NZZ am Sonntag - Neue Zürcher Zeitung

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NZZ am Sonntag - Neue Zürcher Zeitung
Nr. 8 | 28. September 2014
NZZ am Sonntag
Vatikan
Ein Reaktionär
wird zum
Revolutionär
16
Nominiert
Fünf Autoren
für Schweizer
Buchpreis
4 und 11
Finnland
Coole
LiteraturLandschaft
12
Schweiz
EDA-Diplomat
beklagt den
Niedergang
22
Bücher
am Sonntag
Neu
Eine rasante Fahrt durch
die Geschichte des Wintersports.
Die Suche nach gesunder Bergluft ist es, die vorab
Deutsche und Engländer in die noch unerschlossenen
Berge zog. Ihre Abenteuerlust und der einheimische
Unternehmergeist prägen die Entwicklung des jungen Wintertourismus, der bald viele andere Orte und benachbarte
Länder erfasst. Zunächst ein Tummelplatz der Reichen
und Schönen, wird der Wintersport zur Volksbewegung.
Mit diesem Buch wird diese grosse Geschichte erstmals
zusammenhängend – und reich illustriert – erzählt.
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Michael Lütscher
Schnee, Sonne und Stars
Wie der Wintertourismus von St. Moritz aus
die Alpen erobert hat
272 Seiten, 250 Abbildungen. Gebunden.
Fr. 88.–*/€ 88.–
Nzz Libro auf
nzz-libro.ch
152
153
17 Eissegeln auf dem schwarz
gefrorenen Silsersee, um 1890.
18 Eissegeln auf einer Eisbahn
in St.Moritz.
19 Curling vor dem schiefen Turm
von St.Moritz.
17
DER PULITZERPREIS DES SCHLITTELNS
18
156
19
Funkverbindung. Das Rennen gewinnen der Klosterser Pöstler Peter Minsch und der australische Viehzüchter George
Pringle Robertson ex aequo. Die Preisverleihung findet im
Hotel Silvretta beim Ziel in Klosters statt. Ganz Gentleman
überlässt der Australier dem Klosterser den Sieg und das
Preisgeld von 100 Franken.87 Eine hübsche Summe – genau
doppelt so viel, wie Briefträger Minsch im Monat verdient.88
Im selben Jahr gründet Symonds mit anderen Gästen den
Davos Toboggan Club, und 1884 wird das «International», wie
das Rennen genannt wird, um ein Tal ausgeweitet: Diesmal
werden auch die Engadiner aus St. Moritz eingeladen. Diese
haben auf dem fremden Parcours zwar keine Chance, aber sie
lassen sich vom Wettkampfgeist anstecken. Denn: «Die Natur
des Engländers ist der Wettkampf.» 89 Die Teilnehmer aus dem
Engadin beschliessen, sich zu revanchieren. Aber wie? Die
St. Moritzer Schlittelbahnen auf der Strasse vom Dorf ins Bad
und vom «Kulm» zum See scheinen zu kurz und zu einfach.
Unter der Führung des Australiers Robertson, der inzwischen
in St. Moritz logiert, wird eine neue Bahn hinunter zum Weiler Cresta geplant. Major William Henry Bulpett, der Vorsitzende des «Outdoor Amusement Comittees» des Hotels Kulm,
übernimmt die Ausführung, unterstützt vom einheimischen
Ingenieur Peter Bonorand. Die Badrutts vom Hotel Kulm stellen Land und Arbeiter zu Verfügung.90 Ende 1884 ist der Cresta
Run fertig. Neuartig sind die überhöhten Kurven – die zwecks
Stabilität vereist sind. Ob die Davoser da zurechtkommen?
Mitte Februar 1885 reisen sie an, nachts in oΩenen Schlitten
über den Julier, um beim neuen Rennen, dem «Grand National» mitzumachen.91 Hunderte warten gespannt auf den neu
errichteten Tribünen. Trotz vereister Kurven gewinnt ein
«Davoser», der Engländer Charles Austin.
Noch sitzen die Fahrer auf ihren Rennschlitten. Aber
bald schon legen sich die ersten Wagemutigen kopfvoran da-
153 Es geht um Lifestyle:
Herbert Matter für FIS­Rennen
in Engelberg, 1938.
24 Am Anfang war das Licht
25
157
152 Sport im Zentrum:
Alex Walter Diggelmann für
Skirennen in Mürren, 1931.
154
155
154 Heimat ist weiblich:
Martin Peikert für Wengen,
1948.
156 Es geht um die neue
Sesselbahn: Martin Peikert
für Verbier, 1951.
155 Raupen­Lastwagen als
Attraktion: Alex Walter Diggel­
mann für Gstaad, 1943.
157 Berge sind verführerisch:
Martin Peikert für Champéry,
1947.
Inhalt
Heiss im polaren
Finnland ist nicht
nur die Sauna
Papst Franziskus
(Seite 16).
Illustration von
André Carrilho
Finnland ist anders. Das Land mit 5,4 Millionen Einwohnern (Schweiz:
8,1 Mio.) und einer Fläche so gross wie Deutschland liegt zu einem Drittel
nördlich des Polarkreises. Bei den Pisa-Tests schneiden die Finnen, für die
Zweisprachigkeit in der Schule obligatorisch ist, stets hervorragend ab.
Suomi hat seine Unabhängigkeit vor weniger als 100 Jahren erlangt, geht
uns aber eine Stunde voraus – und ist auch sonst ein cooles Land: Jährlich
erscheinen 5000 neue Bücher, seine Bibliotheken sind kostenlos. Auf
Seite 12 stellen wir Ihnen den Ehrengast der Frankfurter Buchmesse und
seine wichtigsten Autorinnen und Autoren vor.
Nach anderthalb Jahren ist es an der Zeit, den erstaunlichen Wandel des
Jorge Mario Bergoglio vom konservativen Kirchenfürsten unter der
argentinischen Militärdiktatur zum progressiven Aufräumer im Vatikan
nachzuzeichnen (S. 16). Weniger heilig mutet dagegen die Vita der Wiener
Künstlermuse Alma Mahler-Werfel an. Ihre ausschweifenden Amouren,
der Alkoholkonsum, die psychische Überspanntheit – all das würde ihr
heute zum Attribut «Salonluder» verhelfen. Doch eine eindrückliche neue
Biografie zeigt, wie dieses schrille Leben von tragischen Schicksalsschlägen
begleitet war (S. 18).
Dies und vieles mehr möchten wir Ihnen zum sonntäglichen Brunch auf
den Tisch legen und wie seinerzeit der neue Oberhirte vom Balkon des
Petersdoms rufen: Buon pranzo! Urs Rauber
Belletristik
Guy Krneta: Unger üs
Von Regula Freuler
6 Herta Müller: Mein Vaterland war ein Apfelkern
Von Sandra Leis
Richard Tuttle: Prints
Von Gerhard Mack
7 Marica Bodrožić: Mein weisser Frieden
Von Charles Linsmayer
8 Stewart O’Nan: Die Chance
Von Martin Zingg
9 Thornton Wilder: Die Brücke von San Luis Rey
Von Stefana Sabin
10 Charles Jackson: Das verlorene Wochenende
Von Bruno Steiger
11 Tanguy Viel: Das Verschwinden des Jim Sullivan
Von Monika Burri
Kurzkritik Schweizer Buchpreis
11 Lukas Bärfuss: Koala
Von Regula Freuler
Heinz Helle: Der beruhigende Klang
von explodierendem Kerosin
Von Regula Freuler
Gertrud Leutenegger: Panischer Frühling
Von Manfred Papst
Dorothee Elmiger: Schlafgänger
Von Manfred Papst
Essay
12 Eine leseverrückte
junge Nation
Angela Gutzeit über die Literatur Finnlands,
des diesjährigen Gastlandes an der
Frankfurter Buchmesse
Kolumne
15 Charles Lewinsky
Das Zitat von Oscar Wilde
Die 61-jährige Nobelpreisträgerin Herta Müller blickt auf
ihre Kindheit in Rumänien zurück (S. 6).
Kurzkritiken Sachbuch
15 Rolf Schieder: Die Gewalt des einen Gottes
Von Kathrin Meier-Rust
Hatice Akyün: «Verfluchte anatolische
Bergziegenkacke»
Von Urs Rauber
Claudia Theune: Archäologie an Tatorten
des 20. Jahrhunderts
Von Geneviève Lüscher
Mirian Goldenberg: Untreu
Von Kathrin Meier-Rust
Sachbuch
16 Daniel Deckers: Papst Franziskus
Paul Vallely: Papst Franziskus
Nello Scavo: Bergoglios Liste
Von Klara Obermüller
CATO LEIN
4
18 Susanne Rode-Breymann: Alma Mahler-Werfel
Von Kirsten Voigt
19 Dirk Kämper: Kurt Landauer
Von Claudia Kühner
Andrej Kurkow: Ukrainisches Tagebuch
Von Reinhard Meier
20 Daniel Barenboim: Musik ist alles und alles
ist Musik
Von Corinne Holtz
21 Alexander Görlach: Wir wollen Euch
scheitern sehen!
Christian Wulff: Ganz oben – ganz unten
Von Urs Rauber
22 Simon Geissbühler: Die Schrumpf-Schweiz
Von Paul Widmer
23 ScottStossel:Angst
Von Michael Holmes
Thomas Bleitner: Frauen der 1920er Jahre
Von Malena Ruder
24 Georg Germann: Das Multitalent Philipp Gosset
(1838–1911)
Von Geneviève Lüscher
Beat Kappeler: Leidenschaftlich nüchtern
Von Tobias Straumann
25 Alastair Brotchie: Alfred Jarry
Von Manfred Papst
26 Christiane Florin: Warum unsere Studenten
so angepasst sind
Von Seán Williams
Das amerikanische Buch
Laura Hillenbrand: Unbroken. A World War II
Story of Survival, Resilience and Redemption
Von Andreas Mink
Agenda
27 Rudolf Gamper, Thomas Hofmeier:
Alchemische Vereinigung
Von Manfred Papst
Bestseller September 2014
Belletristik und Sachbuch
Agenda Oktober 2014
Veranstaltungshinweise
Chefredaktion Felix E.Müller (fem.) Redaktion Urs Rauber (ura., Leitung), Regula Freuler (ruf.), Geneviève Lüscher (glü.), Kathrin Meier-Rust (kmr.), Manfred Papst (pap.)
Ständige Mitarbeit Urs Altermatt, Urs Bitterli, Hildegard Elisabeth Keller, Manfred Koch, Gunhild Kübler, Sandra Leis, Charles Lewinsky, Andreas Mink, Klara Obermüller,
Angelika Overath, Martin Zingg Produktion Eveline Roth, Hans Peter Hösli (Art Director), Susanne Meures (Bildredaktion), Raffaela Breda (Layout), Korrektorat St.Galler Tagblatt AG
Verlag NZZ am Sonntag, «Bücher am Sonntag», Postfach, 8021 Zürich, Telefon 0442581111, Fax 0442617070, E-Mail: [email protected]
28. September 2014 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3
Belletristik
Schweizer Buchpreis Mit Guy Krnetas sprachmusikalischem Familienalbum «Unger üs»
ist zum zweiten Mal ein Mundartbuch nominiert
VomUnggleSämi
uvor
IsabelusPeru
Guy Krneta: Unger üs. Mit einem Nachwort
von Klaus Merz. Der gesunde
Menschenversand, Luzern 2014.
159 Seiten, Fr. 24.90.
Von Regula Freuler
Den Preis für den umtriebigsten Schweizer Kulturschaffenden hat er bereits gewonnen, nämlich den Prix Suisseculture
vor zwei Jahren. Wie kein anderer auf
seinem Gebiet – das ist die Literatur in
dramatischer, performativer und schriftlicher Form – hat Guy Krneta eben dieses
geprägt: als Initiator des Literaturinstituts in Biel, als Kulturfestival-Organisator, Theaterleiter und Dramaturg in
Bern und Aarau, als Schreibcoach beim
Schulhausroman-Projekt, als politischer
Aktivist mit der Aktion «Rettet Basel!»
beim Verkauf der «Basler Zeitung» an
Christoph Blocher und dessen Umfeld.
Und natürlich hat Krneta sich einen
Namen gemacht als Schriftsteller, Dramatiker und Spoken-Word-Performer.
Vor allem eine wäre ohne ihn nicht da,
wo sie heute steht: die neue Mundartliteratur, die er mit der 2003 gegründeten
Spoken-Word-Formation «Bern ist überall» wiederbelebt hat.
Mit einem berndeutschen Buch ist der
50-jährige Guy Krneta jetzt für den
Schweizer Buchpreis vorgeschlagen:
«Unger üs». Es ist der zweite Mundarttitel, der für diese publikums- und medienwirksame Auszeichnung nominiert
wird. Der erste war «Der Goalie bin ig»
von Pedro Lenz im Jahr 2010, der allerdings nicht gewann. Beide sind in der
Edition Spoken Script des Luzerner
Kleinverlags Der gesunde Menschenversand erschienen, der einen grossen
Teil zur heute so lebendigen MundartLiteraturszene beigetragen hat.
Obwohl «Unger üs» sich wie ein Episodenroman liest, steht neben dem Titel
4 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. September 2014
die ungewöhnliche Genrebezeichnung
«Familienalbum». Der Grund dafür liegt
im Ursprung des Buches, einer gleichnamigen Lese- und Konzertreihe, die Guy
Krneta mit Musikern und einer Sängerin
durchgeführt hat und bei der die Texte
vorgetragen wurden. Für den SpokenWord-Roman hat er die Auftrittstexte zu
einem Ganzen verbunden. Auf diese
Weise ist Guy Krneta auch bei seinem
Buch «Zmittst im Gjätt uss» verfahren,
das 2003 zweisprachig (Mundart und
Hochdeutsch) im Berliner Aufbau-Verlag
erschienen ist.
Im Schwulenchor Köniz
Wer um diesen Entstehungsprozess
nicht weiss, mag erstaunt sein, liest sich
das Buch doch wie aus einem Guss – sofern man mit der Short-Cuts-Manier vertraut ist. Manche Episoden sind nur einige Sätze kurz, andere mehrere Seiten
lang. Die Geschichte verläuft auf verschiedenen Zeitebenen: Eine beginnt in
der näheren Vergangenheit, in welcher
der Grossvater die Hauptperson spielt,
und reicht bis zu dessen Begräbnis. Eine
andere reicht in die fernere Vergangenheit zurück, aus der der Ich-Erzähler (wir
erfahren nur seinen zweiten Vornamen:
Arthur) aus seiner jungen Erwachsenenzeit als Dienstverweigerer berichtet. Und
zuletzt gibt es noch die Figur des Unggle
Sämi, mit dem Krneta uns in die Kindheit
des Ich-Erzählers führt.
Die Sämi-Episoden haben die Wirkung
eines Running Gags und beginnen fast
immer mit demselben Satz: «Dr Unggle
Sämi isch zwöuf Jahr euter gsi.» Oft
enden sie mit einer Pointe über diesen
offenbar ungewöhnlichen Mann, der als
einziger Nichtschwuler im Schwulenchor Köniz sang und dem Ich-Erzähler
gerne einen Bären aufband. In die Kindheitsepisoden fällt auch das rätselhafte
Verschwinden und Wiederauftauchen
eines Ferienhauses.
Anders als dieser weitgehend fiktive
Erzählstrang ist jener über die Zeit im
Gefängnis in Genf, wo der Erzähler
sechs Monate Halbgefangenschaft wegen
Dienstverweigerung abbüssen musste,
autobiografisch. Im Ausgang verliebt der
Protagonist sich in Isabel, eine Peruanerin. Als deren Visum abläuft und sie zurück in ihre Heimat muss, gelingt es ihm
nicht, sie zurückzuhalten. Man kann es
ihr kaum verdenken: Wenn es darum
geht, seine langen Haare vor Vater und
Lehrern zu verteidigen, wirkt der junge
Mann feuriger als im Liebeswerben.
Schliesslich erfährt er von Isabels
Schwangerschaft und reist nach Peru,
um herauszufinden, ob das Kind von
ihm ist.
