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Asiens Mittelschichten – Triebkraft für
politischen Wandel?
Serhat Ünaldi, Clemens Spiess,
Cora Jungbluth, Bernhard Bartsch*
November 2014 Asia Policy Brief 2014 | 06
Asienexperten waren aufgrund der jüngsten politischen Entwicklungen in
der Region zuletzt schwer beschäftigt. Ein beispielloser Erdrutschsieg bei den
Parlamentswahlen in Indien, prodemokratische Proteste in Hongkong, ein
knapper Wahlausgang in Indonesien, ein Putsch in Thailand – die Liste könnte
fortgeführt werden. Asiens Mittelschichten waren bei vielen dieser Ereignisse ein
wichtiger Einflussfaktor. Es wird immer deutlicher, dass das rasante Wachstum
dieser sozialen Gruppen eine der größten Veränderungen unserer Zeit darstellt.
Oftmals nur wegen ihres wirtschaftlichen Potenzials im Fokus von Diskussionen,
zeigen sich Asiens Mittelschichten nun auch als politische Akteure. Die Folgen
sind noch nicht abzusehen.
Laut jüngsten Schätzungen der Brookings Institution
in Indien im Vergleich zu Singapur ausgesprochen klein;
werden 2030 zwei Drittel der weltweiten Mittelschicht
dennoch ist es um die Demokratie in Indien besser be-
in der Asien-Pazifik-Region leben. Modernisierungsthe-
stellt als in dem südostasiatischen Stadtstaat.
oretikern zufolge bewirkt eine wachsende Mittelschicht
Konservative Mittelschichten nutzen ihren politi-
die Verwestlichung von Werten, Lebensstilen und vor al-
schen Einfluss oft sogar aus, um eine Demokratisierung
lem von politischen Systemen. Doch die Realität in Asien
zu verhindern. In der Tat unterstützen Teile der Mittel-
zeigt, dass Demokratisierung nicht zwangsläufig einsetzt.
schichten in der Asien-Pazifik-Region Anciens Régimes:
Ein Vergleich zwischen der Größe der Mittelschicht und
Einparteienstaaten, Monarchien oder Autokratien, deren
dem Demokratiestatus asiatischer Länder auf Grundlage
Machthaber wegen ihrer religiösen Strahlkraft oder ih-
des Transformationsindex der Bertelsmann Stiftung (BTI)
rer starken Hand gewählt werden und oft den vermeint-
in ausgewählten asiatischen Ländern zeigt, dass nur ein
lich traditionellen asiatischen Herrscher repräsentieren.
loser Zusammenhang zwischen den beiden Indikatoren
Andererseits scheint es, dass die Mittelschichten in eini-
besteht (Abbildung 1). So ist der Anteil der Mittelschicht
gen Ländern politische Liberalisierung bewirken können.
* Serhat Ünaldi und Cora Jungbluth sind Project Manager, Bernhard Bartsch ist Senior Project Manager bei der Bertelsmann Stiftung;
Dr. Clemens Spiess ist Program Officer Indien bei der Robert Bosch Stiftung.
November 2014 Asia Policy Brief 2014 | 06
Abbildung 1: Demokratisierung und Größe der Mittelschicht 2012
Anteil der Mittelschicht an der Bevölkerung (in Prozent)
100
Südkorea
90
80
Taiwan
Singapur
70
60
50
40
Thailand
30
20
China
10
Indonesien
Indien
Vietnam
0
0
2
4
6
8
10
Demokratiestatus (BTI)
Gesamtbevölkerung
Anmerkung: Der BTI verwendet fünf Kriterien, um den Demokratiestatus eines Landes zu messen: Staatlichkeit, politische Beteiligung, Rechtsstaatlichkeit,
Stabilität demokratischer Institutionen sowie politische und soziale Integration. Die Kreisgröße gibt die Bevölkerungsgröße eines Landes an.
Quellen: Anteil der Mittelschicht an der Bevölkerung (in Prozent): „Development, Aid and Governance Indicators (DAGI)“, Brookings Institution, 2012; Demokratiestatus:
BTI 2014, www.bti-project.org; Bevölkerungsdaten, Stand 2012: Weltentwicklungsindikatoren der Weltbank; Taiwan: Generaldirektion für Haushalt, Accounting und Statistik.
