NZZ am Sonntag - Neue Zürcher Zeitung
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Nr. 8 | 28. September 2014 NZZ am Sonntag Vatikan Ein Reaktionär wird zum Revolutionär 16 Nominiert Fünf Autoren für Schweizer Buchpreis 4 und 11 Finnland Coole LiteraturLandschaft 12 Schweiz EDA-Diplomat beklagt den Niedergang 22 Bücher am Sonntag Neu Eine rasante Fahrt durch die Geschichte des Wintersports. Die Suche nach gesunder Bergluft ist es, die vorab Deutsche und Engländer in die noch unerschlossenen Berge zog. Ihre Abenteuerlust und der einheimische Unternehmergeist prägen die Entwicklung des jungen Wintertourismus, der bald viele andere Orte und benachbarte Länder erfasst. Zunächst ein Tummelplatz der Reichen und Schönen, wird der Wintersport zur Volksbewegung. Mit diesem Buch wird diese grosse Geschichte erstmals zusammenhängend – und reich illustriert – erzählt. <wm>10CAsNsjY0MDAx1TUyMjE0NQAAPXzM3w8AAAA=</wm> <wm>10CFXKoQ7DMAxF0S9y9J5jO3EDq7KqoCoPmYb3_2hbWcElV2ffhxfcrdtxbecgYC6qRv_99KItRlctsD6Q7ArawkBli6YPL2BGRZ1_I0hhnwyBSvWZsPJ5vb-Q-OWXcgAAAA==</wm> Michael Lütscher Schnee, Sonne und Stars Wie der Wintertourismus von St. Moritz aus die Alpen erobert hat 272 Seiten, 250 Abbildungen. Gebunden. Fr. 88.–*/€ 88.– Nzz Libro auf nzz-libro.ch 152 153 17 Eissegeln auf dem schwarz gefrorenen Silsersee, um 1890. 18 Eissegeln auf einer Eisbahn in St.Moritz. 19 Curling vor dem schiefen Turm von St.Moritz. 17 DER PULITZERPREIS DES SCHLITTELNS 18 156 19 Funkverbindung. Das Rennen gewinnen der Klosterser Pöstler Peter Minsch und der australische Viehzüchter George Pringle Robertson ex aequo. Die Preisverleihung findet im Hotel Silvretta beim Ziel in Klosters statt. Ganz Gentleman überlässt der Australier dem Klosterser den Sieg und das Preisgeld von 100 Franken.87 Eine hübsche Summe – genau doppelt so viel, wie Briefträger Minsch im Monat verdient.88 Im selben Jahr gründet Symonds mit anderen Gästen den Davos Toboggan Club, und 1884 wird das «International», wie das Rennen genannt wird, um ein Tal ausgeweitet: Diesmal werden auch die Engadiner aus St. Moritz eingeladen. Diese haben auf dem fremden Parcours zwar keine Chance, aber sie lassen sich vom Wettkampfgeist anstecken. Denn: «Die Natur des Engländers ist der Wettkampf.» 89 Die Teilnehmer aus dem Engadin beschliessen, sich zu revanchieren. Aber wie? Die St. Moritzer Schlittelbahnen auf der Strasse vom Dorf ins Bad und vom «Kulm» zum See scheinen zu kurz und zu einfach. Unter der Führung des Australiers Robertson, der inzwischen in St. Moritz logiert, wird eine neue Bahn hinunter zum Weiler Cresta geplant. Major William Henry Bulpett, der Vorsitzende des «Outdoor Amusement Comittees» des Hotels Kulm, übernimmt die Ausführung, unterstützt vom einheimischen Ingenieur Peter Bonorand. Die Badrutts vom Hotel Kulm stellen Land und Arbeiter zu Verfügung.90 Ende 1884 ist der Cresta Run fertig. Neuartig sind die überhöhten Kurven – die zwecks Stabilität vereist sind. Ob die Davoser da zurechtkommen? Mitte Februar 1885 reisen sie an, nachts in oΩenen Schlitten über den Julier, um beim neuen Rennen, dem «Grand National» mitzumachen.91 Hunderte warten gespannt auf den neu errichteten Tribünen. Trotz vereister Kurven gewinnt ein «Davoser», der Engländer Charles Austin. Noch sitzen die Fahrer auf ihren Rennschlitten. Aber bald schon legen sich die ersten Wagemutigen kopfvoran da- 153 Es geht um Lifestyle: Herbert Matter für FISRennen in Engelberg, 1938. 24 Am Anfang war das Licht 25 157 152 Sport im Zentrum: Alex Walter Diggelmann für Skirennen in Mürren, 1931. 154 155 154 Heimat ist weiblich: Martin Peikert für Wengen, 1948. 156 Es geht um die neue Sesselbahn: Martin Peikert für Verbier, 1951. 155 RaupenLastwagen als Attraktion: Alex Walter Diggel mann für Gstaad, 1943. 157 Berge sind verführerisch: Martin Peikert für Champéry, 1947. Inhalt Heiss im polaren Finnland ist nicht nur die Sauna Papst Franziskus (Seite 16). Illustration von André Carrilho Finnland ist anders. Das Land mit 5,4 Millionen Einwohnern (Schweiz: 8,1 Mio.) und einer Fläche so gross wie Deutschland liegt zu einem Drittel nördlich des Polarkreises. Bei den Pisa-Tests schneiden die Finnen, für die Zweisprachigkeit in der Schule obligatorisch ist, stets hervorragend ab. Suomi hat seine Unabhängigkeit vor weniger als 100 Jahren erlangt, geht uns aber eine Stunde voraus – und ist auch sonst ein cooles Land: Jährlich erscheinen 5000 neue Bücher, seine Bibliotheken sind kostenlos. Auf Seite 12 stellen wir Ihnen den Ehrengast der Frankfurter Buchmesse und seine wichtigsten Autorinnen und Autoren vor. Nach anderthalb Jahren ist es an der Zeit, den erstaunlichen Wandel des Jorge Mario Bergoglio vom konservativen Kirchenfürsten unter der argentinischen Militärdiktatur zum progressiven Aufräumer im Vatikan nachzuzeichnen (S. 16). Weniger heilig mutet dagegen die Vita der Wiener Künstlermuse Alma Mahler-Werfel an. Ihre ausschweifenden Amouren, der Alkoholkonsum, die psychische Überspanntheit – all das würde ihr heute zum Attribut «Salonluder» verhelfen. Doch eine eindrückliche neue Biografie zeigt, wie dieses schrille Leben von tragischen Schicksalsschlägen begleitet war (S. 18). Dies und vieles mehr möchten wir Ihnen zum sonntäglichen Brunch auf den Tisch legen und wie seinerzeit der neue Oberhirte vom Balkon des Petersdoms rufen: Buon pranzo! Urs Rauber Belletristik Guy Krneta: Unger üs Von Regula Freuler 6 Herta Müller: Mein Vaterland war ein Apfelkern Von Sandra Leis Richard Tuttle: Prints Von Gerhard Mack 7 Marica Bodrožić: Mein weisser Frieden Von Charles Linsmayer 8 Stewart O’Nan: Die Chance Von Martin Zingg 9 Thornton Wilder: Die Brücke von San Luis Rey Von Stefana Sabin 10 Charles Jackson: Das verlorene Wochenende Von Bruno Steiger 11 Tanguy Viel: Das Verschwinden des Jim Sullivan Von Monika Burri Kurzkritik Schweizer Buchpreis 11 Lukas Bärfuss: Koala Von Regula Freuler Heinz Helle: Der beruhigende Klang von explodierendem Kerosin Von Regula Freuler Gertrud Leutenegger: Panischer Frühling Von Manfred Papst Dorothee Elmiger: Schlafgänger Von Manfred Papst Essay 12 Eine leseverrückte junge Nation Angela Gutzeit über die Literatur Finnlands, des diesjährigen Gastlandes an der Frankfurter Buchmesse Kolumne 15 Charles Lewinsky Das Zitat von Oscar Wilde Die 61-jährige Nobelpreisträgerin Herta Müller blickt auf ihre Kindheit in Rumänien zurück (S. 6). Kurzkritiken Sachbuch 15 Rolf Schieder: Die Gewalt des einen Gottes Von Kathrin Meier-Rust Hatice Akyün: «Verfluchte anatolische Bergziegenkacke» Von Urs Rauber Claudia Theune: Archäologie an Tatorten des 20. Jahrhunderts Von Geneviève Lüscher Mirian Goldenberg: Untreu Von Kathrin Meier-Rust Sachbuch 16 Daniel Deckers: Papst Franziskus Paul Vallely: Papst Franziskus Nello Scavo: Bergoglios Liste Von Klara Obermüller CATO LEIN 4 18 Susanne Rode-Breymann: Alma Mahler-Werfel Von Kirsten Voigt 19 Dirk Kämper: Kurt Landauer Von Claudia Kühner Andrej Kurkow: Ukrainisches Tagebuch Von Reinhard Meier 20 Daniel Barenboim: Musik ist alles und alles ist Musik Von Corinne Holtz 21 Alexander Görlach: Wir wollen Euch scheitern sehen! Christian Wulff: Ganz oben – ganz unten Von Urs Rauber 22 Simon Geissbühler: Die Schrumpf-Schweiz Von Paul Widmer 23 ScottStossel:Angst Von Michael Holmes Thomas Bleitner: Frauen der 1920er Jahre Von Malena Ruder 24 Georg Germann: Das Multitalent Philipp Gosset (1838–1911) Von Geneviève Lüscher Beat Kappeler: Leidenschaftlich nüchtern Von Tobias Straumann 25 Alastair Brotchie: Alfred Jarry Von Manfred Papst 26 Christiane Florin: Warum unsere Studenten so angepasst sind Von Seán Williams Das amerikanische Buch Laura Hillenbrand: Unbroken. A World War II Story of Survival, Resilience and Redemption Von Andreas Mink Agenda 27 Rudolf Gamper, Thomas Hofmeier: Alchemische Vereinigung Von Manfred Papst Bestseller September 2014 Belletristik und Sachbuch Agenda Oktober 2014 Veranstaltungshinweise Chefredaktion Felix E.Müller (fem.) Redaktion Urs Rauber (ura., Leitung), Regula Freuler (ruf.), Geneviève Lüscher (glü.), Kathrin Meier-Rust (kmr.), Manfred Papst (pap.) Ständige Mitarbeit Urs Altermatt, Urs Bitterli, Hildegard Elisabeth Keller, Manfred Koch, Gunhild Kübler, Sandra Leis, Charles Lewinsky, Andreas Mink, Klara Obermüller, Angelika Overath, Martin Zingg Produktion Eveline Roth, Hans Peter Hösli (Art Director), Susanne Meures (Bildredaktion), Raffaela Breda (Layout), Korrektorat St.Galler Tagblatt AG Verlag NZZ am Sonntag, «Bücher am Sonntag», Postfach, 8021 Zürich, Telefon 0442581111, Fax 0442617070, E-Mail: [email protected] 28. September 2014 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3 Belletristik Schweizer Buchpreis Mit Guy Krnetas sprachmusikalischem Familienalbum «Unger üs» ist zum zweiten Mal ein Mundartbuch nominiert VomUnggleSämi uvor IsabelusPeru Guy Krneta: Unger üs. Mit einem Nachwort von Klaus Merz. Der gesunde Menschenversand, Luzern 2014. 159 Seiten, Fr. 24.90. Von Regula Freuler Den Preis für den umtriebigsten Schweizer Kulturschaffenden hat er bereits gewonnen, nämlich den Prix Suisseculture vor zwei Jahren. Wie kein anderer auf seinem Gebiet – das ist die Literatur in dramatischer, performativer und schriftlicher Form – hat Guy Krneta eben dieses geprägt: als Initiator des Literaturinstituts in Biel, als Kulturfestival-Organisator, Theaterleiter und Dramaturg in Bern und Aarau, als Schreibcoach beim Schulhausroman-Projekt, als politischer Aktivist mit der Aktion «Rettet Basel!» beim Verkauf der «Basler Zeitung» an Christoph Blocher und dessen Umfeld. Und natürlich hat Krneta sich einen Namen gemacht als Schriftsteller, Dramatiker und Spoken-Word-Performer. Vor allem eine wäre ohne ihn nicht da, wo sie heute steht: die neue Mundartliteratur, die er mit der 2003 gegründeten Spoken-Word-Formation «Bern ist überall» wiederbelebt hat. Mit einem berndeutschen Buch ist der 50-jährige Guy Krneta jetzt für den Schweizer Buchpreis vorgeschlagen: «Unger üs». Es ist der zweite Mundarttitel, der für diese publikums- und medienwirksame Auszeichnung nominiert wird. Der erste war «Der Goalie bin ig» von Pedro Lenz im Jahr 2010, der allerdings nicht gewann. Beide sind in der Edition Spoken Script des Luzerner Kleinverlags Der gesunde Menschenversand erschienen, der einen grossen Teil zur heute so lebendigen MundartLiteraturszene beigetragen hat. Obwohl «Unger üs» sich wie ein Episodenroman liest, steht neben dem Titel 4 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. September 2014 die ungewöhnliche Genrebezeichnung «Familienalbum». Der Grund dafür liegt im Ursprung des Buches, einer gleichnamigen Lese- und Konzertreihe, die Guy Krneta mit Musikern und einer Sängerin durchgeführt hat und bei der die Texte vorgetragen wurden. Für den SpokenWord-Roman hat er die Auftrittstexte zu einem Ganzen verbunden. Auf diese Weise ist Guy Krneta auch bei seinem Buch «Zmittst im Gjätt uss» verfahren, das 2003 zweisprachig (Mundart und Hochdeutsch) im Berliner Aufbau-Verlag erschienen ist. Im Schwulenchor Köniz Wer um diesen Entstehungsprozess nicht weiss, mag erstaunt sein, liest sich das Buch doch wie aus einem Guss – sofern man mit der Short-Cuts-Manier vertraut ist. Manche Episoden sind nur einige Sätze kurz, andere mehrere Seiten lang. Die Geschichte verläuft auf verschiedenen Zeitebenen: Eine beginnt in der näheren Vergangenheit, in welcher der Grossvater die Hauptperson spielt, und reicht bis zu dessen Begräbnis. Eine andere reicht in die fernere Vergangenheit zurück, aus der der Ich-Erzähler (wir erfahren nur seinen zweiten Vornamen: Arthur) aus seiner jungen Erwachsenenzeit als Dienstverweigerer berichtet. Und zuletzt gibt es noch die Figur des Unggle Sämi, mit dem Krneta uns in die Kindheit des Ich-Erzählers führt. Die Sämi-Episoden haben die Wirkung eines Running Gags und beginnen fast immer mit demselben Satz: «Dr Unggle Sämi isch zwöuf Jahr euter gsi.» Oft enden sie mit einer Pointe über diesen offenbar ungewöhnlichen Mann, der als einziger Nichtschwuler im Schwulenchor Köniz sang und dem Ich-Erzähler gerne einen Bären aufband. In die Kindheitsepisoden fällt auch das rätselhafte Verschwinden und Wiederauftauchen eines Ferienhauses. Anders als dieser weitgehend fiktive Erzählstrang ist jener über die Zeit im Gefängnis in Genf, wo der Erzähler sechs Monate Halbgefangenschaft wegen Dienstverweigerung abbüssen musste, autobiografisch. Im Ausgang verliebt der Protagonist sich in Isabel, eine Peruanerin. Als deren Visum abläuft und sie zurück in ihre Heimat muss, gelingt es ihm nicht, sie zurückzuhalten. Man kann es ihr kaum verdenken: Wenn es darum geht, seine langen Haare vor Vater und Lehrern zu verteidigen, wirkt der junge Mann feuriger als im Liebeswerben. Schliesslich erfährt er von Isabels Schwangerschaft und reist nach Peru, um herauszufinden, ob das Kind von ihm ist. Aufs Schönste kommt Guy Krnetas Sinn für Rhythmus und Musikalität der Sprache in seinen parataktischen Satzkonstruktionen und -folgen zum Ausdruck. Seine kompositorischen Stärken geben den Theatermenschen zu erkennen. So beginnt er eine Episode mit dem Bedauern des Grossvaters darüber, dass er die Verwandtschaft kaum einmal mehr treffe. «Familien isch, we mr unger üs sy, het dr Grossvatter gseit. Das syg säute.» Es folgt ein Diavortrag vor den Nachkommen, in dessen Verlauf in Nebensätzen und Einwürfen die eingeschliffenen Konflikte immer wieder aufblitzen. Krneta lässt die Episode mit einer Enttäuschung enden und schliesst so virtuos die Klammer: «Geng we d Familie zäme syg, gäb’s Krach. […] Drby gsäche mr is so säute.» Viel Raum nimmt das Politische ein. Wie könnte es anders sein bei Krneta, denkt sich, wer dessen Theaterstücke wie «Aktion Duback» über die Fichenaffäre oder die «Fondue-Oper» über deutsch-schweizerische Vorurteile kennt. Onkel Sämi versuchte als Jungspund einmal, linke Parteiversammlungen auszuspionieren. Und der Grossva- Anwärter auf den Schweizer Buchpreis: Guy Krneta, am 25. Mai 2014 im Schloss Wyher in Ettiswil (LU). ter sass für die nicht benannte Bauernpartei, seit 1971 als SVP bekannt, zwanzig Jahre lang im Grossen Rat, um schliesslich enttäuscht den Austritt zu geben. Augenzwinkernde Ironie, dass auch Guy Krneta, Nachfahre eines kroatischen Einwanderers und politisch dezidiert links stehend, einen SVPler zum Grossvater hatte. INGO HOEHN Vom Kneten der Wörter Wie wichtig dem Autor die – oft spielerische – Auseinandersetzung mit der Sprache ist, hat er in Theaterabenden wie «Das Leben ist viel zu kurz, um offene Weine zu trinken» oder «Stottern und Poltern» gezeigt. Beides sind Inszenierungen der Gruppe «Matterhorn Produktionen», die er mit seiner Frau Ursina Greuel in ihrer Wahlheimat Basel gegründet hat. Seine Liebe zum Kneten und Neuordnen von Wörtern und Sätzen tritt in «Unger üs» beispielhaft in den Passagen mit der Enkelin Vivienne, einer Linguistin, hervor. Hier sinniert der Grossvater darüber, wie untrennbar die Sprache mit Psyche und Gesellschaft verbunden ist. «Das syg di grossi Leischtig vom Mönsch. Dass’r glychzytig chönn vrgässen und erinnere. Dass’r öpis angers tüeg erinneren aus das, won’r vrgässe heig. Wäre mir nid ir Lag z vrgässe, heig är, dr Grossvatter, gseit, wäre mir o nid ir Lag z erinnere. U de wäre mir keni Mönsche, wo chönni vrzeue. Dr Computer heig nüt z vrzeue.» Sprache ist bei Krneta nichts, in das man sich hineinkuscheln kann. Vielmehr kann sie genauso Ausdruck des Unbehausten und der Sehnsucht sein. Sie gehört keinem, ist stets wandelbar. Gibt es so etwas wie eine weibliche Sprache?, fragt einmal hinterlistig der Grossvater in «Unger üs» und verneint die Frage damit natürlich implizit. «Ich glaube nicht, dass Sprache Heimat ist», sagte Guy Krneta vor zehn Jahren im Gespräch mit der «NZZ am Sonntag». «Sie macht uns eher unsere Heimatlosigkeit bewusst.» Ein kritischer Sprachartist ist er geblieben. So heisst es in seinem Familienalbum einmal: «Aber das, wo vo üs blybt, sy so Gschichte, wo me cha vrzeue. […] We überhoupt.» ● Anzeige Grösster Onlineshop der Schweiz Über 40 000 bÜcher aus zweiter hand! Shop: www.buchplanet.ch Mail: [email protected] <wm>10CAsNsjY0MDAx1TUysDA0twAAVXo30w8AAAA=</wm> <wm>10CFXKoQ7DMAxF0S9y9J4TO3ENq7KqoCoPmYb3_2hbWcG96Ox7WsHduh3XdiaBZqIY7CMtrDSPZNRiHImgKtgWhHa1GP7wAoZX1Pk3ghDq_F1daLN6L5_X-wsnCOQgcgAAAA==</wm> Sara Grob Betriebsleiterin http://blog.buchplanet.ch http://facebook.com/buchplanet.ch http://www.twitter.com/buchplanet Ein soziales Projekt der Stiftung Tosam www.tosam.ch 28. September 2014 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 5 Belletristik Gespräch Die Nobelpreisträgerin Herta Müller erzählt von ihrem Leben in Rumänien SiezähmteihreAngstdurchSchreiben einem langen Gespräch mit der österreichischen Lektorin und Publizistin Angelika Klammer zeichnet sie nun das eigene Leben und Schreiben nach. Es ist kein munteres Hin und Her zwischen den beiden, vielmehr schlüpft Angelika Klammer in die Rolle der klugen, mit dem Œuvre bestens vertrauten Stichwortgeberin, die der Schriftstellerin Raum gibt für ihre Gedanken und Ausführungen. Mit den Büchern «Niederungen» (1982/1984), «Der Fuchs war damals schon der Jäger» (1992), «Herztier» (1994), «Heute wäre ich mir lieber nicht begegnet» (1997) und «Atemschaukel» (2009) hat Herta Müller Leser auf der Herta Müller: Mein Vaterland war ein Apfelkern. Ein Gespräch mit Angelika Klammer. Hanser, München 2014. 