Aufs Schönste kommt Guy Krnetas
Sinn für Rhythmus und Musikalität der
Sprache in seinen parataktischen Satzkonstruktionen und -folgen zum Ausdruck. Seine kompositorischen Stärken
geben den Theatermenschen zu erkennen. So beginnt er eine Episode mit dem
Bedauern des Grossvaters darüber, dass
er die Verwandtschaft kaum einmal
mehr treffe. «Familien isch, we mr unger
üs sy, het dr Grossvatter gseit. Das syg
säute.» Es folgt ein Diavortrag vor den
Nachkommen, in dessen Verlauf in Nebensätzen und Einwürfen die eingeschliffenen Konflikte immer wieder aufblitzen. Krneta lässt die Episode mit
einer Enttäuschung enden und schliesst
so virtuos die Klammer: «Geng we d Familie zäme syg, gäb’s Krach. […] Drby
gsäche mr is so säute.»
Viel Raum nimmt das Politische ein.
Wie könnte es anders sein bei Krneta,
denkt sich, wer dessen Theaterstücke
wie «Aktion Duback» über die Fichenaffäre oder die «Fondue-Oper» über
deutsch-schweizerische
Vorurteile
kennt. Onkel Sämi versuchte als Jungspund einmal, linke Parteiversammlungen auszuspionieren. Und der Grossva-
Anwärter auf
den Schweizer
Buchpreis:
Guy Krneta, am
25. Mai 2014 im
Schloss Wyher
in Ettiswil (LU).
ter sass für die nicht benannte Bauernpartei, seit 1971 als SVP bekannt, zwanzig
Jahre lang im Grossen Rat, um schliesslich enttäuscht den Austritt zu geben.
Augenzwinkernde Ironie, dass auch
Guy Krneta, Nachfahre eines kroatischen
Einwanderers und politisch dezidiert
links stehend, einen SVPler zum Grossvater hatte.
INGO HOEHN
Vom Kneten der Wörter
Wie wichtig dem Autor die – oft spielerische – Auseinandersetzung mit der Sprache ist, hat er in Theaterabenden wie
«Das Leben ist viel zu kurz, um offene
Weine zu trinken» oder «Stottern und
Poltern» gezeigt. Beides sind Inszenierungen der Gruppe «Matterhorn Produktionen», die er mit seiner Frau Ursina
Greuel in ihrer Wahlheimat Basel gegründet hat. Seine Liebe zum Kneten
und Neuordnen von Wörtern und Sätzen
tritt in «Unger üs» beispielhaft in den
Passagen mit der Enkelin Vivienne, einer
Linguistin, hervor. Hier sinniert der
Grossvater darüber, wie untrennbar die
Sprache mit Psyche und Gesellschaft verbunden ist. «Das syg di grossi Leischtig
vom Mönsch. Dass’r glychzytig chönn
vrgässen und erinnere. Dass’r öpis angers
tüeg erinneren aus das, won’r vrgässe
heig. Wäre mir nid ir Lag z vrgässe, heig
är, dr Grossvatter, gseit, wäre mir o nid ir
Lag z erinnere. U de wäre mir keni
Mönsche, wo chönni vrzeue. Dr Computer heig nüt z vrzeue.» Sprache ist bei
Krneta nichts, in das man sich hineinkuscheln kann. Vielmehr kann sie genauso
Ausdruck des Unbehausten und der
Sehnsucht sein. Sie gehört keinem, ist
stets wandelbar. Gibt es so etwas wie
eine weibliche Sprache?, fragt einmal
hinterlistig der Grossvater in «Unger üs»
und verneint die Frage damit natürlich
implizit.
«Ich glaube nicht, dass Sprache Heimat ist», sagte Guy Krneta vor zehn Jahren im Gespräch mit der «NZZ am Sonntag». «Sie macht uns eher unsere Heimatlosigkeit bewusst.» Ein kritischer Sprachartist ist er geblieben. So heisst es in
seinem Familienalbum einmal: «Aber
das, wo vo üs blybt, sy so Gschichte, wo
me cha vrzeue. […] We überhoupt.» ●
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28. September 2014 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 5
Belletristik
Gespräch Die Nobelpreisträgerin Herta Müller erzählt von ihrem Leben in Rumänien
SiezähmteihreAngstdurchSchreiben
einem langen Gespräch mit der österreichischen Lektorin und Publizistin Angelika Klammer zeichnet sie nun das eigene
Leben und Schreiben nach. Es ist kein
munteres Hin und Her zwischen den beiden, vielmehr schlüpft Angelika Klammer in die Rolle der klugen, mit dem
Œuvre bestens vertrauten Stichwortgeberin, die der Schriftstellerin Raum gibt
für ihre Gedanken und Ausführungen.
Mit den Büchern «Niederungen»
(1982/1984), «Der Fuchs war damals
schon der Jäger» (1992), «Herztier»
(1994), «Heute wäre ich mir lieber nicht
begegnet» (1997) und «Atemschaukel»
(2009) hat Herta Müller Leser auf der
Herta Müller: Mein Vaterland war ein
Apfelkern. Ein Gespräch mit Angelika
Klammer. Hanser, München 2014.
240 Seiten, Fr. 27.90.
Von Sandra Leis
«Der Bogen von einem Kind, das Kühe
hütet im Tal, bis hierher ins Stadthaus
von Stockholm ist so bizarr. Ich stehe
(wie so oft) auch hier neben mir selbst.»
So begann Herta Müller 2009 ihre Dankesrede nach der Verleihung des Nobelpreises für Literatur und machte öffentlich, welchen Weg sie gegangen war. In
Kunstdruck Ausloten von Grenzen
Das Genre des Kunstdrucks unterliegt Moden; in einer
zunehmend digitalisierten Welt erhalten die analogen
Techniken eine verlangsamende, widerständige Dimension. Richard Tuttle hat die Möglichkeiten des Drucks
von Anfang an als einen Zwischenraum geschätzt und
erkundet seine Vielfalt seit nunmehr fünfzig Jahren.
«Cloth» ist ein wunderbares Beispiel für die Sensibilität
und Raffinesse, mit welchen der 1941 in New Jersey geborene Zeichner und Plastiker dabei vorgeht. Das Werk
besteht aus einer Serie von 16 Drucken, die zwischen
2002 und 2005 entstanden. Blatt Nummer 12 zeigt, wie
6 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. September 2014
Stoffelemente aus unterschiedlichen Materialien in den
Druck eingebracht wurden und Überlagerungen und
Korrespondenzen bilden. Im Zusammenspiel mit den
Farben entstehen leuchtende, bis in die Ecken vibrierende Räume. Das Werk ist eines der beeindruckendsten
in der Monografie, mit der Christina von Rotenhan erstmals einen Überblick über das drucktechnische Werk
des Künstlers gibt. Gerhard Mack
Richard Tuttle: Prints. Herausgegeben von Christina
von Rotenhan. JRP Ringier, Zürich 2014. 144 Seiten,
180 Abbildungen, Fr. 78.-.
ganzen Welt gefunden. Sie schreibt über
ihre Kindheit in Rumänien, über das
Leben in der kommunistischen Diktatur
unter Nicolai Ceausescu und über die
Zwangsarbeit der rumäniendeutschen
Minderheit in sowjetischen Lagern zwischen 1945 und 1950. Im Buch «Mein Vaterland war ein Apfelkern» («man irrt
umher zwischen Sichel und Stern», reimte die Autorin einst auf dem Weg zum
Verhör) kommen Müllers Kernthemen
gebündelt zur Sprache.
Die heute 61-Jährige blickt zurück auf
ihre Kinderjahre und weiss: «Wenn man
Kindheit aufschreibt, wird sie schlimmer, als sie war.» Es handle sich um eine
«künstlich nachgebaute Wortwelt». Bestechend ist ihr analytischer Blick: Sie
schreibt von der Eintönigkeit der Tage,
die nur durch die Züge und den Briefträger unterbrochen wurde. Von der
Dorftrauer, die jeden im Griff hat, und
von den «Beschädigungen» ihrer Eltern.
Der Vater war ein ehemaliger SS-Soldat,
der früh an Alkohol starb; die Mutter
wurde nach dem Zweiten Weltkrieg zu
Zwangsarbeit in ein ukrainisches Lager
deportiert. Die Angst vor politischer Strafe habe ihre Eltern bedingungslos unterwürfig gemacht, unbelehrbar und feige.
Herta Müller arbeitete als Übersetzerin von Gebrauchsanweisungen in einer
Maschinenfabrik und wurde vom Geheimdienst schikaniert, weil sie sich weigerte, als Spitzel zu dienen. Ihre Mutter
hatte Angst um das Leben der Tochter –
aber anstatt die Machenschaften des
Geheimdienstes zu missbilligen, sei sie
gehässig gegen die Tochter geworden.
Auch Herta Müller fürchtete sich vor den
Verhören, den Hausdurchsuchungen
und Todesdrohungen. Zähmen liess sich
die Angst nur durchs Schreiben: «Ich
schrieb, um einen Halt zu finden gegen
das Elend des Lebens, und nicht, weil ich
Literatur machen wollte.» Entstanden ist
gleichwohl Literatur. Gerade wenn das
Thema bedrohlich sei, so die Schriftstellerin, müsse es «treffend schön sein in
der Sprache». Und weiter: «Ich würde das
Schreiben nicht aushalten, wenn die
Hauptsache an den Texten nicht die
erfundene Wahrheit der Sprache wäre.»
1987 reiste Herta Müller zusammen
mit ihrer Mutter und ihrem damaligen
Mann Richard Wagner in die Bundesrepublik aus. Und erschrak über die Infamie, mit der die Securitate sie auch in
Deutschland diskreditierte. Sie sei eine
Agentin, hiess es in Briefen, die der
rumänische Geheimdienst an deutsche
Redaktionen verschickte.
Aus «der grauen Stille der Diktatur» sei
sie in den hellen, oft auch grellen Westen
gekommen, sagt Herta Müller. Da sei so
viel auf sie niedergeprasselt, dass sie sich
nicht getraut habe, glücklich zu sein.
«Ich war nur verstört.» Der sogenannte
fremde Blick, der ihr attestiert werde, sei
allerdings nicht geografisch, sondern
biografisch bedingt. Er komme vom Verlust der Selbstgewissheit, den sie in Rumänien erlebt habe. Und dieser fremde
Blick ist es, der ihre Romane und WortCollagen so einzigartig macht. ●
Journal In ihrem jüngsten Buch kehrt Marica Bodrožić zwanzig Jahre nach dem kroatischen
Unabhängigkeitskrieg ins Land ihrer Kindheit zurück
DerWildeOstenEuropas
Marica Bodrožić: Mein weisser Frieden.
Luchterhand, München 2014. 335 Seiten,
Fr. 29.90, E-Book 19.90.
Von Charles Linsmayer
Um zwei Pole kreist das Schreiben der
1973 im kroatischen Svib geborenen Marica Bodrožić: das Dalmatien ihrer Kindheit und die deutsche Wahl- und Sprachheimat, die sie sich seit 1983 aneignete,
als sie zu ihren Eltern nach Hessen zog
und später in Deutschland und Frankreich studierte. Das gilt sowohl für ihr
kritisch-literaturhistorisches Werk als
auch für ihre Romane, Erzählungen und
Gedichte. Kroatisch spricht, aber schreibt
sie nicht, und so ist für sie das Deutsche
in all diesen Genres zum Medium geworden, mit dem sie nicht nur ihre Einsichten in die europäische und amerikanische Literatur festhält, sondern auch die
Erinnerungen an ihre Kindheit und ihre
in langen Jahren herangereiften Erkenntnisse zur Entwicklung des Balkans nach
dem Untergang des alten Jugoslawien.
REUTERS
Engagierte Versöhnlichkeit
In ihren Erzählungen «Tito ist tot» und
im Roman «Der Spieler der inneren Stunde» hat sie 2002 und 2005 für ihr Heranwachsen in der dalmatinischen Landschaft berührende Bilder gefunden.
2007, in «Der Windsammler», hat sie das
Dalmatinische meisterlich ins Novellistische gesteigert, 2010 in «Das Gedächtnis
der Libellen» und 2012 in «Kirschholz
und alte Gefühle», beides Romane, hat
sie anhand der Erfahrungen der beiden
Freundinnen Nadeshda und Arjeta die
jüngste Geschichte des Balkans virtuos
mit Erlebnissen in Paris und der ganzen
Welt verknüpft. «Menschen überleben
Kriege, indem sie sich an das helle
Augustlicht ihrer Kindheiten, an die hellen Sommer und an die ihnen geschenkten Küsse erinnern», heisst es in «Das Gedächtnis der Libellen», und es scheint,
als wolle Marica Bodrožić diesen Satz in
ihrem jüngsten Buch auf seinen Wahrheitsgehalt überprüfen.
«Mein weisser Frieden» durchmischt
das Tagebuchartige mit dem Romanhaften, dem Dokumentarischen und dem
Essayistischen und stellt dar, wie die
Erzählerin im zweiten Jahrzehnt des
21.Jahrhunderts nach Kroatien und Bosnien zurückkehrt. Da sucht sie nicht nur
nach Spuren ihrer Kindheit, sondern will
in Gesprächen mit Veteranen auch aufspüren, was für Veränderungen und Verwundungen der von 1991 bis 1995 dauernde Krieg gegen die serbisch dominierte Jugoslawische Volksarmee zurückgelassen hat.
Von ihrem Vater, der sie die Sterne lieben lehrte, hat Marica Bodrožić sich das
Motto eingeprägt «Wer atmen kann, ist
verwandt mit mir», und diese engagierte
Versöhnlichkeit ist es, unter die sie ihre
Erkundungen stellt. Seit dem Krieg
Wie Menschen Kriege
überleben, ist das
Thema der Kroatin
Marica Bodrožić.
Im Bild Flüchtlinge
im bosnischen Dorf
Kozarac, Dezember
2007.
hänge ihre Seele «zur Hälfte im Nebel,
zur Hälfte in dieser Welt», erklärt ihr die
Tante Anastazija im Kindheitsdorf, und
mit der Frage «Wie übersteht das Selbst
einen Krieg, ohne sein Geschöpf zu werden?» nähert sie sich ihren Gesprächspartnern in vielen Orten Dalmatiens und
Bosniens.
Da sind die Kriegsveteranen Ilja und
Milan in Split, von denen sie erfährt, dass
die jungen Männer im Drogenrausch in
den Krieg geschickt wurden, da ist jener
Serbe in Zadar, dessen ungebremster
Hass auf die Kroaten in der Berichterstatterin Panik aufkommen lässt, da ist aber
auch die inzwischen wieder in Dalmatien
lebende Mutter mit ihren Einschätzungen, und da sind fünf Frauen in Sarajevo,
die berührende Einblicke in ihre Erfahrungen geben. Früh aber wird klar: «Die
Wunden sind auf beiden Seiten noch
nicht verheilt.»
Marica Bodrožić bleibt aber keineswegs beim Resümieren ihrer Begegnungen stehen. Sie durchleuchtet und analysiert das Gehörte immer wieder neu und
hat als imaginäre Gesprächspartner auch
Hannah Arendt, Novalis, Elias Canetti,
Ralph Waldo Emerson, Martin Buber,
Heinrich Böll, Christa Wolf, die Geschwister Scholl, Jean-Paul Sartre, Danilo Kiš und Vlado Gotovac mit dabei.
Nicht auf eine Weise allerdings, die
das Buch zu etwas Enzyklopädischem
macht, sondern so, dass die Gedanken
der Autorin auf überzeugende Weise eingebettet sind in einen von den anderen
Stimmen hergestellten geistesgeschichtlich-aufklärerischen
Zusammenhang.
Darum nimmt man dem Buch auch Erkenntnisse ab, die ins Allgemeingültige
verweisen oder das Geschehen auf dem
Balkan in einen grösseren Zusammenhang stellen.
Inselparadies
Zum Thema Krieg heisst es einmal: «Zum
ersten Mal verstehe ich nahezu körperlich, dass wir das, was wir im Krieg nicht
können, bereits im Frieden lernen müssen, um dem Krieg nicht anheimzufallen.» Zum Thema Balkan lesen wir: «Der
Wilde Osten bleibt Europas unbewusste
Laterna magica, eine gemeinsam bewohnte Kammer in der Nacht, in der all
die wilden Wunder, Gelage und Schattenspiele lebendig werden, die der saubere Zivilisierte in seinem Selbstbild
nicht duldet.»