Dabei sind sie auch innerhalb einzelner Staaten stark
2017 die freie Wahl des Regierungschefs. Die Zentral-
untergliedert: Neue und aufstrebende Mitglieder dieser
regierung in Peking will allerdings nur vorausgewählte
Schicht stehen häufig einer etablierten Mittelschicht ge-
Kandidaten zur Wahl zulassen. Die Demonstrationen dau-
genüber, die ihr in früheren Entwicklungszyklen erwor-
erten mehrere Wochen und gingen zeitweise mit Gewalt
benes Vermögen gegen die neue Konkurrenz verteidigt.
einher: Die Polizei setzte Tränengas ein (erfolglos, denn
Jüngste Beispiele aus der Region verdeutlichen die kom-
die Studenten schützten sich unter anderem mit Regen-
plexen Beziehungen zwischen Politik und Mittelschich-
schirmen, die so zum Symbol ihrer Kampagne wurden),
ten in Asien.
während maskierte Schlägertrupps die Lager der Demonstranten attackierten.
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Wie steht es um die Demokratie? Das politische Potenzial der chinesischen Mittelschichten
stärkster Akt zivilen Ungehorsams; sie wird von den
Im September 2014 geriet Hongkongs sogenannte Re-
so eine Umfrage der Polytechnischen Universität Hong-
genschirm-Bewegung international in die Schlagzeilen.
kongs. Beobachter zogen schnell Parallelen zur Demokra-
Demonstranten, hauptsächlich Studenten, forderten für
tiebewegung auf Pekings Platz des Himmlischen Friedens
Die Regenschirm-Bewegung ist Hongkongs bislang
sieben Millionen Einwohnern mehrheitlich unterstützt,
1989 – ein Vergleich, der Teil jeder Debatte über den Um-
riere, sorgen sich um die Ausbildung ihrer Kinder, ihre
gang der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) mit
Krankheits- und Altersvorsorge sowie die Pflege ihrer El-
sozialen Unruhen ist. Obwohl die Ängste vor einer ähn-
tern. Abgesehen von der Präferenz für Stabilität und ma-
lichen Tragödie unbegründet blieben und die Bewegung
teriellen Wohlstand lassen sich kaum gemeinsame Werte,
keine ernsthafte Bedrohung für die Zentralregierung
eine kollektive Identität oder politische Haltungen erken-
war, trafen die Proteste einen wunden Punkt. Die Frage
nen, die die chinesische Mittelschicht vereinen. Manager
nach dem richtigen Umgang mit Chinas schnell wachsen-
in Staatsunternehmen oder Angestellte in ausländischen
der Mittelschicht und ihren steigenden Ansprüchen steht
Unternehmen gehören ihr ebenso an wie Regierungska-
hoch oben auf Pekings Agenda.
der, Universitätsprofessoren oder freischaffende Künstler.
Chinas staatlich kontrollierte Medien spielten die Demonstrationen in Hongkong nach Kräften herunter, indem
Deshalb wäre es eher zutreffend, im Plural von chinesischen Mittelschichten zu sprechen.
sie die Demonstranten als verzogene Jugendliche und Un-
Im Hinblick auf ihre politische Positionierung lassen
ruhestifter darstellten, die unter dem Einfluss feindseliger
sich die Mittelschichten grob in eine Gruppe „innerhalb
fremder Mächte agierten. Zwar lässt sich die tatsächliche
des Systems“ (tizhinei) und eine „außerhalb des Systems“
öffentliche Meinung in China in Abwesenheit freier Be-
(tizhiwai) gliedern. Gemeint sind damit zum einen Mitar-
richterstattung und unabhängiger Umfragen schwer er-
beiter von Regierungs- und regierungsnahen Institutionen
fassen. Doch zumindest ein Teil der chinesischen Bürger
und zum anderen Angehörige anderer Professionen. Da
dürfte insgeheim mit den Forderungen nach mehr Betei-
Erstere mit ihren Karrieren vollkommen vom Regime ab-
ligung und stärkerer Kontrolle der KPCh sympathisieren.
hängig sind, tendieren sie eher dazu, dieses zu unterstüt-
Trotzdem lässt sich von Hongkongs Demokratisie-
zen als Letztere, die sich außerhalb des Systems befinden.
rungsbestrebungen nicht direkt auf das chinesische Fest-
Allerdings können oder wollen auch „Außenseiter“ dem
land schließen. Während die Mehrheit der Hongkonger
Einfluss des Systems aufgrund der bedeutenden Rolle per-
Bevölkerung zur Mittelschicht gehört, lässt sich die Mit-
sönlicher Netzwerke (guanxi) nicht komplett entgehen.
telschicht auf dem Festland nur schwer quantifizieren.