240 Seiten, Fr. 27.90. Von Sandra Leis «Der Bogen von einem Kind, das Kühe hütet im Tal, bis hierher ins Stadthaus von Stockholm ist so bizarr. Ich stehe (wie so oft) auch hier neben mir selbst.» So begann Herta Müller 2009 ihre Dankesrede nach der Verleihung des Nobelpreises für Literatur und machte öffentlich, welchen Weg sie gegangen war. In Kunstdruck Ausloten von Grenzen Das Genre des Kunstdrucks unterliegt Moden; in einer zunehmend digitalisierten Welt erhalten die analogen Techniken eine verlangsamende, widerständige Dimension. Richard Tuttle hat die Möglichkeiten des Drucks von Anfang an als einen Zwischenraum geschätzt und erkundet seine Vielfalt seit nunmehr fünfzig Jahren. «Cloth» ist ein wunderbares Beispiel für die Sensibilität und Raffinesse, mit welchen der 1941 in New Jersey geborene Zeichner und Plastiker dabei vorgeht. Das Werk besteht aus einer Serie von 16 Drucken, die zwischen 2002 und 2005 entstanden. Blatt Nummer 12 zeigt, wie 6 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. September 2014 Stoffelemente aus unterschiedlichen Materialien in den Druck eingebracht wurden und Überlagerungen und Korrespondenzen bilden. Im Zusammenspiel mit den Farben entstehen leuchtende, bis in die Ecken vibrierende Räume. Das Werk ist eines der beeindruckendsten in der Monografie, mit der Christina von Rotenhan erstmals einen Überblick über das drucktechnische Werk des Künstlers gibt. Gerhard Mack Richard Tuttle: Prints. Herausgegeben von Christina von Rotenhan. JRP Ringier, Zürich 2014. 144 Seiten, 180 Abbildungen, Fr. 78.-. ganzen Welt gefunden. Sie schreibt über ihre Kindheit in Rumänien, über das Leben in der kommunistischen Diktatur unter Nicolai Ceausescu und über die Zwangsarbeit der rumäniendeutschen Minderheit in sowjetischen Lagern zwischen 1945 und 1950. Im Buch «Mein Vaterland war ein Apfelkern» («man irrt umher zwischen Sichel und Stern», reimte die Autorin einst auf dem Weg zum Verhör) kommen Müllers Kernthemen gebündelt zur Sprache. Die heute 61-Jährige blickt zurück auf ihre Kinderjahre und weiss: «Wenn man Kindheit aufschreibt, wird sie schlimmer, als sie war.» Es handle sich um eine «künstlich nachgebaute Wortwelt». Bestechend ist ihr analytischer Blick: Sie schreibt von der Eintönigkeit der Tage, die nur durch die Züge und den Briefträger unterbrochen wurde. Von der Dorftrauer, die jeden im Griff hat, und von den «Beschädigungen» ihrer Eltern. Der Vater war ein ehemaliger SS-Soldat, der früh an Alkohol starb; die Mutter wurde nach dem Zweiten Weltkrieg zu Zwangsarbeit in ein ukrainisches Lager deportiert. Die Angst vor politischer Strafe habe ihre Eltern bedingungslos unterwürfig gemacht, unbelehrbar und feige. Herta Müller arbeitete als Übersetzerin von Gebrauchsanweisungen in einer Maschinenfabrik und wurde vom Geheimdienst schikaniert, weil sie sich weigerte, als Spitzel zu dienen. Ihre Mutter hatte Angst um das Leben der Tochter – aber anstatt die Machenschaften des Geheimdienstes zu missbilligen, sei sie gehässig gegen die Tochter geworden. Auch Herta Müller fürchtete sich vor den Verhören, den Hausdurchsuchungen und Todesdrohungen. Zähmen liess sich die Angst nur durchs Schreiben: «Ich schrieb, um einen Halt zu finden gegen das Elend des Lebens, und nicht, weil ich Literatur machen wollte.» Entstanden ist gleichwohl Literatur. Gerade wenn das Thema bedrohlich sei, so die Schriftstellerin, müsse es «treffend schön sein in der Sprache». Und weiter: «Ich würde das Schreiben nicht aushalten, wenn die Hauptsache an den Texten nicht die erfundene Wahrheit der Sprache wäre.» 1987 reiste Herta Müller zusammen mit ihrer Mutter und ihrem damaligen Mann Richard Wagner in die Bundesrepublik aus. Und erschrak über die Infamie, mit der die Securitate sie auch in Deutschland diskreditierte. Sie sei eine Agentin, hiess es in Briefen, die der rumänische Geheimdienst an deutsche Redaktionen verschickte. Aus «der grauen Stille der Diktatur» sei sie in den hellen, oft auch grellen Westen gekommen, sagt Herta Müller. Da sei so viel auf sie niedergeprasselt, dass sie sich nicht getraut habe, glücklich zu sein. «Ich war nur verstört.» Der sogenannte fremde Blick, der ihr attestiert werde, sei allerdings nicht geografisch, sondern biografisch bedingt. Er komme vom Verlust der Selbstgewissheit, den sie in Rumänien erlebt habe. Und dieser fremde Blick ist es, der ihre Romane und WortCollagen so einzigartig macht. ● Journal In ihrem jüngsten Buch kehrt Marica Bodrožić zwanzig Jahre nach dem kroatischen Unabhängigkeitskrieg ins Land ihrer Kindheit zurück DerWildeOstenEuropas Marica Bodrožić: Mein weisser Frieden. Luchterhand, München 2014. 335 Seiten, Fr. 29.90, E-Book 19.90. Von Charles Linsmayer Um zwei Pole kreist das Schreiben der 1973 im kroatischen Svib geborenen Marica Bodrožić: das Dalmatien ihrer Kindheit und die deutsche Wahl- und Sprachheimat, die sie sich seit 1983 aneignete, als sie zu ihren Eltern nach Hessen zog und später in Deutschland und Frankreich studierte. Das gilt sowohl für ihr kritisch-literaturhistorisches Werk als auch für ihre Romane, Erzählungen und Gedichte. Kroatisch spricht, aber schreibt sie nicht, und so ist für sie das Deutsche in all diesen Genres zum Medium geworden, mit dem sie nicht nur ihre Einsichten in die europäische und amerikanische Literatur festhält, sondern auch die Erinnerungen an ihre Kindheit und ihre in langen Jahren herangereiften Erkenntnisse zur Entwicklung des Balkans nach dem Untergang des alten Jugoslawien. REUTERS Engagierte Versöhnlichkeit In ihren Erzählungen «Tito ist tot» und im Roman «Der Spieler der inneren Stunde» hat sie 2002 und 2005 für ihr Heranwachsen in der dalmatinischen Landschaft berührende Bilder gefunden. 2007, in «Der Windsammler», hat sie das Dalmatinische meisterlich ins Novellistische gesteigert, 2010 in «Das Gedächtnis der Libellen» und 2012 in «Kirschholz und alte Gefühle», beides Romane, hat sie anhand der Erfahrungen der beiden Freundinnen Nadeshda und Arjeta die jüngste Geschichte des Balkans virtuos mit Erlebnissen in Paris und der ganzen Welt verknüpft. «Menschen überleben Kriege, indem sie sich an das helle Augustlicht ihrer Kindheiten, an die hellen Sommer und an die ihnen geschenkten Küsse erinnern», heisst es in «Das Gedächtnis der Libellen», und es scheint, als wolle Marica Bodrožić diesen Satz in ihrem jüngsten Buch auf seinen Wahrheitsgehalt überprüfen. «Mein weisser Frieden» durchmischt das Tagebuchartige mit dem Romanhaften, dem Dokumentarischen und dem Essayistischen und stellt dar, wie die Erzählerin im zweiten Jahrzehnt des 21.Jahrhunderts nach Kroatien und Bosnien zurückkehrt. Da sucht sie nicht nur nach Spuren ihrer Kindheit, sondern will in Gesprächen mit Veteranen auch aufspüren, was für Veränderungen und Verwundungen der von 1991 bis 1995 dauernde Krieg gegen die serbisch dominierte Jugoslawische Volksarmee zurückgelassen hat. Von ihrem Vater, der sie die Sterne lieben lehrte, hat Marica Bodrožić sich das Motto eingeprägt «Wer atmen kann, ist verwandt mit mir», und diese engagierte Versöhnlichkeit ist es, unter die sie ihre Erkundungen stellt. Seit dem Krieg Wie Menschen Kriege überleben, ist das Thema der Kroatin Marica Bodrožić. Im Bild Flüchtlinge im bosnischen Dorf Kozarac, Dezember 2007. hänge ihre Seele «zur Hälfte im Nebel, zur Hälfte in dieser Welt», erklärt ihr die Tante Anastazija im Kindheitsdorf, und mit der Frage «Wie übersteht das Selbst einen Krieg, ohne sein Geschöpf zu werden?» nähert sie sich ihren Gesprächspartnern in vielen Orten Dalmatiens und Bosniens. Da sind die Kriegsveteranen Ilja und Milan in Split, von denen sie erfährt, dass die jungen Männer im Drogenrausch in den Krieg geschickt wurden, da ist jener Serbe in Zadar, dessen ungebremster Hass auf die Kroaten in der Berichterstatterin Panik aufkommen lässt, da ist aber auch die inzwischen wieder in Dalmatien lebende Mutter mit ihren Einschätzungen, und da sind fünf Frauen in Sarajevo, die berührende Einblicke in ihre Erfahrungen geben. Früh aber wird klar: «Die Wunden sind auf beiden Seiten noch nicht verheilt.» Marica Bodrožić bleibt aber keineswegs beim Resümieren ihrer Begegnungen stehen. Sie durchleuchtet und analysiert das Gehörte immer wieder neu und hat als imaginäre Gesprächspartner auch Hannah Arendt, Novalis, Elias Canetti, Ralph Waldo Emerson, Martin Buber, Heinrich Böll, Christa Wolf, die Geschwister Scholl, Jean-Paul Sartre, Danilo Kiš und Vlado Gotovac mit dabei. Nicht auf eine Weise allerdings, die das Buch zu etwas Enzyklopädischem macht, sondern so, dass die Gedanken der Autorin auf überzeugende Weise eingebettet sind in einen von den anderen Stimmen hergestellten geistesgeschichtlich-aufklärerischen Zusammenhang. Darum nimmt man dem Buch auch Erkenntnisse ab, die ins Allgemeingültige verweisen oder das Geschehen auf dem Balkan in einen grösseren Zusammenhang stellen. Inselparadies Zum Thema Krieg heisst es einmal: «Zum ersten Mal verstehe ich nahezu körperlich, dass wir das, was wir im Krieg nicht können, bereits im Frieden lernen müssen, um dem Krieg nicht anheimzufallen.» Zum Thema Balkan lesen wir: «Der Wilde Osten bleibt Europas unbewusste Laterna magica, eine gemeinsam bewohnte Kammer in der Nacht, in der all die wilden Wunder, Gelage und Schattenspiele lebendig werden, die der saubere Zivilisierte in seinem Selbstbild nicht duldet.» Ganz im Negativen belässt Marica Bodrožić das Bild allerdings nicht. Auf der Insel Vis, die lange militärische Sperrzone war und heute als eine idyllische Welt in einem besonders südlich-hellen Licht erscheint, findet sie ihre dalmatinische Utopie, das Paradies, das all das Gefährdete und Unbefriedigte des Festlands vergessen macht. Da fühlt sie sich zwischen Beheimatung und Bodenlosigkeit wie ein freies Luftwesen und kann von den Synergien dieser Gleichzeitigkeit sagen: «Sie sind mein weisser Frieden, mein Kern, den niemand töten kann.» ● 28. September 2014 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 7 Belletristik Roman Ein Paar steht vor den Trümmern seiner Beziehung und dem finanziellen Ruin. Nun hilft nur noch das Spiel am Roulette-Tisch DasletzteWochenende einerEhe besuchen sie ein Rockkonzert der Hearts, wo sie einige Stunden lang in eine Epoche zurückversetzt werden, deren Ende sie nicht richtig mitbekommen haben. Sie verbringen einige Zeit im Hotelzimmer und werden sich auch einmal entspanntem, alkoholgestütztem Beischlaf überlassen, was beide geniessen. Aber immer wieder, und jedes Mal unvermittelt, taucht die Erinnerung auf an die Affären, die ihre Ehe ins Schwanken gebracht haben. Viele waren es nicht. Arts Geschichte mit Wendy liegt zwanzig Jahre zurück, aber beide, Art wie Marion, scheinen diesen Seitensprung nie vergessen zu haben. Marion wiederum blickt auf eine Liaison mit einer Frau zurück. Deren feste Partnerin war gerade eine Weile weg, Marion nur Lückenbüsserin, bis sie irgendwann schroff abserviert wurde. Stewart O’Nan: Die Chance. Aus dem Englischen von Thomas Gunkel. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2014. 222 Seiten, Fr. 29.–, E-Book 21.–. Von Martin Zingg Die beiden sind am Ende. Art und Marion Fowler stehen kurz vor der Insolvenz und vor der Scheidung, und nun reisen sie noch einmal dorthin, wo sie in glücklichen Zeiten schon einmal waren, an die Niagarafälle. Dort haben sie ihre Hochzeit gefeiert, das ist fast dreissig Jahre her. Es soll nun das letzte Wochenende ihrer Ehe sein. Art hofft insgeheim, dass sie noch einen Ausweg finden aus der Sackgasse und wieder zueinander kommen. Marion wäre es recht, wenn sie die letzten Tage mit Würde überstehen könnte. Die Reise hat etwas Verwegenes, denn das Ehepaar Fowler – beide sind um die fünfzig, beide haben ihren Job verloren – ist komplett verschuldet. Sie werden ihr Haus verkaufen müssen, erste Interessenten schauen schon vorbei, aber auch nach dem Verkauf wird es nicht besser aussehen. Helfen kann nur noch Glück. Das Casino, das sie auf kanadischem Boden ansteuern, hat patenterweise auch eine teure Hochzeitssuite. Und vielleicht werden sie am Roulettetisch ja Glück haben, die beiden, warum nicht, jedenfalls kann sich Art das durchaus vorstellen. Wie kleine Gangster haben sie in einer Sporttasche ihr ganzes Bargeld aufs kanadische Territorium geschmuggelt und danach alles in Jetons gewechselt – die beiden haben buchstäblich nichts mehr zu verlieren. Hinreissende Szenen Ultimative Chance packen «Die Chance»: So heisst der jüngste Roman von Stewart O’Nan, worin Art und Marion tatsächlich eine Chance bekommen, eine letzte Möglichkeit, ihre Beziehung zu retten. Und ein wenig «odd», seltsam, wunderlich, sind sie auch, wenn es nach dem englischen Titel («The Odds. A Love Story») geht, der eine weitere Leserichtung vorschlägt. Während die seltsamen Glücksucher der Tochter Emma vorgaukeln, sie seien auf einer zweiten Hochzeitsreise, lässt O’Nan seine beiden Figuren die scheinbar ruinierte Ehe Revue passieren. Das geschieht nicht in klärenden Gesprächen, darüber sind die beiden schon längst hinaus. Sie beobachten einander, gehen Erinnerungen nach, immer im Wissen, dass sie vieles zum letzten Mal erleben werden – und zugleich möchten sie einander schonen: «Von allen Paaren, die sie kannten, hatten sie vermutlich die beste Chance, sich in Freundschaft zu 8 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. September 2014 Bei den Niagarafällen, wo alles begann, versuchen Art und Marion ein zweites Mal ihr Glück. trennen. Gemeinsam würden sie einen Weg finden, es den Kindern zu erklären. Sie würden sich hinsetzen und gelassen ihren Plan als die beste Lösung für alle darstellen, und genauso würden sie auch die Insolvenz und ihre Auswirkungen erläutern müssen. Sie rechneten bei Emma mit Tränen, während Jeremy seine Wut in sich hineinfressen würde, als hätten sie all die Jahre ihn statt sich selbst belogen.» Sie flanieren durch Einkaufsmeilen, stellen sich neben die Niagarafälle und gönnen sich, weil sie mit der längst überzogenen Kreditkarte bezahlen, das Essen in einem teuren Restaurant, wo auch lautstark Hochzeitsanträge gemacht werden. Zwischendurch postet Marion noch schnell was auf Facebook. Einmal Abends gehen die beiden ins Casino. Art, der bis zu seiner Entlassung in der Versicherungsbranche gearbeitet hat, glaubt einen Trick gefunden zu haben, der am Roulettetisch Erfolg verspricht. Tatsächlich haben die beiden zwei Abende hintereinander Glück. Sie gewinnen mehr, als sie erwartet haben – womit sich die Ausgangslage der beiden Scheidungswilligen wieder verändern könnte. Stewart O’Nan ist ein überaus gewitzter Autor, einer, der genau weiss, wann er auf die Bremse treten muss. Was Art und Marion aus ihrer neuen Situation machen werden, lässt er offen. Aber das, was sie inzwischen, nach all den Jahren, von sich selber und übereinander wissen und in diesen Stunden wieder vor Augen haben, wird ihnen die Trennung vermutlich nicht einfach machen. So trostlos war ihr gemeinsames Leben keineswegs, im Gegenteil, trotz all der kleinen Kränkungen, und das zeigt O’Nan auf hinreissende Art, mit knappen Szenen und fabelhaften Dialogen. Es ist nicht zuletzt die unprätentiöse Erzählweise, die den Roman so grossartig macht. Dazu zählen etwa die vielen kleinen Leerstellen, die kommentarfrei bleiben, ohne je geheimnisvoll zu werden. Die Ängste und Sehnsüchte, die nur angedeutet werden. Dieser Autor hat einen unglaublichen Blick für die Niederungen des Alltags und für all die winzigen Indizien jenes Glücks, das am Ende vor allem aussieht wie ein Versprechen und nur schwer einzulösen ist. Hier stehen zwei Amerikaner aus der Mittelschicht, zwei Verlierer, die erschöpft sind von der Idee, durch Fleiss sei ein Aufstieg noch möglich. Zwei, die noch nicht wissen, wie tief die Wirtschaftskrise sie fallen lassen wird, und die ahnen, dass es Glück wohl nur in Märchen gibt. ● Roman Ein Klassiker der US-amerikanischen Literatur erscheint in neuer Übersetzung FünfLeben,imUnglückvereint Von Stefana Sabin Es war ein reales Ereignis, das Thornton Wilder 1927 zum Anlass seines Romans «Die Brücke von San Luis Rey» machte: Die Hängebrücke über einer Schlucht zwischen Lima und Cuzco riss, und fünf Reisende stürzten in den Tod. Ein tragischer Unfall – oder göttliche Vorsehung? Im Roman lässt Wilder den einzigen Augenzeugen des Unfalls, den Franziskanermönch Juniper, die Antwort auf diese existenzielle, ja auch theologische Frage suchen. «Wenn es überhaupt einen Plan im Universum gab», sagt sich Bruder Juniper, «wenn das menschliche Dasein irgendeinem Muster folgte, so musste es doch, verborgen angelegt, in den so jäh abgeschnittenen Lebensläufen zu finden sein.» Und er setzt an, die Lebensläufe der fünf Unfallopfer zu erkunden, um den Lebensplan der Existenz, falls es einen gibt, zu beweisen. Aber Junipers hartnäckiges Hinterfragen des Geschehens, seine Zweifel über die Vorsehung und ihre Gerechtigkeit lassen ihn als Häretiker erscheinen – und sowohl er selber als auch der «mächtige Foliant», in dem er seine Recherchen über die fünf Verunglückten zusammengetragen hat, enden auf dem Scheiterhaufen. Allerdings gelangt eine Abschrift von Junipers Notizen unversehrt in eine Bibliothek, wo der Erzähler sie findet. Denn der Roman fungiert als Quellenfiktion. Er gibt vor, aus den Notizen von Bruder Juniper zu bestehen. Das erlaubt dem namenlosen Erzähler, hinter die Figur Juniper zurückzutreten und dennoch als narrative Autorität allgegenwärtig zu sein. Der Roman ist geschickt komponiert. Ein Vorspiel (der Unfall) und ein Nachspiel (die Exekution von Juniper) umrahmen die fünf Lebensgeschichten, die mit Die Hängebrücke wird reissen, so geschieht es im Bestseller von Thornton Wilder von 1927. dem Unfall enden. Ob die alternde Marquesa de Montemayor, die sich nach der Versöhnung mit ihrer entfremdeten Tochter sehnt; ob die Waise Pepita, die Gesellschafterin der Marquesa, die ihr eine Art Ersatztochter geworden ist; ob der Bauer Estebán, der nach dem Tod seines Zwillingsbruders sich dem Kapitän Alvarado anschliessen und mit ihm aufs Meer fahren will; ob der Abenteurer Onkel Pio, dessen langjährige Beziehung zur Sängerin Camila abbröckelt; ob schliesslich der siebenjährige Jaime, Camilas Sohn, der unter der Obhut von Onkel Pio reist – alle diese Figuren hatten ein verborgenes Leiden, und alle standen vor einer Umkehr. So führen diese Geschichten die Liebes-, Leidens- und Wandelfähigkeit des Menschen vor. Wilders Roman, in dem sich das Tragische und das Pikareske, Reflexion und Aktion vor dem Hintergrund humanistischer Tradition vermischen, wurde beim Erscheinen ein Bestseller, dann ein Longseller und etablierte sich als Klassiker der amerikanischen Literatur. Schon 1929, zwei Jahre nach dem amerikani- schen Original, erschien die deutsche Übersetzung von Herberth E. Herlitschka, die 1945 in der Schweiz als erstes Buch des Arche-Verlags, 1951 als allererstes Fischer-Taschenbuch und seitdem immer wieder aufgelegt wurde. Anlässlich seines 70-Jahre-Jubiläums legt der ArcheVerlag in Zusammenarbeit mit dem S.