Ganz im Negativen belässt Marica
Bodrožić das Bild allerdings nicht. Auf
der Insel Vis, die lange militärische Sperrzone war und heute als eine idyllische
Welt in einem besonders südlich-hellen
Licht erscheint, findet sie ihre dalmatinische Utopie, das Paradies, das all das
Gefährdete und Unbefriedigte des Festlands vergessen macht. Da fühlt sie sich
zwischen Beheimatung und Bodenlosigkeit wie ein freies Luftwesen und kann
von den Synergien dieser Gleichzeitigkeit sagen: «Sie sind mein weisser Frieden, mein Kern, den niemand töten
kann.» ●
28. September 2014 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 7
Belletristik
Roman Ein Paar steht vor den Trümmern seiner Beziehung und dem finanziellen Ruin. Nun hilft nur
noch das Spiel am Roulette-Tisch
DasletzteWochenende
einerEhe
besuchen sie ein Rockkonzert der Hearts,
wo sie einige Stunden lang in eine Epoche zurückversetzt werden, deren Ende
sie nicht richtig mitbekommen haben.
Sie verbringen einige Zeit im Hotelzimmer und werden sich auch einmal entspanntem, alkoholgestütztem Beischlaf
überlassen, was beide geniessen. Aber
immer wieder, und jedes Mal unvermittelt, taucht die Erinnerung auf an die Affären, die ihre Ehe ins Schwanken gebracht haben. Viele waren es nicht. Arts
Geschichte mit Wendy liegt zwanzig
Jahre zurück, aber beide, Art wie Marion,
scheinen diesen Seitensprung nie vergessen zu haben. Marion wiederum
blickt auf eine Liaison mit einer Frau zurück. Deren feste Partnerin war gerade
eine Weile weg, Marion nur Lückenbüsserin, bis sie irgendwann schroff abserviert wurde.
Stewart O’Nan: Die Chance. Aus dem
Englischen von Thomas Gunkel.
Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2014.
222 Seiten, Fr. 29.–, E-Book 21.–.
Von Martin Zingg
Die beiden sind am Ende. Art und Marion
Fowler stehen kurz vor der Insolvenz
und vor der Scheidung, und nun reisen
sie noch einmal dorthin, wo sie in glücklichen Zeiten schon einmal waren, an die
Niagarafälle. Dort haben sie ihre Hochzeit gefeiert, das ist fast dreissig Jahre
her. Es soll nun das letzte Wochenende
ihrer Ehe sein. Art hofft insgeheim, dass
sie noch einen Ausweg finden aus der
Sackgasse und wieder zueinander kommen. Marion wäre es recht, wenn sie die
letzten Tage mit Würde überstehen
könnte.
Die Reise hat etwas Verwegenes, denn
das Ehepaar Fowler – beide sind um die
fünfzig, beide haben ihren Job verloren
– ist komplett verschuldet. Sie werden
ihr Haus verkaufen müssen, erste Interessenten schauen schon vorbei, aber
auch nach dem Verkauf wird es nicht
besser aussehen. Helfen kann nur noch
Glück. Das Casino, das sie auf kanadischem Boden ansteuern, hat patenterweise auch eine teure Hochzeitssuite.
Und vielleicht werden sie am Roulettetisch ja Glück haben, die beiden, warum
nicht, jedenfalls kann sich Art das durchaus vorstellen. Wie kleine Gangster
haben sie in einer Sporttasche ihr ganzes
Bargeld aufs kanadische Territorium geschmuggelt und danach alles in Jetons
gewechselt – die beiden haben buchstäblich nichts mehr zu verlieren.
Hinreissende Szenen
Ultimative Chance packen
«Die Chance»: So heisst der jüngste
Roman von Stewart O’Nan, worin Art
und Marion tatsächlich eine Chance bekommen, eine letzte Möglichkeit, ihre
Beziehung zu retten. Und ein wenig
«odd», seltsam, wunderlich, sind sie
auch, wenn es nach dem englischen Titel
(«The Odds. A Love Story») geht, der eine
weitere Leserichtung vorschlägt.
Während die seltsamen Glücksucher
der Tochter Emma vorgaukeln, sie seien
auf einer zweiten Hochzeitsreise, lässt
O’Nan seine beiden Figuren die scheinbar ruinierte Ehe Revue passieren. Das
geschieht nicht in klärenden Gesprächen, darüber sind die beiden schon
längst hinaus. Sie beobachten einander,
gehen Erinnerungen nach, immer im
Wissen, dass sie vieles zum letzten Mal
erleben werden – und zugleich möchten
sie einander schonen: «Von allen Paaren,
die sie kannten, hatten sie vermutlich die
beste Chance, sich in Freundschaft zu
8 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. September 2014
Bei den Niagarafällen,
wo alles begann,
versuchen Art und
Marion ein zweites
Mal ihr Glück.
trennen. Gemeinsam würden sie einen
Weg finden, es den Kindern zu erklären.
Sie würden sich hinsetzen und gelassen
ihren Plan als die beste Lösung für alle
darstellen, und genauso würden sie auch
die Insolvenz und ihre Auswirkungen
erläutern müssen. Sie rechneten bei
Emma mit Tränen, während Jeremy
seine Wut in sich hineinfressen würde,
als hätten sie all die Jahre ihn statt sich
selbst belogen.»
Sie flanieren durch Einkaufsmeilen,
stellen sich neben die Niagarafälle und
gönnen sich, weil sie mit der längst überzogenen Kreditkarte bezahlen, das Essen
in einem teuren Restaurant, wo auch
lautstark Hochzeitsanträge gemacht
werden. Zwischendurch postet Marion
noch schnell was auf Facebook. Einmal
Abends gehen die beiden ins Casino. Art,
der bis zu seiner Entlassung in der Versicherungsbranche gearbeitet hat, glaubt
einen Trick gefunden zu haben, der am
Roulettetisch Erfolg verspricht. Tatsächlich haben die beiden zwei Abende hintereinander Glück. Sie gewinnen mehr,
als sie erwartet haben – womit sich die
Ausgangslage der beiden Scheidungswilligen wieder verändern könnte.
Stewart O’Nan ist ein überaus gewitzter Autor, einer, der genau weiss, wann er
auf die Bremse treten muss. Was Art und
Marion aus ihrer neuen Situation machen werden, lässt er offen. Aber das,
was sie inzwischen, nach all den Jahren,
von sich selber und übereinander wissen
und in diesen Stunden wieder vor Augen
haben, wird ihnen die Trennung vermutlich nicht einfach machen. So trostlos
war ihr gemeinsames Leben keineswegs,
im Gegenteil, trotz all der kleinen Kränkungen, und das zeigt O’Nan auf hinreissende Art, mit knappen Szenen und fabelhaften Dialogen.
Es ist nicht zuletzt die unprätentiöse
Erzählweise, die den Roman so grossartig macht. Dazu zählen etwa die vielen
kleinen Leerstellen, die kommentarfrei
bleiben, ohne je geheimnisvoll zu werden. Die Ängste und Sehnsüchte, die nur
angedeutet werden. Dieser Autor hat
einen unglaublichen Blick für die Niederungen des Alltags und für all die winzigen Indizien jenes Glücks, das am Ende
vor allem aussieht wie ein Versprechen
und nur schwer einzulösen ist. Hier stehen zwei Amerikaner aus der Mittelschicht, zwei Verlierer, die erschöpft sind
von der Idee, durch Fleiss sei ein Aufstieg noch möglich. Zwei, die noch nicht
wissen, wie tief die Wirtschaftskrise sie
fallen lassen wird, und die ahnen, dass es
Glück wohl nur in Märchen gibt. ●
Roman Ein Klassiker der US-amerikanischen Literatur erscheint in neuer Übersetzung
FünfLeben,imUnglückvereint
Von Stefana Sabin
Es war ein reales Ereignis, das Thornton
Wilder 1927 zum Anlass seines Romans
«Die Brücke von San Luis Rey» machte:
Die Hängebrücke über einer Schlucht
zwischen Lima und Cuzco riss, und fünf
Reisende stürzten in den Tod. Ein tragischer Unfall – oder göttliche Vorsehung?
Im Roman lässt Wilder den einzigen Augenzeugen des Unfalls, den Franziskanermönch Juniper, die Antwort auf diese
existenzielle, ja auch theologische Frage
suchen.
«Wenn es überhaupt einen Plan im
Universum gab», sagt sich Bruder
Juniper, «wenn das menschliche Dasein
irgendeinem Muster folgte, so musste es
doch, verborgen angelegt, in den so jäh
abgeschnittenen Lebensläufen zu finden
sein.» Und er setzt an, die Lebensläufe
der fünf Unfallopfer zu erkunden, um
den Lebensplan der Existenz, falls es
einen gibt, zu beweisen.
Aber Junipers hartnäckiges Hinterfragen des Geschehens, seine Zweifel über
die Vorsehung und ihre Gerechtigkeit
lassen ihn als Häretiker erscheinen – und
sowohl er selber als auch der «mächtige
Foliant», in dem er seine Recherchen
über die fünf Verunglückten zusammengetragen hat, enden auf dem Scheiterhaufen. Allerdings gelangt eine Abschrift
von Junipers Notizen unversehrt in eine
Bibliothek, wo der Erzähler sie findet.
Denn der Roman fungiert als Quellenfiktion. Er gibt vor, aus den Notizen von
Bruder Juniper zu bestehen. Das erlaubt
dem namenlosen Erzähler, hinter die
Figur Juniper zurückzutreten und dennoch als narrative Autorität allgegenwärtig zu sein.
Der Roman ist geschickt komponiert.
Ein Vorspiel (der Unfall) und ein Nachspiel (die Exekution von Juniper) umrahmen die fünf Lebensgeschichten, die mit
Die Hängebrücke wird
reissen, so geschieht
es im Bestseller von
Thornton Wilder von
1927.
dem Unfall enden. Ob die alternde Marquesa de Montemayor, die sich nach der
Versöhnung mit ihrer entfremdeten
Tochter sehnt; ob die Waise Pepita, die
Gesellschafterin der Marquesa, die ihr
eine Art Ersatztochter geworden ist; ob
der Bauer Estebán, der nach dem Tod
seines Zwillingsbruders sich dem Kapitän Alvarado anschliessen und mit ihm
aufs Meer fahren will; ob der Abenteurer
Onkel Pio, dessen langjährige Beziehung
zur Sängerin Camila abbröckelt; ob
schliesslich der siebenjährige Jaime,
Camilas Sohn, der unter der Obhut von
Onkel Pio reist – alle diese Figuren hatten
ein verborgenes Leiden, und alle standen
vor einer Umkehr. So führen diese Geschichten die Liebes-, Leidens- und
Wandelfähigkeit des Menschen vor.
Wilders Roman, in dem sich das Tragische und das Pikareske, Reflexion
und Aktion vor dem Hintergrund humanistischer Tradition vermischen, wurde
beim Erscheinen ein Bestseller, dann ein
Longseller und etablierte sich als Klassiker der amerikanischen Literatur. Schon
1929, zwei Jahre nach dem amerikani-
schen Original, erschien die deutsche
Übersetzung von Herberth E. Herlitschka,
die 1945 in der Schweiz als erstes Buch
des Arche-Verlags, 1951 als allererstes Fischer-Taschenbuch und seitdem immer
wieder aufgelegt wurde. Anlässlich seines 70-Jahre-Jubiläums legt der ArcheVerlag in Zusammenarbeit mit dem S.-Fischer-Verlag eine neue Übersetzung von
Wilders Klassiker vor.
Herlitschkas Übersetzung war flüssig
und gab den Registerwechsel zwischen
verbrämtem Pathos und beschreibender
Sachlichkeit angemessen wieder. Das
leistet auch die neue Übersetzung von
Brigitte Jakobeit, der manchmal eine
heute passender erscheinende, modernere Formulierung gelingt. Allerdings
findet auch sie für das englische «accident» des Originals, das ebenso Unfall
wie Zufall bedeuten kann und eine leichte überweltliche Konnotation hat, keine
genaue Entsprechung und laviert zwischen Zufall, Unglück und Unfall.
Aber schliesslich ist der Tod der fünf
Reisenden ein Unfall und ein Zufall und
allemal ein Unglück. ●
REUTERS
Thornton Wilder: Die Brücke von San Luis
Rey. Aus dem Amerikanischen von
Brigitte Jakobeit. Arche, Hamburg 2014.
175 Seiten, Fr. 25.90. Erscheint am 1.10.
Mord und andere kleine Geschenke des Himmels
Geldgier, angestauter Hass, Betrug, emotionale Kälte und enttäuschte
Liebe sind der Stoff, aus dem Alfonso Pecorelli hinreissend
ironisch und mit luzidem Blick für die menschlichen
Abgründe seine Geschichten erschafft –
ein superbes Lesevergnügen
erster Güte.
Al fo ns o Pe
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28. September 2014 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 9
Belletristik
Roman Charles Jacksons Alkoholiker-Geschichte «Das verlorene Wochenende», lange im Schatten der
spektakulären Verfilmung durch Billy Wilder, erscheint in neuer Übersetzung
Immerfreundlich–ausser
zusichselbst
Charles Jackson: Das verlorene
Wochenende. Aus dem Amerikanischen
von Bettina Abarbanell. Dörlemann,
Zürich 2014. 348 Seiten, Fr. 34.90,
E-Book 22.90.
Von Bruno Steiger
1944 erstand der Regisseur Billy Wilder
an einem Bahnhofskiosk in Chicago den
eben erschienenen Roman «The Lost
Weekend» von Charles Jackson. Auf der
Zugfahrt nach Los Angeles las er das von
Kritik und Publikum gleichermassen gefeierte Buch zweimal durch. In der Folge
sicherte sich Wilder die Rechte, zwei
Jahre später brachte er seine Verfilmung
in die Kinos, mit Ray Milland in der
Haupt- und Paraderolle als alkoholsüchtiger Schriftsteller. Das in Schwarz-Weiss
gedrehte, nicht nur auf der Tonspur
überzeichnete Säuferdrama brachte es
auf vier Oscars; der ihm zugrunde liegende Roman hingegen geriet bald in Vergessenheit. Das Gleiche gilt für den Autor
des Romans, der den Erfolg seines Erstlings – «Das Schlimmste, was mir je widerfahren ist» – nicht wiederholen konnte und sich 1968 im Alter von fünfundsechzig Jahren im Chelsea Hotel mit
Schlafmitteln das Leben nahm.
Vom Rausch ins Martyrium
Arthur Miller, zu der Zeit ebenfalls Gast
des legendären New Yorker Künstlerhotels, charakterisierte den unglücklichen Kollegen in einer anrührenden Erinnerung wie folgt: «Er war die Freundlichkeit in Person – ausser zu sich selbst.»
Dasselbe könnte man auch von Jacksons Hauptfigur Don Birnam sagen. Der
Roman spielt im Oktober 1936, Birnam ist
dreiunddreissig Jahre alt und lebt, umsorgt von seinem Bruder Wick und
Freundin Helen, als Schriftsteller in
Manhattan. Die Einladung des Bruders
zu einem Wochenende auf dem Land
nimmt er widerstrebend an; dass er nicht
mitfahren wird, ist bald beschlossene
Sache. Zu gross ist die Verlockung, sich
für ein paar Tage ungestört dem Whisky
hinzugeben. Kaum ist der Bruder weg,
taucht Birnam ab in den ersehnten langen Rausch, der allzu bald zum Martyrium wird. Hauptgrund ist der Mangel an
Geld. Birnam hangelt sich mit allerlei
Tricks durch, lässt sich gar zum Diebstahl
einer Handtasche hinreissen. Es bleibt
ihm nur der Weg ins Pfandhaus, wo er
seine Schreibmaschine zu Geld machen
will. Mit der Remington unter dem Arm
schleppt er sich durch Manhattans Strassen, nur um immer neu vor verschlossenen Türen zu stehen: Es ist ein jüdischer
Feiertag, alle ihm bekannten Leihanstalten haben zu. Durch Schnorren bei
10 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. September 2014
Szene aus Billy Wilders
Verfilmung «The Lost
Weekend» (1946) mit
Ray Milland (rechts)
in der Hauptrolle
als alkoholkranker
Schriftsteller.
Nachbarn oder ihm gnädig gesinnten
Barkeepern kommt er doch zu seinem
Stoff, die Tragödie nimmt ihren Lauf.