Doch dies ist nur eine Seite der Medaille. Ein wach-
Schätzungen gehen von vier bis 25 Prozent der Gesamt-
sender Teil der chinesischen Mittelschichten ist zuneh-
bevölkerung bzw. acht bis 50 Prozent der Stadtbevölke-
mend unzufrieden mit Umweltverschmutzung, Lebens-
rung aus. Am häufigsten wird eine Größenordnung von
mittelskandalen, Korruption und dem mangelhaften
etwa 300 Millionen Menschen genannt. Die Mittelschicht
Schutz persönlicher Rechte. Angesichts dieser Proble-
auf dem Festland lässt sich im weitesten Sinn über so-
me gewinnt die chinesische Zivilgesellschaft an Einfluss.
zioökonomischen Wohlstand definieren. Der Dreiklang
Internet und soziale Medien wie der Microblogging-Dienst
„Wohnung, Auto, Geld“ ist dafür ein verbreitetes Symbol.
Weibo erhöhen ihr Organisationspotenzial. Chinas Füh-
Die Mehrheit der Mittelschicht hat im Lauf ihres Lebens
rung um Xi Jinping sieht in einer zu freien digitalen Kom-
eine erhebliche Verbesserung der Lebensbedingungen
munikation eine Bedrohung des sozialen Friedens und
erfahren. Sie bevorzugt daher soziale und politische
der eigenen Autorität und hat die Kontrolle über Medien
Stabilität und fürchtet einen Rückfall in die chaotischen
und Internet verstärkt. Gleichwohl ist der soziale Spreng-
Zustände der Mao-Zeit. Das Bedürfnis, Stabilität unter al-
stoff innerhalb der chinesischen Gesellschaft nicht zu un-
len Umständen zu wahren, ist das Hauptargument gegen
terschätzen. Denn nicht nur Chinas Mittelschichten sind
demokratische Reformen. Angehörige der chinesischen
gespalten, sondern das ganze Land – in Stadt und Land,
Mittelschicht konzentrieren sich vor allem auf ihre Kar-
in entwickelten Osten und unterentwickelten Westen, in
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Arm und Reich. Letzteres zeigt der alarmierende Anstieg
litärjunta regiert, das andere von einem demokratisch
des Gini-Koeffizienten von 0,2 im Jahr 1988 auf 0,47 im
gewählten Präsidenten, der eine progressive Agenda ver-
Jahr 2013. Die Mittelschichten sitzen buchstäblich in der
folgt. In der Tat halten Analysten in den letzten Monaten
Mitte dieser Entwicklungen. Auch wenn diese heterogene
Indonesien als neues Aushängeschild der Demokratie in
gesellschaftliche Gruppe derzeit nicht als vereinte Trieb-
der Region hoch. Dem wird Thailand gegenübergestellt,
kraft für politischen Wandel gelten kann, dürfte sie ihre
das sich im freien Fall in den politischen Abgrund zu
Möglichkeiten zur politischen Beteiligung über formale
befinden scheint. Eine solche Analyse leuchtet ein, ver-
und informelle Kanäle kontinuierlich ausbauen.
gleicht man die rationale und bescheidene Natur des
indonesischen Präsidenten Joko „Jokowi“ Widodo mit dem
4
Die Tyrannei der „Alten Mitte“: Wie
Mittelschichtsreaktionäre in Thailand und
Indonesien neue „Klassenkameraden“
unterdrücken
ungeschickten Handeln des thailändischen Militärfüh-
Wie in China so sollte auch in Südostasien der Begriff „Mit-
sogenannten „Neuen Ordnung“, entkommen ist: Fast jeder
telschicht“ im Plural verwendet werden, um ihre interne
zweite indonesische Wähler riskierte durch seine Unter-
Zerrissenheit widerzuspiegeln. Diese Vielgestaltigkeit er-
stützung des umstrittenen Kandidaten Prabowo Subianto,
klärt nicht nur die besondere Klassendynamik in südost-
der einen diktatorischen Führungsstil erwarten ließ, eine
asiatischen Gesellschaften, sondern auch die politischen
Wiederkehr der „Neuen Ordnung“. Und obwohl Prabowo
Entwicklungen in einigen Ländern der Region. Jüngste
die Wahl verlor, beherrschen die ihn unterstützenden Par-
Ereignisse haben verdeutlicht, dass sich die Demokratie
teien weiterhin das Parlament. Im September versuchten
in Südostasien vorerst auf dem Rückzug befindet. Trotz
sie bereits, die Demokratie zu untergraben – durch den Be-
des fragilen Fortschritts in Ländern wie Myanmar und
schluss, die Direktwahlen auf lokaler Ebene abzuschaffen.