-Fischer-Verlag eine neue Übersetzung von Wilders Klassiker vor. Herlitschkas Übersetzung war flüssig und gab den Registerwechsel zwischen verbrämtem Pathos und beschreibender Sachlichkeit angemessen wieder. Das leistet auch die neue Übersetzung von Brigitte Jakobeit, der manchmal eine heute passender erscheinende, modernere Formulierung gelingt. Allerdings findet auch sie für das englische «accident» des Originals, das ebenso Unfall wie Zufall bedeuten kann und eine leichte überweltliche Konnotation hat, keine genaue Entsprechung und laviert zwischen Zufall, Unglück und Unfall. Aber schliesslich ist der Tod der fünf Reisenden ein Unfall und ein Zufall und allemal ein Unglück. ● REUTERS Thornton Wilder: Die Brücke von San Luis Rey. Aus dem Amerikanischen von Brigitte Jakobeit. Arche, Hamburg 2014. 175 Seiten, Fr. 25.90. Erscheint am 1.10. Mord und andere kleine Geschenke des Himmels Geldgier, angestauter Hass, Betrug, emotionale Kälte und enttäuschte Liebe sind der Stoff, aus dem Alfonso Pecorelli hinreissend ironisch und mit luzidem Blick für die menschlichen Abgründe seine Geschichten erschafft – ein superbes Lesevergnügen erster Güte. Al fo ns o Pe co re lli <wm>10CAsNsjY0MDAx1TUyMjE2MwMApV4GHg8AAAA=</wm> <wm>10CFXKqw7DQAxE0S_a1Xj8WLmGUVgUUJUviYL7_6hJWcBcDTjbVt7x37Lun_VdApg30jSiPL1zREmyD49CwgixF5Kkp-rDN0iGQudtGrLB5lXKfS7cv8f5A_BHKcxyAAAA</wm> Si eb en m al iz iö se Ge sc hi ch te n Ab Oktober im Handel Hardcover CHF 24.90 Auch als E-Book 28. September 2014 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 9 Belletristik Roman Charles Jacksons Alkoholiker-Geschichte «Das verlorene Wochenende», lange im Schatten der spektakulären Verfilmung durch Billy Wilder, erscheint in neuer Übersetzung Immerfreundlich–ausser zusichselbst Charles Jackson: Das verlorene Wochenende. Aus dem Amerikanischen von Bettina Abarbanell. Dörlemann, Zürich 2014. 348 Seiten, Fr. 34.90, E-Book 22.90. Von Bruno Steiger 1944 erstand der Regisseur Billy Wilder an einem Bahnhofskiosk in Chicago den eben erschienenen Roman «The Lost Weekend» von Charles Jackson. Auf der Zugfahrt nach Los Angeles las er das von Kritik und Publikum gleichermassen gefeierte Buch zweimal durch. In der Folge sicherte sich Wilder die Rechte, zwei Jahre später brachte er seine Verfilmung in die Kinos, mit Ray Milland in der Haupt- und Paraderolle als alkoholsüchtiger Schriftsteller. Das in Schwarz-Weiss gedrehte, nicht nur auf der Tonspur überzeichnete Säuferdrama brachte es auf vier Oscars; der ihm zugrunde liegende Roman hingegen geriet bald in Vergessenheit. Das Gleiche gilt für den Autor des Romans, der den Erfolg seines Erstlings – «Das Schlimmste, was mir je widerfahren ist» – nicht wiederholen konnte und sich 1968 im Alter von fünfundsechzig Jahren im Chelsea Hotel mit Schlafmitteln das Leben nahm. Vom Rausch ins Martyrium Arthur Miller, zu der Zeit ebenfalls Gast des legendären New Yorker Künstlerhotels, charakterisierte den unglücklichen Kollegen in einer anrührenden Erinnerung wie folgt: «Er war die Freundlichkeit in Person – ausser zu sich selbst.» Dasselbe könnte man auch von Jacksons Hauptfigur Don Birnam sagen. Der Roman spielt im Oktober 1936, Birnam ist dreiunddreissig Jahre alt und lebt, umsorgt von seinem Bruder Wick und Freundin Helen, als Schriftsteller in Manhattan. Die Einladung des Bruders zu einem Wochenende auf dem Land nimmt er widerstrebend an; dass er nicht mitfahren wird, ist bald beschlossene Sache. Zu gross ist die Verlockung, sich für ein paar Tage ungestört dem Whisky hinzugeben. Kaum ist der Bruder weg, taucht Birnam ab in den ersehnten langen Rausch, der allzu bald zum Martyrium wird. Hauptgrund ist der Mangel an Geld. Birnam hangelt sich mit allerlei Tricks durch, lässt sich gar zum Diebstahl einer Handtasche hinreissen. Es bleibt ihm nur der Weg ins Pfandhaus, wo er seine Schreibmaschine zu Geld machen will. Mit der Remington unter dem Arm schleppt er sich durch Manhattans Strassen, nur um immer neu vor verschlossenen Türen zu stehen: Es ist ein jüdischer Feiertag, alle ihm bekannten Leihanstalten haben zu. Durch Schnorren bei 10 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. September 2014 Szene aus Billy Wilders Verfilmung «The Lost Weekend» (1946) mit Ray Milland (rechts) in der Hauptrolle als alkoholkranker Schriftsteller. Nachbarn oder ihm gnädig gesinnten Barkeepern kommt er doch zu seinem Stoff, die Tragödie nimmt ihren Lauf. Bei einem Treppensturz verliert Birnam das Bewusstsein und wird in eine Klinik für Alkoholkranke verbracht. Der für ihn zuständige, wunderbar «schwesterlich» gezeichnete Pfleger Bim will in ihm einen verkappten Schwulen erkennen, was Birnam weiteren Anlass gibt, über einen von ihm selbst stets und quälend vermuteten Zusammenhang zwischen Alkoholismus und uneingestandener Homosexualität zu sinnieren. Die Frage, warum er in solchem Übermass trinkt, vermag er letztlich nicht schlüssig zu beantworten; er muss sich mit der schlichten Beschreibung des Faktums begnügen: «Du trinkst, und es bringt dich um. Warum? Weil du mit Alkohol nicht umgehen kannst, er hat dich im Griff. Warum? Weil du den Punkt erreicht hast, an dem ein Drink zu viel ist und Hunderte nicht genügen.» Zu Erkenntnissen über möglicherweise kulturell bedingte, biochemische oder auch nur genetische Hintergründe der Sucht dringen weder Birnam noch sein Schöpfer vor. Jackson selbst bekundete, dass er sich nicht vorrangig als Suchtexperte sehe: «Ich bin zuallererst SchriftstellerunderstdannNichttrinker.» Der Satz irritiert nicht zuletzt angesichts der ebenfalls verbürgten Aussage, dass «Das verlorene Wochenende» sein einziges Buch sei, das er in nüchternem Zustand geschrieben habe. Auch dies bestä- tigt den ungemütlichen, beim Lesen zuverlässig wachsenden Verdacht, dass Birnam trinkt, weil es der Autor so will – oder, nur wenig erhebender, der Freundin Helen zuliebe, die ihm ihre Zuneigung – merkwürdigerweise auch beim Sex – nur dann zeigen kann, wenn er betrunken ist. Lob durch Thomas Mann Alles in allem muss man bei dem Buch wohl von Programmliteratur sprechen. Einem Vergleich etwa mit Malcolm Lowry’s so vielschichtiger Mescal-Feier «Unter dem Vulkan» hält der Roman in keiner Weise stand. Obwohl im regelmässigen Wechsel von erlebter Rede und einigen wenigen starken Handlungselementen technisch perfekt gearbeitet, erscheint das Buch eher als Krankenrapport denn als ein in Literatur überführtes Zeugnis einer existenziellen Erfahrung. Dass es von Sinclair Lewis und Kingslay Amis gefeiert und noch von Lowry selbst mit Wohlgefallen aufgenommen wurde, mag ein wenig verwundern. Ungleich mehr jedoch dürfte Jackson der Zuspruch des von ihm zeitlebens über alle Massen bewunderten Thomas Mann bedeutet haben. Bald nach Erscheinen des Buchs lernten sich die beiden so ungleichen Schriftsteller bei einem Empfang in Hollywood persönlich kennen. Sie sollen sich, wie Rainer Moritz in seinem reichen, vielerlei Aufschlüsse gebenden Nachwort andeutet, auf Anhieb verstanden haben. ● Roman Der bretonische Autor Tanguy Viel brilliert als raffinierter Erzähler Bühnenreifes Schlamassel Kurzkritiken Schweizer Buchpreis Lukas Bärfuss: Koala. Wallstein, Göttingen 2014. 182 Seiten, Fr. 28.90, E-Book 19.90. Heinz Helle: Der beruhigende Klang von explodierendem Kerosin. Suhrkamp, Berlin 2014. 160 Seiten, Fr. 28.90. Lukas Bärfuss’ zweiter Roman, «Koala», dürfte ein Favorit unter den fünf Nominierten des diesjährigen Schweizer Buchpreises sein. Zwar wurde der Text, der zwischen einer autobiografischen und einer historisch-literarischen Erzählebene hin und her gleitet, auch kritisch besprochen. Aber er fand viele Leser, war über Wochen auf der Bestsellerliste und liegt bereits in der 4. Auflage vor. Der 1971 in Thun geborene Autor hat sich mit Theaterstücken sowie seinem 2008 für den Schweizer Buchpreis nominierten Romandebüt «Hundert Tage» einen Namen gemacht. In «Koala» verarbeitet er einen persönlichen Verlust: Sein älterer Bruder – Koala war dessen Pfadiname – hat sich das Leben genommen. Das Buch ist eine schonungslose Spurensuche: sowohl nach dem Bruder, dem der Autor nicht sehr nahe stand, wie auch nach dem Sinn eines Suizids. Eine intensive Lektüre. «Always remember: You are in New York. Go out. Meet people. Have fun», fordert der Professor den Ich-Erzähler in Heinz Helles Debütroman auf. Der 24-jährige Protagonist, ein Deutscher, ist als Philosophie-Student in den USA und soll einen Vortrag über das Bewusstsein halten. Er ist überfordert angesichts der Nicht-Beantwortbarkeit der alten Frage: Woher kommen wir, und wohin gehen wir? Er beobachtet alles und vor allem sich selbst ständig. Alles zählt er auf, alles ist in gleichem Masse unwichtig. Natürlich geht die Beziehung zu seiner Freundin, die ihn in New York besucht, in die Brüche. Autor Heinz Helle (*1978 in München) hat selbst Philosophie studiert und das Literaturinstitut in Biel besucht. Er macht es einem nicht einfach mit einem solchen Protagonisten. Am stärksten beeindruckt Helles Detailgenauigkeit, mit der er diesen Zaungast des eigenen Lebens beschreibt. Gertrud Leutenegger: Panischer Frühling. Suhrkamp, Berlin 2014. 221 Seiten, Fr. 29.90, E-Book 21.–. Dorothee Elmiger: Schlafgänger. Dumont, Köln 2014. 141 Seiten, Fr. 26.90, E-Book 23.–. Die Prosa der aus Schwyz stammenden Autorin Gertrud Leutenegger, die 1975 mit dem Roman «Vorabend» debütierte, ist im Lauf der Jahre immer durchsichtiger, schwebender, leichter geworden. Ihr jüngstes Buch spielt im Osten Londons, wo die Ich-Erzählerin vorübergehend gestrandet ist, weil ein Vulkanausbruch den europäischen Flugverkehr lahmgelegt hat. Sie erkundet die Stadt auf langen Spaziergängen und lernt dabei auf einer Themsebrücke den Verkäufer einer Obdachlosenzeitung kennen. Bald treffen die beiden sich täglich. Sie kommen sich näher, erzählen sich ihre Geschichten, vertrauen sich ihre Geheimnisse an. Gertrud Leutenegger hat mit «Panischer Frühling» zugleich ein berührendes Kammerspiel und einen atmosphärisch dichten Grossstadtroman geschrieben. Ihr Text überzeugt durch seine Exaktheit und Musikalität. Im Jahr 2010 machte die junge Schweizer Autorin Dorothee Elmiger mit ihrem Debütroman «Einladung an die Waghalsigen» auf sich aufmerksam. Der Band wurde für den Schweizer Buchpreis nominiert. Nun legt die 29-Jährige ihr zweites Werk vor. «Schlafgänger» besteht aus einem Geflecht von Stimmen. Verschiedene Personen – unter ihnen ein Logistiker, ein Student, eine Übersetzerin – diskutieren: Es geht um Grenzgänger, Schmuggler, Asylbewerber, um eine angemessene Politik im Zeitalter der Globalisierung. Der Diskurs entfaltet sich nicht in abstrakten Thesen, sondern in Geschichten von hohem Reiz. In ihnen zeigt sich das Talent der Autorin. Sie hat einen eigenen Duktus, ist wach und klug. Aufschlussreich ist ihr Text auch als Statement einer jungen Generation, die schon die ganze Welt bereist hat und entsprechend selbstbewusst auftritt. Tanguy Viel: Das Verschwinden des Jim Sullivan. Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Wagenbach, Berlin 2014. 128 Seiten, Fr. 25.90, E-Book 18.90. Von Monika Burri Mit seiner virtuosen Feder hat Tanguy Viel bereits einen Gangsterfilm parodiert («Das absolut perfekte Verbrechen», dt. 2009) und dem traditionellen Familienroman einen Tritt verpasst («ParisBrest», dt. 2010). Nun wagt sich der 1973 geborene französische Schriftsteller an das Genre des amerikanischen Romans. Einen Roman von Weltformat möchte er schreiben über die grossen Themen des Lebens, angesiedelt in einem kosmopolitischen Setting. Eine Hauptfigur ist schnell gefunden: Dwayne Koster, Literaturprofessor, fünfzig Jahre alt und mitten in einer Lebenskrise. Wir begegnen Koster an einem Tiefpunkt seiner Existenz. Eine zerbrochene Ehe, eine Liebesaffäre mit einer Studentin und einen Psychiatrieaufenthalt hat der «Moby Dick»-Experte schon hinter sich. Nun wäre er bereit für einen Neuanfang. In seinem Wagen patrouilliert er nächtelang vor dem Haus seiner Exfrau in einem mondänen Vorort von Detroit. Mit nichts als einer Flasche Whiskey an seiner Seite muss er zusehen, wie ein verhasster Arbeitskollege sich in seinem Revier breitmacht. Koster möchte dem Widersacher eine saftige Lektion verpassen. Doch ehe er sich’s versieht, versinkt er selber in einem bühnenreifen Schlamassel. Koster wird in einen Kunstraub verwickelt und bekommt es mit dem FBI zu tun. Rettung verspricht schliesslich nur noch sein Lieblingsmusiker Jim Sullivan, der in den 1970er Jahren unter ungeklärten Umständen in der Wüste von New Mexico verschwand. Mit seinem jüngsten Buch «Das Verschwinden des Jim Sullivan» ist Tanguy Viel einmal mehr ein köstlicher Coup gelungen. Clever spielt er mit den Versatzstücken des grossen Romans und verbindet witzige Pointen und cineastische Schnitttechniken zu einem thrillerähnlichen Plot. Nicht nur das: In der raffiniert verschachtelten Erzählanlage wird auch die Entstehung des Romans laufend kommentiert. Und während der Ich-Erzähler stilsicher in das erdachte Geschehen eingreift und über die Möglichkeiten und Tücken des Handlungsfortgangs räsoniert, nehmen seine Figuren Gestalt an und machen sich auf mehr oder weniger elegante Weise aus dem Staub. ● Regula Freuler Manfred Papst Regula Freuler Manfred Papst 28. September 2014 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 11 Essay Die neuere Literatur Finnlands bohrt in den schmerzhaften Wunden der Vergangenheit. Daneben aber präsentiert sich das Land als «coole» Nation, in der Lesen eine grosse Rolle spielt. Hierzulande ist der Ehrengast der diesjährigen Frankfurter Buchmesse noch zu entdecken. Von Angela Gutzeit Eineleseverrückte jungeNation Staunenswertes gibt es über die Finnen schon seit Jahren zu berichten: exzellente Pisa-Ergebnisse, ein fabelhaftes Bibliotheksnetz, eine enorme Buchproduktion. Kurz: ein Land der Bildung und der Leser, ein Land, das ein fürsorgliches Verhältnis zu seinen Schriftstellern pflegt. Stipendien werden grosszügig vergeben und Preise ebenfalls. Auch das Übersetzungsprogramm funktioniert seit etwa 20 Jahren immer besser. Rund eintausend finnische Buchtitel sind bereits ins Deutsche übertragen worden. Und trotzdem ist die finnische Literatur im deutschsprachigen Raum, aber auch in anderen Ländern, bis auf die baltischen Staaten wie etwa das sprachverwandte Estland, nicht wirklich bekannt. Natürlich gibt es Zugpferde. In der Gegenwart ist das Sofi Oksanen. In der Vergangenheit waren beispielsweise die Mumin-Bücher und MuminComics der Künstlerin und Schriftstellerin Tove Jansson ein grosser literarischer Exportschlager. Aber welche Namen haben sich ansonsten