Bei einem Treppensturz verliert Birnam das Bewusstsein und wird in eine
Klinik für Alkoholkranke verbracht. Der
für ihn zuständige, wunderbar «schwesterlich» gezeichnete Pfleger Bim will in
ihm einen verkappten Schwulen erkennen, was Birnam weiteren Anlass gibt,
über einen von ihm selbst stets und quälend vermuteten Zusammenhang zwischen Alkoholismus und uneingestandener Homosexualität zu sinnieren. Die
Frage, warum er in solchem Übermass
trinkt, vermag er letztlich nicht schlüssig
zu beantworten; er muss sich mit der
schlichten Beschreibung des Faktums
begnügen: «Du trinkst, und es bringt
dich um. Warum? Weil du mit Alkohol
nicht umgehen kannst, er hat dich im
Griff. Warum? Weil du den Punkt erreicht
hast, an dem ein Drink zu viel ist und
Hunderte nicht genügen.»
Zu Erkenntnissen über möglicherweise kulturell bedingte, biochemische oder
auch nur genetische Hintergründe der
Sucht dringen weder Birnam noch sein
Schöpfer vor. Jackson selbst bekundete,
dass er sich nicht vorrangig als
Suchtexperte sehe: «Ich bin zuallererst
SchriftstellerunderstdannNichttrinker.»
Der Satz irritiert nicht zuletzt angesichts
der ebenfalls verbürgten Aussage, dass
«Das verlorene Wochenende» sein einziges Buch sei, das er in nüchternem Zustand geschrieben habe. Auch dies bestä-
tigt den ungemütlichen, beim Lesen zuverlässig wachsenden Verdacht, dass
Birnam trinkt, weil es der Autor so will –
oder, nur wenig erhebender, der Freundin Helen zuliebe, die ihm ihre Zuneigung – merkwürdigerweise auch beim
Sex – nur dann zeigen kann, wenn er betrunken ist.
Lob durch Thomas Mann
Alles in allem muss man bei dem Buch
wohl von Programmliteratur sprechen.
Einem Vergleich etwa mit Malcolm Lowry’s so vielschichtiger Mescal-Feier
«Unter dem Vulkan» hält der Roman in
keiner Weise stand. Obwohl im regelmässigen Wechsel von erlebter Rede und
einigen wenigen starken Handlungselementen technisch perfekt gearbeitet, erscheint das Buch eher als Krankenrapport
denn als ein in Literatur überführtes
Zeugnis einer existenziellen Erfahrung.
Dass es von Sinclair Lewis und Kingslay
Amis gefeiert und noch von Lowry selbst
mit Wohlgefallen aufgenommen wurde,
mag ein wenig verwundern. Ungleich
mehr jedoch dürfte Jackson der Zuspruch des von ihm zeitlebens über alle
Massen bewunderten Thomas Mann bedeutet haben. Bald nach Erscheinen des
Buchs lernten sich die beiden so ungleichen Schriftsteller bei einem Empfang in
Hollywood persönlich kennen. Sie sollen
sich, wie Rainer Moritz in seinem reichen, vielerlei Aufschlüsse gebenden
Nachwort andeutet, auf Anhieb verstanden haben. ●
Roman Der bretonische Autor Tanguy Viel
brilliert als raffinierter Erzähler
Bühnenreifes
Schlamassel
Kurzkritiken Schweizer Buchpreis
Lukas Bärfuss: Koala. Wallstein, Göttingen
2014. 182 Seiten, Fr. 28.90,
E-Book 19.90.
Heinz Helle: Der beruhigende Klang von
explodierendem Kerosin. Suhrkamp,
Berlin 2014. 160 Seiten, Fr. 28.90.
Lukas Bärfuss’ zweiter Roman, «Koala»,
dürfte ein Favorit unter den fünf Nominierten des diesjährigen Schweizer
Buchpreises sein. Zwar wurde der Text,
der zwischen einer autobiografischen
und einer historisch-literarischen Erzählebene hin und her gleitet, auch kritisch besprochen. Aber er fand viele
Leser, war über Wochen auf der Bestsellerliste und liegt bereits in der 4. Auflage
vor. Der 1971 in Thun geborene Autor hat
sich mit Theaterstücken sowie seinem
2008 für den Schweizer Buchpreis nominierten Romandebüt «Hundert Tage»
einen Namen gemacht. In «Koala» verarbeitet er einen persönlichen Verlust: Sein
älterer Bruder – Koala war dessen Pfadiname – hat sich das Leben genommen.
Das Buch ist eine schonungslose Spurensuche: sowohl nach dem Bruder, dem
der Autor nicht sehr nahe stand, wie
auch nach dem Sinn eines Suizids. Eine
intensive Lektüre.
«Always remember: You are in New York.
Go out. Meet people. Have fun», fordert
der Professor den Ich-Erzähler in Heinz
Helles Debütroman auf. Der 24-jährige
Protagonist, ein Deutscher, ist als Philosophie-Student in den USA und soll
einen Vortrag über das Bewusstsein halten. Er ist überfordert angesichts der
Nicht-Beantwortbarkeit der alten Frage:
Woher kommen wir, und wohin gehen
wir? Er beobachtet alles und vor allem
sich selbst ständig. Alles zählt er auf,
alles ist in gleichem Masse unwichtig.
Natürlich geht die Beziehung zu seiner
Freundin, die ihn in New York besucht,
in die Brüche. Autor Heinz Helle (*1978
in München) hat selbst Philosophie studiert und das Literaturinstitut in Biel besucht. Er macht es einem nicht einfach
mit einem solchen Protagonisten. Am
stärksten beeindruckt Helles Detailgenauigkeit, mit der er diesen Zaungast des
eigenen Lebens beschreibt.
Gertrud Leutenegger: Panischer Frühling.
Suhrkamp, Berlin 2014. 221 Seiten,
Fr. 29.90, E-Book 21.–.
Dorothee Elmiger: Schlafgänger.
Dumont, Köln 2014. 141 Seiten,
Fr. 26.90, E-Book 23.–.
Die Prosa der aus Schwyz stammenden
Autorin Gertrud Leutenegger, die 1975
mit dem Roman «Vorabend» debütierte,
ist im Lauf der Jahre immer durchsichtiger, schwebender, leichter geworden. Ihr
jüngstes Buch spielt im Osten Londons,
wo die Ich-Erzählerin vorübergehend
gestrandet ist, weil ein Vulkanausbruch
den europäischen Flugverkehr lahmgelegt hat. Sie erkundet die Stadt auf langen Spaziergängen und lernt dabei auf
einer Themsebrücke den Verkäufer einer
Obdachlosenzeitung kennen. Bald treffen die beiden sich täglich. Sie kommen
sich näher, erzählen sich ihre Geschichten, vertrauen sich ihre Geheimnisse an.
Gertrud Leutenegger hat mit «Panischer
Frühling» zugleich ein berührendes
Kammerspiel und einen atmosphärisch
dichten Grossstadtroman geschrieben.
Ihr Text überzeugt durch seine Exaktheit
und Musikalität.
Im Jahr 2010 machte die junge Schweizer
Autorin Dorothee Elmiger mit ihrem Debütroman «Einladung an die Waghalsigen» auf sich aufmerksam. Der Band
wurde für den Schweizer Buchpreis nominiert. Nun legt die 29-Jährige ihr zweites Werk vor. «Schlafgänger» besteht aus
einem Geflecht von Stimmen. Verschiedene Personen – unter ihnen ein Logistiker, ein Student, eine Übersetzerin – diskutieren: Es geht um Grenzgänger,
Schmuggler, Asylbewerber, um eine angemessene Politik im Zeitalter der Globalisierung. Der Diskurs entfaltet sich nicht
in abstrakten Thesen, sondern in Geschichten von hohem Reiz. In ihnen zeigt
sich das Talent der Autorin. Sie hat einen
eigenen Duktus, ist wach und klug. Aufschlussreich ist ihr Text auch als Statement einer jungen Generation, die schon
die ganze Welt bereist hat und entsprechend selbstbewusst auftritt.
Tanguy Viel: Das Verschwinden des Jim
Sullivan. Aus dem Französischen von
Hinrich Schmidt-Henkel. Wagenbach,
Berlin 2014. 128 Seiten, Fr. 25.90,
E-Book 18.90.
Von Monika Burri
Mit seiner virtuosen Feder hat Tanguy
Viel bereits einen Gangsterfilm parodiert
(«Das absolut perfekte Verbrechen», dt.
2009) und dem traditionellen Familienroman einen Tritt verpasst («ParisBrest», dt. 2010). Nun wagt sich der 1973
geborene französische Schriftsteller an
das Genre des amerikanischen Romans.
Einen Roman von Weltformat möchte er
schreiben über die grossen Themen des
Lebens, angesiedelt in einem kosmopolitischen Setting. Eine Hauptfigur ist
schnell gefunden: Dwayne Koster, Literaturprofessor, fünfzig Jahre alt und mitten in einer Lebenskrise.
Wir begegnen Koster an einem Tiefpunkt seiner Existenz. Eine zerbrochene
Ehe, eine Liebesaffäre mit einer Studentin und einen Psychiatrieaufenthalt hat
der «Moby Dick»-Experte schon hinter
sich. Nun wäre er bereit für einen Neuanfang. In seinem Wagen patrouilliert er
nächtelang vor dem Haus seiner Exfrau
in einem mondänen Vorort von Detroit.
Mit nichts als einer Flasche Whiskey an
seiner Seite muss er zusehen, wie ein
verhasster Arbeitskollege sich in seinem
Revier breitmacht. Koster möchte dem
Widersacher eine saftige Lektion verpassen. Doch ehe er sich’s versieht, versinkt
er selber in einem bühnenreifen Schlamassel. Koster wird in einen Kunstraub
verwickelt und bekommt es mit dem FBI
zu tun. Rettung verspricht schliesslich
nur noch sein Lieblingsmusiker Jim Sullivan, der in den 1970er Jahren unter
ungeklärten Umständen in der Wüste
von New Mexico verschwand.
Mit seinem jüngsten Buch «Das Verschwinden des Jim Sullivan» ist Tanguy
Viel einmal mehr ein köstlicher Coup gelungen. Clever spielt er mit den Versatzstücken des grossen Romans und verbindet witzige Pointen und cineastische
Schnitttechniken zu einem thrillerähnlichen Plot. Nicht nur das: In der raffiniert
verschachtelten Erzählanlage wird
auch die Entstehung des Romans
laufend kommentiert. Und während der Ich-Erzähler stilsicher
in das erdachte Geschehen eingreift und über die Möglichkeiten und Tücken
des
Handlungsfortgangs räsoniert, nehmen seine Figuren
Gestalt an und
machen sich auf
mehr oder weniger
elegante
Weise aus dem
Staub. ●
Regula Freuler
Manfred Papst
Regula Freuler
Manfred Papst
28. September 2014 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 11
Essay
Die neuere Literatur Finnlands bohrt in den schmerzhaften Wunden der Vergangenheit. Daneben
aber präsentiert sich das Land als «coole» Nation, in der Lesen eine grosse Rolle spielt. Hierzulande ist der
Ehrengast der diesjährigen Frankfurter Buchmesse noch zu entdecken. Von Angela Gutzeit
Eineleseverrückte
jungeNation
Staunenswertes gibt es über die Finnen schon
seit Jahren zu berichten: exzellente Pisa-Ergebnisse, ein fabelhaftes Bibliotheksnetz, eine enorme Buchproduktion. Kurz: ein Land der Bildung
und der Leser, ein Land, das ein fürsorgliches
Verhältnis zu seinen Schriftstellern pflegt. Stipendien werden grosszügig vergeben und Preise
ebenfalls. Auch das Übersetzungsprogramm
funktioniert seit etwa 20 Jahren immer besser.
Rund eintausend finnische Buchtitel sind bereits
ins Deutsche übertragen worden. Und trotzdem
ist die finnische Literatur im deutschsprachigen
Raum, aber auch in anderen Ländern, bis auf die
baltischen Staaten wie etwa das sprachverwandte Estland, nicht wirklich bekannt.
Natürlich gibt es Zugpferde. In der Gegenwart
ist das Sofi Oksanen. In der Vergangenheit waren
beispielsweise die Mumin-Bücher und MuminComics der Künstlerin und Schriftstellerin Tove
Jansson ein grosser literarischer Exportschlager.
Aber welche Namen haben sich ansonsten nachhaltig im ausserfinnischen Gedächtnis festgesetzt? Tove Jansson selbst soll übrigens nicht
glücklich darüber gewesen sein, dass ihre Geschichten und Comicstrips ihr reiches malerisches und schriftstellerisches Werk fast vollständig in den Schatten stellten. Gerade ist zum
100. Geburtstag der Künstlerin eine schöne Biografie der Kunsthistorikerin Tuula Karjalainen
erschienen (Verlag Urachhaus), die einen differenzierten Blick auf Leben und Werk Janssons
wirft. Wer hat beispielweise schon gewusst, dass
Tove Jansson in den 1930er und 40er Jahren eine
engagierte und mutige Karikaturistin war, die in
ihren tagespolitischen Antikriegszeichnungen
sowohl Hitler-Deutschland wie auch die stalinsche Sowjetunion aufs Korn nahm?
Es gibt also noch viel zu entdecken in der literarischen Landschaft dieser kleinen Nation, die
Finnland auf Tour
Finnland ist diesen Herbst Ehrengast an der
Frankfurter Buchmesse, die vom 8. bis 12. Okto­
ber stattfindet. Der Pavillon wird von Design­
studenten und Künstlern gestaltet. Unter dem
Motto «Finnland. Cool» touren zuvor zehn finni­
sche Autoren und Autorinnen; sie machen am
30. September im Literaturhaus Basel Halt und
am 2. Oktober im Literaturhaus Zürich. Vom
17. bis 19. Oktober finden zudem in Zofingen die
finnischen Literaturtage statt.
Weitere Informationen unter:
www.finnlandcool.fi
sich sprachlich in Finnisch, Finnlandschwedisch und Samisch aufteilt. Und je mehr man
sich mit ihrer Dichtung und Prosa beschäftigt,
umso deutlicher wird, dass sie ohne Kenntnisse
der finnischen Geschichte nicht vollkommen zu
begreifen ist. Die Geschichte ist bis heute ein
zentraler Bestandteil sehr vieler Werke der finnischen Literatur. Und auch ihre Mythen haben
übrigens bis heute Einfluss. Das «Kalevala», das
von Elias Lönnrot 1835 veröffentlichte Epos auf
der Grundlage mündlich überlieferter Gesänge
und Erzählungen, hat massgeblich zur Ausbildung des finnischen Nationalbewusstseins beigetragen. Empfohlen sei jedem Interessierten
die stimmungsvolle Nacherzählung von Tilman
Spreckelsen mit den Zeichnungen von Kat
Menschik (Galiani).
Autorinnen im grellen Outfit
Als noch relativ junge Nation sind die Finnen offensichtlich sehr an ihren Ursprungserzählungen interessiert wie auch an der Darstellung
ihrer wechselvollen Geschichte. In diesem Zusammenhang haben Namen wie Frans Eemil
Sillianpää grosse Bedeutung. Sillianpää ist der
bisher einzige Literaturnobelpreisträger Finnlands (1939). Jetzt erst liegt sein Roman «Frommes Elend» von 1919 in deutscher Übersetzung
vor (Guggolz). Ein wichtiges Werk für das Selbstverständnis der Finnen.
Interessant ist nun, dass seit etwa 15 Jahren
nicht wenige der jungen und mittleren Autorengeneration sich wieder deutlich der Geschichte
zuwenden, aber nun mit einem aufklärerischen
Gestus. Ihnen geht es um Ereignisse, die zu den
dunkelsten Kapiteln Finnlands zählen und deshalb lange Zeit nicht angetastet wurden: der finnische Bürgerkrieg und Finnlands Position im
Zweiten Weltkrieg. Aufsehen erregen dabei insbesondere ein paar Frauen, die gern im exzentrischen Outfit ihre Bücher präsentieren, Romane,
die aber weniger durch einen avantgardistischen
Erzählstil bestechen als durch ihre Schonungslosigkeit im Umgang mit der Geschichte. Die in
ckelte, pflegte immer schon ein gutes Verhältnis
zu Deutschland. Und so war Finnland schliesslich sogar auch Hitler-Deutschland in Waffenbrüderschaft gegen die Sowjetunion verbunden.
Diese erzwang aber 1944 einen Separatfrieden
und stellte das Ultimatum, dass Finnland die
Deutschen aus Lappland zu vertreiben habe. Als
die Wehrmacht sich schliesslich zurückzog, hinterliess sie mit deutscher Gründlichkeit verbrannte Erde.