rers Prayuth Chan-ocha. Zu leicht wird jedoch übersehen, wie knapp Indonesien bei der Präsidentschaftswahl
einer Rückkehr zu seiner autoritären Vergangenheit, der
den Philippinen haben Konflikte über gegensätzliche In-
Auf der Suche nach Erklärungen für die Polarisierung
teressen und politischen Einfluss dazu geführt, dass sich
in beiden Ländern ist es wichtig, den Blick nicht starr auf
Gesellschaften voneinander entfernen. Eine genauere Be-
eine Arm-vs.-Reich-Dichotomie zu richten. Medienberich-
trachtung der Mittelschichten in Thailand und Indonesien
ten zufolge haben nicht hauptsächlich die Armen und Un-
kann helfen, die Ursachen hierfür besser zu verstehen.
gebildeten am Rande der indonesischen Gesellschaft Pra-
2014 war ein entscheidendes Jahr für beide Länder.
bowo unterstützt – im Gegenteil. In den Wochen vor den
Während Thailand eine weitere Welle gewalttätiger Pro-
Wahlen musste Jokowi besonders hart daran arbeiten, die
teste durchlebte, die in einen erneuten Militärputsch mün-
urbane und vermeintlich rational veranlagte Mittelschicht
deten, liefen die Präsidentschaftswahlen in Indonesien
zu umwerben, um sich seinen Sieg zu sichern. Während
friedlich ab, förderten jedoch trotzdem eine politische
Wähler mit einfachem Grundschulabschluss hauptsäch-
Kluft zutage. In beiden Staaten waren die politischen Ent-
lich Jokowi unterstützten, gaben diejenigen mit Hoch-
wicklungen im Wesentlichen nicht von Spannungen zwi-
schulabschluss und einem Monatseinkommen von mehr
schen den Extremen der Gesellschaft getrieben, sondern
als zwei Millionen Indonesischen Rupiah (165 US $) ihre
von jenen innerhalb der Mittelschichten.
Stimme Prabowo. Es war ihre Nostalgie, ihre Sehnsucht
Es mag verwundern, zwei scheinbar grundverschie-
nach den guten alten Tagen eines effizienten Autoritaris-
dene Länder wie Thailand und Indonesien zu vergleichen.
mus und ihre Enttäuschung über eine korruptionsanfäl-
Das eine wird von einer bizarren und reaktionären Mi-
lige Demokratie, die in Indonesien fast zum Niedergang
derselben geführt hätten. In Thailand führte ebenfalls
Die Indonesier konnten dieses Schicksal vorerst durch die
eine urbane Mittelschicht die demokratiefeindlichen Pro-
Wahl von Jokowi abwenden, obwohl sein Vorsprung alles
teste an, in sehnsüchtiger Erinnerung an eine Zeit, in der
andere als beeindruckend war. Es ist diese „alte Mitte“,
thailändische Generale das Königreich im Gespann mit
die Jokowi und andere Demokraten in Südostasien davon
der Monarchie regierten. Im Gegensatz dazu schienen die
überzeugen müssen, dass mehr Solidarität und Demokra-
Angehörigen der entstehenden unteren Mittelschicht in
tie vonnöten ist.
den Provinzen die Demokratie zu stützen.