nachhaltig im ausserfinnischen Gedächtnis festgesetzt? Tove Jansson selbst soll übrigens nicht glücklich darüber gewesen sein, dass ihre Geschichten und Comicstrips ihr reiches malerisches und schriftstellerisches Werk fast vollständig in den Schatten stellten. Gerade ist zum 100. Geburtstag der Künstlerin eine schöne Biografie der Kunsthistorikerin Tuula Karjalainen erschienen (Verlag Urachhaus), die einen differenzierten Blick auf Leben und Werk Janssons wirft. Wer hat beispielweise schon gewusst, dass Tove Jansson in den 1930er und 40er Jahren eine engagierte und mutige Karikaturistin war, die in ihren tagespolitischen Antikriegszeichnungen sowohl Hitler-Deutschland wie auch die stalinsche Sowjetunion aufs Korn nahm? Es gibt also noch viel zu entdecken in der literarischen Landschaft dieser kleinen Nation, die Finnland auf Tour Finnland ist diesen Herbst Ehrengast an der Frankfurter Buchmesse, die vom 8. bis 12. Okto ber stattfindet. Der Pavillon wird von Design studenten und Künstlern gestaltet. Unter dem Motto «Finnland. Cool» touren zuvor zehn finni sche Autoren und Autorinnen; sie machen am 30. September im Literaturhaus Basel Halt und am 2. Oktober im Literaturhaus Zürich. Vom 17. bis 19. Oktober finden zudem in Zofingen die finnischen Literaturtage statt. Weitere Informationen unter: www.finnlandcool.fi sich sprachlich in Finnisch, Finnlandschwedisch und Samisch aufteilt. Und je mehr man sich mit ihrer Dichtung und Prosa beschäftigt, umso deutlicher wird, dass sie ohne Kenntnisse der finnischen Geschichte nicht vollkommen zu begreifen ist. Die Geschichte ist bis heute ein zentraler Bestandteil sehr vieler Werke der finnischen Literatur. Und auch ihre Mythen haben übrigens bis heute Einfluss. Das «Kalevala», das von Elias Lönnrot 1835 veröffentlichte Epos auf der Grundlage mündlich überlieferter Gesänge und Erzählungen, hat massgeblich zur Ausbildung des finnischen Nationalbewusstseins beigetragen. Empfohlen sei jedem Interessierten die stimmungsvolle Nacherzählung von Tilman Spreckelsen mit den Zeichnungen von Kat Menschik (Galiani). Autorinnen im grellen Outfit Als noch relativ junge Nation sind die Finnen offensichtlich sehr an ihren Ursprungserzählungen interessiert wie auch an der Darstellung ihrer wechselvollen Geschichte. In diesem Zusammenhang haben Namen wie Frans Eemil Sillianpää grosse Bedeutung. Sillianpää ist der bisher einzige Literaturnobelpreisträger Finnlands (1939). Jetzt erst liegt sein Roman «Frommes Elend» von 1919 in deutscher Übersetzung vor (Guggolz). Ein wichtiges Werk für das Selbstverständnis der Finnen. Interessant ist nun, dass seit etwa 15 Jahren nicht wenige der jungen und mittleren Autorengeneration sich wieder deutlich der Geschichte zuwenden, aber nun mit einem aufklärerischen Gestus. Ihnen geht es um Ereignisse, die zu den dunkelsten Kapiteln Finnlands zählen und deshalb lange Zeit nicht angetastet wurden: der finnische Bürgerkrieg und Finnlands Position im Zweiten Weltkrieg. Aufsehen erregen dabei insbesondere ein paar Frauen, die gern im exzentrischen Outfit ihre Bücher präsentieren, Romane, die aber weniger durch einen avantgardistischen Erzählstil bestechen als durch ihre Schonungslosigkeit im Umgang mit der Geschichte. Die in ckelte, pflegte immer schon ein gutes Verhältnis zu Deutschland. Und so war Finnland schliesslich sogar auch Hitler-Deutschland in Waffenbrüderschaft gegen die Sowjetunion verbunden. Diese erzwang aber 1944 einen Separatfrieden und stellte das Ultimatum, dass Finnland die Deutschen aus Lappland zu vertreiben habe. Als die Wehrmacht sich schliesslich zurückzog, hinterliess sie mit deutscher Gründlichkeit verbrannte Erde. Zur Wahrheit gehört auch, dass aus den Verbindungen von finnischen Frauen und deutschen Soldaten viele Kinder hervorgingen. Eine deutsch-finnische Liaison thematisiert zum Beispiel die junge Autorin Katja Kettu in ihrem Roman «Wildauge» (Galiani). Kettu, nicht selten in schwarzer Spitze gekleidet mit Durchsicht auf viel tätowierte Haut, stammt ebenfalls aus Lappland. Ihr Roman erzählt von einer finnischen Hebamme in Lappland, die sich in einen jungen SS-Mann verliebt, der zuvor an den Massenmorden im ukrainischen Babij Jar beteiligt war. Ein sehr ambitioniertes und auch temperamentvolles Buch, das es fertigbringt, die archaisch-skurrile Seite des lappländischen Dorflebens mit den grausamen Ereignissen des Krieges zu verbinden. Sofi Oksanen wiederum – schwarz-lila Dreadlocks, hohe Pumps, perfekt geschminkt, der Star der finnischen Autorendelegation beim Messeauftritt in Frankfurt – siedelt ihren jüngsten Roman «Als die Tauben verschwanden» (Kiepenheuer & Witsch), wie auch schon ihre anderen Bücher, im Estland des Zweiten Weltkrieges an. Ein gewaltiges Geschichtspanorama wird hier entfaltet. Und auch hier geht es um Kollaboration, um Schuld und Verrat und in diesem Fall um Menschen, die zwischen kommunistischer und nationalsozialistischer Macht zerrieben werden oder anpassungsbereit die Front wechseln. Das schmerzhafteste Erbe, das etliche zeitgenössische Autoren zur Sprache bringen, liegt jedoch noch weiter zurück. Im finnischen Bürgerkrieg 1918 lieferten sich Bürgerliche und Kommunisten, auch Weisse und Rote genannt, bis ▲ 12 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. September 2014 Lappland geborene Rosa Liksom zum Beispiel – Die wechselvolle Geschichte bunte Ringelstrümpfe, rechts und links der Ohren Haarschnecken und ausgestattet mit ist bis heute ein zentraler einem markerschütternden Lachen – beschäfBestandteil sehr vieler Werke tigt sich in ihren Werken mit der deutschen Okkupation Lapplands im Zweiten Weltkrieg. der finnischen Literatur. Auch Schuld, Verrat die Mythen haben noch immer Kollaboration, Finnland, das sich bis 1917 unter russischer Herrschaft zum eigenen Nationalstaat entwigrossen Einfluss. IMAGO STOCK&PEOPLE MAGNUS FRODERBERG Trotz oder wegen seiner archaischen Landschaft – hier Rentiere am Levi-Fjell in Lappland – ist Finnland ein Land der Bildung und der Autoren und Autorinnen. Für die Vergangenheit steht der Nobelpreisträger des Jahres 1939, Frans Eemil Sillianpää (unten; um 1950); für die Gegenwart die 1958 in Lappland geborene Rosa Liksom (rechts; um 2012) . PEKKA PUSTONEN Zugpferd und Star der finnischen Autorendelegation in Frankfurt ist die 1977 geborene Sofi Oksanen (oben; 2010); ihre Romane spielen in Estland. 28. September 2014 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 13 Essay Mit viel Selbstironie Nach diesem Streifzug könnte der Eindruck entstehen, die Finnen seien vor allen Dingen mit ihrer konfliktträchtigen Vergangenheit beschäftigt und leckten sich nach wie vor die Wunden, die diese ihnen geschlagen habe. Aber so ist es nun auch wieder nicht. Denn natürlich haben auch längst Themen wie soziale Verwerfungen, die zunehmende Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich, Vereinzelung und das Geschlechterverhältnis vor dem Hintergrund der Globalisierung und der Wirtschaftskrisen in die finnische Literatur Einzug gehalten. Dass die Mittelschicht erodiert, ist nicht nur in Finnland OFER AMIR CATA MOTIN ▲ zum Sieg der Weissen ein blutiges Gemetzel. In Lagern fanden Massenerschiessungen und Vergewaltigungen statt. Auf dieses lange verdrängte Ereignis geht zum Beispiel der Schriftsteller Kjell Westö in seinem sehr lesenswerten Roman «Das Trugbild» (btb) ein. Westö ist ein grossartiger Erzähler. Seine Geschichte über eine Anwaltsgehilfin, die im Freund ihres Arbeitgebers ihren ehemaligen Peiniger und Vergewaltiger aus dem damaligen Lager wiedererkennt, wird von Westö eingespannt zwischen die beiden Jahrzehnte 1938 und – in Rückblenden – 1918. Auch Leena Landers Roman «Die Unbeugsame» (btb) hat die folgenreiche Spaltung in der finnischen Gesellschaft durch den Bürgerkrieg und seine Exzesse kurz danach zum Thema. Und sogar Bücher, die sich eigentlich vorrangig mit den Modernisierungsproblemen der finnischen Nachkriegsgesellschaft beschäftigen, wie z.B. das Romandebüt «Betongötter» des Soziologieprofessors Markku Kivinen (Secession), ziehen Verbindungslinien zu den unheilvollen Ereignissen in der finnischen Geschichte. Kivinens Schauplatz ist eine neue Betonsiedlung nahe Helsinki in den siebziger Jahren. Die Geschichte ist strukturiert durch einen ständigen Perspektivwechsel zwischen vier jungen Männern und einer Frau. In ihnen spiegeln sich gesellschaftliche Auseinandersetzungen z.B. mit rigiden Moralvorstellungen, mit sozialem Abstieg, mit Verelendung und Vereinzelung. Aufschlussreich ist das Nachwort der Übersetzerin Rosalinde Sartorti. Sie schreibt, dass auch das städtische Finnland seine Jugendprotestbewegungen in den sechziger, siebziger Jahren erlebte. Die Auflehnung gegen autoritäre Strukturen und Doppelmoral teilten sie durchaus mit den 68er Bewegungen in den westlichen Ländern Europas. Aber ihr Furor, so Sartorti, hätte sich nicht zuletzt auch gegen das allgemeine Totschweigen dieser nicht verarbeiteten und aufwühlenden Ereignisse in der finnischen Geschichte gerichtet. Kjell Westö (links) und Katja Kettu beschäftigen sich mit den dunklen Seiten der Geschichte ihrer Heimat. eine problematische Entwicklung. Der Finnlandschwede Philip Teir hat in diesem Milieu sein Romandebüt «Winterkrieg» (Blessing) angesiedelt. Der Titel ist unzweifelhaft eine historische Anspielung auf den finnisch-sowjetischen Krieg 1939/40, hat aber die krisenhafte Zuspitzung der Ehe des Soziologieprofessors Max Paul und seiner Frau Katriina in Helsinki zum Thema. Auch die unterschiedlichen Lebensentwürfe ihrer Töchter Eva und Helen scheitern im Konflikt zwischen dem Verlangen nach Bindung einerseits und Selbstverwirklichung andererseits. Der 34-jährige Autor nimmt die Sinnsuche seiner Protagonisten auch ein bisschen auf die Schippe. Die Überzeichnung, die unterhaltsame Zuspitzung und die Verdrehung realer Verhältnisse gehören ja ebenfalls unbedingt zur finnischen Literaturtradition. Dafür ist die fast 600 Seiten umfassende Gesellschaftssatire «Kunkku» des finnischen Erzählers Thomas Kyrö ein gutes Beispiel. Kyrö erfindet einen fin- Sowohl Überzeichnungen wie unterhaltsame Zuspitzungen und Verdrehung der realen Verhältnisse gehören unbedingt zur finnischen Literaturtradition. nischen König, ein Auslaufmodell, der an seiner ausserehelichen Liebschaft scheitert, seine Krone und seine Ehefrau verliert und als Aushilfskraft in einem Elektrogeschäft ein kärgliches Dasein fristet. Komischer kann man die Geschichte Finnlands nicht umschreiben. Ein Prachtstück finnischer Selbstironie! Lebendige Kurzprosa und Lyrik Aber das Spiel mit den irrwitzigen Begebenheiten des Lebens und des Alltags ist auch in der finnischen Kurzprosa zu finden. Wie überhaupt diese Form viel Spielraum lässt für aktuelle Themen und Experimentelles. Erste Orientierung bieten sowohl der Band «Alles absolut bestens bei mir. 15 Alleingänge aus Finnland» (Edition fünf), herausgegeben von Helen Moster, wie auch die jüngste Ausgabe der Zeitschrift «die horen» mit dem Titel «Der Herbst kommt jedes Mal zu früh», zusammengestellt von Maximilian Murmann, der auch die Lyrik berücksichtigt. Die Vielfältigkeit dieses Genres bietet vielleicht die beste Möglichkeit, sich als interessierter Leser der finnischen Literatur zu nähern. Hier finden wir in pointierter und subtiler Form fast alles, was die Finnen bewegt: die Beschäftigung mit Geschichte und Wissenschaft, mit Vergangenheit und Gegenwart, mit Tradition und Moderne, mit Stadt- und Dorfleben, mit Natur und Mythen und mit den vielen verrückten Spielarten der menschlichen Existenz. l Angela Gutzeit ist Literaturkritikerin, freie Redaktorin und Moderatorin beim Deutschlandfunk in Köln. Zürich Basel Bederstrasse 4 Güterstrasse 137 Bern Länggassstrasse 46 <wm>10CAsNsjY0MDAx1TUyMjIzsgAAkStyvg8AAAA=</wm> <wm>10CAsNsjY0MDAx1TUyMjIztAQAxEhY4g8AAAA=</wm> 100‘000 antiquarische Bücher buecher-brocky.ch 14 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. September 2014 Luzern Aarau Ruopigenstrasse 18 <wm>10CFXKIQ7DQAxE0RN5NTNeb-MaVmFRQVW-JArO_VHasoL_0du2ioZfj_X5Xl9FoIdJGloqcrS8eTF7W5KFpAT2O9IRoOPPG5jD4fNrDGnU_FxpwUmhnftxAYCSdmhyAAAA</wm> <wm>10CFXKIQ6AMAwF0BN16W-7jlJJ5giC4GcImvsrAg7x3FvXrIU_S9-OvieYrZKIOCJreImmibAyBZKbqDBshkuFTorfJ0a4so73EDcSHXASI7UR3sp9Xg82ZWsHcgAAAA==</wm> Kunst Kinder Helvetika Freihofweg 2 Sport Politik Literatur Hobby Reisen Kochen u.v.m. Kolumne Charles LewinskysZitatenlese LUKAS MAEDER Die klimatischen Bedingungen in der Hölle sind sicherlich unerfreulich, aber die Gesellschaft dort wäre von Interesse. Der Autor Charles Lewinsky arbeitet in den verschiedensten Sparten. Sein neuester Roman «Kastelau» ist soeben im Verlag Nagel & Kimche erschienen. Kurzkritiken Sachbuch Rolf Schieder (Hrsg.): Die Gewalt des einen Gottes. Monotheismus. University Press, Berlin 2014. 360 Seiten, Fr. 40.90. Hatice Akyün: «Verfluchte anatolische Bergziegenkacke». Kiepenheuer & Witsch, Köln 2014. 216 S., Fr. 13.90, E-Book 11.–. Mit seiner These, dass religiös motivierte Gewalt erst mit dem Monotheismus, genauer gesagt: mit der Unterscheidung des jüdischen Anführers Moses in der Wüste Sinai zwischen dem einen richtigen Gott und den vielen falschen Göttern, in die Geschichte getreten sei, hat der grosse Ägyptologe Jan Assmann eine höchst kontroverse wissenschaftliche Debatte ausgelöst. Bisher war sie nur im Internet zu lesen, nun liegt diese Diskussion, herausgegeben und klug eingeleitet vom Theologen Rolf Schieder (Assmanns hauptsächlichem Gegner), in Buchform vor. Jüdische Autoren, Alttestamentler, Religions- und Islamwissenschafter sowie der Alleskönner Peter Sloterdijk legen ihre höchst unterschiedlichen Interpretationen der alttestamentarischen Vorgänge dar – eine ausgesprochen anspruchsvolle Lektüre, doch angesichts der heute allgegenwärtigen religiösen Gewalt von grosser Brisanz. Der Fluch im Buchtitel ist zwar erfunden, «zurechtfantasiert», wie die deutsch-türkische Autorin Hatice Akyün gleich einräumt. Doch so könnte der Kommentar ihres Vaters lauten, eines nach Deutschland eingewanderten Gastarbeiters, wenn ihn die Tochter zur Absonderlichkeit des Alltags konsultiert. Denn «Baba» hat die Gabe, komplizierte Sachverhalte, die es im Zusammenleben unterschiedlicher Menschen auch im multikulturellen Milieu gibt, auf das Wesentliche zu reduzieren. Das Buch versammelt die besten Kolumnen der in Berlin lebenden 45-jährigen Muslima, Mutter, Kosmopolitin und Society-Reporterin aus dem Berliner «Tagesspiegel». Hatice («kein Schnupfen») Akyün («die reine weisse Wolle») ist eine Art deutsche Güzin Kar, eine plaudernde Dampfwalze, die keiner Unebenheit ausweicht und darüber viel scharfe Sauce giesst: temperamentvoll, selbstironisch, herrlich unkorrekt. Claudia Theune: Archäologie an Tatorten des 20 . Jahrhunderts. Theiss, Darmstadt 2014. 112 Seiten, Fr. 21.90. Mirian Goldenberg: Untreu. UVK Verlagsgesellschaft, Konstanz 2014. 271 Seiten, Fr. 29.90, E-Book 10.90. Archäologie verbindet man gewöhnlich mit der Antike, mit der schriftlosen Vorgeschichte. Längst hat sie sich aber von dieser zeitlichen Beschränkung gelöst und untersucht heute auch Relikte aus historischen Zeiten, bis ins 20. Jahrhundert hinein. Die an der Universität Wien lehrende Autorin Claudia Theune hat den Stand der Forschungen anschaulich zusammengefasst. Sie zeigt auf, wie die besondere Aussagekraft archäologischer Fundobjekte die schriftlichen und bildlichen Quellen um eine Dimension erweitern, die in diesen nicht enthalten ist. Im Fokus stehen drei Ereignisse, die das 20. Jahrhundert geprägt haben: der Erste und der Zweite Weltkrieg sowie der Kalte Krieg. Weitere Tätigkeitsfelder sind die Industriearchäologie oder die archäologische Dokumentation ganzer Dörfer, die – wie zum Beispiel in Sachsen – dem Braunkohleabbau weichen müssen. Warum ist Treue, trotz freizügigem Sexualverhalten, weiterhin ein Hauptproblem in Liebesbeziehungen und Ehen? Die lateinamerikanische Anthropologin Mirian Goldenberg erforscht das Thema seit zwanzig Jahren und befragt dafür Männer und Frauen aus dem brasilianischen Mittelstand. Dabei stellt sie fest, dass auch Menschen, die selbst untreu sind, ja selbst die sogenannte «Andere» (d.h. die Geliebte eines verheirateten Mannes) sexuelle Treue einfordern. «Untreu» mischt Mirian Goldenbergs Aufsätze zum Sexualverhalten der Brasilianer sowie zum obsessiven Schönheitskult in Südamerika nicht nur mit Artikeln aus der brasilianischen Presse, sondern auch mit der Beichte einer sexuell freizügigen Journalistin namens Monica – das wird bisweilen etwas chaotisch, mitunter redundant, ist jedoch äusserst anregend zu lesen! Oscar Wilde Als Satan die Buchmesse erfand – und er muss es gewesen sein, anders kann ich mir diese Einrichtung nicht erklären –, da hatte er gerade einen Roman gelesen, der ihm überhaupt nicht gefiel, und deshalb den Entschluss gefasst, sich an allen Autoren zu rächen. Um welches Werk es sich dabei gehandelt hat, ist leider auch in den apokryphsten Schriften nicht überliefert, und auch Dante hat bei seiner Wanderung durch die Höllenkreise leider versäumt, danach zu fragen. Aber dass Buchmessen eine Erfindung des Teufels sind, daran kann es keinen Zweifel geben. Wer sonst, ausser Luzifer, könnte auf den sadistischen Gedanken kommen, Autoren mitten in einer Halle, in der sich gefühlte hunderttausend Menschen lautstark aneinander vorbeidrängen, vor ein Mikrofon zu sperren und ihnen zu sagen: «Nun lest mal schön vor!»