holocaust, endet. Am 30. Juni weiht der Volksbund die Kriegsgräberstätte Nazareth/Palästina und am 12. Juli Maissemy/Frankreich ein. In seiner Allerseelenpredigt sagt Kardinal Michael von Faulhaber in der Münchner Frauenkirche: „Wir danken dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge, der mit unermüdlichem Eifer und großem Erfolg die deutschen Soldatenfriedhöfe im Ausland in würdigem Zustand erhält und seine pietätvolle Gräberpflege ganz im Sinne der Hinterbliebenen unter das Zeichen des weißen Kreuzes im schwarzen Feld gestellt hat.“ Im November besuchen der Leiter der britischen Imperial War Graves Commission und der Leiter der französischen Kriegsgräberfürsorge die Bundesgeschäftsstelle in Berlin. Im Jahre 1935 gibt es in 22 Ländern der Erde Volksbundmitglieder. Gedenkbuch2009-S1-260.qxp:Gedenkbuch 05.10.2009 Am 7. März bricht Adolf Hitler den Locarno-Pakt und zerstört damit Stresemanns Friedenswerk. Er lässt das entmilitarisierte Rheinland besetzen. Die Westmächte nehmen das ohne ernsthaften Widerstand hin. Im September des Jahres wird der Vierjahresplan verkündet, der das Deutsche Reich „bis 1940 kriegsbereit“ machen soll. Hitler beginnt mit den Vorbereitungen für seine Angriffskriege. Im Spanischen Bürgerkrieg, der zur Niederlage der Republik führt und die Franco-Diktatur begründet, unterstützt Deutschland den Militäraufstand General Francos. 14:42 Uhr Seite 45 Am 8. Juni findet in London die erste Sitzung des gemischten deutschenglisch-französischen Ausschusses für Kriegsgräberfürsorge statt, in dem der Volksbund vertreten ist. Hintergrund: Bereits 1923 hatte die Imperial War Graves Commission die Pflege von 2 219 deutschen Kriegsgräbern an 216 verschiedenen Orten im Vereinigten Königreich und den Kanalinseln übernommen. Die Reichstagung findet am 30. und 31. Oktober in Köln statt. Die Jahresbilanz nennt folgende Zahlen: Es gibt 295 000 Mitglieder in 4 747 Ortsgruppen, etwa 50 Prozent der deutschen Gemeinden sind korporative Mitglieder. Die Gesamtausgaben des Volksbundes für den Friedhofsbau von seiner Gründung bis zum 31. Dezember 1936 betragen 6,5 Millionen Reichsmark. 1936 Foto links: Deutsche Truppen marschieren ins Rheinland ein. Foto unten: Die Olympiade in Berlin wird für einen nationalsozialistischen Propagandafeldzug missbraucht. 45 Gedenkbuch2009-S1-260.qxp:Gedenkbuch 1937 05.10.2009 14:42 Uhr Seite 46 Die deutsche Legion Condor bombardiert im spanischen Bürgerkrieg die baskische Hauptstadt Guernica. Pablo Picasso malt das Bild „Guernica“ als einen Aufruf gegen den Krieg. Über die deutschen Gefallenen darf nicht gesprochen werden. Die Toten werden vom Volksbund nicht registriert. Eine Wanderausstellung zeigt in Deutschland sogenannte Entartete Kunst. Der internationale kulturelle Austausch kommt weitgehend zum Erliegen. Es gibt vier große Konzentrationslager: Buchenwald, Dachau, Lichtenberg (nur für Frauen) und Sachsenhausen. Auf der zweiten Sitzung des deutschenglisch-französischen Ausschusses in Berlin wird berichtet: Für die etwa 7 000 deutschen Kriegsgräber auf englischen Friedhöfen in Frankreich sind bisher 4 500 Stelen aus dauerhaftem Naturstein in den Münchner Werkstätten des Volksbundes fertiggestellt werden. 