hilft, diesen Umstand zu verstehen. In der zweiten Hälfte
Die „Große indische Mittelschicht“
am Scheideweg
des 20. Jahrhunderts begünstigten die auf Entwicklung
Die Ergebnisse der Parlamentswahlen 2014 in Indien
fixierten Regime in der Region die Entstehung einer Mit-
kamen für viele überraschend. Das lag nicht so sehr an
telschicht, die ihre Existenz diesen autoritären Staaten
der Tatsache, dass die Bharatiya Janta Party (BJP) und ihr
verdankte. Die Identität dieser Mittelschicht wurde nicht
charismatischer Kandidat Narendra Modi den Sieg davon-
in einem demokratischen Kontext oder im Widerstand ge-
trugen, sondern vielmehr an der Eindeutigkeit des Wähler-
gen den Staat geformt, sondern in symbiotischer Bezie-
votums, in dem sich die enorme Unzufriedenheit mit der
hung mit ihm. Erst als dieses Arrangement zu versagen
bis dato regierenden Kongresspartei widerspiegelte. Diese
begann – insbesondere infolge der Asienkrise 1997, als
Unzufriedenheit resultierte aus der Wut der Mittelschicht
sich die Schwäche technokratischer Macht und der von
über die „Business as usual“-Haltung der politischen Klas-
oben verordneten Entwicklung abzeichnete – half die
se des Landes. Der Wahlausgang legt nahe, dass die indi-
Mittelschicht dabei, den Autoritarismus zu kippen. Doch
sche Mittelschicht zunehmend an Bedeutung gewinnt und
die Wirtschaft in der Region erholte sich und das neue
auf politische Veränderungen drängt, die ihrer Größe und
Wachstum erfasste schließlich auch die Menschen am ge-
ihrer gesellschaftlichen Rolle entsprechen.
Ein Blick auf die historische Entwicklung Südostasiens
sellschaftlichen Rand. Diese aufstrebende Mittelschicht
Noch lange nachdem die Liberalisierung eine beispiel-
schürte das Misstrauen der etablierten Mittelschicht, de-
lose Dynamik der indischen Wirtschaft entfesselt hatte,
ren sentimentale Bindung an die Entwicklungsdiktatu-
wurde in der Literatur über die indische Mittelschicht de-
ren erstarkte. Während demokratische Mitbestimmung
ren apolitische und introspektive Natur betont. Zugleich
von den Newcomern als nützliches Instrument zur Ein-
wurde ihr wirtschaftliches Potenzial im Hinblick auf einen
flussnahme betrachtet wurde, zeigte sich die etablierte
beständig wachsenden Verbrauchermarkt zu optimistisch
Mittelschicht – die zahlenmäßig relativ klein und daher
dargestellt. Es scheint, dass sich diese Wahrnehmung in
unsicher war – eher defensiv. Ihre Angehörigen hatten
den letzten Jahren geändert hat. Beginnend mit Anna Ha-
einfach nicht gelernt zu teilen. Also begannen diese Mit-
zares Anti-Korruptionskampagne, über den Aktivismus,
telschichtsreaktionäre erneut, Autoritarismus zu stützen,
der durch den Vergewaltigungsfall vom 16. Dezember
wie etwa die royalistischen Generäle in Thailand und
2012 entfacht wurde, bis hin zu den Parlamentswahlen im
den New-Order-Lakaien Prabowo in Indonesien. Dadurch
Mai 2014: Die Mittelschicht scheint sich ihres Potenzials
brachten sie nicht nur die Demokratisierung in Gefahr,
als Triebkraft für Veränderungen bewusst geworden zu
sondern auch den materiellen Aufschwung ihrer neuen
sein und kritisiert nun wichtige Missstände, wie unglei-
Klassenangehörigen.
che Machtverteilung, politischen Stillstand und Korrupti-
Der „Tyrannei der alten Mitte“ gelang es in Thailand
on. Ist die indische Mittelschicht mithin im Begriff, ihre
bereits, die demokratischen Institutionen zu zerstören.
Macht auf demokratischem Wege auszubauen, indem sie
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mehr politische Mitsprache und Beteiligung fordert – wie
und Sichtbarkeit ist die dominante indische Mittelschicht
von der Modernisierungstheorie vorhergesagt?
daher überwiegend ein urbanes Phänomen. Anders als
Die Annahmen über die Struktur der neuen indischen
früher, als sich die Mittelschicht primär auf den öffentli-
Mittelschicht und ihre Größe variieren erheblich: Die
chen Sektor konzentrierte und mehrheitlich aus Beamten
auffälligste Eigenschaft, die sie mit den Mittelschichten
bestand, rekrutiert sie sich heue mehr aus dem privaten
anderer asiatischer Länder gemeinsam hat, ist ihre au-
Sektor und ist wirtschaftlich unabhängiger.
