Humanistisches Bekenntnis

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Humanistisches Bekenntnis
Der kleine
25
— Mittwoch, 2. April 2014
Kultur
Die Verwandlungskünstlerin
Die Schauspielerin Toni Collette will in ihren Rollen verschwinden. Da ihr das immer sehr gut gelingt, fehlt ihr
ein fest umrissenes Image. In «A Long Way Down» nach Nick Hornby spielt sie jetzt eine Selbstmörderin.
Julia Marx
Der Kontrast könnte grösser nicht sein:
Auf dem Filmplakat sieht man sie mit
unvorteilhaft zurückgekämmtem Haar
und Strickjacke. Aber die Frau, die
einem jetzt unter diesem Plakat leibhaftig gegenübersitzt, entspricht von der
blonden Hochsteckfrisur bis zu den Paillettenpumps ganz dem Berufsbild des
Stars. Toni Collette, zu Besuch an der
Premiere ihres neuen Films «A Long
Way Down», legt indes Wert darauf, dass
sie Schauspielerin sei und kein Filmstar.
Der Unterschied? Die erste spielt, die
zweite zeigt und spreizt sich. «Ich will
nicht von Filmstars abgelenkt werden»,
sagt sie selbst. «Ich glaube, der Sinn des
Kinos ist, dass man komplett in die Figuren und die Geschichte eintaucht. Wenn
ich ein Drehbuch lese, achte ich darauf,
ob ich mich in der Geschichte verliere.
Alles, was ablenkt, muss man loswerden. Ich lenke mich selbst ab, also muss
ich mich selbst loswerden.» So fehlt ihr
ein fest umrissenes Image – aber, davon
ist Collette überzeugt, gerade deshalb
hat sie Rollen bekommen, um die sich
berühmtere Darstellerinnen vergeblich
bemüht hatten.
Ihre erste Hauptrolle soll allerdings
nicht sonderlich hart umkämpft gewesen sein: Die Titelheldin der Komödie
«Muriel’s Wedding» (1994) ist ein Mauerblümchen aus der australischen Provinz, einziger Trost sind Abba-Songs,
einziges Lebensziel die Heirat. Die damals 21-jährige Toni Collette nahm für
die Rolle fast zwanzig Kilo zu. Immer
wieder verkörpert sie verhuschte oder
sonderbare Figuren, die leicht zur Karikatur geraten könnten, denen sie aber
eine brüchige Würde gibt. Etwa jener
depressiven Hippie-Mutter in «About a
Boy» (2002) mit ihrem selbst gebackenen «Gesundheitsbrot», das sich weniger zum Verzehr eignet als dazu, Enten
zu töten.
Jeder ist einzigartig
«Ich glaube fest daran, dass es so etwas
wie Normalsein nicht gibt», erklärt Toni
Collette. «Betrachtet man jemandes
Leben genau genug, erkennt man das
Einzigartige daran. Wenn ich eine Figur
kreiere, versuche ich, diese einzigartige
Qualität zu zeigen.» Wenn Muriel mit
blonder Perücke und im SilberlaméFummel zum Playback «Waterloo» singt,
wird beides spürbar, die Traurigkeit falscher Illusionen und der echte Trost des
Kitsches.
Ihr Talent für Camp, die überpointierte Darstellung, stellte die hochgewachsene Australierin auch als Ehefrau
eines Glamrock-Stars in «Velvet Goldmine» (1998) und als falsche Dragqueen
in «Connie and Carla» (2004) unter Beweis. Ihr anderes Extrem, den mausgrauen Wasser-und-Kernseifen-Look,
treibt sie nun in ihrem aktuellen Film «A
Long Way Down» auf die Spitze.
Darin spielt sie Maureen, eine Frau,
die seit vielen Jahren aufopfernd ihren
schwerbehinderten Sohn pflegt und sich
in einer Silvesternacht auf einem Hochhausdach wiederfindet. Mit der Absicht
zu springen. Allerdings befinden sich
dort schon drei andere Personen mit
Humanistisches
Bekenntnis
Die Uraufführung von Ulrich
Gassers Raummusik «Ich,
Sibylle» begeisterte am
Gymnasium Neufeld.