? Wem sonst, ausser dem Herrn der Unterwelt persönlich, könnte es einfallen, Schriftsteller für die Sünde des Sichselber-wichtig-Nehmens dadurch zu bestrafen, dass er sie zwingt, sich zwischen Türmen von Büchern mühselig einen Weg zu bahnen – und kein einziges dieser Bücher ist von ihnen verfasst? Wer sonst, ausser dem Fürsten der Finsternis, kann die untrinkbare bräunliche Flüssigkeit erfunden haben, die an Buchmessen unter dem Namen «Kaffee» verkauft wird? Nein, ich bin mir ganz sicher: Er war es. Mephisto, Beelzebub, Urian. Es war ihm verleidet, ständig nur Menschen auf dem Holzkohlengrill knusprig zu rösten oder ihnen von sabbernden Ungeheuern die Eingeweide herausreissen zu lassen. Auch die phantasievollsten Quälereien machten ihm keinen Spass mehr. Er suchte, um es mit der Sprachregelung entlassener Manager zu formulieren, nach neuen Herausforderungen. Als Herr der Hölle hat man zwar einen unkündbaren Arbeitsplatz – aber nach ein paar Äonen wird auch die abwechslungsreichste Tätigkeit zur Routine. Ausserdem fehlte ihm noch ein Eintrag im Guinness-Buch der SadismusRekorde. Und so erfand der Teufel die Buchmesse, diese massgeschneiderte Privathölle für Autoren. Wenn es in den Hallen von Frankfurt und Leipzig nicht immer so unerträglich laut wäre, könnte man ihn dort die ganze Zeit kichern hören. Und das alles nur, weil ihm ein Roman so ganz und gar nicht gefallen hatte. Was das wohl für ein Buch gewesen ist? Ich würde ja auf «Shades Of Gray» tippen. Aber das hat der Teufel bekanntlich selber geschrieben. Kathrin Meier-Rust Geneviève Lüscher Urs Rauber Kathrin Meier-Rust 28. September 2014 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 15 Sachbuch Papst Über Leben und Werk des neuen Oberhaupts der römisch-katholischen Kirche sind viele Bücher erschienen. Drei neue Publikationen widmen sich dem erstaunlichen Wandel Jorge Mario Bergoglios vom Reaktionär zum Revolutionär DerOskarSchindler Argentiniens Daniel Deckers: Papst Franziskus. Wider die Trägheit des Herzens. C. H. Beck, München 2014. 352 Seiten, Fr. 24.90 (ab 24. Oktober im Handel). Paul Vallely: Papst Franziskus. Vom Reaktionär zum Revolutionär. Theiss, Darmstadt 2014. 239 Seiten, Fr. 37.90, E-Book 23.90. Nello Scavo: Bergoglios Liste. Papst Franziskus und die argentinische Militärdiktatur. Herder, Freiburg i. Br. 2014. 208 Seiten, Fr. 27.90. Von Klara Obermüller Wer war, wer ist dieser Jorge Bergoglio, der am 13. März 2013 zum Papst gewählt wurde und sich als Erster in der Geschichte der Kirche den Namen Franziskus zulegte? Die Frage stand unmittelbar nach der Wahl im Raum. Sie stellt sich heute noch immer, obwohl mittlerweile an Publikationen über ihn und von ihm kein Mangel mehr besteht. Papst Franziskus, der die Welt von allem Anfang an mit Worten und Gesten in Staunen versetzte, ist eine Figur voller Widersprüche und Überraschungen. Und bleibt es auch, nachdem man die jüngsten Bücher über ihn gelesen hat. Zwei Themen stehen dabei im Vordergrund: die politische Haltung und die theologische Ausrichtung. Jorge Bergoglios Verhalten in den Jahren der argentinischen Militärdiktatur (1976 bis 1983) war bereits unmittelbar nach seiner Wahl zum Papst ein Thema gewesen, auf das Journalisten sich stürzten. Was hatte der Jesuiten-Provinzial und spätere Erzbischof von Buenos Aires gewusst von den Verbrechen jener Zeit, von Folter, Mord und Kinderraub, in die nachweislich auch kirchliche Kreise verwickelt gewesen waren? Wie stark war er selbst involviert gewesen? Und welche Rolle hatte er gespielt beim Verschwinden zweier Jesuiten, die gefoltert und monatelang gefangen gehalten worden waren? 16 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. September 2014 Fragen wie diese warten bis heute ebenso auf Antwort wie diejenigen nach den theologischen Positionen des Papstes, der heute so entschieden als Anwalt der Armen auftritt. Welchen dogmatischen Kurs hatte er nach dem Konzil seinem Orden vorgegeben? Wie hielt er es mit der von Rom gemassregelten Befreiungstheologie? Wie stand er zu Fragen von Zölibat, Homosexualität und der Stellung der Frau in der katholischen Kirche? Auch dazu fielen die Antworten bis jetzt widersprüchlich aus. Umso gespannter nimmt man die neuesten Publikationen über Papst Franziskus zur Hand – und stellt erst einmal fest, wie unterschiedlich die Autoren an ihr Thema herangehen: sachlich der eine, polemisch der andere und ganz und gar apologetisch der dritte. Nach einer vergleichenden Lektüre der drei Bücher darf dasjenige von Daniel Deckers als das wohl fundierteste, dasjenige von Paul Vallely als das spannendste und dasjenige von Nello Scavo als das problematischste bezeichnet werden. Warum? Differenzierte Porträts Im Gegensatz zu einigen der kurz nach der Wahl auf den Markt geworfenen Franziskus-Biografien zeigt sich der bei der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» für Religions- und Gesellschaftsfragen zuständige Journalist Daniel Deckers nicht nur an der Lebensgeschichte des neuen Papstes interessiert, sondern ebenso sehr auch an den familiären Verhältnissen, den politischen Zuständen und den kirchlichen Entwicklungen, die dieses Leben geprägt haben. Dank dieser vielschichtigen Darstellungsweise ist es ihm gelungen, ein äusserst differenziertes, im Prinzip zwar wohlwollendes, gleichwohl aber nicht unkritisches Porträt jenes Mannes zu entwerfen, der sich als Provinzial und Erzbischof unter schwierigsten politischen Bedingungen zu bewähren hatte und der heute als Papst vor der nicht minder anspruchsvollen Aufgabe steht, einer in sich er- starrten und zutiefst gespaltenen Kirche neue Glaubwürdigkeit zu verleihen. Dass Deckers sich bemüht, die Verwerfungen, Spannungen und Widersprüche dieser Biografie nüchtern und engagiert zugleich darzustellen, ohne dabei apologetisch zu werden, ist ihm und seinem Buch hoch anzurechnen. Weit weniger zurückhaltend gibt sich sein englischer Kollege Paul Vallely, der als Journalist für «Times» und «Independent» arbeitet. Er ist dem neuen Papst gegenüber äusserst kritisch eingestellt, bleibt dabei aber doch weitgehend fair. Gerade dies macht die Lektüre seines Buches so ergiebig. Ergiebig, nicht weil es die Widersprüche im Leben des Jorge Bergoglio auflöst, sondern weil es sie stehen lässt und aufzeigt, wie konfliktreich dieses Leben verlaufen ist. Um Bergoglios Verhalten während der Militärdiktatur zu beurteilen, hat Paul Vallely umfassende Recherchen angestellt. Er ist in die Archive gestiegen, hat Freunde wie Gegner befragt und ist nach eingehender Analyse zum Schluss gekommen, dass es in Fragen von Mitverantwortung, von Unterlassung und Schuld eine eindeutige Antwort nicht geben kann. Auffallend scheint ihm lediglich, wie oft und wie eindringlich der heutige Papst von Reue, von Schuld und Vergebung spricht und dabei stets deutlich macht, dass er sich selbst nicht ausnimmt. Ähnlich ambivalent fällt auch Vallelys Urteil über die geistige Entwicklung aus, die der heutige Papst durchlaufen hat, seit er 1973 zum Provinzial der Jesuiten und 1998 zum Erzbischof von Buenos Aires ernannt worden war. Fest steht, dass er anfänglich einen sehr konservativen Kurs fuhr und der Befreiungstheologie in Lateinamerika ablehnend gegenüberstand. Fest steht auch, dass er heute in vielen Dingen nachsichtiger geworden ist. Doch wann genau und warum er von seinen früheren dogmatischen Positionen abrückte und wie grundsätzlich seine Option für die Armen wirklich ist, lässt sich nur schwer beantworten. Nicht zu übersehen ist, dass mit Papst Franziskus ein völlig neuer Stil im Vatikan Einkehr gehalten hat. Franziskus liebt es schlicht, er ist kollegial und präsentiert sich mehr als Seelsorger denn als Oberhaupt eines globalen Machtapparats. Das macht Eindruck und gibt Hoffnung. Ob er allerdings willens und fähig ist, den schönen Worten und Gesten Taten folgen zu lassen, weiss niemand genau. Vallely verhehlt nicht, dass er auch in diesem Punkt seine Zweifel hat, macht aber gleichzeitig klar, dass angesichts der Undurchschaubarkeit der politischen Verhältnisse und der Ambivalenz der menschlichen Natur jedes Urteil, auch das seine, ein vorläufiges bleiben muss. KEYSTONE Fluchthilfe für Verfolgte Der Überraschende: Jorge Bergoglio, seit 2013 Papst in Rom, versetzt die Welt immer wieder mit Gesten und Worten in Staunen. Von solcher Skepsis unberührt geht der italienische Journalist Nello Scavo in seinem Buch «Bergoglios Liste» an sein Thema heran. Sein erklärtes Ziel ist es, aus Jorge Bergoglio eine Art Oskar Schindler Argentiniens zu machen. Und das gelingt ihm bis zu einem gewissen Grad auch, indem er eine ganze Reihe von Persönlichkeiten auftreten lässt, die bezeugen, die Diktatur nur dank dessen Hilfe überlebt zu haben. Schenkt man diesen Zeugenaussagen Glauben – und nichts spricht dagegen, es zu tun –, dann hatte der Jesuiten-Provinzial und spätere Erzbischof von Buenos Aires eine eigentliche Fluchthilfeorganisation aufgebaut, die Verfolgte ausser Landes schleuste und auch denen zu helfen versuchte, die bereits in die Fänge der Diktatur geraten waren. Und glaubt man Scavos Ausführungen, dann trifft Bergoglio auch gegenüber den beiden verhafteten und gefolterten Jesuiten-Patres keinerlei Schuld. Alles Verleumdung also? Scavo stellt es so dar. Das ist sein gutes Recht. Indem er es aber so reisserisch tut und dabei den Anspruch erhebt, der Erste und Einzige zu sein, der über diese Kenntnisse verfügt, erweist er der Sache, der er dienen will, einen schlechten Dienst. Bei Daniel Deckers lässt sich das Meiste, was Scavo enthüllt, ebenfalls nachlesen: sachlich und glaubwürdig. Das gibt seinem Buch Gewicht. ● DIE NOMINIERTEN KOALA Lukas Bärfuss WALLSTEIN VERLAG SCHLAFGÄNGER Dorothee Elmiger DUMONT BUCHVERLAG <wm>10CAsNsjY0MDAx1TUyMrSwMAcAblwJzA8AAAA=</wm> DER BERUHIGENDE KLANG VON EXPLODIERENDEM KEROSIN Heinz Helle <wm>10CFXKqw6AMAxA0S_q0ue6UknmCILgZwia_1c8HOKam7MsaQW_5r7ufUtCVANmas3Twgp7TQoubjUxmBlJJxJzoyb-84AUVVDGawDj2YMETEB1aI1yHecN3uVVwnIAAAA=</wm> UNGER ÜS Guy Krneta SUHRKAMP VERLAG DER GESUNDE MENSCHENVERSAND PANISCHER FRÜHLING Gertrud Leutenegger SUHRKAMP VERLAG 28. September 2014 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 17 Sachbuch Komponistin Eine neue Monografie zu Alma Mahler-Werfel (1879–1964) verabschiedet sich vom männlichen Blick auf die hochbegabte Femme fatale Siepolarisiertewie kaumeineZweite Susanne Rode-Breymann: Alma Mahler-Werfel. Muse, Gattin, Witwe. C. H. Beck, München 2014. 335 Seiten, Fr. 34.90. Von Kirsten Voigt Man stelle sich vor: Gustav Mahler ist seit einem Jahr tot. Seine Witwe Alma Mahler geht 1912 mit Oskar Kokoschka auf Reisen. Ihre Halbschwester war vor kurzem in eine Nervenheilanstalt eingeliefert worden. In Alma keimt Angst um ihre eigene psychische Gesundheit. Da entdeckt sie, von Kokoschka schwanger zu sein. Als sie nach Wien zurückkehrt, findet sie dort die gerade eingetroffene Totenmaske Mahlers vor. Bei deren Anblick entscheidet sie sich gegen Kokoschka und sein Kind. Kokoschka willigt bestürzt in die Abtreibung ein. Als Walter Gropius, mit dem Alma schon während ihrer Ehe mit Mahler ein Verhältnis hatte, 1913 Kokoschkas Doppelporträt von ihr und Kokoschka in einer Ausstellung entdeckt, reagiert er entsetzt. Dennoch heiraten Gropius und Alma 1915. Ihnen wird die Tochter Manon geschenkt. Während dieser Ehe betrügt Alma ihren Mann mit Franz Werfel, der später ihr dritter Ehemann wird. Dessen Kind gebiert sie 1918, es stirbt 1919. Gropius lässt sich 1920 scheiden. Seine Tochter Manon erkrankt 1935 im Alter von neunzehn Jahren an Kinderlähmung und überlebt sie nicht. Furiose Affären Alma Mahler-Werfels Leben wäre in groben Zügen auch als Kette bitterster Verluste und Katastrophen zu erzählen, die mit dem Tod ihres Vaters, des Malers Emil Jakob Schindler, 1892 einsetzen, den sie schon als 13-Jährige zu verwinden hat. Viel öfter jedoch wird ihr Leben als ein Reigen furioser Affären, der luxuriösen Reisen und Domizile erzählt – reisserisch, skandalisierbar. Sie hegte und erzeugte erbitterte Ressentiments. Sie heiratete 18 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. September 2014 Männer jüdischer Herkunft und neigte zu erschreckenden antisemitischen Äusserungen. Sie hat sich verliebt und dennoch stets schonungslos herabsetzende Worte für ihre Partner gefunden. Sie hat nie der Beerdigung eines ihrer Familienmitglieder beigewohnt, aber schwer unter diesen Verlusten gelitten, obschon sie auch früh bekannt hatte, dass sie Kinder eigentlich nicht mochte. Susanne Rode-Breymann bringt es auf den Punkt: Alma Mahler-Werfel war eine ambivalente Persönlichkeit. Kaum eine Frau des 20. Jahrhunderts hat so polarisiert. Sie wurde verehrt, geliebt, man komponierte Werke für sie. Sie wurde verachtet und gehasst, man warnte vor ihr wie vor dem fleischgewordenen Bösen. Es ist nicht einfach, Alma MahlerWerfel Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Susanne Rode-Breymann räumt jetzt auf. Die Präsidentin der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover und Leiterin des Forschungszentrums Musik und Gender legt eine Biografie von Alma MahlerWerfel vor, die sachlich auf Distanz geht – zu ihrem Darstellungsgegenstand, aber vor allem auch zu einem männlich dominierten Blick auf die Künstlerin. Rode-Breymann bemüht sich erfolgreich und mit Empathie um die Rekonstruktion historischer Zusammenhänge, die Schilderung der Möglichkeiten weiblicher Selbstentfaltung damals und um die Deutung von Alma Mahler-Wer- fels Beweggründen. Die Protagonistin erscheint hier plausibel als intellektuell interessierte und künstlerisch hoch begabte junge Frau, die keine Schule besuchen konnte, sich die Welt aber durch exzessives Lesen aneignete. Was Alma las – Nietzsche mit Begeisterung, Aischylos, Dante, Flaubert, Goethe, Grillparzer, Heine, Keller, Kraus und viele andere –, welche Stücke sie sah, was sie in Oper und Konzert hörte, verzeichnet RodeBreymann exakt. Alma kommentierte das Erlebte kritisch und sprachbegabt. Dass sie keine Freundinnen hatte, gehört zu den Legenden, die Rode-Breymann dekonstruiert. Eine ihrer lebenslangen Vertrauten war Alban Bergs Frau Helene. Pianistin und Komponistin Alma Schindler war Ehefrau des Komponisten Gustav Mahler, des Architekten Walter Gropius und des Dichters Franz Werfel, aber auch Gefährtin des Malers Oskar Kokoschka und anderer prominenter Künstler (Aufnahme um 1909). Klug gefördert durch ihren Kompositionslehrer Alexander Zemlinsky, wurde Alma zu einer ernsthaften und ernstzunehmenden angehenden Pianistin und Komponistin, die den letzten Schritt in die Professionalisierung aber verweigerte. Vielleicht war sie zu stolz, um das öffentliche Urteil über sich ergehen zu lassen. Ihre Gesprächspartner schätzten ihr unabhängiges, offenes Urteil – und den erotischen Thrill. Mahler folgte mitunter bei der Arbeit ihrem Rat. Als er, nach dem berühmten Arbeitsverbot für sie, dessen Schärfe Rode-Breymann relativiert, sich später ihren Liedern eingehend widmete, war er angetan von ihrem Können und ermutigte sie zur Weiterarbeit. Allerdings ist der Grossteil ihres Schaffens verloren. In Bezug auf ihren Elan beim Komponieren witterte man in Verkennung ihrer Begabung lediglich hysterische Überspanntheit. RodeBreymann zeigt hingegen, dass sie in ihren Tagebüchern Zustände kreativer Ekstase beschrieb – für männliche Künstler selbstverständlich, für Frauen tabu. Und wo bisher von Almas «Kränklichkeiten» die Rede war, erfährt man hier, dass sie Fehlgeburten durchmachte. Rode-Breymann erzählt dieses Leben nicht genüsslich, effekthascherisch und enzyklopädisch, sie erhebt nicht den Anspruch auf Allwissenheit über diese abgründig komplexe Persönlichkeit und ihre vielen Beziehungen. Sie verzichtet auf das Anekdotische, das süffig Theatralisierte, das Frivole und auf Psychoanalyse am toten Objekt. Damit werden Klischees aller Art verabschiedet. Das liest sich verlässlich und so, dass man auch nach dreihundert Seiten gerne noch mehr erführe – über die Qualität der frühen Werke, über die späten Jahre in New York etwa. Ein Leben, das mit Menschlichem und Allzumenschlichem überreich gefüllt war. Man möchte es nicht gelebt haben – und hier wird es auch nicht in eine versöhnliche Façon gebracht. ● SAMPICS Sport Der Münchner Kurt Landauer (1884–1961) entdeckte den Fussball in Lausanne JüdischerVaterdesFCBayern Dirk Kämper: Kurt Landauer. Der Mann, der den FC Bayern erfand. Orell Füssli, Zürich 2014. 