Zur Wahrheit gehört auch, dass aus den Verbindungen von finnischen Frauen und deutschen Soldaten viele Kinder hervorgingen. Eine
deutsch-finnische Liaison thematisiert zum Beispiel die junge Autorin Katja Kettu in ihrem
Roman «Wildauge» (Galiani). Kettu, nicht selten
in schwarzer Spitze gekleidet mit Durchsicht auf
viel tätowierte Haut, stammt ebenfalls aus
Lappland. Ihr Roman erzählt von einer finnischen Hebamme in Lappland, die sich in einen
jungen SS-Mann verliebt, der zuvor an den
Massenmorden im ukrainischen Babij Jar beteiligt war. Ein sehr ambitioniertes und auch temperamentvolles Buch, das es fertigbringt, die
archaisch-skurrile Seite des lappländischen
Dorflebens mit den grausamen Ereignissen des
Krieges zu verbinden.
Sofi Oksanen wiederum – schwarz-lila Dreadlocks, hohe Pumps, perfekt geschminkt, der
Star der finnischen Autorendelegation beim
Messeauftritt in Frankfurt – siedelt ihren jüngsten Roman «Als die Tauben verschwanden»
(Kiepenheuer & Witsch), wie auch schon ihre
anderen Bücher, im Estland des Zweiten Weltkrieges an. Ein gewaltiges Geschichtspanorama
wird hier entfaltet. Und auch hier geht es um
Kollaboration, um Schuld und Verrat und in
diesem Fall um Menschen, die zwischen kommunistischer und nationalsozialistischer Macht
zerrieben werden oder anpassungsbereit die
Front wechseln.
Das schmerzhafteste Erbe, das etliche zeitgenössische Autoren zur Sprache bringen, liegt jedoch noch weiter zurück. Im finnischen Bürgerkrieg 1918 lieferten sich Bürgerliche und Kommunisten, auch Weisse und Rote genannt, bis
▲
12 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. September 2014
Lappland geborene Rosa Liksom zum Beispiel –
Die wechselvolle Geschichte
bunte Ringelstrümpfe, rechts und links der
Ohren Haarschnecken und ausgestattet mit
ist bis heute ein zentraler
einem markerschütternden Lachen – beschäfBestandteil sehr vieler Werke tigt sich in ihren Werken mit der deutschen Okkupation Lapplands im Zweiten Weltkrieg.
der finnischen Literatur. Auch
Schuld, Verrat
die Mythen haben noch immer Kollaboration,
Finnland, das sich bis 1917 unter russischer
Herrschaft zum eigenen Nationalstaat entwigrossen Einfluss.
IMAGO STOCK&PEOPLE
MAGNUS FRODERBERG
Trotz oder wegen seiner
archaischen Landschaft – hier
Rentiere am Levi-Fjell in Lappland
– ist Finnland ein Land der Bildung
und der Autoren und Autorinnen.
Für die Vergangenheit steht der
Nobelpreisträger des Jahres 1939,
Frans Eemil Sillianpää (unten;
um 1950); für die Gegenwart die
1958 in Lappland geborene Rosa
Liksom (rechts; um 2012) .
PEKKA PUSTONEN
Zugpferd und Star der finnischen
Autorendelegation in Frankfurt ist die
1977 geborene Sofi Oksanen (oben; 2010);
ihre Romane spielen in Estland.
28. September 2014 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 13
Essay
Mit viel Selbstironie
Nach diesem Streifzug könnte der Eindruck entstehen, die Finnen seien vor allen Dingen mit
ihrer konfliktträchtigen Vergangenheit beschäftigt und leckten sich nach wie vor die Wunden,
die diese ihnen geschlagen habe. Aber so ist es
nun auch wieder nicht. Denn natürlich haben
auch längst Themen wie soziale Verwerfungen,
die zunehmende Spaltung der Gesellschaft in
Arm und Reich, Vereinzelung und das Geschlechterverhältnis vor dem Hintergrund der
Globalisierung und der Wirtschaftskrisen in die
finnische Literatur Einzug gehalten. Dass die
Mittelschicht erodiert, ist nicht nur in Finnland
OFER AMIR
CATA MOTIN
▲
zum Sieg der Weissen ein blutiges Gemetzel.
In Lagern fanden Massenerschiessungen und
Vergewaltigungen statt.
Auf dieses lange verdrängte Ereignis geht
zum Beispiel der Schriftsteller Kjell Westö in seinem sehr lesenswerten Roman «Das Trugbild»
(btb) ein. Westö ist ein grossartiger Erzähler.
Seine Geschichte über eine Anwaltsgehilfin, die
im Freund ihres Arbeitgebers ihren ehemaligen
Peiniger und Vergewaltiger aus dem damaligen
Lager wiedererkennt, wird von Westö eingespannt zwischen die beiden Jahrzehnte 1938
und – in Rückblenden – 1918.
Auch Leena Landers Roman «Die Unbeugsame» (btb) hat die folgenreiche Spaltung in der
finnischen Gesellschaft durch den Bürgerkrieg
und seine Exzesse kurz danach zum Thema.
Und sogar Bücher, die sich eigentlich vorrangig
mit den Modernisierungsproblemen der finnischen Nachkriegsgesellschaft beschäftigen, wie
z.B. das Romandebüt «Betongötter» des Soziologieprofessors Markku Kivinen (Secession),
ziehen Verbindungslinien zu den unheilvollen
Ereignissen in der finnischen Geschichte.
Kivinens Schauplatz ist eine neue Betonsiedlung nahe Helsinki in den siebziger Jahren. Die
Geschichte ist strukturiert durch einen ständigen Perspektivwechsel zwischen vier jungen
Männern und einer Frau. In ihnen spiegeln sich
gesellschaftliche Auseinandersetzungen z.B.
mit rigiden Moralvorstellungen, mit sozialem
Abstieg, mit Verelendung und Vereinzelung.
Aufschlussreich ist das Nachwort der Übersetzerin Rosalinde Sartorti. Sie schreibt, dass auch
das städtische Finnland seine Jugendprotestbewegungen in den sechziger, siebziger Jahren
erlebte. Die Auflehnung gegen autoritäre Strukturen und Doppelmoral teilten sie durchaus mit
den 68er Bewegungen in den westlichen Ländern Europas. Aber ihr Furor, so Sartorti, hätte
sich nicht zuletzt auch gegen das allgemeine
Totschweigen dieser nicht verarbeiteten und
aufwühlenden Ereignisse in der finnischen Geschichte gerichtet.
Kjell Westö (links) und Katja Kettu beschäftigen sich mit den dunklen Seiten der Geschichte ihrer Heimat.
eine problematische Entwicklung. Der Finnlandschwede Philip Teir hat in diesem Milieu
sein Romandebüt «Winterkrieg» (Blessing) angesiedelt. Der Titel ist unzweifelhaft eine historische Anspielung auf den finnisch-sowjetischen Krieg 1939/40, hat aber die krisenhafte
Zuspitzung der Ehe des Soziologieprofessors
Max Paul und seiner Frau Katriina in Helsinki
zum Thema. Auch die unterschiedlichen Lebensentwürfe ihrer Töchter Eva und Helen
scheitern im Konflikt zwischen dem Verlangen
nach Bindung einerseits und Selbstverwirklichung andererseits.
Der 34-jährige Autor nimmt die Sinnsuche
seiner Protagonisten auch ein bisschen auf die
Schippe. Die Überzeichnung, die unterhaltsame
Zuspitzung und die Verdrehung realer Verhältnisse gehören ja ebenfalls unbedingt zur finnischen Literaturtradition. Dafür ist die fast
600 Seiten umfassende Gesellschaftssatire
«Kunkku» des finnischen Erzählers Thomas
Kyrö ein gutes Beispiel. Kyrö erfindet einen fin-
Sowohl Überzeichnungen wie
unterhaltsame Zuspitzungen
und Verdrehung der realen
Verhältnisse gehören
unbedingt zur finnischen
Literaturtradition.
nischen König, ein Auslaufmodell, der an seiner
ausserehelichen Liebschaft scheitert, seine
Krone und seine Ehefrau verliert und als Aushilfskraft in einem Elektrogeschäft ein kärgliches Dasein fristet. Komischer kann man die
Geschichte Finnlands nicht umschreiben. Ein
Prachtstück finnischer Selbstironie!
Lebendige Kurzprosa und Lyrik
Aber das Spiel mit den irrwitzigen Begebenheiten des Lebens und des Alltags ist auch in der
finnischen Kurzprosa zu finden. Wie überhaupt
diese Form viel Spielraum lässt für aktuelle Themen und Experimentelles. Erste Orientierung
bieten sowohl der Band «Alles absolut bestens
bei mir. 15 Alleingänge aus Finnland» (Edition
fünf), herausgegeben von Helen Moster, wie
auch die jüngste Ausgabe der Zeitschrift «die
horen» mit dem Titel «Der Herbst kommt jedes
Mal zu früh», zusammengestellt von Maximilian
Murmann, der auch die Lyrik berücksichtigt.
Die Vielfältigkeit dieses Genres bietet vielleicht die beste Möglichkeit, sich als interessierter Leser der finnischen Literatur zu nähern.
Hier finden wir in pointierter und subtiler Form
fast alles, was die Finnen bewegt: die Beschäftigung mit Geschichte und Wissenschaft, mit Vergangenheit und Gegenwart, mit Tradition und
Moderne, mit Stadt- und Dorfleben, mit Natur
und Mythen und mit den vielen verrückten
Spielarten der menschlichen Existenz. l
Angela Gutzeit ist Literaturkritikerin, freie Redaktorin und Moderatorin beim Deutschlandfunk in Köln.
Zürich
Basel
Bederstrasse 4
Güterstrasse 137
Bern
Länggassstrasse 46
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100‘000 antiquarische Bücher
buecher-brocky.ch
14 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. September 2014
Luzern
Aarau
Ruopigenstrasse 18
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Kunst
Kinder
Helvetika
Freihofweg 2
Sport
Politik
Literatur
Hobby
Reisen
Kochen
u.v.m.
Kolumne
Charles LewinskysZitatenlese
LUKAS MAEDER
Die klimatischen
Bedingungen in der
Hölle sind sicherlich
unerfreulich, aber
die Gesellschaft dort
wäre von Interesse.
Der Autor Charles
Lewinsky arbeitet in
den verschiedensten
Sparten. Sein neuester
Roman «Kastelau»
ist soeben im Verlag
Nagel & Kimche
erschienen.
Kurzkritiken Sachbuch
Rolf Schieder (Hrsg.): Die Gewalt des einen
Gottes. Monotheismus. University Press,
Berlin 2014. 360 Seiten, Fr. 40.90.
Hatice Akyün: «Verfluchte anatolische
Bergziegenkacke». Kiepenheuer & Witsch,
Köln 2014. 216 S., Fr. 13.90, E-Book 11.–.
Mit seiner These, dass religiös motivierte
Gewalt erst mit dem Monotheismus, genauer gesagt: mit der Unterscheidung
des jüdischen Anführers Moses in der
Wüste Sinai zwischen dem einen richtigen Gott und den vielen falschen Göttern, in die Geschichte getreten sei, hat
der grosse Ägyptologe Jan Assmann eine
höchst kontroverse wissenschaftliche
Debatte ausgelöst. Bisher war sie nur im
Internet zu lesen, nun liegt diese Diskussion, herausgegeben und klug eingeleitet
vom Theologen Rolf Schieder (Assmanns
hauptsächlichem Gegner), in Buchform
vor. Jüdische Autoren, Alttestamentler,
Religions- und Islamwissenschafter
sowie der Alleskönner Peter Sloterdijk
legen ihre höchst unterschiedlichen Interpretationen der alttestamentarischen
Vorgänge dar – eine ausgesprochen anspruchsvolle Lektüre, doch angesichts
der heute allgegenwärtigen religiösen
Gewalt von grosser Brisanz.
Der Fluch im Buchtitel ist zwar erfunden,
«zurechtfantasiert», wie die deutsch-türkische Autorin Hatice Akyün gleich einräumt. Doch so könnte der Kommentar
ihres Vaters lauten, eines nach Deutschland eingewanderten Gastarbeiters,
wenn ihn die Tochter zur Absonderlichkeit des Alltags konsultiert. Denn «Baba»
hat die Gabe, komplizierte Sachverhalte,
die es im Zusammenleben unterschiedlicher Menschen auch im multikulturellen Milieu gibt, auf das Wesentliche zu
reduzieren. Das Buch versammelt die
besten Kolumnen der in Berlin lebenden
45-jährigen Muslima, Mutter, Kosmopolitin und Society-Reporterin aus dem
Berliner «Tagesspiegel». Hatice («kein
Schnupfen») Akyün («die reine weisse
Wolle») ist eine Art deutsche Güzin Kar,
eine plaudernde Dampfwalze, die keiner
Unebenheit ausweicht und darüber viel
scharfe Sauce giesst: temperamentvoll,
selbstironisch, herrlich unkorrekt.
Claudia Theune: Archäologie an Tatorten
des 20 . Jahrhunderts. Theiss,
Darmstadt 2014. 112 Seiten, Fr. 21.90.
Mirian Goldenberg: Untreu. UVK
Verlagsgesellschaft, Konstanz 2014.
271 Seiten, Fr. 29.90, E-Book 10.90.
Archäologie verbindet man gewöhnlich
mit der Antike, mit der schriftlosen Vorgeschichte. Längst hat sie sich aber von
dieser zeitlichen Beschränkung gelöst
und untersucht heute auch Relikte aus
historischen Zeiten, bis ins 20. Jahrhundert hinein. Die an der Universität Wien
lehrende Autorin Claudia Theune hat
den Stand der Forschungen anschaulich
zusammengefasst. Sie zeigt auf, wie die
besondere Aussagekraft archäologischer
Fundobjekte die schriftlichen und bildlichen Quellen um eine Dimension erweitern, die in diesen nicht enthalten ist. Im
Fokus stehen drei Ereignisse, die das
20. Jahrhundert geprägt haben: der Erste
und der Zweite Weltkrieg sowie der Kalte
Krieg. Weitere Tätigkeitsfelder sind die
Industriearchäologie oder die archäologische Dokumentation ganzer Dörfer,
die – wie zum Beispiel in Sachsen – dem
Braunkohleabbau weichen müssen.
Warum ist Treue, trotz freizügigem Sexualverhalten, weiterhin ein Hauptproblem in Liebesbeziehungen und Ehen?
Die lateinamerikanische Anthropologin
Mirian Goldenberg erforscht das Thema
seit zwanzig Jahren und befragt dafür
Männer und Frauen aus dem brasilianischen Mittelstand. Dabei stellt sie fest,
dass auch Menschen, die selbst untreu
sind, ja selbst die sogenannte «Andere»
(d.h. die Geliebte eines verheirateten
Mannes) sexuelle Treue einfordern. «Untreu» mischt Mirian Goldenbergs Aufsätze zum Sexualverhalten der Brasilianer
sowie zum obsessiven Schönheitskult in
Südamerika nicht nur mit Artikeln aus
der brasilianischen Presse, sondern auch
mit der Beichte einer sexuell freizügigen
Journalistin namens Monica – das wird
bisweilen etwas chaotisch, mitunter
redundant, ist jedoch äusserst anregend
zu lesen!
Oscar Wilde
Als Satan die Buchmesse erfand – und er
muss es gewesen sein, anders kann ich
mir diese Einrichtung nicht erklären –,
da hatte er gerade einen Roman gelesen,
der ihm überhaupt nicht gefiel, und deshalb den Entschluss gefasst, sich an allen
Autoren zu rächen. Um welches Werk es
sich dabei gehandelt hat, ist leider auch
in den apokryphsten Schriften nicht
überliefert, und auch Dante hat bei seiner Wanderung durch die Höllenkreise
leider versäumt, danach zu fragen.
Aber dass Buchmessen eine Erfindung des Teufels sind, daran kann es
keinen Zweifel geben.
Wer sonst, ausser Luzifer, könnte auf
den sadistischen Gedanken kommen,
Autoren mitten in einer Halle, in der
sich gefühlte hunderttausend Menschen
lautstark aneinander vorbeidrängen, vor
ein Mikrofon zu sperren und ihnen zu
sagen: «Nun lest mal schön vor!»?
Wem sonst, ausser dem Herrn der Unterwelt persönlich, könnte es einfallen,
Schriftsteller für die Sünde des Sichselber-wichtig-Nehmens dadurch zu
bestrafen, dass er sie zwingt, sich zwischen Türmen von Büchern mühselig
einen Weg zu bahnen – und kein einziges dieser Bücher ist von ihnen verfasst?