Moritz Achermann
«Ich glaube fest daran, dass es Normalsein nicht gibt»: Ihr Motto setzt Toni Collette in ihren Rollen um. Foto: Keystone
demselben Vorhaben. Nicht ganz überraschend kommt es so, im Film wie in
Nick Hornbys zugrunde liegendem Roman, dass die vier unterschiedlichen
Charaktere einander den Geschmack am
Leben zurückgeben. Toni Collette gefällt
das gut: «Diese Figuren lernen, dass das
Leben aus Veränderung besteht und
dass die Gefühle, die man heute hat,
nicht ewig dauern. Alles wandelt sich,
alles verändert sich. Das tröstet.»
Dabei wurde gerade ein Übermass an
Veränderung einst zum Problem für sie.
Nach dem internationalen Durchbruch
mit «Muriel’s Wedding» lebte sie jahrelang aus dem Koffer, kaufte und verkaufte Häuser auf drei Kontinenten,
kämpfte mit Bulimie und Panikattacken.
Arbeit und Anerkennung fand sie trotzdem. Für ihre Rolle in «The Sixth Sense»
(1999) wurde sie für den Oscar als beste
Nebendarstellerin nominiert.
Das Mum-Etikett
Es war die erste von zahlreichen Mutterfiguren, die sie seitdem gespielt hat, von
der Komödie «Little Miss Sunshine»
(2006) über die Sitcom «United States of
Tara» (2009) bis zu «The Way Way Back»
(2013). Dazwischen in «The Night Listener» (2006) gewissermassen das Falsifikat, eine Frau, die ihr Bedürfnis nach
mitfühlender Aufmerksamkeit durch die
Erfindung einer Mutterschaft zu befriedigen sucht und an dieser Fiktion mit
allen Mitteln festhält.
Hat Collette einen besonderen Bezug
zum Thema – immerhin ist sie inzwischen
selbst zweifache Mutter – oder wurde sie,
ihrer Vielseitigkeit zum Trotz, eben doch
auf eine Rolle festgelegt? «Das sind nicht
bloss Mütter», protestiert sie und wirft ein,
dass man männliche Figuren, etwa Don
Draper in «Mad Men», auch nicht in erster
Linie als Väter sehe. «Bei ihnen nimmt
man all die anderen Attribute wahr. Als
Frau kriegt man das Mum-Etikett, selbst
wenn man viele andere Facetten hat. Ich
werde wütend, wenn weibliche Figuren
zweidimensional gezeichnet sind.»
Als sie nach «Muriel’s Wedding» erstmals nach Amerika kam, wurden ihr
ähnliche Mauerblümchen-Rollen angeboten. Obwohl sie unbedingt arbeiten
wollte, lehnte sie lieber ab, statt sich auf
einen Typ festlegen zu lassen. Wandelbarkeit hält sie für den Grundstein ihrer
Karriere. Tatsächlich sind auch ihre Mutterrollen unterschiedlich und nie klischiert. Immerhin spielte sie in «United
States of Tara» eine multiple Persönlichkeit, also gleich vier Charaktere auf einmal. Ein Problem sieht sie darin, dass es
für Männer mehr Varianz im Rollenangebot gebe und dass sich die Industrie
auf ein männliches Publikum ausrichte.
«Ich weiss nicht warum und hoffe, dass
ich dazu beitragen kann, das zu ändern.
Denn ändern muss es sich.»
Als sie anfing zu schauspielern, war
sie gerade 15. Ihre Familie war nach eigenem Bekunden nicht sehr kommunika-
tiv. Die Möglichkeit, in eine Rolle zu
schlüpfen, bot die Chance, sich auszudrücken. «Ohne Schauspielerei wäre ich
implodiert», gab sie einmal zu Protokoll.
Ihr Talent stellte sie schon viel früher
unter Beweis. Eine Blinddarmentzündung soll sie sogar Ärzten überzeugend
vorgespielt haben. Der Blinddarm sei
tatsächlich herausoperiert worden.
Kann eine 11-Jährige mehr Bereitschaft
zeigen, für ihre Kunst zu leiden?
gemäss weisen nicht alle Erzählungen
dieses Bandes die gleiche Dichte auf.
Aber der grössere Teil der Texte bürgt
für ein Leseerlebnis, das im Gedächtnis
haften bleibt.