2 000 davon sind bereits aufgestellt. Deutsche Sturzkampfbomber (Stukas) in Spanien. Mit der Explosion des deutschen Luftschiffes Hindenburg am 6. Mai in Lakehurst (USA) – 34 Menschen sterben – endet der transatlantische Zeppelinverkehr. 46 Sie entsprechen in den Maßen den englischen Grabsteinen. Als Folge der Maßnahmen zur Papiereinsparung im Rahmen des Vier-Jahres-Planes erscheinen die Ausgaben Juli und August der „Kriegsgräberfürsorge“ als ein Heft. Der Volksbund weiht am 30. Mai die Kriegsgräberstätte Smederewo (Semendria, heute: Serbien) in Jugoslawien ein. Hier ruhen Gefallene aus den Kämpfen der Jahre 1915 und 1916. Gedenkbuch2009-S1-260.qxp:Gedenkbuch 05.10.2009 Im Februar entmachtet Hitler die Führungsspitze der Wehrmacht durch Entlassung des Reichskriegsministers Generalfeldmarschall von Blomberg und des Oberbefehlshabers des Heeres, Generaloberst Freiherr von Fritsch. Nach Verhandlungen mit Hitler muss Österreichs Bundeskanzler Kurt von Schuschnigg vor dessen aggressiver Politik kapitulieren. Österreich wird mit Zustimmung der großen Mehrheit der Österreicher dem Deutschen Reich angeschlossen. Aus Protest gegen Hitlers Politik tritt der Generalstabschef des Heeres, Generaloberst Beck, zurück. Am 29. September endet die Münchener Konferenz der Staats- und Regierungschefs Deutschlands, Frankreichs, Großbritanniens und Italiens mit dem Beschluss zur Abtretung der sudetendeutschen Gebiete durch die Tschechoslowakei an das Deutsche Reich. Die am 9. November im ganzen Reich von der NSDAP organisierten Pogrome gegen die Juden (von Antisemiten hämisch „Reichskristallnacht“ genannt) erregen die Weltöffentlichkeit. Die jüdischen Deutschen werden in den folgenden Tagen endgültig aus dem Wirtschaftsleben ausgeschaltet. Am 31. Mai wird das „Gesetz zur Einziehung von Erzeugnissen entarteter Kunst“ erlassen. Geächtet werden vor allem Kunstwerke von Barlach, Beckmann, Cézanne, Chagall, Corinth, van Gogh, Heckel, Hofer, Kandinsky, Klee, Kokoschka, Macke (1914 gefallen), Marc (1916 gefallen), Matisse, Munch, Picasso, Nolde und vielen anderen. 14:42 Uhr Seite 47 Die Reichstagung des Volksbundes findet vom 20. bis 23. Mai in Breslau (heute: Wrocław/Polen) statt. Die Gebeine von 70 in der Schweizer Internierung verstorbenen deutschen Soldaten werden am 17. Dezember auf den Lerchenberg bei Meersburg am Bodensee überführt. Die Anlage wird jedoch erst 1964 fertiggestellt. 1938 Am 12. Juni wird das U-BootEhrenmal Möltenort (bei Kiel) eingeweiht. Reichstagung des Volksbundes in Breslau (Wrocław/Polen). Die österreichische Bevölkerung begrüßt begeistert den „Anschluss.“ Bei der Abstimmung am 10. April werden in der zukünftigen „Ostmark“ nur 11 807 Nein-Stimmen registriert. 47 Gedenkbuch2009-S1-260.qxp:Gedenkbuch 1939 Die Wehrmacht marschiert in die Tschechoslowakei ein. Hitler bildet das „Protektorat“ Böhmen und Mähren. Die Slowakei wird unabhängig. 