Wer sonst, ausser dem Fürsten der
Finsternis, kann die untrinkbare bräunliche Flüssigkeit erfunden haben, die an
Buchmessen unter dem Namen «Kaffee»
verkauft wird?
Nein, ich bin mir ganz sicher: Er war
es. Mephisto, Beelzebub, Urian. Es war
ihm verleidet, ständig nur Menschen auf
dem Holzkohlengrill knusprig zu rösten
oder ihnen von sabbernden Ungeheuern
die Eingeweide herausreissen zu lassen.
Auch die phantasievollsten Quälereien
machten ihm keinen Spass mehr. Er
suchte, um es mit der Sprachregelung
entlassener Manager zu formulieren,
nach neuen Herausforderungen. Als
Herr der Hölle hat man zwar einen
unkündbaren Arbeitsplatz – aber nach
ein paar Äonen wird auch die abwechslungsreichste Tätigkeit zur Routine.
Ausserdem fehlte ihm noch ein Eintrag
im Guinness-Buch der SadismusRekorde.
Und so erfand der Teufel die Buchmesse, diese massgeschneiderte
Privathölle für Autoren. Wenn es in
den Hallen von Frankfurt und Leipzig
nicht immer so unerträglich laut wäre,
könnte man ihn dort die ganze Zeit
kichern hören.
Und das alles nur, weil ihm ein
Roman so ganz und gar nicht gefallen
hatte. Was das wohl für ein Buch gewesen ist? Ich würde ja auf
«Shades Of Gray» tippen.
Aber das hat der Teufel
bekanntlich selber geschrieben.
Kathrin Meier-Rust
Geneviève Lüscher
Urs Rauber
Kathrin Meier-Rust
28. September 2014 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 15
Sachbuch
Papst Über Leben und Werk des neuen Oberhaupts der römisch-katholischen Kirche sind viele Bücher
erschienen. Drei neue Publikationen widmen sich dem erstaunlichen Wandel Jorge Mario Bergoglios vom
Reaktionär zum Revolutionär
DerOskarSchindler
Argentiniens
Daniel Deckers: Papst Franziskus. Wider die
Trägheit des Herzens. C. H. Beck,
München 2014. 352 Seiten, Fr. 24.90
(ab 24. Oktober im Handel).
Paul Vallely: Papst Franziskus. Vom
Reaktionär zum Revolutionär. Theiss,
Darmstadt 2014. 239 Seiten,
Fr. 37.90, E-Book 23.90.
Nello Scavo: Bergoglios Liste. Papst
Franziskus und die argentinische
Militärdiktatur. Herder, Freiburg i. Br.
2014. 208 Seiten, Fr. 27.90.
Von Klara Obermüller
Wer war, wer ist dieser Jorge Bergoglio,
der am 13. März 2013 zum Papst gewählt
wurde und sich als Erster in der Geschichte der Kirche den Namen Franziskus zulegte? Die Frage stand unmittelbar
nach der Wahl im Raum. Sie stellt sich
heute noch immer, obwohl mittlerweile
an Publikationen über ihn und von ihm
kein Mangel mehr besteht. Papst Franziskus, der die Welt von allem Anfang an
mit Worten und Gesten in Staunen versetzte, ist eine Figur voller Widersprüche
und Überraschungen. Und bleibt es auch,
nachdem man die jüngsten Bücher über
ihn gelesen hat. Zwei Themen stehen
dabei im Vordergrund: die politische
Haltung und die theologische Ausrichtung.
Jorge Bergoglios Verhalten in den Jahren der argentinischen Militärdiktatur
(1976 bis 1983) war bereits unmittelbar
nach seiner Wahl zum Papst ein Thema
gewesen, auf das Journalisten sich stürzten. Was hatte der Jesuiten-Provinzial
und spätere Erzbischof von Buenos Aires
gewusst von den Verbrechen jener Zeit,
von Folter, Mord und Kinderraub, in die
nachweislich auch kirchliche Kreise verwickelt gewesen waren? Wie stark war er
selbst involviert gewesen? Und welche
Rolle hatte er gespielt beim Verschwinden zweier Jesuiten, die gefoltert und
monatelang gefangen gehalten worden
waren?
16 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. September 2014
Fragen wie diese warten bis heute
ebenso auf Antwort wie diejenigen nach
den theologischen Positionen des Papstes, der heute so entschieden als Anwalt
der Armen auftritt. Welchen dogmatischen Kurs hatte er nach dem Konzil
seinem Orden vorgegeben? Wie hielt er
es mit der von Rom gemassregelten Befreiungstheologie? Wie stand er zu Fragen von Zölibat, Homosexualität und der
Stellung der Frau in der katholischen Kirche? Auch dazu fielen die Antworten bis
jetzt widersprüchlich aus.
Umso gespannter nimmt man die neuesten Publikationen über Papst Franziskus zur Hand – und stellt erst einmal fest,
wie unterschiedlich die Autoren an ihr
Thema herangehen: sachlich der eine,
polemisch der andere und ganz und gar
apologetisch der dritte. Nach einer vergleichenden Lektüre der drei Bücher darf
dasjenige von Daniel Deckers als das
wohl fundierteste, dasjenige von Paul
Vallely als das spannendste und dasjenige von Nello Scavo als das problematischste bezeichnet werden. Warum?
Differenzierte Porträts
Im Gegensatz zu einigen der kurz nach
der Wahl auf den Markt geworfenen
Franziskus-Biografien zeigt sich der bei
der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung»
für Religions- und Gesellschaftsfragen
zuständige Journalist Daniel Deckers
nicht nur an der Lebensgeschichte des
neuen Papstes interessiert, sondern
ebenso sehr auch an den familiären Verhältnissen, den politischen Zuständen
und den kirchlichen Entwicklungen, die
dieses Leben geprägt haben. Dank dieser
vielschichtigen Darstellungsweise ist es
ihm gelungen, ein äusserst differenziertes, im Prinzip zwar wohlwollendes,
gleichwohl aber nicht unkritisches Porträt jenes Mannes zu entwerfen, der sich
als Provinzial und Erzbischof unter
schwierigsten politischen Bedingungen
zu bewähren hatte und der heute als
Papst vor der nicht minder anspruchsvollen Aufgabe steht, einer in sich er-
starrten und zutiefst gespaltenen Kirche
neue Glaubwürdigkeit zu verleihen. Dass
Deckers sich bemüht, die Verwerfungen,
Spannungen und Widersprüche dieser
Biografie nüchtern und engagiert zugleich darzustellen, ohne dabei apologetisch zu werden, ist ihm und seinem
Buch hoch anzurechnen.
Weit weniger zurückhaltend gibt sich
sein englischer Kollege Paul Vallely, der
als Journalist für «Times» und «Independent» arbeitet. Er ist dem neuen Papst
gegenüber äusserst kritisch eingestellt,
bleibt dabei aber doch weitgehend fair.
Gerade dies macht die Lektüre seines Buches so ergiebig. Ergiebig, nicht weil es
die Widersprüche im Leben des Jorge
Bergoglio auflöst, sondern weil es sie stehen lässt und aufzeigt, wie konfliktreich
dieses Leben verlaufen ist.
Um Bergoglios Verhalten während der
Militärdiktatur zu beurteilen, hat Paul
Vallely umfassende Recherchen angestellt. Er ist in die Archive gestiegen, hat
Freunde wie Gegner befragt und ist nach
eingehender Analyse zum Schluss gekommen, dass es in Fragen von Mitverantwortung, von Unterlassung und
Schuld eine eindeutige Antwort nicht
geben kann. Auffallend scheint ihm lediglich, wie oft und wie eindringlich der
heutige Papst von Reue, von Schuld und
Vergebung spricht und dabei stets deutlich macht, dass er sich selbst nicht ausnimmt.
Ähnlich ambivalent fällt auch Vallelys
Urteil über die geistige Entwicklung aus,
die der heutige Papst durchlaufen hat,
seit er 1973 zum Provinzial der Jesuiten
und 1998 zum Erzbischof von Buenos
Aires ernannt worden war. Fest steht,
dass er anfänglich einen sehr konservativen Kurs fuhr und der Befreiungstheologie in Lateinamerika ablehnend gegenüberstand. Fest steht auch, dass er heute
in vielen Dingen nachsichtiger geworden
ist. Doch wann genau und warum er von
seinen früheren dogmatischen Positionen abrückte und wie grundsätzlich
seine Option für die Armen wirklich ist,
lässt sich nur schwer beantworten. Nicht
zu übersehen ist, dass mit Papst Franziskus ein völlig neuer Stil im Vatikan Einkehr gehalten hat. Franziskus liebt es
schlicht, er ist kollegial und präsentiert
sich mehr als Seelsorger denn als Oberhaupt eines globalen Machtapparats. Das
macht Eindruck und gibt Hoffnung. Ob
er allerdings willens und fähig ist, den
schönen Worten und Gesten Taten folgen zu lassen, weiss niemand genau.
Vallely verhehlt nicht, dass er auch in
diesem Punkt seine Zweifel hat, macht
aber gleichzeitig klar, dass angesichts der
Undurchschaubarkeit der politischen
Verhältnisse und der Ambivalenz der
menschlichen Natur jedes Urteil, auch
das seine, ein vorläufiges bleiben muss.
KEYSTONE
Fluchthilfe für Verfolgte
Der Überraschende: Jorge Bergoglio, seit 2013 Papst in Rom, versetzt die Welt immer wieder mit Gesten und Worten in Staunen.
Von solcher Skepsis unberührt geht der
italienische Journalist Nello Scavo in seinem Buch «Bergoglios Liste» an sein
Thema heran. Sein erklärtes Ziel ist es,
aus Jorge Bergoglio eine Art Oskar
Schindler Argentiniens zu machen. Und
das gelingt ihm bis zu einem gewissen
Grad auch, indem er eine ganze Reihe
von Persönlichkeiten auftreten lässt, die
bezeugen, die Diktatur nur dank dessen
Hilfe überlebt zu haben. Schenkt man
diesen Zeugenaussagen Glauben – und
nichts spricht dagegen, es zu tun –, dann
hatte der Jesuiten-Provinzial und spätere
Erzbischof von Buenos Aires eine eigentliche Fluchthilfeorganisation aufgebaut,
die Verfolgte ausser Landes schleuste
und auch denen zu helfen versuchte, die
bereits in die Fänge der Diktatur geraten
waren. Und glaubt man Scavos Ausführungen, dann trifft Bergoglio auch gegenüber den beiden verhafteten und gefolterten Jesuiten-Patres keinerlei Schuld.
Alles Verleumdung also? Scavo stellt
es so dar. Das ist sein gutes Recht. Indem
er es aber so reisserisch tut und dabei den
Anspruch erhebt, der Erste und Einzige
zu sein, der über diese Kenntnisse verfügt, erweist er der Sache, der er dienen
will, einen schlechten Dienst. Bei Daniel
Deckers lässt sich das Meiste, was Scavo
enthüllt, ebenfalls nachlesen: sachlich
und glaubwürdig. Das gibt seinem Buch
Gewicht. ●
DIE NOMINIERTEN
KOALA Lukas Bärfuss
WALLSTEIN VERLAG
SCHLAFGÄNGER Dorothee Elmiger
DUMONT BUCHVERLAG
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DER BERUHIGENDE KLANG VON
EXPLODIERENDEM KEROSIN Heinz Helle
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UNGER ÜS Guy Krneta
SUHRKAMP VERLAG
DER GESUNDE MENSCHENVERSAND
PANISCHER FRÜHLING Gertrud Leutenegger SUHRKAMP VERLAG
28. September 2014 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 17
Sachbuch
Komponistin Eine neue Monografie zu Alma Mahler-Werfel (1879–1964) verabschiedet sich vom
männlichen Blick auf die hochbegabte Femme fatale
Siepolarisiertewie
kaumeineZweite
Susanne Rode-Breymann: Alma
Mahler-Werfel. Muse, Gattin, Witwe.
C. H. Beck, München 2014. 335 Seiten,
Fr. 34.90.
Von Kirsten Voigt
Man stelle sich vor: Gustav Mahler ist seit
einem Jahr tot. Seine Witwe Alma Mahler geht 1912 mit Oskar Kokoschka auf
Reisen. Ihre Halbschwester war vor kurzem in eine Nervenheilanstalt eingeliefert worden. In Alma keimt
Angst um ihre eigene psychische Gesundheit. Da entdeckt
sie, von Kokoschka schwanger zu sein.
Als sie nach Wien zurückkehrt, findet sie dort
die gerade eingetroffene
Totenmaske
Mahlers
vor. Bei deren Anblick
entscheidet sie sich
gegen Kokoschka und
sein Kind. Kokoschka willigt
bestürzt in die Abtreibung ein. Als
Walter Gropius, mit dem Alma
schon während ihrer Ehe mit
Mahler ein Verhältnis hatte,
1913 Kokoschkas Doppelporträt von ihr und Kokoschka
in einer Ausstellung entdeckt, reagiert er entsetzt.
Dennoch heiraten Gropius
und Alma 1915. Ihnen wird
die Tochter Manon geschenkt. Während dieser
Ehe betrügt Alma ihren Mann
mit Franz Werfel, der später ihr
dritter Ehemann wird. Dessen
Kind gebiert sie 1918, es stirbt
1919. Gropius lässt sich 1920
scheiden.
Seine
Tochter
Manon erkrankt 1935 im Alter
von neunzehn Jahren an Kinderlähmung und überlebt sie
nicht.
Furiose Affären
Alma Mahler-Werfels Leben
wäre in groben Zügen auch
als Kette bitterster Verluste
und Katastrophen zu erzählen, die mit dem Tod ihres
Vaters, des Malers Emil
Jakob Schindler, 1892 einsetzen, den sie schon als
13-Jährige zu verwinden
hat. Viel öfter jedoch wird
ihr Leben als ein Reigen
furioser Affären, der luxuriösen Reisen und
Domizile erzählt – reisserisch, skandalisierbar.
Sie hegte und erzeugte erbitterte Ressentiments. Sie heiratete
18 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. September 2014
Männer jüdischer Herkunft und neigte
zu erschreckenden antisemitischen Äusserungen. Sie hat sich verliebt und dennoch stets schonungslos herabsetzende
Worte für ihre Partner gefunden. Sie hat
nie der Beerdigung eines ihrer Familienmitglieder beigewohnt, aber schwer
unter diesen Verlusten gelitten, obschon
sie auch früh bekannt hatte, dass sie
Kinder eigentlich nicht mochte. Susanne
Rode-Breymann bringt es auf den Punkt:
Alma Mahler-Werfel war eine ambivalente Persönlichkeit.
Kaum eine Frau des 20. Jahrhunderts hat so polarisiert. Sie
wurde verehrt, geliebt, man
komponierte Werke für
sie. Sie wurde verachtet
und
gehasst,
man
warnte vor ihr wie vor
dem fleischgewordenen Bösen. Es ist nicht
einfach, Alma MahlerWerfel Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Susanne
Rode-Breymann räumt jetzt auf.
Die Präsidentin der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover und Leiterin
des
Forschungszentrums
Musik und Gender legt eine
Biografie von Alma MahlerWerfel vor, die sachlich auf
Distanz geht – zu ihrem
Darstellungsgegenstand, aber vor allem
auch zu einem männlich dominierten Blick
auf die Künstlerin.
Rode-Breymann bemüht sich erfolgreich
und mit Empathie
um die Rekonstruktion historischer Zusammenhänge,
die
Schilderung der Möglichkeiten
weiblicher Selbstentfaltung damals und
um die Deutung
von
Alma
Mahler-Wer-
fels Beweggründen. Die Protagonistin erscheint hier plausibel als intellektuell interessierte und künstlerisch hoch begabte junge Frau, die keine Schule besuchen
konnte, sich die Welt aber durch exzessives Lesen aneignete. Was Alma las –
Nietzsche mit Begeisterung, Aischylos,
Dante, Flaubert, Goethe, Grillparzer,
Heine, Keller, Kraus und viele andere –,
welche Stücke sie sah, was sie in Oper
und Konzert hörte, verzeichnet RodeBreymann exakt. Alma kommentierte
das Erlebte kritisch und sprachbegabt.
Dass sie keine Freundinnen hatte, gehört
zu den Legenden, die Rode-Breymann
dekonstruiert. Eine ihrer lebenslangen
Vertrauten war Alban Bergs Frau Helene.