ßergewöhnliche innere Vielfältigkeit. Es existieren zahl-
Die Ziele der neuen Mittelschicht waren bis vor kur-
reiche Untergliederungen nach Kaste, Region, Beschäfti-
zem vor allem der Schutz der eigenen materiellen Inter-
gung, Einkommen, Gemeinschaft usw. Gleichwohl wird
essen und sozialen Privilegien. Neuerdings gibt es An-
die stärkste Untergruppe der indischen Mittelschicht in
zeichen dafür, dass die Mittelschicht beginnt, kollektiv
ideologischer Hinsicht zunehmend homogener. Sie ist
als Klasse zu handeln, indem sie politische Forderungen
eine echte „Klasse“, deren Einfluss über ihre numerische
erhebt im Hinblick auf Probleme wie Korruption, Ver-
Größe hinausreicht, nicht zuletzt aufgrund der Nutzung
antwortlichkeit der Regierungsführung und soziale Un-
moderner Technologien, wie etwa der sozialen Medien.
gleichheit. Vor der Hazare-Bewegung hatte sie sich haupt-
Diese dominante Untergruppe besteht größtenteils aus
sächlich im Bereich der „neuen Politik“, außerhalb der
wohlhabenden, beruflich gut situierten, jungen und
Wahlarena, engagiert. Infolge ihrer Enttäuschung über
hauptsächlich den oberen Kasten angehörigen Hindus in
das „schmutzige“ Geschäft der Politik organisierte sie
den großen Metropolen. Ihr stehen die weniger lautstar-
sich häufig in zivilgesellschaftlichen Organisationen wie
ken, niederen Mittelschichten in den Kleinstädten und
Resident Welfare Associations oder Advanced Locality
ländlichen Gebieten gegenüber. In Bezug auf Einkommen
Management Groups, um sich Zugang zu den lokalen Re-
Abbildung 2: Mittelschichten in Asien: Schätzung und Prognosen
90
Anteil der Mittelschicht an
der Bevölkerung (in Prozent)
80
70
60
50
40
30
20
10
0
4 23 68
2 23 68
Ostasien und Pazifik
China
1
9 81
Indien
4 19 73
21 42 85
Indonesien
Thailand
Anmerkung: Die Mittelschicht umfasst Personen, die 10 bis 100 US $ am Tag verdienen oder ausgeben (Kaufkraftparität 2005).
Quelle: Development, Aid and Governance Indicators (DAGI), Brookings Institution, 2012.
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2000
2014
2030
gierungsstrukturen zu verschaffen. Die Straßenproteste
gekehrt. Einige asiatische Länder sind geschickt darin,
und der Medienrummel während der Hazare-Bewegung
die materiellen Bedürfnisse ihrer Bürger zu befriedigen
und besonders die anschließende Gründung der Aam
und Entwicklung in Form von „Brot und Spielen“ anzu-
Admi Party („Partei des einfachen Mannes“) markieren
bieten. Mancherorts versuchen etablierte Mittelschichten
eine Abkehr von dieser früheren, eher apolitischen und
sogar, die lästigen Konkurrenten einer neuen, aufstreben-
introspektiven Haltung.
den Mittelschicht politisch zu entrechten. Solange die An-
Ist dies tatsächlich der Beginn einer nachhaltigen
gehörigen der dominanten Mittelschicht ihre Interessen
Demokratisierung oder nur eine pragmatische und in-
durch die Verteidigung des Status quo gewahrt sehen,
strumentelle Unterstützung der Demokratie? Ist es ein Aus-
scheint es für sie keinen Bedarf zu geben, die politischen
druck progressiver Werte, die u. a. darauf abzielen, Kasten-
Spielregeln zu ändern.