48 05.10.2009 14:42 Uhr Seite 48 Hitler bricht das MünchnerAbkommen – deutsche Soldaten marschieren am 15. und 16. März in der Tschechoslowakei ein. Das stellt ihn endgültig als Kriegstreiber bloß und erschüttert vollends das internationale Vertrauen in eine europäische Friedensordnung. Deutschland besetzt am 23. März das Memelgebiet. Am 23. August kommt es überraschend in Moskau zum Hitler-Stalin-Pakt (offiziell ein Nichtangriffspakt). Dazu gehört das berüchtigte geheime Zusatzprotokoll mit der Abmachung über die Teilung Polens. Außerdem stimmt Hitler der Annexion der baltischen Staaten und Bessarabiens durch die Sowjetunion zu. Am 1. September beginnt der Angriff auf Polen: Hitler hat nun den Krieg, den er stets gewollt hatte. Nach der Kriegserklärung Englands und Frankreichs am 3. September steht Deutschland zwischen zwei Fronten. Polen kapituliert nach vier Wochen, die Sowjetunion besetzt den Ostteil. Der Bau der Gedenkstätte Pordoi in den Dolomiten (Italien), bereits vor Kriegsausbruch begonnen, wird bis zur Arbeitseinstellung 1943 fortgeführt. Die Einweihungen der Kriegsgräberstätten Quero, Feltre und Tolmein im Mai finden ein starkes Echo in der in- und ausländischen Öffentlichkeit. Bundesführer Eulen sowie sieben Mitarbeiter der Bundesgeschäftsstelle und vier der Bauleitung werden bei Kriegsausbruch eingezogen, dazu viele Mitarbeiter aus den Gliederungen. Mitarbeiter des Volksbundes stellen ihre Erfahrungen beim Aufbau des Wehrmacht-Gräberdienstes zur Verfügung. Der Stellvertretende Bundesführer, Justizrat Manfred Zimmermann, führt die Geschäfte. Gedenkbuch2009-S1-260.qxp:Gedenkbuch 05.10.2009 14:42 Uhr Seite 49 Während des Krieges setzt der Volksbund den Bau der Kriegsgräberstätte Pordoi in Oberitalien fort. Hier ruhen 9 431 Kriegstote (Foto links oben). Mit dem Angriff auf Polen beginnt am 1. September 1939 der Zweite Weltkrieg. Das Bild vom zerstörten Schlagbaum (Foto links) ist gestellt. Das große Sterben beginnt (Foto unten): Erst viel später – über den Gräbern zweier Weltkriege – wird Europa zusammenfinden. 49 Gedenkbuch2009-S1-260.qxp:Gedenkbuch 1940 Die deutschen Verluste werden größer. Der Wehrmachtsgräberdienst entwirft ein einheitliches Grabzeichen. 50 05.10.2009 14:42 Uhr Seite 50 Am 9. April besetzen deutsche Truppen trotz eines Nichtangriffspaktes Dänemark und Norwegen. Die deutschen Seestreitkräfte erleiden bei der Besetzung Norwegens starke Verluste. Der Angriff an der Westfront beginnt am 10. Mai. Frankreich, Belgien, die Niederlande und Luxemburg werden in einem raschen Feldzug besiegt. Am 22. Juni wird der Waffenstillstand mit Frankreich abgeschlossen. Italien tritt kurz vorher an Deutschlands Seite in den Krieg ein. Im August beginnt zur Vorbereitung einer Invasion Großbritanniens die „Luftschlacht um England.“ Hier erleidet Deutschland seine erste Niederlage. Die britische Luftwaffe kann nicht besiegt werden; die Pläne zur Landung in Großbritannien werden auf unbestimmte Zeit verschoben. Die deutsche Luftwaffe bombardiert Coventry, London und Malta. Am 27. September schließen Deutschland, Italien und Japan den Dreimächtepakt. Im November besucht der sowjetische Außenminister Wjatscheslaw Molotow die Reichshauptstadt: Weitere Aggressionen sollen abgestimmt werden. Die Skala reicht vom Balkan bis Indien. Man kann sich jedoch diesmal wegen unterschiedlicher Ziele nicht einigen. Die Beziehungen kühlen sich ab. Die Arbeit des Volksbundes wird kriegsbedingt schwieriger: Weitere Mitarbeiter der Bundesgeschäftsstelle und der Bauleitung werden eingezogen, dazu eine große Zahl Mitarbeiter