Pianistin und Komponistin
Alma Schindler
war Ehefrau des
Komponisten
Gustav Mahler,
des Architekten
Walter Gropius und
des Dichters Franz
Werfel, aber auch
Gefährtin des Malers
Oskar Kokoschka und
anderer prominenter
Künstler (Aufnahme
um 1909).
Klug gefördert durch ihren Kompositionslehrer Alexander Zemlinsky, wurde
Alma zu einer ernsthaften und ernstzunehmenden angehenden Pianistin und
Komponistin, die den letzten Schritt in
die Professionalisierung aber verweigerte. Vielleicht war sie zu stolz, um das
öffentliche Urteil über sich ergehen zu
lassen. Ihre Gesprächspartner schätzten
ihr unabhängiges, offenes Urteil – und
den erotischen Thrill. Mahler folgte mitunter bei der Arbeit ihrem Rat. Als er,
nach dem berühmten Arbeitsverbot für
sie, dessen Schärfe Rode-Breymann relativiert, sich später ihren Liedern eingehend widmete, war er angetan von ihrem
Können und ermutigte sie zur Weiterarbeit. Allerdings ist der Grossteil ihres
Schaffens verloren. In Bezug auf ihren
Elan beim Komponieren witterte man in
Verkennung ihrer Begabung lediglich
hysterische
Überspanntheit.
RodeBreymann zeigt hingegen, dass sie in
ihren Tagebüchern Zustände kreativer
Ekstase beschrieb – für männliche Künstler selbstverständlich, für Frauen tabu.
Und wo bisher von Almas «Kränklichkeiten» die Rede war, erfährt man hier, dass
sie Fehlgeburten durchmachte.
Rode-Breymann erzählt dieses Leben
nicht genüsslich, effekthascherisch und
enzyklopädisch, sie erhebt nicht den
Anspruch auf Allwissenheit über diese
abgründig komplexe Persönlichkeit und
ihre vielen Beziehungen. Sie verzichtet
auf das Anekdotische, das süffig Theatralisierte, das Frivole und auf Psychoanalyse am toten Objekt. Damit werden
Klischees aller Art verabschiedet. Das
liest sich verlässlich und so, dass man
auch nach dreihundert Seiten gerne noch
mehr erführe – über die Qualität der frühen Werke, über die späten Jahre in New
York etwa. Ein Leben, das mit Menschlichem und Allzumenschlichem überreich
gefüllt war. Man möchte es nicht gelebt
haben – und hier wird es auch nicht in
eine versöhnliche Façon gebracht. ●
SAMPICS
Sport Der Münchner Kurt Landauer (1884–1961) entdeckte den Fussball in Lausanne
JüdischerVaterdesFCBayern
Dirk Kämper: Kurt Landauer. Der Mann, der
den FC Bayern erfand. Orell Füssli,
Zürich 2014. 254 Seiten, Fr. 29.90.
Von Claudia Kühner
Wer kann sich heute vorstellen, dass
Fussball in der Schweiz für die Anfänge
des FC Bayern eine entscheidende Rolle
spielte? Es war in Lausanne, wo sich der
Banklehrling und spätere legendäre Vereinspräsident Kurt Landauer in diesen
Sport «verliebte».
Damals schon beherbergte die Westschweiz manch teure Internate mit vielen fussballbegeisterten Zöglingen. Hier
lernte der 17jährige Münchner das neue
Mannschaftsspiel aus England kennen.
Zuhause im Kaiserreich gab die stramm
deutsch-nationale und antisemitische
Turnerbewegung den Ton an, deren einziges Trachten die Wehrertüchtigung
war. In späteren Jahren sollte Landauer
seine Beziehungen zur Schweiz in zahlreichen Spielen gegen hiesige Clubs vertiefen. Und in der Nazizeit schliesslich
fand er als Jude Zuflucht in Genf.
Kurt Landauer war nicht nur fussballverrückt und später ein begnadeter Fussballfunktionär. Er wurde eine der wichtigsten Figuren im Kreis der jüdischen
Spiel des FC Bayern
München gegen
Eintracht Frankfurt
am 2.2.2014 in
München: Die Fans
in der Südkurve
gedenken ihres
einstigen Präsidenten
Kurt Landauer.
Förderer, die diesem Sport in Deutschland auf die Beine halfen, während der
«Donaufussball» zwischen Wien und
Budapest die exzellenten Spieler und
Trainer dafür lieferte. Für Juden wurde
Fussball ein Sinnbild der Moderne, einer
liberalen (auch bürgerlichen) Kultur, unideologisch, nicht national gesinnt und
weniger anfällig für Antisemitismus.
Für diese auch sozial- und kulturgeschichtlich aufschlussreichen Anfänge
interessiert sich die Sportpublizistik erst
in jüngerer Zeit. Nun legt der TV-Autor
Dirk Kämper die erste Kurt Landauer gewidmete Biografie vor, rechtzeitig zur
Ausstrahlung seines Spielfilms über
Landauer am 15. Oktober in der ARD (mit
Josef Bierbichler in der Titelrolle).
Bedauerlicherweise schreibt Kämper
diese Biografie wie einen Roman: Fiktive
Dialoge, Gedanken, Handlungen. Dennoch ist die Lebensbeschreibung dieses
schweinsbratenliebenden jüdischen UrMünchners lesenswert. 1913 wurde
Landauer Präsident des 1900 gegründeten Vereins. Landauer erkannte früh,
dass Amateure keine Spitzenleistung
zeigen können wie englische Profis.
Jahre kämpfte er in diesem Punkt gegen
den DFB. 1932 endlich gewannen die
Bayern – mit einem jüdischen Trainer –
erstmals die deutsche Meisterschaft.
Lange konnte sich Landauer an diesem Erfolg nicht freuen. Gleich nach Hitlers Machtantritt trat er zurück. Der Club
mied zunächst die allzu geschmeidige
Anpassung an die Verhältnisse. Landauer kam 1938 nach Dachau und konnte
1939 in die Schweiz emigrieren. Er und
seine Schwester haben als einzige der
Familie überlebt. Bitter war das Exil, mit
dem schmerzlichen Höhepunkt 1943, als
«seine» Bayern gegen eine Schweizer
Auswahl im Hardturm spielten. Landauer sass auf der Tribüne, und am Ende
grüssten die Spieler zu ihm hoch. Ihn
rührte diese Geste so tief, dass er trotz
vieler Zweifel 1947 nach München zurückkehrte – und sich wieder zum Präsidenten wählen liess. Der FC Bayern war
jetzt froh um diesen nicht-belasteten
Mann. Die ersten Spiele führten den Club
wieder in die Schweiz. Zu Hause aber litt
Landauer unter den täglichen Begegnungen mit jenen, die sich nicht an ihre
Schuld erinnern lassen wollten. 1951
wurde er abgewählt.
Der Münchner Fussballclub war lange
an seiner eigenen Geschichte nicht interessiert. Inzwischen hat sich das geändert. Auch dank der Ultras von der Südkurve namens «Schickeria», die die Erinnerung an Landauer und das jüdische
Erbe des Vereins besonders pflegen. ●
Ukraine Der russische Schriftsteller Andrej Kurkow über die Wirrnisse der Maidan-Revolution
Aufzeichnungen im Auge des Hurrikans
Andrej Kurkow: Ukrainisches Tagebuch.
Haymon, Innsbruck 2014. 280 Seiten,
Fr. 26.90.
Von Reinhard Meier
«Ich weiss nicht, wie das alles enden
wird», schreibt Andrej Kurkow im Vorwort zu seinen Tagebuch-Aufzeichnungen über die dramatischen Ereignisse,
die sich während der sogenannten Maidan-Revolution in der Ukraine abgespielt
haben. Kurkow, im früheren Leningrad
als Russe geboren, lebt mit seiner englischen Frau Elizabeth und drei schulpflichtigen Kindern im Zentrum von
Kiew, unweit des Unabhängigkeitsplat-
zes. Dieser ist inzwischen unter der Bezeichnung Maidan zu einem global gängigen Begriff geworden.
Die hier veröffentlichten Aufzeichnungen beginnen am 21. November 2013,
dem Tag, an dem die ukrainische Regierung unter Präsident Janukowitsch überraschend bekannt gibt, dass das mit der
EU ausgehandelte Assoziierungsabkommen nun doch nicht unterzeichnet
werde. Es endet mit dem Eintrag vom
24. April 2014 über eine Elternversammlung in der Kiewer Schule von Kurkows
Buben. Dazwischen liegen Berichte und
Reflexionen über die teils tumultuöswidersprüchliche, teils bewundernswert
ausdauernde Protestbewegung auf dem
Maidan gegen die abrupte «Absage an
Europa». Es folgen das undurchsichtige
Blutbad in Kiew mit über 100 Toten, die
Flucht Janukowitschs und im Februar
die kaltblütige Annexion der Halbinsel
Krim durch Putins Russland.
Erklärungen über die Hintergründe
dieser Ereignisse können die TagebuchNotate nicht bieten. Der Autor erinnert
aber im Anhang zu wichtigen Namen
daran, dass vor zehn Jahren die «Orange
Revolution» ähnliche Erwartungen ausgelöst hatte wie der neue Maidan-Protest. Sie sind dann von deren Galionsfiguren wie Julia Timoschenko und Wiktor
Juschtschenko bitter enttäuscht worden.
Trotz solcher und anderer unguter Erfahrungen betont Kurkow: «Ich kann nur auf
das Beste hoffen. Ich reise nicht aus.» ●
28. September 2014 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 19
Sachbuch
Musik In seinem Erinnerungsbuch erklärt
Daniel Barenboim sein Musikverständnis und
sein Engagement im Nahostkonflikt
Daniel Barenboim: Musik ist alles und alles
ist Musik. Berlin Verlag, Berlin 2014.
140 Seiten, Fr. 27.90, E-Book 15.-.
Von Corinne Holtz
Daniel Barenboim, Pianist und Dirigent
von Weltruf, glaubt eigentlich «an
nichts». Trotzdem ist er als Vermittler im
Nahostkonflikt seit Jahren aktiv. Das sichert ihm die Aufmerksamkeit von Medien, Verlagen und einer Öffentlichkeit,
die weit über sein Konzertpublikum hinausweist.
Seit dem Tod seines Freundes und
Mitstreiters Edward Said im Jahr 2003
sind weitere Bücher von beziehungsweise mit Daniel Barenboim erschienen. Die
Themen gleichen sich, sie berühren
Musik und Gesellschaft, und stets wird
der Musiker nach seiner Meinung zum
Nahostkonflikt befragt. «Es ist ein Konflikt zwischen Menschen. Politik und Militär kommen erst danach.» Mit andern
Worten: Was sich in den Herzen der Menschen befinde, könne nicht militärisch
gelöst werden.
So äussert sich Barenboim im Kapitel
«Dialoge», das aus verschiedenen öffentlichen Gesprächen mit dem italienischen
Musikwissenschafter Enrico Girardi besteht. Diese sind der Anlass für das neue
Buch, das jetzt auf Deutsch erschienen
ist und Textsorten unterschiedlichen Anspruchs versammelt.
Zwischen 2008 und 2011 stellte sich
der Musikdirektor der Mailänder Scala
den Fragen seines Gegenübers. Das
West-Eastern Divan Orchestra, in dem
israelische und arabische Musiker spielen, ist kein Friedensorchester, sondern
«ein kleines Modell einer Gesellschaft
mit anderen Werten». Die Freiheit des Di-
rigenten gehe so weit, als die Interpretation nur aus der Partitur kommen dürfe.
Eigene Aufnahmen hätten ihn nie interessiert, ebenso wenig, «ob es eine Entwicklung gibt oder sonst etwas». Was allein zählt, ist das Jetzt – «die Vergangenheit in der Musik, im Leben oder in der
Politik interessiert mich nur in dem
Masse, in dem sie Einfluss auf die Gegenwart hat».
Um ästhetische Fragen geht es in den
Gesprächen über Bizets «Carmen», Wagners «Walküre» und Mozarts «Don Giovanni». Reibung entsteht dann, wenn die
sogenannte historische Aufführungspraxis zur Sprache kommt.
Daniel Barenboim erhebt einmal mehr
Einspruch gegen die Dogmen der Bewegung, denen sich die mit «weniger Talent» versehenen Musiker verschreiben
würden. Diese suchten auf «ungesunde
Weise nach unbedeutenden Details» und
rekonstruierten einen Aufführungsstil,
der dann als progressiv und modern verkauft werde. Schade, dass Barenboim
Vorurteile perpetuiert, anstatt von der
aktuellen Forschung und Praxis der
Szene Kenntnis zu nehmen. Diese Haltung spiegelt sich auch in seinem eigenen Interpretationsansatz. Daniel Barenboim pflegt bis heute die Klangästhetik
der Nachkriegszeit, in der er sozialisiert
worden ist.
Entscheidender als sein künstlerisches Wirken ist sein Mut, Israelis und
Palästinenser als Verlierer zu bezeichnen. Er tut dies als jemand, der zwei
Pässe besitzt – einen israelischen und
einen palästinensischen. Er habe «tiefes
Verständnis für die Ängste seiner israelischen Mitbürger» und «tiefstes Mitgefühl
mit dem Schicksal meiner palästinensischen Mitbürger in Gaza, die täglich Terror erleben». So liest es sich in Baren-
IMAGO
Dirigierenfürden
Frieden
Daniel Barenboim lanciert eine Initiative für Musiker aus dem Nahen Osten.
boims Erklärung, die «The Guardian»
Ende Juli 2014 veröffentlicht hat.
Die Kontinuität dieses Engagements
verdient Respekt und führt im Rahmen
seiner neusten Initiative in die Zukunft.
Stipendiatinnen und Stipendiaten aus
dem Nahen Osten sollen 2016 in die geplante Barenboim-Said Akademie in Berlin einziehen und dort drei Jahre studieren. Herzstück der Ausbildung sollen
musikalische und geisteswissenschaftliche Fächer sein – sowie Fakten und Ideen
unseres «entfremdeten» Zeitalters wieder näher zueinander bringen, so der
Initiator des Studiengangs. ●
DIE BEGEGNUNG MIT DEM AUTOR VON „ALS NIETZSCHE WEINTE“
WE
IN EINEM FILM VON SABINE GISIGER
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E R IM K IN O
A B 2 . OK TOB
Eine Anleitung
itung zum Glücklichsein
20 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. September 2014
W W W.YALOMSCURE.COM / W W W.FILMCOOPI.CH
Vierte Gewalt Medien decken Missstände auf. Sie können aber auch fahrlässig berufliche und
politische Existenzen zerstören wie im Fall von Christian Wulff
Seidnachsichtig
mitdenFehlbaren!
Alexander Görlach: Wir wollen Euch
scheitern sehen! Wie die Häme unser Land
zerfrisst. Campus, Frankfurt 2014.
152 Seiten, Fr. 24.90, E-Book 15.90.
Christian Wulff: Ganz oben – ganz unten.
C. H. Beck, München 2014. 259 Seiten,
Fr. 29.90, E-Book 19.-.
Die Namen Christian Wulff, Rainer Brüderle, Theodor zu Guttenberg, Uli Hoeness, Jörg Kachelmann, Annette Schavan; oder in der Schweiz Philipp Hildebrand, Bruno Zuppiger und Geri Müller:
Diese Namen stehen für den tiefen Fall
von Prominenten nach einer Empörungsschlacht in Medien und Öffentlichkeit. Solche Fälle nehmen zu – nicht weil
die Mächtigen skrupelloser werden (das
Gegenteil ist der Fall), sondern weil die
öffentliche Empörung über angebliches
oder echtes Fehlverhalten sich dank Medienkampagnen, begleitet von Shitstorms in sozialen Netzwerken (Facebook, Twitter, Blogs), immer hemmungsloser ausbreitet.
Der deutsche Theologe und Linguist
Alexander Görlach (37), der das Debatten-Magazin «The European» herausgibt
und früher Online-Ressortleiter des Politik-Magazins «Cicero» war, analysiert in
seinem Buch «Wir wollen Euch scheitern
sehen!», wie die Häme das Land zerfrisst.
Dabei geht es ihm keinesfalls darum,
«Unrecht zu verharmlosen oder Gesetzesbruch zu einer Bagatelle zu stilisieren». Zu verschieden sind die deutschen
Prominenten-Abstürze: Neben Freisprüchen erster Klasse (Christian Wulff) oder
zweiter Klasse («aus Mangel an Beweisen» wie bei Jörg Kachelmann) finden
sich unter den Medienopfern auch
rechtskräftig Verurteilte (Uli Hoeness)
ebenso wie rechtlich Unbescholtene
(Rainer Brüderle).