254 Seiten, Fr. 29.90. Von Claudia Kühner Wer kann sich heute vorstellen, dass Fussball in der Schweiz für die Anfänge des FC Bayern eine entscheidende Rolle spielte? Es war in Lausanne, wo sich der Banklehrling und spätere legendäre Vereinspräsident Kurt Landauer in diesen Sport «verliebte». Damals schon beherbergte die Westschweiz manch teure Internate mit vielen fussballbegeisterten Zöglingen. Hier lernte der 17jährige Münchner das neue Mannschaftsspiel aus England kennen. Zuhause im Kaiserreich gab die stramm deutsch-nationale und antisemitische Turnerbewegung den Ton an, deren einziges Trachten die Wehrertüchtigung war. In späteren Jahren sollte Landauer seine Beziehungen zur Schweiz in zahlreichen Spielen gegen hiesige Clubs vertiefen. Und in der Nazizeit schliesslich fand er als Jude Zuflucht in Genf. Kurt Landauer war nicht nur fussballverrückt und später ein begnadeter Fussballfunktionär. Er wurde eine der wichtigsten Figuren im Kreis der jüdischen Spiel des FC Bayern München gegen Eintracht Frankfurt am 2.2.2014 in München: Die Fans in der Südkurve gedenken ihres einstigen Präsidenten Kurt Landauer. Förderer, die diesem Sport in Deutschland auf die Beine halfen, während der «Donaufussball» zwischen Wien und Budapest die exzellenten Spieler und Trainer dafür lieferte. Für Juden wurde Fussball ein Sinnbild der Moderne, einer liberalen (auch bürgerlichen) Kultur, unideologisch, nicht national gesinnt und weniger anfällig für Antisemitismus. Für diese auch sozial- und kulturgeschichtlich aufschlussreichen Anfänge interessiert sich die Sportpublizistik erst in jüngerer Zeit. Nun legt der TV-Autor Dirk Kämper die erste Kurt Landauer gewidmete Biografie vor, rechtzeitig zur Ausstrahlung seines Spielfilms über Landauer am 15. Oktober in der ARD (mit Josef Bierbichler in der Titelrolle). Bedauerlicherweise schreibt Kämper diese Biografie wie einen Roman: Fiktive Dialoge, Gedanken, Handlungen. Dennoch ist die Lebensbeschreibung dieses schweinsbratenliebenden jüdischen UrMünchners lesenswert. 1913 wurde Landauer Präsident des 1900 gegründeten Vereins. Landauer erkannte früh, dass Amateure keine Spitzenleistung zeigen können wie englische Profis. Jahre kämpfte er in diesem Punkt gegen den DFB. 1932 endlich gewannen die Bayern – mit einem jüdischen Trainer – erstmals die deutsche Meisterschaft. Lange konnte sich Landauer an diesem Erfolg nicht freuen. Gleich nach Hitlers Machtantritt trat er zurück. Der Club mied zunächst die allzu geschmeidige Anpassung an die Verhältnisse. Landauer kam 1938 nach Dachau und konnte 1939 in die Schweiz emigrieren. Er und seine Schwester haben als einzige der Familie überlebt. Bitter war das Exil, mit dem schmerzlichen Höhepunkt 1943, als «seine» Bayern gegen eine Schweizer Auswahl im Hardturm spielten. Landauer sass auf der Tribüne, und am Ende grüssten die Spieler zu ihm hoch. Ihn rührte diese Geste so tief, dass er trotz vieler Zweifel 1947 nach München zurückkehrte – und sich wieder zum Präsidenten wählen liess. Der FC Bayern war jetzt froh um diesen nicht-belasteten Mann. Die ersten Spiele führten den Club wieder in die Schweiz. Zu Hause aber litt Landauer unter den täglichen Begegnungen mit jenen, die sich nicht an ihre Schuld erinnern lassen wollten. 1951 wurde er abgewählt. Der Münchner Fussballclub war lange an seiner eigenen Geschichte nicht interessiert. Inzwischen hat sich das geändert. Auch dank der Ultras von der Südkurve namens «Schickeria», die die Erinnerung an Landauer und das jüdische Erbe des Vereins besonders pflegen. ● Ukraine Der russische Schriftsteller Andrej Kurkow über die Wirrnisse der Maidan-Revolution Aufzeichnungen im Auge des Hurrikans Andrej Kurkow: Ukrainisches Tagebuch. Haymon, Innsbruck 2014. 280 Seiten, Fr. 26.90. Von Reinhard Meier «Ich weiss nicht, wie das alles enden wird», schreibt Andrej Kurkow im Vorwort zu seinen Tagebuch-Aufzeichnungen über die dramatischen Ereignisse, die sich während der sogenannten Maidan-Revolution in der Ukraine abgespielt haben. Kurkow, im früheren Leningrad als Russe geboren, lebt mit seiner englischen Frau Elizabeth und drei schulpflichtigen Kindern im Zentrum von Kiew, unweit des Unabhängigkeitsplat- zes. Dieser ist inzwischen unter der Bezeichnung Maidan zu einem global gängigen Begriff geworden. Die hier veröffentlichten Aufzeichnungen beginnen am 21. November 2013, dem Tag, an dem die ukrainische Regierung unter Präsident Janukowitsch überraschend bekannt gibt, dass das mit der EU ausgehandelte Assoziierungsabkommen nun doch nicht unterzeichnet werde. Es endet mit dem Eintrag vom 24. April 2014 über eine Elternversammlung in der Kiewer Schule von Kurkows Buben. Dazwischen liegen Berichte und Reflexionen über die teils tumultuöswidersprüchliche, teils bewundernswert ausdauernde Protestbewegung auf dem Maidan gegen die abrupte «Absage an Europa». Es folgen das undurchsichtige Blutbad in Kiew mit über 100 Toten, die Flucht Janukowitschs und im Februar die kaltblütige Annexion der Halbinsel Krim durch Putins Russland. Erklärungen über die Hintergründe dieser Ereignisse können die TagebuchNotate nicht bieten. Der Autor erinnert aber im Anhang zu wichtigen Namen daran, dass vor zehn Jahren die «Orange Revolution» ähnliche Erwartungen ausgelöst hatte wie der neue Maidan-Protest. Sie sind dann von deren Galionsfiguren wie Julia Timoschenko und Wiktor Juschtschenko bitter enttäuscht worden. Trotz solcher und anderer unguter Erfahrungen betont Kurkow: «Ich kann nur auf das Beste hoffen. Ich reise nicht aus.» ● 28. September 2014 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 19 Sachbuch Musik In seinem Erinnerungsbuch erklärt Daniel Barenboim sein Musikverständnis und sein Engagement im Nahostkonflikt Daniel Barenboim: Musik ist alles und alles ist Musik. Berlin Verlag, Berlin 2014. 140 Seiten, Fr. 27.90, E-Book 15.-. Von Corinne Holtz Daniel Barenboim, Pianist und Dirigent von Weltruf, glaubt eigentlich «an nichts». Trotzdem ist er als Vermittler im Nahostkonflikt seit Jahren aktiv. Das sichert ihm die Aufmerksamkeit von Medien, Verlagen und einer Öffentlichkeit, die weit über sein Konzertpublikum hinausweist. Seit dem Tod seines Freundes und Mitstreiters Edward Said im Jahr 2003 sind weitere Bücher von beziehungsweise mit Daniel Barenboim erschienen. Die Themen gleichen sich, sie berühren Musik und Gesellschaft, und stets wird der Musiker nach seiner Meinung zum Nahostkonflikt befragt. «Es ist ein Konflikt zwischen Menschen. Politik und Militär kommen erst danach.» Mit andern Worten: Was sich in den Herzen der Menschen befinde, könne nicht militärisch gelöst werden. So äussert sich Barenboim im Kapitel «Dialoge», das aus verschiedenen öffentlichen Gesprächen mit dem italienischen Musikwissenschafter Enrico Girardi besteht. Diese sind der Anlass für das neue Buch, das jetzt auf Deutsch erschienen ist und Textsorten unterschiedlichen Anspruchs versammelt. Zwischen 2008 und 2011 stellte sich der Musikdirektor der Mailänder Scala den Fragen seines Gegenübers. Das West-Eastern Divan Orchestra, in dem israelische und arabische Musiker spielen, ist kein Friedensorchester, sondern «ein kleines Modell einer Gesellschaft mit anderen Werten». Die Freiheit des Di- rigenten gehe so weit, als die Interpretation nur aus der Partitur kommen dürfe. Eigene Aufnahmen hätten ihn nie interessiert, ebenso wenig, «ob es eine Entwicklung gibt oder sonst etwas». Was allein zählt, ist das Jetzt – «die Vergangenheit in der Musik, im Leben oder in der Politik interessiert mich nur in dem Masse, in dem sie Einfluss auf die Gegenwart hat». Um ästhetische Fragen geht es in den Gesprächen über Bizets «Carmen», Wagners «Walküre» und Mozarts «Don Giovanni». Reibung entsteht dann, wenn die sogenannte historische Aufführungspraxis zur Sprache kommt. Daniel Barenboim erhebt einmal mehr Einspruch gegen die Dogmen der Bewegung, denen sich die mit «weniger Talent» versehenen Musiker verschreiben würden. Diese suchten auf «ungesunde Weise nach unbedeutenden Details» und rekonstruierten einen Aufführungsstil, der dann als progressiv und modern verkauft werde. Schade, dass Barenboim Vorurteile perpetuiert, anstatt von der aktuellen Forschung und Praxis der Szene Kenntnis zu nehmen. Diese Haltung spiegelt sich auch in seinem eigenen Interpretationsansatz. Daniel Barenboim pflegt bis heute die Klangästhetik der Nachkriegszeit, in der er sozialisiert worden ist. Entscheidender als sein künstlerisches Wirken ist sein Mut, Israelis und Palästinenser als Verlierer zu bezeichnen. Er tut dies als jemand, der zwei Pässe besitzt – einen israelischen und einen palästinensischen. Er habe «tiefes Verständnis für die Ängste seiner israelischen Mitbürger» und «tiefstes Mitgefühl mit dem Schicksal meiner palästinensischen Mitbürger in Gaza, die täglich Terror erleben». So liest es sich in Baren- IMAGO Dirigierenfürden Frieden Daniel Barenboim lanciert eine Initiative für Musiker aus dem Nahen Osten. boims Erklärung, die «The Guardian» Ende Juli 2014 veröffentlicht hat. Die Kontinuität dieses Engagements verdient Respekt und führt im Rahmen seiner neusten Initiative in die Zukunft. Stipendiatinnen und Stipendiaten aus dem Nahen Osten sollen 2016 in die geplante Barenboim-Said Akademie in Berlin einziehen und dort drei Jahre studieren. Herzstück der Ausbildung sollen musikalische und geisteswissenschaftliche Fächer sein – sowie Fakten und Ideen unseres «entfremdeten» Zeitalters wieder näher zueinander bringen, so der Initiator des Studiengangs. ● DIE BEGEGNUNG MIT DEM AUTOR VON „ALS NIETZSCHE WEINTE“ WE IN EINEM FILM VON SABINE GISIGER <wm>10CAsNsjY0MDAx1TUyMrI0tQAAa_pv-g8AAAA=</wm> <wm>10CFWKMQ6DMBAEX2Rrb-07Z7kS0SGKKD0Nos7_qwQ6ihlNMeuaXnEzL9tneacB3QtJ-StdXjkiTazDIyEjYX2CGhghe_wFpmho-_UUqBj3v3lHH6rf4_wBl85XlXIAAAA=</wm> E R IM K IN O A B 2 . OK TOB Eine Anleitung itung zum Glücklichsein 20 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. September 2014 W W W.YALOMSCURE.COM / W W W.FILMCOOPI.CH Vierte Gewalt Medien decken Missstände auf. Sie können aber auch fahrlässig berufliche und politische Existenzen zerstören wie im Fall von Christian Wulff Seidnachsichtig mitdenFehlbaren! Alexander Görlach: Wir wollen Euch scheitern sehen! Wie die Häme unser Land zerfrisst. Campus, Frankfurt 2014. 152 Seiten, Fr. 24.90, E-Book 15.90. Christian Wulff: Ganz oben – ganz unten. C. H. Beck, München 2014. 259 Seiten, Fr. 29.90, E-Book 19.-. Die Namen Christian Wulff, Rainer Brüderle, Theodor zu Guttenberg, Uli Hoeness, Jörg Kachelmann, Annette Schavan; oder in der Schweiz Philipp Hildebrand, Bruno Zuppiger und Geri Müller: Diese Namen stehen für den tiefen Fall von Prominenten nach einer Empörungsschlacht in Medien und Öffentlichkeit. Solche Fälle nehmen zu – nicht weil die Mächtigen skrupelloser werden (das Gegenteil ist der Fall), sondern weil die öffentliche Empörung über angebliches oder echtes Fehlverhalten sich dank Medienkampagnen, begleitet von Shitstorms in sozialen Netzwerken (Facebook, Twitter, Blogs), immer hemmungsloser ausbreitet. Der deutsche Theologe und Linguist Alexander Görlach (37), der das Debatten-Magazin «The European» herausgibt und früher Online-Ressortleiter des Politik-Magazins «Cicero» war, analysiert in seinem Buch «Wir wollen Euch scheitern sehen!», wie die Häme das Land zerfrisst. Dabei geht es ihm keinesfalls darum, «Unrecht zu verharmlosen oder Gesetzesbruch zu einer Bagatelle zu stilisieren». Zu verschieden sind die deutschen Prominenten-Abstürze: Neben Freisprüchen erster Klasse (Christian Wulff) oder zweiter Klasse («aus Mangel an Beweisen» wie bei Jörg Kachelmann) finden sich unter den Medienopfern auch rechtskräftig Verurteilte (Uli Hoeness) ebenso wie rechtlich Unbescholtene (Rainer Brüderle). Gleichheit als Dogma Entscheidend für Görlach ist etwas anderes: Der um sich greifende Neid auf die gesellschaftlich Erfolgreichen erzeuge Schadenfreude, sobald jemand bei einem vermeintlichen oder echten Misstritt ertappt wird. Dann lege der rigorose Moralismus der «Kleingeister», wie er sie nennt, an die «da oben» ungleich härtere Massstäbe an als an sich selbst. Man will die Sünder scheitern sehen. Die Ursache dafür macht der Autor im Zeitgeist der deutschen Mittelschicht aus, der die Gleichheit zum höchsten Dogma erhebt, während der Respekt vor dem Anderen und die Toleranz gegenüber dem Anderssein nachlasse. Viele Menschen könnten nicht akzeptieren, dass das Glück ungleich verteilt und «das EQ Von Urs Rauber Der frühere deutsche Bundespräsident Christian Wulff stellt am 10. Juni 2014 sein Buch den gleichen Medien vor, die ihn 2012 zum Rücktritt gezwungen haben. Leben nicht fair ist». Die Tendenz zum Niedermachen werde verstärkt durch die Praxis von Medien, den Dissens zu inszenieren statt die Versöhnung zu suchen, sowie deren Personalisierung und Emotionalisierung von Konflikten. Görlach spart nicht mit Kritik an den Medien, die mit ihrer Verantwortung oft lax umgehen würden. Indem sie auf Prominente eindreschen, diese unbarmherzig zur Schau stellen und hämisch Fehler kommentieren, gehe der Sinn für Proportionen verloren. Die Häme, diese «Mischung aus Schadenfreude, Besserwissertum und Sadismus», die früher nur im Versteckten agierte, sei heute leider salonfähig geworden. Görlachs streitbarer theologisch-philosophischer Essay mündet in ein Plädoyer für mehr Nachsicht, mehr Demut, mehr Barmherzigkeit gegenüber Fehlern von Personen in der Öffentlichkeit. Zu seinen 9 Punkten, mit denen öffentliche Vernichtungskampagnen zu stoppen seien, gehören unter anderem ein «respektbegleitetes Wegsehen vom Privaten», denn ohne Abstand sei auch kein Anstand möglich, der Abbau des Prangers und mehr Milde in der Beurteilung von Menschen. Immer wieder zitiert der Theologe das Gleichnis vom Splitter im Auge des Bruders und dem Balken im eigenen. Ein sehr bedenkenswerter, überzeugender Aufruf zur Mässigung. Was Görlach im allgemeinen konstatiert, wird im Buch des zurückgetretenen deutschen Bundespräsidenten Christian Wulff «Ganz oben – ganz unten» gleichsam im Brennglas durchgespielt. Wulffs Rechenschaftsbericht über seine bereits umstrittene Wahl am 30. Juni 2010 bis zu seinem Rücktritt am 17. Februar 2012 ist ein beklemmender Report darüber, wie aus Bagatellen, Ungeschicklichkeiten und ungeheuerlichen Verdächtigungen eine Staatsaffäre inszeniert und ein Politiker zum Abschuss gebracht wird. Dafür verantwortlich macht er hauptsächlich die unkontrollierte Macht besonders der Springer-Presse. Dass zu der Schmutzkampagne von «Bild» aber auch die öffentlich-rechtlichen Medien, der «Spiegel» sowie das noble Feuilleton der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» kräftig beigetragen haben, gehört zu den beschämenderen Einsichten aus diesem Buch. Frei von Rache Natürlich entspringt die akribische Schilderung der Hintergründe mit gelegentlich dramatisierenden Kapitelüberschriften («Die Jagd», «Die letzte Kugel») einem – natürlichen – Bedürfnis zur Rechtfertigung. Auch wenn dies stellenweise kleinlich wirken mag, ist Wulffs Buch völlig frei von Rachegelüsten und Selbstgerechtigkeit. Besonders beeindruckt, dass der gestrauchelte Politiker seine eigenen Fehler und «Riesendummheiten» nicht verschweigt. Christian Wulff erscheint hier als Mensch glaubwürdig, sein Handeln nachvollziehbar, unabhängig davon, ob man ihn als Würdenträger im Schloss Bellevue für eine Ideal- oder eine Fehlbesetzung hielt. Am 27. Februar 2014 sprach das Landgericht Hannover Wulff von allen Vorwürfen frei. Das im Rückblick erschütternde, auch menschlich anrührende Zeugnis des zehnten Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland bewegt auch viele Menschen. Christian Wulffs Buch figurierte nach seinem Erscheinen im Juni monatelang auf den Bestseller-Listen des «Spiegel». ● 28. September 2014 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 21 Sachbuch Schweiz Der EDA-Mitarbeiter Simon Geissbühler macht einen kritischen Zwischenruf zur politischen Kultur des Landes – erfrischend unkonventionell VonderdirektenDemokratie zumAnspruchsstaat keit der Bürger immer häufiger in Frage. Dies geschieht vor allem auf dem Umweg über die Justiz. Während Verfassung und Gesetz vom Souverän an der Urne genehmigt werden und somit höchste Legitimität besitzen, favorisieren die Kritiker den Ermessensspielraum des Richters. Dieser kann unter Berücksichtigung weiterer Umstände das Gesetz dann so oder so anwenden. Der Richterstaat relativiert zusehends den Gesetzesstaat. Simon Geissbühler: Die Schrumpf-Schweiz. Auf dem Weg in die Mittelmässigkeit. Stämpfli, Bern 2014. 144 Seiten, Fr. 37.90. Von Paul Widmer Der Diplomat Simon Geissbühler legt eine ungeschminkte Bestandesaufnahme der Schweiz vor. Äusserlich gesehen geht es dem Land gut. In fast allen Rankings gehört die Schweiz weltweit zur Spitzenklasse. Doch im Innern liegt einiges im Argen. Prüft man ihren Zustand mit der Skepsis eines konservativen Kulturkritikers, dann genügt sie ihren eigenen Ansprüchen nicht mehr. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie in der Mittelmässigkeit versinkt. Dieser Befund kontrastiert stark mit der modischen «Swissness»-Welle, die mit oberflächlichem Selbstlob über alles plätschert. Neustens will der Bund gar die direkte Demokratie vermehrt im Ausland als Erfolgsmodell anpreisen. Auf den ersten Blick eine lobenswerte Idee, auf den zweiten etwas weniger. Gewiss schadet es nichts, wenn das Ausland mehr über die Volksrechte und die Abstimmungsverfahren in der Schweiz erfährt. Aber man muss sich der engen Grenzen bewusst sein. Der Geist, der die direkte Demokratie beseelt und auf den es ankommt, lässt sich nicht exportieren. Er besteht in der politischen Kultur, die aus dem Innern erwächst. Sie ist das Ergebnis einer jahrhundertelangen Ausgestaltung des gesellschaftlichen und staatlichen Zusammenlebens. Gegen den Mainstream 22 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. September 2014 KEYSTONE Ideal der Bürgerrepublik Dazu ein Vergleich: Als Jugoslawien auseinanderbrach, glaubten viele, mit einer guten Verfassung sei den neuen Staaten geholfen. Doch mit der Beratung allein war es bei weitem nicht getan. Es ist ziemlich einfach, eine gute Verfassung auszuarbeiten. Die besten Verfassungsrichter stehen hierfür Schlange. Aber es ist schwierig, eine politische Kultur zu ändern. Dies jedoch ist unumgänglich. Wenn die Wirklichkeit nicht einigermassen mit der Verfassung übereinstimmt, macht auch die beste Verfassung keinen Sinn. Um diese politische Kultur der Schweiz geht es Geissbühler. Der Berner Historiker trat 2000 in den Dienst des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA) ein, war u.a. in Bukarest und Warschau tätig und ist heute stellvertretender Chef der Abteilung Amerika im EDA in Bern. Für Geissbühler ist die politische Kultur Vorbedingung, damit eine Bürgerrepublik überhaupt gedeihen kann. Ohne grosses Engagement der Bürger in Staat und Ge- Bürger nehmen ihr Schicksal selbst in die Hand: Landsgemeinde am 26. April 2009 in Appenzell Innerrhoden. sellschaft lässt sich kein Staatswesen von unten her aufbauen. Doch es steht schlecht um das, was das Wesen der Schweiz ausmacht. Der Wille zur Eigenverantwortung nimmt bedenklich ab, der Ruf nach dem Staat dafür zu. Statt Freiheit dominiert zusehends das Prinzip Gleichheit, flankiert vom gesellschaftlichen Druck einer Political Correctness. Wenn es der Schweiz heute noch sehr gut geht, dann vornehmlich deshalb, weil sie vom Kapital zehrt, das sie in der Vergangenheit angehäuft hat. Simon Geissbühler zählt einzelne Bereiche auf. Bei den Institutionen etwa greift niemand die direkte Demokratie frontal an. Aber selbst ernannte Demokratieexperten stellen die Urteilsfähig- Oder im Gesellschaftlichen: Die Staatsgläubigkeit nimmt im gleichen Ausmass zu wie die Bereitschaft abnimmt, Verantwortung zu übernehmen. Besonders ausgeprägt ist dieser Trend in den anonymen städtischen Agglomerationen. Die politischen Körperschaften, die Schulgemeinden und die Vereine finden kaum noch genügend Freiwillige, die ein Amt übernehmen. Lieber schiebt man eine Aufgabe auf den Staat ab. Wo aber der Bürger abdankt, macht sich der Bürokrat breit – und um ein Stück Freiheit ist es geschehen. Oder im Wohlfahrtsstaat: Das Wachstum der Schweizer Wohlfahrt nimmt beängstigende Ausmasse an. Früher hielten sich die Schweizer mit ihren sozialen Forderungen an den Staat zurück. Heute wollen selbst Schichten mit hohem Einkommen von einer staatlichen Umverteilung profitieren. Diese macht jedoch nur in engem Umfang Sinn. Wenn ein Staat alle finanziell begünstigen will, übernimmt er sich. Simon Geissbühler hat einen anregenden Essay verfasst. Um politische Korrektheit bemüht er sich nicht. Er hat gegen den Mainstream angeschrieben. Das wird ihm wohl einige Kritik eintragen. Aber man kann seine Überlegungen nicht mit leichter Hand beiseiteschieben. Sehr belesen entwickelt er seine Argumente im Dialog mit in- und ausländischen Autoren. Dass der Diplomat zu einem negativen Befund über den Zustand der Schweiz kommt, scheint ihm selbst peinlich zu sein. Jedenfalls möchte Simon Geissbühler seine Analyse nicht als Niedergangsdiagnostik verstanden wissen, obschon sie es unverkennbar ist. Doch die Scheu vor dem Etikett «Niedergang» erklärt sich wohl dadurch, dass selbst derjenige, der eine umfassende Verschlechterung feststellt, die Hoffnung auf Umkehr nicht aufgeben kann. Denn sonst würde es ja keinen Sinn machen, ein Buch wie dieses zu schreiben. ● Paul Widmer ist Autor von «Die Schweiz als Sonderfall» (2007) und «Diplomatie. Ein Handbuch» (2014). Psychologie Der US-Journalist Scott Stossel litt lebenslang unter Angst. Nun schildert er, wie er dagegen erfolgreich ankämpft JehöherderIQ,destogrösserdieFurcht Scott Stossel: Angst. Wie sie die Seele lähmt und wie man sich befreien kann. C. H. Beck, München 2014. 460 Seiten, Fr. 37.90. Von Michael Holmes 1917 äusserte Freud die Hoffnung, «dass das Angstproblem ein Knotenpunkt ist, an welchem die verschiedensten und wichtigsten Fragen zusammentreffen, ein Rätsel, dessen Lösung eine Fülle von Licht über unser ganzes Seelenleben ergiessen müsste». Wie richtig er mit dieser Einschätzung lag, beweist US-Journalist Scott Stossel in seinem klugen und bewegenden Buch «Angst», das eine gelun- gene Mischung aus intimer Autobiografie, wissenschaftlichem Sachbuch und philosophischer Abhandlung darstellt. Das Buch ist ein Coming-out. Stossel ist glücklich verheiratet, Vater zweier Kinder und Redaktor des US-Magazins «The Atlantic». Er wirkt stets gelassen, gefasst und souverän – ein geübter Schauspieler. Bis zum Erscheinen dieses Buches wusste nur seine Familie um sein Geheimnis. Kollegen und Freunde waren überrascht, erschüttert und beeindruckt. Mit bewundernswerter Offenheit und schwarzem Humor erzählt Stossel von seinem lebenslangen Kampf mit einem unerbittlichen und listigen Gegner. Seit seiner frühen Kindheit ringt er mit seiner «Grundangst». Er fürchtet sich vor TOPICAL PRESS AGENCY/GETTY IMAGES Zwanziger Jahre Glamour, Stil und Lebensfreude «In den zwanziger Jahren» ist eine oft gewählte Antwort auf die Frage, in welcher Epoche man gerne gelebt hätte – diese Kleider, diese Frisuren, diese verruchte Ausgelassenheit! Jene kurze Zeitspanne zwischen zwei verheerenden Kriegen wird selten nur beschrieben: Sie wird verklärt. Das Buch «Frauen der 1920er Jahre» von Thomas Bleitner macht da keine Ausnahme. In der Einführung weist der Autor zwar darauf hin, dass es nicht zuletzt die Presse war, welche einige wenige Frauen zu Idealfiguren erhob. Dennoch sind es die üblichen Verdächtigen, deren Leben in Wort und Bild von Bleitner erzählt wird: 18 Frauen stellt er vor, Intellektuelle wie Zelda Fitzgerald, Künstlerinnen wie Josephine Baker und Abenteurerinnen wie Amelia Earhart. Das liest und sieht man gerne. Richtig glücklich machen aber die ergänzenden Bilder von namenlosen Frauen, welche das Buch nicht nur bereichern, sondern ausmachen. Der ungezügelten Lebensfreude dieser Unbekannten, auf Skiern, auf Motorrädern, beim Tanz, und immer lachend, kann man sich nicht entziehen. Ja, da wäre man gerne dabei gewesen! Malena Ruder Thomas Bleitner: Frauen der 1920er Jahre. Glamour, Stil und Avantgarde. Sandmann, München 2014. 192 Seiten, ca. 120 Abbildungen, Fr. 51.-. Höhen, geschlossenen Räumen, Keimen, öffentlichen Auftritten, Käse, dem Fliegen und dem Erbrechen. Sein stressbedingter Reizdarm fesselt ihn in entscheidenden Augenblicken an die Toilette. Er stand schweissgebadet und zitternd vor dem Traualtar. Seine Ängste vermasselten ihm Dates, Prüfungen, Bewerbungsgespräche und Tennis-Matches. Stossel bespricht die zentralen Forschungsergebnisse zu den bedeutendsten Therapien und Medikamenten, die er alle im Selbstversuch getestet hat – mit unterschiedlichem Erfolg. In einer Konfrontationstherapie hielt er einen Vortrag vor Publikum, während er ein Video schaute, das Menschen beim Erbrechen zeigt. Er blamierte sich absichtlich, um seine Sozialphobie zu lindern. Er plant genau, welche Medikamentenkombinationen er in welchen Situationen zu sich nimmt. Zudem bietet das Buch eine faszinierende Ideengeschichte der Angst. Ausführlich schildert Scott Stossel die Theorien von Philosophen wie Platon und Kierkegaard sowie die fortdauernde Auseinandersetzung der Experten um die Ursachen der Angst. Er warnt eindringlich vor der Suche nach einer singulären Ursache. Zahlreichen Studien zufolge ergeben sich pathologische Ängste aus dem Zusammenspiel der Erbanlagen, des Erziehungsstils und der sozialen Umstände. Säuglinge mit unsicherer Mutterbindung erkranken im späteren Leben erheblich öfter an Angststörungen. Die Gene erklären etwa 30 Prozent der individuellen Unterschiede in der Anfälligkeit für Ängste. Globalen Studien zufolge muss jeder sechste Mensch wenigstens eine Angsterkrankung durchleiden. In den meisten Ländern bilden Angststörungen die häufigsten Seelenkrankheiten, und vieles spricht dafür, dass sie zunehmen. Scott Stossel hält die täglichen Schreckensbilder in den Massenmedien und den raschen sozialen Wandel für die wichtigsten Gründe. Die gute Nachricht: Wer Angst richtig einsetzt, kann von ihr profitieren. So besteht ein statistischer Zusammenhang zwischen einem hohen IQ und übermässiger Angst. Analysen zufolge leidet etwa ein Drittel aller herausragenden Wissenschafter an Angst oder Depression. Aschkenasische Juden besitzen einen durchschnittlich höheren IQ als andere Gruppen und leiden häufiger an Angsterkrankungen. Angst kann zudem gewissenhaft und vorsichtig machen. Stossel erinnert an viele Berühmtheiten, die trotz oder wegen ihrer starken Ängste Grosses geleistet haben, darunter Jefferson, Gandhi, Darwin und Freud. «Das öffentliche Eingeständnis meiner Schmach und meiner Furchtsamkeit werden mir, so hoffe ich, Kraft geben», schreibt Scott Stossel. Wir Lesenden haben dieses wichtige Werk seiner grossen Angst und seinem noch grösseren Mut zu verdanken. ● 28. September 2014 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 23 Sachbuch Bundesstadt Philipp Gosset war vieles: Gletscherforscher, Stadtplaner, Topograf und Botaniker Ein BritedrücktBerndenStempelauf Georg Germann (Hrsg.): Das Multitalent Philipp Gosset (1838–1911). Hier und Jetzt, Baden 2014. 272 Seiten, Fr. 49.90. Von Geneviève Lüscher «Bern ist in mancher Hinsicht ein zu kleiner Ort für mich; nur selten treffe ich auf einen Menschen, der andere als sehr bourgeoise Ideen vom Leben hat.» So äusserte sich der in Bern geborene Engländer Philipp Gosset zwei Jahre vor seinem Tod 1911. Der Satz klingt nach Verbitterung und Resignation. Gosset genügte die schweizerische Bundesstadt nicht, die tonangebende Schicht war ihm zu konservativ. Dennoch liess er sich in Bern einbürgern und starb als ein Bernburger, der es verstanden hat, der Stadt seinen Stempel aufzudrücken. Überregional ist Philipp Gosset bestenfalls als Gletscherforscher bekannt, sein Tätigkeitsfeld veränderte sich aber im Verlauf seines Lebens, wie die Biografie des Kunst- und Architekturhistorikers Georg Germann aufzeigt. Der langjährige Direktor des Bernischen Historischen Museums hat klugerweise darauf verzichtet, die vielen Facetten des Multitalents selber auszuleuchten, und hat Spezialisten zu Wort kommen lassen: den Historiker Quirinus Reichen, den Kartenhistoriker Martin Rickenbacher, den Architekturhistoriker Jürg Schweizer und den Gartendenkmalpfleger Steffen Osoegawa. Wie es in der Natur solcher Sammelwerke liegt: Redundanzen liessen sich nicht vermeiden, und dem Anmerkungsapparat hätte eine Straffung nicht geschadet. Ansonsten liest sich die Biografie flüssig und dürfte nicht nur neue Einblicke in die Bundesstadt geben, sie ruft auch die Verdienste eines nahezu vergessenen Stadtplaners in Erinnerung. Philipp wurde 1838 als Sohn des vermögenden, aus Jersey stammenden und mit einer Bernerin verheirateten Kaufmanns Robin Gosset geboren. Er besuchte Schule und Universität in Bern, in Paris bildete er sich zum Ingenieur weiter. Zurück in Bern heiratete er Henriette von Linden, eine Ehe, die kinderlos bleiben sollte, ihm aber den Eintritt in die bernische Oberschicht verschaffte. Sein Hobby bis ins hohe Alter war das Bergsteigen. 1859 tritt er dem exklusiven britischen Alpine Club bei, später dem Schweizer Alpenclub. Die Bergtouren dienten aber nicht bloss der Leidenschaft, sondern immer auch der Wissenschaft. Er unternahm glaziologische wie hydrologische Untersuchungen und interessierte sich für die Alpenflora. Philipp Gossets berufliche Laufbahn verläuft alles andere als gradlinig. 1862 amtet er als Vermessungsingenieur im Philipp Gosset hielt seine Bergtouren auch zeichnerisch fest: Hier die Schnapsfluh mit Blüemlisalphorn rechts und Weisse Frau links; 30.8.1859. Wallis. Bereits 1864 wird er Stadtplaner in Bern und entwirft die Überbauung des bis anhin brachliegenden Kirchenfeldes, die später in Teilen realisiert werden wird. Bei der Gestaltung der Oberstadt um das neue Bundeshaus wirkt er mit. 1867 bis 1879 ist Gosset als Topograf im Eidgenössischen Stabsbureau (heute Bundesamt für Landestopographie) angestellt und zuständig für die Vermessung der Schweizer Seen und Gletscher. Als sein Hauptwerk gilt die aufwendige Vermessung des Rhonegletschers, ein Auftrag des SAC und der Schweizerischen Naturforschenden Gesellschaft. Mit beiden überwirft sich Gosset aber alsbald; er gilt als «schwierig». Schliesslich verliert er wegen Termin- und Kostenüberschreitungen sowie Insubordination seine Stelle; die bahnbrechenden Forschungen über den Rhonegletscher publizieren andere. Die Missachtung seines geistigen Eigentums verbittert Gosset. Er macht einen radikalen Schnitt und wird Landschaftsgärtner. Dieser Statuswechsel ist in der Berner Oberschicht unüblich, zumal Gosset nach wie vor vermögend ist. Nach der Gründung einer Baumschule gelingt es ihm aber, bedeutende Aufträge zu ergattern. Unter anderem gestaltet er die Höfe des neuen Bundeshauses. Und noch heute steht im Bremgartenfriedhof die von ihm gepflanzte Schwarzkiefernallee. 1903 stirbt Gossets geliebte Frau Henriette. Bereits zwei Jahre später heiratet er die 35 Jahre jüngere Alice Fehr. Sie verhilft ihm 1907 zu einer späten Vaterschaft, die er jedoch kaum mehr geniessen kann. 1911 stirbt Philipp Gosset auf seinem Landgut in Wabern. ● Wirtschaft Beat Kappeler sprüht vor Ideen zur Überwindung selbstgewählter Unmündigkeit «Manchmal reicht auch die zweitbeste Lösung» Beat Kappeler: Leidenschaftlich nüchtern. Für eine freie und vitale Gesellschaft. NZZ Libro, Zürich 2014. 288 S., Fr. 44.–. Von Tobias Straumann Keine Frage, Westeuropa hat schon bessere Tage erlebt. Schwaches Wirtschaftswachstum, Massenarbeitslosigkeit und Nullzinspolitik zeugen von einer allgemeinen Malaise. Woran liegt es? Braucht die EU einfach länger Zeit, bis sie ihre institutionellen Widersprüche in den Griff bekommt, oder ist etwas grundsätzlich faul in der westlichen Welt? Beat Kappeler ist in seinem neuen Buch «Leidenschaftlich nüchtern» klar der Meinung, dass letztere Diagnose zutrifft. «Die Westeuropäer sind im Kopf alle zu Opfern geworden, sie sind nicht mehr Schmiede ihres Schicksals.» Um dem schleichenden Abstieg etwas entge24 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. September 2014 genzusetzen, hat er 144 kleine Gedankenblitze, Erinnerungen und Einsichten auf Papier gebracht. Einige davon sind bereits als «Standpunkte» in der NZZ am Sonntag erschienen. Die Kritik an den bestehenden Verhältnissen formuliert Kappeler aus einer prononciert liberalen Sicht. Die Politik führe ständig neue Regeln ein, ohne die Konsequenzen zu bedenken. Weniger wäre mehr. Zum Beispiel: «Da führten die Planer teure Brücken für den Tierwechsel über die Autobahnen und Kanäle unten durch für Frösche und Lurche. Nach Hunderten von Millionen an Kosten stellt man nun fest, dass die Raubtiere sich an den Enden der Brücken und Kanäle niederlassen, das Maul aufhalten, und die so sorglich geschützte Beute spaziert ihnen hinein.» Die Beschreibung von falsch gesetzten Anreizen und widersinnigen Massnahmen erstreckt sich auf eine breite Palette von Themen: Schule, Geldpolitik, Währungsunion, Arbeitsmarkt, Sozialstaat, Einwanderung, Steuerpolitik und vieles mehr. So fragt man sich bisweilen beim Lesen, ob der Abstieg Westeuropas nicht schon längst beschlossene Sache sei. Doch weit gefehlt. Kappeler vertritt mit grosser Zuversicht sein Plädoyer «für eine freie und vitale Gesellschaft». Kappeler überrascht mit historischen Exkursen und kuriosen Beispielen. Seine Rezepte zur Überwindung der Unmündigkeit sind realistisch und menschenfreundlich. «Manchmal reicht auch schon eine zweitbeste Lösung.» Das Buch schliesst deshalb mit der Überzeugung, dass nichts so wandelbar ist wie die Zukunft: «Die Gesellschaft ist auf Wanderschaft, mit offenem, nicht garantiertem Ziel, das muss uns genügen.» ● Tobias Straumann ist Wirtschaftshistoriker und Titularprofessor an der Universität Zürich. Biografie Der Brite Alastair Brotchie legt das bisher umfassendste Buch über den französischen Avantgardisten und Exzentriker Alfred Jarry (1873–1907) vor Skandalautortrittin diePedale Alastair Brotchie: Alfred Jarry. Ein pataphysisches Leben. Piet Meyer, Wien 2014. 