aus den Gliederungen. Der Volksbund hat am Jahresende 537 000 Mitglieder. Gedenkbuch2009-S1-260.qxp:Gedenkbuch 05.10.2009 14:42 Uhr Seite 51 Die deutsche Wehrmacht besetzt Dänemark und Norwegen (Foto oben). Frankreich und die Beneluxstaaten werden ebenfalls überrannt (Foto unten). Die deutsche Luftwaffe bombardiert am 14. November die englische Stadt Coventry. Auf dem Foto rechts sieht man die zerstörte Kathedrale. Zuvor hatte die britische Luftwaffe München und andere Städte in Deutschland angegriffen. 51 Gedenkbuch2009-S1-260.qxp:Gedenkbuch 1941 Adolf Hitler greift immer neue Ziele an (Foto rechts). Deutsche Soldaten kämpfen in Nordafrika (Foto auf Seite 53 oben) und in der Sowjetunion (Foto auf Seite 53 unten). 52 05.10.2009 14:42 Uhr Seite 52 Zur Unterstützung der italienischen Truppen in Nordafrika wird im Februar unter Befehl von General Rommel das Deutsche Afrika-Korps aufgestellt. Am 6. April beginnt der Angriff auf Jugoslawien und Griechenland. Am 1. Juni wird die Insel Kreta nach schweren Verlusten durch deutsche Luftlandetruppen erobert. Der Angriff gegen die Sowjetunion, als „Plan Barbarossa“ lange vorbereitet, beginnt am 22. Juni. Die deutschen Offensiven bleiben nach großen Anfangserfolgen im Winter vor Moskau und Leningrad stecken. Der Feldzug wird auf beiden Seiten mit erbitterter Härte und Grausamkeit geführt. Nach dem japanischen Angriff auf Pearl Harbour am 7. Dezember erklärt Deutschland am 10. Dezember den USA den Krieg. Am 16. März wird der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht (OKW) beauftragt, die Errichtung würdiger Soldatenfriedhöfe für die Gefallenen vorzubereiten. Professor Wilhelm Kreis, im Einvernehmen mit dem Volksbund vom OKW vorgeschlagen, wird zum Generalbaurat ernannt. Professor Kreis gehört dem damaligen Verwaltungsrat des Volksbundes seit der Gründung an. Bereits zu Beginn des Jahres erfolgt eine Anweisung zur Einführung eines einheitlichen Grabzeichens in der Form des Eisernen Kreuzes. Aufgrund von Befürchtungen aus Kreisen der Mitglieder über eine mögliche Einstellung der Arbeit gibt der Volksbund bekannt, dass seine Arbeit auf Weisung der maßgeblichen Stellen vor allem im Interesse der Angehörigen fortgesetzt werden solle. Gedenkbuch2009-S1-260.qxp:Gedenkbuch 05.10.2009 14:42 Uhr Seite 53 53 Gedenkbuch2009-S1-260.qxp:Gedenkbuch 1942 Hitler hat die Widerstandsfähigkeit und die Reserven der Sowjetunion weit unterschätzt. Stalingrad wird zur Wende des Krieges. Dieses Bild wirkt symbolisch: Die Soldaten sind eisiger Kälte ausgesetzt, erscheinen orientierungslos. 54 05.10.2009 14:42 Uhr Seite 54 Die deutsche Sommeroffensive an der südlichen Ostfront erreicht die Wolga und den Kaukasus, die Offensive Rommels führt von Libyen aus über die ägyptische Grenze bis El Alamein. Dann folgt die Wende des Krieges: Die 6. Armee wird bei Stalingrad von sowjetischen Streitkräften eingeschlossen. Die deutschen Truppen erleiden in der Schlacht von El Alamein eine schwere Niederlage. Libyen muss geräumt werden. Das Afrika-Korps wird bei Tunis eingeschlossen. Während der gesamten Kriegszeit werden zwölf Millionen sogenannte Fremdarbeiter verschleppt und in der deutschen Kriegswirtschaft eingesetzt. Im Februar erscheint ein