identitäten zu überwinden und einen stärkeren Fokus auf
Dennoch ist es zu früh, die asiatischen Mittelschich-
das Gemeinwohl zu legen? Die untere Mittelschicht, noch
ten als Akteure politischen Wandels abzuschreiben. Denn
immer anfällig für Erschütterungen in der Wirtschaft, ten-
auch ihre Pendants im Westen waren nicht immer die al-
diert zu einer eher pragmatischen Sicht auf die Demokratie
leinige Quelle aufgeklärten Fortschritts und sind es bis
und bleibt weiterhin empfänglich für Identitätspolitik. Die
heute nicht. Beobachter der Mittelschichten der europäi-
dominante, wohlhabendere, urbane Mittelschicht scheint
schen Zwischenkriegszeit – z. B. Deutschlands Mittelstand
als politisches Korrektiv wirksamer zu sein – ihr gelang
in den 1930er Jahren – hätten sich schwer getan, in die-
es des Öfteren, ihre Forderungen in die politische Debatte
sen reformerische Kräfte zu sehen. Eine Analyse gesell-
einzubringen und so die Aufmerksamkeit auf Probleme
schaftlicher Schichten ist stets kulturell und historisch
wie Korruption, die Rolle der Frau in der Gesellschaft und
bedingt. So wie sich Kulturen und Zeiten ändern, ändert
den verbesserten Zugang zu Infrastrukturen wie Straßen,
sich auch die Haltung der Mittelschicht. Vergleicht man
Wasser oder Elektrizität zu lenken. Allerdings fehlt auch
etwa die Forderungen der Mittelschichten in Taiwan oder
ihr Geduld im Umgang mit den verschlungenen Wegen der
Hongkong mit jenen auf dem chinesischen Festland, ver-
Demokratie. Sie zeigt eine Vorliebe für Hindu-Nationalis-
lieren Thesen über einen angeblichen chinesischen Ex-
mus als Reaktion auf das Entstehen politischer Parteien,
zeptionalismus oder über eine nicht mit Demokratie zu
die niedere Kasten repräsentieren, und scheint Effizienz
vereinbarende chinesische Kultur an Plausibilität. Wenn
(oder denjenigen, der sie verspricht) einer echten politi-
der Frust über Korruption wächst, wenn wirtschaftliche
schen Beteiligung vorzuziehen. Eine echte Probe, ob die
Entwicklung aufgrund von Vetternwirtschaft und In-
indische Mittelschicht als treibende Kraft für politische
effizienz stockt und Märkte aufgrund einer schwachen
Veränderung fungiert, steht noch aus.
Weltwirtschaft einbrechen, wenn Kritik nicht mehr unterdrückt werden und die aktive Befeuerung von Nationalis-
Perspektiven der asiatischen Mittelschichten
mus nicht mehr von nationalen Problemen ablenken kann,
Obwohl Indikatoren und Prognosen variieren, scheint
dann werden die asiatischen Mittelschichten früher oder
das Wachstum der asiatischen Mittelschichten zu einem
später weniger Paternalismus und mehr direktes Mitspra-
entscheidenden Faktor globaler Entwicklung zu werden
cherecht fordern. Dies wäre nicht nur Ergebnis einer Ver-
(Abbildung 2). Die Ereignisse in China, Südostasien und
westlichung, sondern auch eine natürliche Antwort auf
Indien in 2014 zeigen aber auch, dass die Existenz einer
das Versagen des Staats, seinen Bürgern zu dienen. Es
substanziellen Mittelschicht nicht automatisch mit einer
bleibt abzuwarten, ob die Modernisierungstheoretiker
beschleunigten Demokratisierung einhergeht – eher um-
in Asien das letzte Wort haben werden.
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Weiterführende Literatur:
Asmarani, Devi. „Nostalgia for the New Order May
Li, Cheng (Hrsg.). China’s Emerging Middle Class:
Drive Middle Class to Prabowo.“ The Malay Mail
Beyond Economic Transformation. Washington, DC
Online, 29. Juni 2014. Online verfügbar: http://m.
2010.
themalaymailonline.com/opinion/devi-asmarani/article/
nostalgia-for-the-new-order-may-drive-middle-classto-prabowo (Zugriff am 22. Oktober 2014).
Thompson, Mark R. „Reform after Reformasi:
Middle Class Movements for Good Governance
after Democratic Revolutions in Southeast Asia.“
Chen, Jie. A Middle Class without Democracy:
Arbeitspapier Nr. 21, Centre for East and Southeast
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Asian Studies, Universität Lund, Schweden 2007.
Democratization in China. Oxford, New York 2013.
Online verfügbar: http://lup.lub.lu.se/record/951756/
Kapur, Devesh. „The Middle Class in India: A Social
file/3127795.pdf (Zugriff am 22. Oktober 2014).
Formation or Political Actor?“ In: Julian Go (Hrsg.).
Varma, Pavan K. The Challenge of 2014 and Beyond:
Political Power and Social Theory. Bingley 2010,
The New Indian Middle Class. Delhi 2014.
143 – 169.
Kurlantzick, Joshua. Democracy in Retreat: The Revolt
of the Middle Class and the Worldwide Decline of
Representative Government. New Haven, CT 2013.
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asien unter „Kurzanalysen zu aktuellen Themen“.
ISSN 2195-0485
V.i.S.d.P.
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Stephan Vopel
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Dr. Peter Walkenhorst
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