548 Seiten, Fr. 64.90. Von Manfred Papst Manche Autoren verbindet man mit einem einzigen Werk, ja sogar mit einer einzigen Figur. Alfred Jarry, der 1873 in der Bretagne geboren wurde und 1907 mit nur 34 Jahren in Paris an einer tuberkulösen Meningitis starb, war so ein Autor. 1896 wurde sein Drama «Ubu Roi» uraufgeführt. Es geriet mit seinem Ausruf «Merdre!» («Schreisse!») ganz zu Beginn des Fünfakters sofort zum Skandal. Die Farce um den «Père Ubu», einen so dummen wie gierigen Tyrannen, der sein Volk gegen sich aufbringt und am Ende als Verlierer dasteht, wurde zunächst wegen seiner derben Sprache und grotesken Heftigkeit verunglimpft. Heute gelten uns das Werk und sein Autor als bedeutende Vorläufer von Dadaismus und Surrealismus. Das Absurde Theater beruft sich immer wieder auf Jarry und seinen König, für den der verhasste Physiklehrer des Autors Modell stand. Das Adjektiv «ubuesque» hat – wie «kafkaesk» im Deutschen – als Bezeichnung für alles Groteske und Abseitige Eingang in die französische Alltagssprache gefunden. Der Père Ubu ist längst aus seinem Theaterstück herausspaziert, so wie Rostands Cyrano de Bergerac aus dem seinen. Philosophische Parodie Der zweite Begriff, den wir mit Jarry verbinden, ist jener der «Pataphysik». In dem Wort verstecken sich die homophonen Wendungen «patte à physique», «pas ta physique» und «pâte à physique». Mit dieser Pseudolehre vom Imaginären und Einzelnen hat Jarry die Philosophie wie die naturwissenschaftliche Theoriebildung seiner Zeit parodistisch unterlaufen, beispielsweise, indem er die Oberfläche Gottes berechnete. Auf den Ubu-Stoff ist Jarry noch mehrfach zurückgekommen: in drei weiteren Dramen und zwei Almanachen, mit dem Kompendium «Les minutes de sable» und dem erst postum veröffentlichten Roman «Faustroll», der uns Heutigen in seiner wuchernden Vielfalt als Hauptwerk des Dichters erscheint. Hier werden Protokolle eines Gerichtsvollziehers, Exkurse zur Pataphysik, Reiseberichte und vieles andere zu einem irritierend modernen Text montiert. Nach dem frühen Tod des Dichters geriet sein höchst heterogenes, umfangreiches Werk, das Lyrik, erzählende Prosa, Dramen, Kunstkritiken, Feuilletons und Briefe umfasst, zunächst einmal in Vergessenheit. Erst nach 1945 wurde es in Als früher Velofahrer machte der Dadaist und selbsternannte Pataphysiker Alfred Jarry die Strassen von Paris unsicher (undatierte Aufnahme). breitem Masse wiederentdeckt und durch die dreibändige Pléiade-Ausgabe (1972–1988) sowie die grosse Biografie von Patrick Besnier (2005) auf den Parnass gehoben. Im deutschen Sprachraum machte sich Klaus Völker durch eine Jarry-Ausgabe in 11 Bänden (Zweitausendeins 1987–1993) verdient. Im Jahr 2011 erschien in London und Cambridge, Massachusetts, die umfassende Jarry-Biografie des 1952 geborenen Forschers und Sammlers Alastair Brotchie. Sie wurde sowohl als Monografie wie als Panorama einer Epoche von der angelsächsischen Presse begeistert rezensiert und vom «Times Literary Supplement» sogar zum «Buch des Jahres» erkoren. Nun liegt das Werk auch auf Deutsch vor – in sorgsamer Übersetzung und bemerkenswert schöner Gestaltung, als grossformatige Broschur in Spaltendruck und mit 275 Illustrationen. Es fällt schwer, Alfred Jarrys Leben und Werk auf einen Begriff zu bringen. Der Autor entstammte einer recht wohlhabenden bretonischen Familie, brachte aber seine Studien nicht zu Ende und geriet deshalb in die Künstlerbohème statt in einen gutbürgerlichen Beruf. Eine Zeitlang war er Sekretär am Théâtre de l ̦Œuvre, wo sein «Ubu Roi» uraufgeführt wurde. Seine Schriften erschienen verstreut und hatten kaum Erfolg. War er ein genialer Ideen-Akrobat und Spieler, der sich hinter zahllosen Masken versteckte? Oder wusste er selber allmählich nicht mehr, was Maskerade war und was Gesicht? Ein Meister der Selbstinszenierung war er auf alle Fälle – als Exzentriker und früher Fahrradfahrer. 1896 hatte er ein Vehikel des Typs Clément luxe 96 erstanden, das damals der letzte Schrei war und mit dem er die Pariser Strassen unsicher machte. Er wurde zunehmend aber auch zum Opfer seiner Schrullen, Ängste und Launen. In Gesellschaft war er oft unberechenbar. Ein verlässlicher Kanton war Jarry auch in geistigen Dingen nie. Er feierte in vielen seiner Texte die exzessive (namentlich homoerotische) Sexualität und galt deshalb als Libertin und Antibürger, konnte in seinen späteren Jahren, die von Armut, Krankheit und Alkoholismus geprägt waren, neben seinen abstrusen pataphysischen Ideen aber auch katholisches und monarchistisches Gedankengut propagieren. Der Ruhm kam erst postum Erst postum gelangte er zu Ruhm. Von Apollinaire über Breton bis zu Ionesco, von Raymond Queneau bis zu Georges Perec reicht die Liste seiner Bewunderer; ausserhalb der französischen Literatur bekannten sich Italo Calvino, Julio Cortázar, Witold Gombowicz, Wole Soyinka und viele andere zu seinem Werk. Seine radikale, dem Psychologismus wie dem Realismus entgegengesetzte Theaterästhetik hat eine mächtige Wirkungsgeschichte entfaltet. Es ist Alastair Brotchies Verdienst, dass er in seinem Opus magnum diese so faszinierende wie widersprüchliche Randfigur einer bedeutenden Kulturepoche für uns lebendig und fassbar macht. ● 28. September 2014 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25 Sachbuch Universität Erfahrungen einer Lehrbeauftragten aus den Geisteswissenschaften Weshalb Seminare schieflaufen Christiane Florin: Warum unsere Studenten so angepasst sind. Rowohlt, Reinbek 2014. 80 Seiten, Fr. 8.40, E-Book 6.-. Von Seán Williams Die Verschulung der Universitäten seit der Bologna-Reform wird schon lange beklagt. Christiane Florin beschreibt mitreissend den miesen Uni-Alltag in den Geisteswissenschaften in Deutschland. Es herrschen keine strittigen Diskussionen über Klassiker wie Adorno mehr, sondern die Serviceleistung einer Dialektik der Abklärung, in der Dozenten zu Ersatz-Erziehern und Entertainern, die Studenten zu Notensammlern werden. Doch anstatt die Umstellung der Studiengänge auf BA und MA zu bedauern, versteht Florin das Problem als Generationenfrage. Die Generation nach 1985 sei postdemokratisch und ersetze den Geist durch das Googlebare. Man müsse nicht nur gegen eine Hochschulpolitik zu Felde ziehen, sondern gegen einen Kulturwandel. Der Essay ist gewagt und wichtiger denn je. Die Autorin ist seit 14 Jahren Lehrbeauftragte für Politische Wissenschaft an der Universität Bonn. Viele Hochschullehrer würden es nicht wagen, für den Intellektualismus ihren Kopf zu riskieren. Florins Argument gilt auch für den weltweiten Wissensmarkt. Auch die Schweizer Debatte, ob Fachhochschulen Doktortitel verleihen sollten, lässt sich beispielsweise aus der Homogenisierung der «(Aus-)Bildung» herleiten. Das Angewandte, das Akademische sowie das Amüsement werden zu einem Topos zusammengeführt. Pädagogik ist ein Produkt, dessen Wert in Punkten messbar sein soll. Florins Buch nennt sich ein Protokoll dieser Anpassung. In der Dozentensprache würde man sagen: «Im Ansatz gut». Die Beschreibung des Problems ist nützlich, aber es fehlen konstruktive Kritik oder jener Intellektualismus, den Florin selbst fordert. Sie schreibt zwar mit Verve, aber manchmal ist unklar, ob ihre Zukunftsvorschläge bissig oder pessimistisch gemeint sind. «Wenn ich schon Animateur, Erzieher und Motivationstrainer sein soll, will ich das ebenso professionell gelernt haben wie die Luhmann’schen Nachrichtenkriterien.» Man möchte die Autorin fragen: Reden Sie wirklich einer solchen Umwandlung der Bildung das Wort? Aus der Spannung der «Seminarshow» zwischen Studenten und Dozenten entsteht zwar die Möglichkeit zum Widerstand, aus der wöchentlich 90-minütigen pädagogischen Performance eine theatralische Option zum Anderssein. Sie haben gut protokolliert, Frau Florin. Wir sind gespannt auf Ihr Manifest! ● Das amerikanische Buch Mehr als drei Jahre auf der Bestsellerliste Ein Titel ohne Sex und Sentimentalität zeigt in den USA seltene Ausdauer. Seit November 2010 steht Unbroken. A World War II Story of Survival, Resilience and Redemption (Random House, 500 Seiten) von Laura Hillenbrand ununterbrochen in den Bestsellerlisten. Im Juli erschien mit ungewöhnlich langer Verzögerung die um ein Interview mit der Autorin, Fotos und weitere Materialien erweiterte Taschenbuch-Ausgabe dieser «Geschichte aus dem Zweiten Weltkrieg von Überleben, Widerstandsfähigkeit und Erlösung». Danach rückten die Hardcover- und die Neuausgabe gleichzeitig an die Spitze der jeweiligen Sachbuch-Rankings. Laut Branchenangaben wurden die verschiedenen Versionen des Titels bislang über 4,3 Millionen Mal verkauft. Zamperini hat sein Leben erneut im Jahr 2003 geschildert. Doch erst Laura Hillenbrand hat den Captain der USLuftwaffe in den Olymp amerikanischer Ikonen gehoben. Die 47-Jährige wurde 2001 durch den Mega-Seller 26 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. September 2014 LOUIS ZAMPERINI Einen derart ungebrochenen Erfolg hat die amerikanische Buchbranche in der jüngeren Vergangenheit nicht erlebt. Dabei ist die Geschichte von Louis Zamperini seit 1956 aus den Memoiren «Devil at my Heels» (Den Teufel an den Fersen) des italienischen Immigrantensohnes bekannt. Zamperini wuchs in Kalifornien als unbezähmbarer Lausbub auf. Sein Talent als Langläufer machte den 19-Jährigen zu einer Medaillenhoffnung der USA bei der Berliner Olympiade von 1936, ehe er 1943 im Zweiten Weltkrieg 47 Tage lang auf einem winzigen Rettungsfloss auf dem Pazifik trieb und anschliessend in japanischer Kriegsgefangenschaft Folter, Hunger und Erniedrigung überstand. heitsgetreue Reportage, ohne dass Hillenbrand die Wachen verteufelt. Sie folgt Zamperini zudem durch die Zeit nach seiner Freilassung, die er zum Skelett abgemagert und schwer krank erlebt hat. Von Albträumen gequält, kehrte er 1950 nach Japan zurück, um ehemalige Wachen und die Schauplätze seines und des Leidens so vieler anderer US-Soldaten zu konfrontieren. In späteren Jahren als Athlet und Patriot verehrt, fand Zamperini durch den Eintritt in die Gemeinde des fundamentalistischen Predigers Billy Graham ein Mass an innerem Frieden, das vielen Veteranen nie zuteil wurde. Ein von japanischen Streitkräften im April 1943 zerstörter US-Bomber auf Funafuti, Tuvalu. Autorin Laura Hillenbrand (unten). «Seabiscuit» über das gleichnamige Rennpferd aus der Depressionsära bekannt. Hillenbrand demonstriert in «Unbroken» erneut ihr schriftstellerisches Können. Auf Interviews mit dem Protagonisten, mit anderen Zeitzeugen auf beiden Seiten des Pazifiks und umfassenden Hintergrundrecherchen bauend, erzählt die Autorin schnörkellos und dicht gewebt, reich an Dialogen und Details eine Geschichte, die unter künstlichem Pathos nur leiden würde. Obwohl sie die systematische Grausamkeit der japanischen Lagermannschaften ungeschminkt darstellt, erscheinen auch schwer aushaltbare Passagen als wahr- Hier liegt wohl ein weiterer Schlüssel zum Erfolg von «Unbroken». Wie Laura Hillenbrand schreibt, ist das Buch eine Würdigung der «grössten Generation Amerikas», die den Zweiten Weltkrieg durchlitten und gewonnen hat. Doch ihr Werk erschien am Ende des IrakFeldzuges und während der letzten Grossoffensive Amerikas in Afghanistan, als die Traumata von Veteranen erneut ins Zentrum der öffentlichen Debatte rückten. Zudem dürfte auch Hillenbrands beharrliches Ringen mit dem Chronischen Erschöpfungssyndrom viele Leser inspirieren. Die Krankheit machte das Schreiben für sie von Jugend an zu einem heroischen Kraftakt. Der aktuelle Sprung des Buches zurück an die Spitze der Bestsellerlisten geht jedoch auf zwei weitere, publicityträchtige Ereignisse zurück: Anfang Juli erlag Zamperini 97-jährig einer Lungenentzündung. Gleichzeitig wurde bekannt, dass die von Angelina Jolie verfilmte Kinoversion zu Weihnachten 2014 anlaufen wird. Von Andreas Mink ● Agenda Buchmalerei Alchemie der Liebe Agenda Oktober 2014 Basel Mittwoch, 15. Oktober, 19 Uhr Meir Shalev: Zwei Bärinnen. Lesung, Fr. 17.–. Literaturhaus, Barfüssergasse 3. Tel. 061 261 29 50. Samstag, 18. Oktober, 15 Uhr Iris Lydia Frei: D'Mäss. KinderbuchTaufe mit Überraschungen. Thalia, Freie Strasse 32, Platzreservation: Tel. 061 264 26 55. Bern Sonntag, 5. Oktober, 11 Uhr Thomas Meyer: Rechnung über meine Dukaten. Lesung, Ausstellungseintritt. ZPK, Monument im Fruchtland 3. Info: Tel. 031 359 01 01. Dienstag, 14. Oktober, 20 Uhr François Loeb: Happy Birthday, Babyboomers! Lesung, Gespräch, Musik, Fr. 15.-. Thalia, Spitalgasse 47/51. Tickets: Tel. 031 320 20 40. Zwei gekrönte Gestalten nehmen ein Bad in einem Teich. Beide sind nackt und geflügelt. Unten ruht der König mit goldener Krone und rötlichen Flügeln. Auf ihm liegt die Königin. Sie trägt eine silberne, mit Edelsteinen besetzte Krone; ihre Flügel sind silbrig-grün. Das anmutige Bild einer mystischen Vereinigung entstammt dem «Rosarium Philosophorum», einem der beliebtesten Kompendien frühneuzeitlicher Alchemie. 1550 wurde es erstmals gedruckt. Es enthält einen lateinischen Grundtext, einen Bilderzyklus sowie ein deutschsprachiges Gedicht. Das Buch faszinierte Denker und Künstler von Isaac Newton bis zu C. G. Jung und Leonard Cohen. Hier wird es in einer wissenschaftlich gründlichen und schönen, reich illustrierten Ausgabe präsentiert, die keine Wünsche offen lässt. Manfred Papst Rudolf Gamper, Thomas Hofmeier: Alchemische Vereinigung. Chronos, Zürich 2014. 238 Seiten, 183 Farbabbildungen, Fr. 47.90. Belletristik Sachbuch 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 Guillaume Musso: Vielleicht morgen. Pendo. 480 Seiten, Fr. 22.90. Charles Lewinsky: Kastelau. Nagel & Kimche. 400 Seiten, Fr. 35.90. Bernhard Schlink: Die Frau auf der Treppe. Diogenes. 256 Seiten, Fr. 30.90. Judith Hermann: Aller Liebe Anfang. S. Fischer. 224 Seiten, Fr. 23.90. Jean-Luc Bannalec: Bretonisches Gold. Kiepenheuer & Witsch. 352 Seiten, Fr. 22.90. Daniel Glattauer: Geschenkt. Zsolnay. 334 Seiten, Fr. 22.90. Karin Slaughter: Bittere Wunden. Blanvalet. 576 Seiten, Fr. 29.90. Donna Leon: Das goldene Ei. Diogenes. 368 Seiten, Fr. 26.90. Michael Robotham: Erlöse mich. Goldmann. 448 Seiten, Fr. 22.90. Luzern Mittwoch, 22. Oktober, bis Samstag, 1. November, 18.15 Uhr 3. Luzerner Mordsabende, mit Diner. Fr. 89.-. Restaurant 1871, Haldenstr. 4. Reservation: Tel. 041 422 18 71. Zürich Bestseller September 2014 Lori Nelson Spielman: Morgen kommt ein neuer Himmel. Fischer Krüger. 368 Seiten, Fr. 22.90. Donnerstag, 23. Oktober, 19.15 Uhr Werner Bätzing: Leben in den Alpen. Lesung, Fr. 16.- inkl. Apéro. Haupt, Falkenplatz 14. Tickets: Tel. 031 309 09 09. Giulia Enders: Darm mit Charme. Ullstein. 288 Seiten, Fr. 27.90. Silvia Aeschbach: Leonardo Di Caprio trifft keine Schuld. Wörterseh. 208 Seiten, Fr. 27.90. Duden. Die deutsche Rechtschreibung. 26. Aufl. Bibliogr. Institut. 1216 Seiten, Fr. 39.90. Wilhelm Schmid: Gelassenheit. Insel. 118 Seiten, Fr. 12.90. Brigitte Trümpy-Birkeland: Sternenkind. Wörterseh. 192 Seiten, Fr. 39.90. Fritz Hegi: Mit WanderFritz durch die Schweiz. Weltbild. 143 Seiten, Fr. 29.90. Antony Beevor: Der Zweite Weltkrieg. Bertelsmann. 976 Seiten, Fr. 59.90. Rudolf H. Strahm: Die Akademisierungsfalle. Hep. 240 Seiten, Fr. 37.90. Gerold Biner: Fliegen um Leben und Tod. Orell Füssli. 256 Seiten, Fr. 37.90. Bronnie Ware: Leben ohne Reue. Arkana. 224 Seiten, Fr. 23.90. Erhebung Media Control® AG im Auftrag des SBVV; 16.9.2014. Preise laut Angaben von www.buch.ch. Montag, 6. Oktober, 20 Uhr Franz Hohler, Susanna Schwager: Züri Littéraire, Live-Literaturclub im Kaufleuten. Fr. 25.-. Pelikanplatz 18. Tickets: Tel. 044 225 33 77. Donnerstag, 16. Oktober, 20 Uhr Franzobel: Wiener Wunder. Lesung, Fr. 25.-. Kaufleuten (s. oben). Mittwoch, 22. Oktober, 19.30 Uhr Jan M. Piskorski: Die Verjagten. Flucht und Vertreibung im Europa des 20. Jahrhunderts. Lesung, Fr. 18.– inkl. Apéro. Literaturhaus, Limmatquai 62. Info: Tel. 044 254 50 08. Donnerstag, 23., bis Sonntag, 26. Oktober «Zürich liest». Bekannte Autoren und Autorinnen lesen in der ganzen Stadt. Programm: www.zuerich-liest.ch. Samstag, 25. Oktober, 19.30 Uhr Nino Haratischwili: Das achte Leben (Für Brilka). Lesung, Fr. 18.– inkl. Apéro. Literaturhaus (s. oben). Bücher am Sonntag Nr.9 erscheint am 26.10.2014 Weitere Exemplare der Literaturbeilage «Bücher am Sonntag» können bestellt werden per Fax 044 258 13 60 oder E-Mail [email protected]. Oder sind – solange Vorrat – beim Kundendienst der NZZ, Falkenstrasse 11, 8001 Zürich, erhältlich. 28. September 2014 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27 Damit Ihre Neugierde gestillt wird: Wir unterstützen gute Literatur. <wm>10CAsNsjY0MDAx1TUyNLC0NAMAOyrLXA8AAAA=</wm> <wm>10CFWLIQ7DQAwEX-TTrn2-dGNYhUUBUXhIVdz_o6ZhBSMNmFnXyoab57Idy14EepoT0qhUNp9GPdwb-lQQ5WCfGemhIfz1BmoE4vw1Bhl1kpa0uATh15bt83p_ARD6r-h3AAAA</wm> Mehr unter www.zkb.ch/sponsoring Mit einer Karte der Zürcher Kantonalbank erhalten Sie eine Reduktion von 10.– CHF für alle «Kaufleuten Literatur»-Veranstaltungen.