Erlass, nach dem die Gräber der Opfer der Zivilbevölkerung, das heißt „die durch Feindeinwirkung getöteten oder infolge erlittener Verletzungen gestorbenen, nicht zur Wehrmacht gehörenden deutschen Staatsangehörigen sowie die Staatsangehörigen der verbündeten Mächte“ auf „Ehrenfriedhöfen“ bestattet werden sollen. Der Volksbund kann trotz des Krieges in begrenztem Rahmen weiter arbeiten. In Frankreich wird der Soldatenfriedhof Consenvoye bei Verdun (11 146 Kriegstote) angelegt. Gedenkbuch2009-S1-260.qxp:Gedenkbuch 05.10.2009 14:43 Uhr Seite 55 55 Gedenkbuch2009-S1-260.qxp:Gedenkbuch 1942 wird auf der WannseeKonferenz in Berlin die „Endlösung der Judenfrage“ beschlossen. Der deutsche Vormarsch im Osten schafft die Voraussetzungen: Der Mord an den Juden nimmt immer gewaltigere Ausmaße an. In den Vernichtungslagern wie AuschwitzBirkenau werden die Menschen bei der Ankunft selektiert. Die als nicht arbeitsfähig eingestuften Menschen werden häufig sofort umgebracht. Für die anderen gilt die „Vernichtung durch Arbeit.“ Je länger der Zweite Weltkrieg andauert, je mehr Gebiete von Deutschland besetzt werden, desto mehr Juden und andere Verfolgte fallen dem organisierten Massenmord zum Opfer. Damit werden auch diejenigen Menschen, die ohne Wissen über dieses unvorstellbare Verbrechen als Soldaten oder an anderer Stelle durch ihren tapferen Einsatz im Ergebnis den Krieg verlängern, in die Frage von Mitschuld und Mitverantwortung verstrickt. 56 05.10.2009 14:43 Uhr Seite 56 Gedenkbuch2009-S1-260.qxp:Gedenkbuch 05.10.2009 Im Januar fordern die Alliierten auf der Casablanca-Konferenz die bedingungslose Kapitulation Deutschlands. Am 2. Februar geht die Schlacht um Stalingrad zu Ende. Die Reste der 6. Armee ergeben sich – gegen Hitlers Befehl. Von 170 000 im Kessel verbliebenen Soldaten der Wehrmacht sind über 60 000 gefallen. Rund 110 000 gehen in Gefangenschaft, nur etwa 5 000 von ihnen überleben. Zuvor hatte die Luftwaffe 25 000 Verwundete ausgeflogen. Über das Schicksal der mit eingeschlossenen italienischen und rumänischen Soldaten ist wenig bekannt. Am 13. Mai kapitulieren die letzten Streitkräfte der sogenannten Achse in Tunesien. Nach der erfolglosen deutschen Offensive bei Kursk (Panzerschlacht) beginnt der Rückzug der deutschen Truppen an der gesamten Ostfront. Goebbels fordert den „totalen Krieg.“ Doch der Krieg ist entschieden! Schwere Luftangriffe auf Hamburg und Berlin leiten die planmäßige Zerstörung der deutschen Großstädte ein. Dabei wird mehr und mehr die Technik der sogenannten Feuerstürme angewendet, eine besonders unmenschliche Kriegführung gegen Zivilisten ohne militärischen Wert. Im Juli landen die Alliierten in Italien, das im September Waffenstillstand schließt. In Auschwitz, Treblinka, Maidanek und anderen Konzentrationslagern beginnt die systematische Ausrottung von Millionen Juden, aber auch von Roma, Sinti und anderen für lebensunwert erklärten Menschen. Gegen erbitterten Widerstand der eingepferchten Juden vernichtet die SS das Warschauer Ghetto. 