Es sind Geschichten, die nach und
nach unter dem Schein der Alltäglichkeit Ausserordentliches freilegen, sich
rasant zuspitzen oder mit einer überraschenden Wendung schliessen.
Obwohl die Figuren in ihrer Einsamkeit und Not das Gefühl hegen, «zu versinken, unendlich langsam zu verschwinden in einem ungeheuren Winterloch», werfen sie ihr Leben nicht fort.
Die einen retten sich ins Reich der Fantasie: Das Mädchen spricht mit seinen
Puppen, der Knabe im Keller erprobt
Überlebensrituale, der verlassene Mann
erfindet Herzgeschichten. Andere kämpfen ganz einfach darum, nicht im Stru-
Aus fernster Vergangenheit dringen sie zu
uns, die Worte der Sibyllinen. In der grossen Halle des Gymnasiums Neufeld werden diese frühchristlichen Prophezeiungen zur klingenden Gegenwart. Der Thurgauer Komponist Ulrich Gasser (geb. 1950)
hat für das Gymnasium eine abendfüllende Raummusik für Chöre, Schauspielensemble und Blasinstrumente komponiert. «Ich, Sibylle», dessen Libretto die
Germanistin und Theologin Eva Tobler
verfasst hat, überträgt die oft harten, düster-prophetischen und auch sozialkritischen Texte der Sibyllen in eine moderne
Sprache. In sechs Büchern wird vom Leid,
von der Hoffnung, von der Schöpfung und
vom Untergang erzählt. Zugleich sind
diese sechs Teile so etwas wie auskomponierte Musikgeschichte. Gasser integriert
Gregorianischen Choral, die Vokalpolyfonie der Renaissance, Barock-Motette und
Dodekafonie in seine eigene musikalische
Sprache. Nahtlos sind ferner Sätze Orlando di Lassos und Choräle Johann Sebastian Bachs in die Partitur eingefügt. Selten
gelingt es, Neue Musik so geschickt und
unverkrampft zu vermitteln.
Was bei dieser Uraufführung geschieht, ist überwältigend, fernab von
den löblichen pädagogischen Absichten.
Von den ersten Marcato-Einsätzen der
im Raum verteilten Bläser und den
traumhaften Klängen Lassos wird man
in dieses Werk hineingesogen. Dies liegt
vor allem an der fantastischen Leistung
des gymnasialen Chors unter der souveränen Leitung von Bernhard Kunz,
Christoph Marti, Adrienne Rychard und
Bruno Späti, die teils simultan die verschiedenen Schichten der komplexen
Komposition dirigieren.
Apokalyptische Sprechchöre
In einer Londoner Silvesternacht treffen vier
Fremde (Pierce Brosnan, Toni Collette,
Imogen Poots, Aaron Paul) unverhofft auf
einem Hochhausdach aufeinander. Statt, wie
beabsichtigt, herunterzuspringen, verschieben sie ihre Pläne, worauf sie sich allmählich
schätzen lernen. Verfilmungen von Nick
Hornby-Romanen («High Fidelity», «About a
Boy») sind ein sicherer Wert. In den Händen
des französischen Liebeskomödienregisseurs
Pascal Chaumeil mutet der segensreiche
Zusammenhalt einer vom Zufall geformten
Selbsthilfegruppe stets künstlich und erzwungen an, zumal die männlichen Figuren
papieren wirken. Die Komödie ist weder so
schwarzhumorig, wie sie sein sollte, noch so
ergreifend, wie sie sein wollte. (jum)
Die zu Beginn getrennt aufgestellten
Chöre singen, sprechen und zischen ungeheuer präzise und engagiert. Erschütternd donnern im vierten Buch die apokalyptischen Sprechchöre über das Publikum herein, während der Frauenchor
im fünften Buch in berückender Schönheit von der ersehnten Erlösung singt.