14:43 Uhr Seite 57 Das Ministerialblatt des Reichsministeriums veröffentlicht am 8. Dezember Darlegungen „über die Fürsorge für die Gräber der Kriegsgefallenen des jetzigen Krieges und die Gestaltung von Kriegsgräberanlagen,“ aus denen eine besondere Betonung der Tätigkeit der Amtlichen Kriegsgräberfürsorge im Reichsgebiet hervorgeht. Stellungnahme des Volksbundes: „Unsere Aufgabe, die in der Errichtung von Ehrenstätten außerhalb des Reiches liegt, wird dadurch nicht berührt.“ Ende des Jahres hat der Volksbund 993 572 Einzelmitglieder. Stalin, Roosevelt und Churchill (sitzend, von links) einigen sich auf der Konferenz von Teheran im Grundsatz über die Teilung Deutschlands nach dem Krieg. 1943 Stalingrad: Von den 110 000 deutschen Kriegsgefangenen sterben allein 17 000 auf dem Weg in die Lager. Unten deutsche Kriegsgefangene im Sommer 1943 in der Nähe von Stalingrad. 57 Gedenkbuch2009-S1-260.qxp:Gedenkbuch Die Arbeit des Volksbundes wird stark eingeschränkt. Zu dem Wenigen, was er tun kann, gehört der Ausbau des Soldatenfriedhofes Consenvoye in Frankreich (11 146 Kriegstote). Hier werden zum ersten Mal Symbolkreuze aufgestellt. 58 05.10.2009 14:43 Uhr Seite 58 Gedenkbuch2009-S1-260.qxp:Gedenkbuch 05.10.2009 14:43 Uhr Seite 59 Baurat Wilhelm Kreis erhält von der Reichsregierung den Auftrag, monumentale deutsche Ehrenstätten zu planen. Sie sind ein Ausdruck der Heldenverherrlichung. Seine Entwürfe, die der Auffassung des Volksbundes widersprechen, werden nicht realisiert. 59 Gedenkbuch2009-S1-260.qxp:Gedenkbuch 1944 Der alliierte Vormarsch in Italien stockt bei Cassino. Stadt und Kloster werden bei den schweren Kämpfen im Winter und Frühjahr 1944 völlig zerstört. Der Abt des Klosters bedankt sich bei dem deutschen Oberstleutnant Julius Schlegel für die Rettung der unersetzlichen Kunst- und Kulturschätze. 60 05.10.2009 14:43 Uhr Seite 60 Gedenkbuch2009-S1-260.qxp:Gedenkbuch 05.10.2009 Am 6. Juni beginnt in Frankreich die lang erwartete Landung der Alliierten; binnen weniger Tage ist sie erfolgreich. Bis zum 30. Juli haben die Westmächte 850 000 Mann und rund 150 000 Fahrzeuge gelandet. Ihnen gelingt der Durchbruch bei Avranches. Doch Hitler und seine Generale lassen das Inferno noch über neun Monate weiter auf die Menschen niedergehen. Hoffnung, den Kriegsausgang durch weiteren Widerstand günstiger zu gestalten, besteht nicht mehr, so wenig wie im August 1918. Zumindest die Generalität weiß das, zumal drei Wochen nach der Landung die Sommeroffensive der Roten Armee beginnt, die sie bis zur Weichsel und auf den Balkan führt. Die größten Zerstörungen und Verluste, die Deutschland erleidet, sind nach dem Sommer 1944 eingetreten. Der letzte und aussichtsreichste Versuch, das Verderben abzuwenden, den Krieg zu beenden und Deutschland vor dem totalen Untergang zu bewahren, scheitert am 20. Juli 1944. Das Bombenattentat des Obersten Graf Stauffenberg auf Hitler missglückt. Im Zusammenhang damit werden über 700 deutsche Offiziere, darunter Generalfeldmarschall Erwin von Witzleben, sowie zahlreiche Zivilpersonen umgebracht. Generaloberst Ludwig Beck erschießt sich. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz erhält den Friedensnobelpreis. 14:43 Uhr Seite 61 Am 15. Februar zerstören Bomben die Bundesgeschäftsstelle des Volksbundes in Berlin. Viele Arbeitsunterlagen gehen verloren, darunter auch solche, die für einen historischen Rückblick wie in diesem Buch sehr wichtig gewesen wären. Die Zeitschrift des Volksbundes kann nur noch vierteljährlich erscheinen. Am 9. Juni verhindert Staatsrat Wilhelm Ahlhorn in Verbindung mit dem Leiter der Abteilung Wehrmachtsverlustwesen im OKW die Unterstellung des Volksbundes unter den Generalbaurat. Er droht, diese Maßnahme mit der Selbstauflösung des Volksbundes zu beantworten. Aufgrund der Anordnung über den totalen Kriegseinsatz vom 29. August führt der Volksbund die 60-StundenWoche für seine Mitarbeiter ein und baut sein Personal um 20 Prozent ab. Im teilzerstörten Erdgeschoss der Bundesgeschäftsstelle gedenkt der Volksbund in Anwesenheit von nur noch 57 Mitarbeitern seines 25-jährigen Bestehens. In einem Rundbrief „An die im Feld stehenden Mitarbeiter“ zu Weihnachten heißt es, dass der Volksbund rund zwei Millionen Mitglieder habe. Diese Zahl ist heute nicht mehr belegbar. Die letzte deutsche Offensive im Westen („Ardennenoffensive“) überrascht die Alliierten, scheitert aber nach wenigen Tagen. 61 Gedenkbuch2009-S1-260.qxp:Gedenkbuch Für Freiheit und Gerechtigkeit: der 20. Juli 1944 62 05.10.2009 14:43 Uhr Seite 62 „Die Rettung Deutschlands war der letzte Sinn des deutschen Widerstandes. Der Rettung des Vaterlandes im physischen und moralischen Sinn galt der verzweifelte Stoß des 20. Juli 1944. Wir, die dazugehörten oder sonstwie gegen die Schändung Deutschlands Front gemacht hatten, stimmten, ohne ein einziges Wort darüber zu verlieren und ohne Rücksicht auf unsere politische Herkunft – die Kommunisten eingeschlossen –, völlig darin überein, dass die Rettung Deutschlands und die Sicherung seiner Zukunft allein in der Wiederherstellung des freiheitlichen Rechtsstaates und seiner entschlossenen Verteidigung gegen seine inneren und äußeren Feinde liegen könne. Das ist das bleibende Vermächtnis des 20. Juli 1944.“ Dies sagte einer der Beteiligten, der spätere Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier, nach dem Krieg. Im Attentat auf Hitler am 20. Juli gipfelt der Widerstand im Dritten Reich gegen das nationalsozialistische Regime und seine unheilvolle Politik. Viele Jahre war die westdeutsche Geschichtsschreibung auf dieses Ereignis und seine Vorgeschichte fixiert. Inzwischen hat sich die Perspektive jedoch erweitert, und auch der Widerstand außerhalb des militärischen und bürgerlich-konservativen Lagers wird gewürdigt. Damit wird der Tatsache besser Rechnung getragen, dass der Widerstand vielfältige Formen gezeigt hat – die im Übrigen nur schwer unter einem zentralen Begriff zusammengefasst werden können. Den Frauen und Männern, auch Jugendlichen, die Widerstand leisteten – offen oder verdeckt, konsequent oder gelegentlich, fast immer mit schweren Folgen für sie und ihre Familien – ist eines gemeinsam gewesen: Die Erkenntnis, dass der Weg, den Deutschland unter Hitler beschritten hatte, in die Katastrophe führte; das Bewusstsein, Widerstand leisten zu müssen und durch eigenes Handeln zur Rückkehr in eine bessere Gesellschaft beitragen zu können. Natürlich waren die Handlungsmöglichkeiten Einzelner sehr begrenzt. Das gilt nicht zuletzt für die Soldaten an der Front. Viele hatten sich vor dem Krieg von den (vermeintlichen) innen- und außenpolitischen Erfolgen Hitlers blenden