Exquisit sind auch die instrumentalen
Interludien der Bläser. Die Inbrunst, mit
welcher die jungen Sängerinnen und
Sänger gegen Ende die sanft verfremdeten Bach-Choräle intonieren, gerät zum
ergreifenden Höhepunkt. Während die
Theatergruppe (Leitung Muriel Jenni) zu
Beginn die Sibyllen in extravaganten
Papier-Kostümen defilieren lässt, greift
sie in das Geschehen ein. In ebenso
schlichten wie starken Bildern schildert
sie das Leid von Flüchtlingen, die Habgier
unserer Gesellschaft und ruft das Publikum zur Menschlichkeit auf. Am Ende
tanzt eine riesige Skelettmarionette am
Ausgang, als wolle Sibylle uns zurufen:
Memento mori. «Ich, Sibylle» ist ein grosses humanistisches Bekenntnis.
Der Film läuft in Bern im Bubenberg (Lunchkino), im Pathé Westside und ab Donnerstag
im Kino Camera.
Weitere Aufführungen im Gymnasium
Neufeld: heute und morgen, 20.15 Uhr.
(Restkarten).
del unterzugehen. Dieser starke Lebenswille behauptet sich, ohne aufdringlich
zu wirken, da er aus den Gestalten heraus entwickelt wird. Solchen Menschen
kann man den Respekt nicht verweigern, da sie, ohne je ein grosses Wort zu
verwenden, ein humanes Anliegen verkörpern. Sie sind und bleiben, auch
wenn sie auf der Schattenseite leben,
Individuen mit einem Namen, heissen
Igor, Sonja, Hugo oder Leo und besitzen
eine unantastbare Identität. Wer aber
die früheren Bücher dieses Autors kennt,
weiss auch um seinen Sinn für Komik. In
der Titelgeschichte «Tschogglit» mit
ihrer komischen Verzweiflung liefert er
erneut ein köstliches Beispiel.
sung oder zur blossen Andeutung. Als
herausragendes Beispiel sei die Erzählung «Kellerübung» erwähnt, die man
atemlos bis zum Schluss liest.
Auch um manche der anderen Figuren weht ein Geheimnis, das ihre Würde
selbst im Unglück zu bewahren weiss.
Als Leserin und Leser fühlt man sich verführt, solche Geschichten ein zweites
Mal zu lesen. Dieser Lockruf ist schon
immer ein Gütezeichen für die Qualität
eines Textes gewesen.
Film «A Long Way Down»
Ein Mensch mit einem Namen
In Urs Berners Erzählungen
wahren die Figuren den
aufrechten Gang.
Beatrice Eichmann-Leutenegger
Sie stecken nur zu oft in Bedrängnis, haben den Partner oder die Partnerin verloren, das Heim, den Arbeitsplatz. Oder
sie geraten in eine ausweglose Lage wie
der Mann auf dem Schienentraktor, dem
es nicht mehr gelingt, das Bremsventil
aufzudrehen und die Höllenfahrt ins
Verderben zu stoppen. Aber bereits die
Kinder zieht es in den Schlamassel: Ein
Mädchen wird von der Mutter, die vermutlich in einer Alkohol- oder Drogenabhängigkeit steckt, zum Sammeln von
Spenden für seine angebliche Herzkrankheit gezwungen. Eine andere Frau
verdonnert ihren Sohn zu «Kellerübungen», während sie sich heimlich im
Schlafzimmer vergnügt. Diebe brechen
in das Heim eines Mannes ein, der sich
sorglos wähnt, weil er seine Frau zu
Hause glaubt – dabei führt auch diese
längst ein Doppelleben.
Überraschende Wendungen
Neben einigen Grossmäulern treten
weitaus häufiger die vom Leben stiefmütterlich behandelten Menschen in
Urs Berners Erzählungen auf. Der Autor,
1944 im aargauischen Schafisheim geboren und seit langem in Bern lebend, hört
aufmerksam zu und schaut genau hin. Er
hält Eigenschaften hoch, die er schon in
seinem journalistischen Berufsfeld erfolgreich eingesetzt hat. So glücken ihm
mit wenigen Strichen präzise Menschen-, Sprach- und Milieubilder. Natur-
Mit Mut zur Auslassung
Was in den Erzählungen besonders überzeugt, ist Urs Berners Mut zur Auslas-
Urs Berner, Tschogglit und elf andere
Feinheiten. Erzählungen. Neptun Verlag
AG: Kreuzlingen, 176 Seiten, Fr. 28.–
Buchvernissage mit Lesung in der
Buchhandlung Haupt, Falkenplatz 14,
Bern, heute Mittwoch, 19 Uhr.
Eintritt frei.