lassen und im Krieg von den erstaunlichen militärischen Anfangserfolgen. Bei vielen ist das Gewissen erst spät erwacht. Viele haben gar nicht oder erst sehr spät erfahren, welche Verbrechen in Namen des Vaterlandes und durch Landsleute in anderen Ländern und auch in Deutschland selbst geschehen waren. Viele Soldaten haben lange gezögert, wollten nicht eidbrüchig werden. Immerhin wurde die eigene Bevölkerung durch 40 000 GestapoBeamte, den SD (Sicherheitsdienst) und ungezählte Spitzel und Zuträger überwacht. Schon unbedeutende kritische Äußerungen – wie zum Beispiel Zweifel am propagierten „Endsieg“ – waren lebensgefährlich. Trotz der Gefahr für Leib und Leben haben sich während des Dritten Reiches viele aufrechte Menschen für ein besseres Deutschland eingesetzt. Sie kamen aus der Arbeiterbewegung, den Kirchen, dem Militär, bürgerlichen Kreisen. Zu ihnen gehörten einfache Arbeiter und hohe Diplomaten, Hausfrauen und Feldmarschälle, Studenten und Staatsbeamte, Kommunisten und Kirchenführer. Der Erfolg blieb ihnen versagt, die Unrechtsherrschaft wurde erst durch den äußeren Gegner beendet. Aber es gilt das Wort des Generalmajors Hans Henning von Tresckow kurz vor dem Attentat am 20. Juli: „Das Attentat muß erfolgen, coûte que coûte (koste es, was es wolle). Sollte es nicht gelingen, so muss trotzdem in Berlin gehandelt werden. Denn es kommt nicht mehr auf einen praktischen Zweck an, sondern darauf, dass die deutsche Widerstandsbewegung vor der Welt und vor der Geschichte den entscheidenden Wurf gewagt hat. Alles andere ist daneben gleichgültig.“ Hitler überlebt das Attentat von Graf Stauffenberg. Später zeigt er Mussolini die zerstörte Baracke. Gedenkbuch2009-S1-260.qxp:Gedenkbuch 05.10.2009 14:43 Uhr Seite 63 Persönlichkeiten des Widerstandes Generaloberst Ludwig Beck gilt als das Haupt der Verschwörung. Freitod am 20. Juli 1944. Oberst Claus Schenk Graf von Stauffenberg zündet die Bombe in Hitlers Hauptquartier. Am 20. Juli 1944 erschossen. Ulrich-Wilhelm Graf Schwerin. Am 8. September 1944 hingerichtet. Carl-Friedrich Goerdeler, Oberbürgermeister von Leipzig. Am 2. Februar 1945 hingerichtet. Helmuth James Graf von Moltke gründet den oppositionellen Kreisauer Kreis. Am 23. Januar 1945 hingerichtet. Julius Leber kämpft bis 1933 als SPD-Reichstagsabgeordneter gegen die totalitären Parteien. Am 5. Januar 1945 hingerichtet. Wilhelm Leuschner, 1932 stellvertretender Vorsitzender des Gewerkschaftsbundes. Hingerichtet am 29. September 1944. Ulrich von Hassell, 1932 – 1938 Botschafter in Rom. Am 8. September 1944 hingerichtet. Friedrich Werner Graf von der Schulenburg,1934 – 1941 Botschafter in Moskau. Hingerichtet am 10. November 1944. Generalfeldmarschall Erwin von Witzleben. Am 9. August 1944 hingerichtet. Roland Freisler, Vorsitzender des berüchtigten Volksgerichtshofes in Berlin, während des Prozesses gegen die Widerstandskämpfer des 20. Juli. Immer mehr Menschen werden – auch wegen nichtiger Vorfälle – zum Tod verurteilt. Die Geschwister Hans und Sophie Scholl verteilen als Angehörige der Weißen Rose in München Flugblätter gegen das Regime und seine Kriegspolitik und werden deswegen hingerichtet. 63 Gedenkbuch2009-S1-260.qxp:Gedenkbuch 05.10.2009 14:43 Uhr Seite 64