Gleichheit als Dogma
Entscheidend für Görlach ist etwas anderes: Der um sich greifende Neid auf die
gesellschaftlich Erfolgreichen erzeuge
Schadenfreude, sobald jemand bei
einem vermeintlichen oder echten Misstritt ertappt wird. Dann lege der rigorose
Moralismus der «Kleingeister», wie er sie
nennt, an die «da oben» ungleich härtere
Massstäbe an als an sich selbst. Man will
die Sünder scheitern sehen.
Die Ursache dafür macht der Autor im
Zeitgeist der deutschen Mittelschicht
aus, der die Gleichheit zum höchsten
Dogma erhebt, während der Respekt vor
dem Anderen und die Toleranz gegenüber dem Anderssein nachlasse. Viele
Menschen könnten nicht akzeptieren,
dass das Glück ungleich verteilt und «das
EQ
Von Urs Rauber
Der frühere deutsche
Bundespräsident
Christian Wulff stellt
am 10. Juni 2014 sein
Buch den gleichen
Medien vor, die ihn
2012 zum Rücktritt
gezwungen haben.
Leben nicht fair ist». Die Tendenz zum
Niedermachen werde verstärkt durch die
Praxis von Medien, den Dissens zu inszenieren statt die Versöhnung zu suchen,
sowie deren Personalisierung und Emotionalisierung von Konflikten. Görlach
spart nicht mit Kritik an den Medien, die
mit ihrer Verantwortung oft lax umgehen
würden. Indem sie auf Prominente eindreschen, diese unbarmherzig zur Schau
stellen und hämisch Fehler kommentieren, gehe der Sinn für Proportionen verloren. Die Häme, diese «Mischung aus
Schadenfreude, Besserwissertum und
Sadismus», die früher nur im Versteckten agierte, sei heute leider salonfähig
geworden.
Görlachs streitbarer theologisch-philosophischer Essay mündet in ein Plädoyer für mehr Nachsicht, mehr Demut,
mehr Barmherzigkeit gegenüber Fehlern
von Personen in der Öffentlichkeit. Zu
seinen 9 Punkten, mit denen öffentliche
Vernichtungskampagnen zu stoppen
seien, gehören unter anderem ein
«respektbegleitetes Wegsehen vom Privaten», denn ohne Abstand sei auch kein
Anstand möglich, der Abbau des Prangers und mehr Milde in der Beurteilung
von Menschen. Immer wieder zitiert der
Theologe das Gleichnis vom Splitter im
Auge des Bruders und dem Balken im eigenen. Ein sehr bedenkenswerter, überzeugender Aufruf zur Mässigung.
Was Görlach im allgemeinen konstatiert, wird im Buch des zurückgetretenen
deutschen Bundespräsidenten Christian
Wulff «Ganz oben – ganz unten» gleichsam im Brennglas durchgespielt. Wulffs
Rechenschaftsbericht über seine bereits
umstrittene Wahl am 30. Juni 2010 bis zu
seinem Rücktritt am 17. Februar 2012 ist
ein beklemmender Report darüber, wie
aus Bagatellen, Ungeschicklichkeiten
und ungeheuerlichen Verdächtigungen
eine Staatsaffäre inszeniert und ein Politiker zum Abschuss gebracht wird. Dafür
verantwortlich macht er hauptsächlich
die unkontrollierte Macht besonders der
Springer-Presse. Dass zu der Schmutzkampagne von «Bild» aber auch die öffentlich-rechtlichen Medien, der «Spiegel» sowie das noble Feuilleton der
«Frankfurter Allgemeinen Zeitung» kräftig beigetragen haben, gehört zu den
beschämenderen Einsichten aus diesem
Buch.
Frei von Rache
Natürlich entspringt die akribische Schilderung der Hintergründe mit gelegentlich dramatisierenden Kapitelüberschriften («Die Jagd», «Die letzte Kugel») einem
– natürlichen – Bedürfnis zur Rechtfertigung. Auch wenn dies stellenweise kleinlich wirken mag, ist Wulffs Buch völlig
frei von Rachegelüsten und Selbstgerechtigkeit. Besonders beeindruckt, dass
der gestrauchelte Politiker seine eigenen
Fehler und «Riesendummheiten» nicht
verschweigt. Christian Wulff erscheint
hier als Mensch glaubwürdig, sein Handeln nachvollziehbar, unabhängig davon, ob man ihn als Würdenträger im
Schloss Bellevue für eine Ideal- oder eine
Fehlbesetzung hielt. Am 27. Februar 2014
sprach das Landgericht Hannover Wulff
von allen Vorwürfen frei.
Das im Rückblick erschütternde, auch
menschlich anrührende Zeugnis des
zehnten Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland bewegt auch viele
Menschen. Christian Wulffs Buch figurierte nach seinem Erscheinen im Juni
monatelang auf den Bestseller-Listen
des «Spiegel». ●
28. September 2014 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 21
Sachbuch
Schweiz Der EDA-Mitarbeiter Simon Geissbühler macht einen kritischen Zwischenruf zur
politischen Kultur des Landes – erfrischend unkonventionell
VonderdirektenDemokratie
zumAnspruchsstaat
keit der Bürger immer häufiger in Frage.
Dies geschieht vor allem auf dem Umweg
über die Justiz.
Während Verfassung und Gesetz vom
Souverän an der Urne genehmigt werden
und somit höchste Legitimität besitzen,
favorisieren die Kritiker den Ermessensspielraum des Richters. Dieser
kann unter Berücksichtigung weiterer
Umstände das Gesetz dann so oder so anwenden. Der Richterstaat relativiert zusehends den Gesetzesstaat.
Simon Geissbühler: Die Schrumpf-Schweiz.
Auf dem Weg in die Mittelmässigkeit.
Stämpfli, Bern 2014. 144 Seiten, Fr. 37.90.
Von Paul Widmer
Der Diplomat Simon Geissbühler legt
eine ungeschminkte Bestandesaufnahme der Schweiz vor. Äusserlich gesehen
geht es dem Land gut. In fast allen Rankings gehört die Schweiz weltweit zur
Spitzenklasse. Doch im Innern liegt einiges im Argen. Prüft man ihren Zustand
mit der Skepsis eines konservativen Kulturkritikers, dann genügt sie ihren eigenen Ansprüchen nicht mehr. Es ist nur
eine Frage der Zeit, bis sie in der Mittelmässigkeit versinkt.
Dieser Befund kontrastiert stark mit
der modischen «Swissness»-Welle, die
mit oberflächlichem Selbstlob über alles
plätschert. Neustens will der Bund gar
die direkte Demokratie vermehrt im Ausland als Erfolgsmodell anpreisen. Auf
den ersten Blick eine lobenswerte Idee,
auf den zweiten etwas weniger. Gewiss
schadet es nichts, wenn das Ausland
mehr über die Volksrechte und die Abstimmungsverfahren in der Schweiz erfährt. Aber man muss sich der engen
Grenzen bewusst sein. Der Geist, der die
direkte Demokratie beseelt und auf den
es ankommt, lässt sich nicht exportieren.
Er besteht in der politischen Kultur, die
aus dem Innern erwächst. Sie ist das Ergebnis einer jahrhundertelangen Ausgestaltung des gesellschaftlichen und
staatlichen Zusammenlebens.
Gegen den Mainstream
22 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. September 2014
KEYSTONE
Ideal der Bürgerrepublik
Dazu ein Vergleich: Als Jugoslawien auseinanderbrach, glaubten viele, mit einer
guten Verfassung sei den neuen Staaten
geholfen. Doch mit der Beratung allein
war es bei weitem nicht getan. Es ist
ziemlich einfach, eine gute Verfassung
auszuarbeiten. Die besten Verfassungsrichter stehen hierfür Schlange. Aber es
ist schwierig, eine politische Kultur zu
ändern. Dies jedoch ist unumgänglich.
Wenn die Wirklichkeit nicht einigermassen mit der Verfassung übereinstimmt,
macht auch die beste Verfassung keinen
Sinn.
Um diese politische Kultur der
Schweiz geht es Geissbühler. Der Berner
Historiker trat 2000 in den Dienst des
Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA) ein, war
u.a. in Bukarest und Warschau tätig und
ist heute stellvertretender Chef der Abteilung Amerika im EDA in Bern. Für
Geissbühler ist die politische Kultur Vorbedingung, damit eine Bürgerrepublik
überhaupt gedeihen kann. Ohne grosses
Engagement der Bürger in Staat und Ge-
Bürger nehmen ihr
Schicksal selbst in die
Hand: Landsgemeinde
am 26. April 2009
in Appenzell
Innerrhoden.
sellschaft lässt sich kein Staatswesen von
unten her aufbauen.
Doch es steht schlecht um das, was
das Wesen der Schweiz ausmacht. Der
Wille zur Eigenverantwortung nimmt bedenklich ab, der Ruf nach dem Staat
dafür zu. Statt Freiheit dominiert zusehends das Prinzip Gleichheit, flankiert
vom gesellschaftlichen Druck einer Political Correctness. Wenn es der Schweiz
heute noch sehr gut geht, dann vornehmlich deshalb, weil sie vom Kapital
zehrt, das sie in der Vergangenheit angehäuft hat.
Simon Geissbühler zählt einzelne Bereiche auf. Bei den Institutionen etwa
greift niemand die direkte Demokratie
frontal an. Aber selbst ernannte Demokratieexperten stellen die Urteilsfähig-
Oder im Gesellschaftlichen: Die Staatsgläubigkeit nimmt im gleichen Ausmass
zu wie die Bereitschaft abnimmt, Verantwortung zu übernehmen. Besonders
ausgeprägt ist dieser Trend in den anonymen städtischen Agglomerationen.
Die politischen Körperschaften, die
Schulgemeinden und die Vereine finden
kaum noch genügend Freiwillige, die ein
Amt übernehmen. Lieber schiebt man
eine Aufgabe auf den Staat ab. Wo aber
der Bürger abdankt, macht sich der Bürokrat breit – und um ein Stück Freiheit ist
es geschehen.
Oder im Wohlfahrtsstaat: Das Wachstum der Schweizer Wohlfahrt nimmt beängstigende Ausmasse an. Früher hielten sich die Schweizer mit ihren sozialen
Forderungen an den Staat zurück. Heute
wollen selbst Schichten mit hohem Einkommen von einer staatlichen Umverteilung profitieren. Diese macht jedoch nur
in engem Umfang Sinn. Wenn ein Staat
alle finanziell begünstigen will, übernimmt er sich.
Simon Geissbühler hat einen anregenden Essay verfasst. Um politische Korrektheit bemüht er sich nicht. Er hat
gegen den Mainstream angeschrieben.
Das wird ihm wohl einige Kritik eintragen. Aber man kann seine Überlegungen
nicht mit leichter Hand beiseiteschieben.
Sehr belesen entwickelt er seine Argumente im Dialog mit in- und ausländischen Autoren.
Dass der Diplomat zu einem negativen
Befund über den Zustand der Schweiz
kommt, scheint ihm selbst peinlich zu
sein. Jedenfalls möchte Simon Geissbühler seine Analyse nicht als Niedergangsdiagnostik verstanden wissen, obschon
sie es unverkennbar ist. Doch die Scheu
vor dem Etikett «Niedergang» erklärt
sich wohl dadurch, dass selbst derjenige,
der eine umfassende Verschlechterung
feststellt, die Hoffnung auf Umkehr nicht
aufgeben kann.
Denn sonst würde es ja keinen Sinn
machen, ein Buch wie dieses zu schreiben. ●
Paul Widmer ist Autor von «Die Schweiz
als Sonderfall» (2007) und «Diplomatie.
Ein Handbuch» (2014).
Psychologie Der US-Journalist Scott Stossel litt lebenslang unter Angst. Nun schildert er, wie er dagegen
erfolgreich ankämpft
JehöherderIQ,destogrösserdieFurcht
Scott Stossel: Angst. Wie sie die Seele
lähmt und wie man sich befreien kann.
C. H. Beck, München 2014. 460 Seiten,
Fr. 37.90.
Von Michael Holmes
1917 äusserte Freud die Hoffnung, «dass
das Angstproblem ein Knotenpunkt ist,
an welchem die verschiedensten und
wichtigsten Fragen zusammentreffen,
ein Rätsel, dessen Lösung eine Fülle von
Licht über unser ganzes Seelenleben ergiessen müsste». Wie richtig er mit dieser
Einschätzung lag, beweist US-Journalist
Scott Stossel in seinem klugen und bewegenden Buch «Angst», das eine gelun-
gene Mischung aus intimer Autobiografie, wissenschaftlichem Sachbuch und
philosophischer Abhandlung darstellt.
Das Buch ist ein Coming-out. Stossel
ist glücklich verheiratet, Vater zweier
Kinder und Redaktor des US-Magazins
«The Atlantic». Er wirkt stets gelassen,
gefasst und souverän – ein geübter
Schauspieler. Bis zum Erscheinen dieses
Buches wusste nur seine Familie um sein
Geheimnis. Kollegen und Freunde waren
überrascht, erschüttert und beeindruckt.
Mit bewundernswerter Offenheit und
schwarzem Humor erzählt Stossel von
seinem lebenslangen Kampf mit einem
unerbittlichen und listigen Gegner. Seit
seiner frühen Kindheit ringt er mit seiner
«Grundangst». Er fürchtet sich vor
TOPICAL PRESS AGENCY/GETTY IMAGES
Zwanziger Jahre Glamour, Stil und Lebensfreude
«In den zwanziger Jahren» ist eine oft gewählte Antwort
auf die Frage, in welcher Epoche man gerne gelebt hätte
– diese Kleider, diese Frisuren, diese verruchte Ausgelassenheit! Jene kurze Zeitspanne zwischen zwei verheerenden Kriegen wird selten nur beschrieben: Sie
wird verklärt. Das Buch «Frauen der 1920er Jahre» von
Thomas Bleitner macht da keine Ausnahme. In der Einführung weist der Autor zwar darauf hin, dass es nicht
zuletzt die Presse war, welche einige wenige Frauen zu
Idealfiguren erhob. Dennoch sind es die üblichen Verdächtigen, deren Leben in Wort und Bild von Bleitner
erzählt wird: 18 Frauen stellt er vor, Intellektuelle wie
Zelda Fitzgerald, Künstlerinnen wie Josephine Baker
und Abenteurerinnen wie Amelia Earhart. Das liest und
sieht man gerne. Richtig glücklich machen aber die ergänzenden Bilder von namenlosen Frauen, welche das
Buch nicht nur bereichern, sondern ausmachen. Der
ungezügelten Lebensfreude dieser Unbekannten, auf
Skiern, auf Motorrädern, beim Tanz, und immer
lachend, kann man sich nicht entziehen. Ja, da wäre
man gerne dabei gewesen! Malena Ruder
Thomas Bleitner: Frauen der 1920er Jahre. Glamour, Stil
und Avantgarde. Sandmann, München 2014. 192 Seiten,
ca. 120 Abbildungen, Fr. 51.-.
Höhen, geschlossenen Räumen, Keimen,
öffentlichen Auftritten, Käse, dem Fliegen und dem Erbrechen. Sein stressbedingter Reizdarm fesselt ihn in entscheidenden Augenblicken an die Toilette. Er
stand schweissgebadet und zitternd vor
dem Traualtar. Seine Ängste vermasselten ihm Dates, Prüfungen, Bewerbungsgespräche und Tennis-Matches.
Stossel bespricht die zentralen Forschungsergebnisse zu den bedeutendsten Therapien und Medikamenten, die er
alle im Selbstversuch getestet hat – mit
unterschiedlichem Erfolg. In einer Konfrontationstherapie hielt er einen Vortrag vor Publikum, während er ein Video
schaute, das Menschen beim Erbrechen
zeigt. Er blamierte sich absichtlich, um
seine Sozialphobie zu lindern. Er plant
genau, welche Medikamentenkombinationen er in welchen Situationen zu sich
nimmt.
Zudem bietet das Buch eine faszinierende Ideengeschichte der Angst. Ausführlich schildert Scott Stossel die Theorien von Philosophen wie Platon und
Kierkegaard sowie die fortdauernde Auseinandersetzung der Experten um die
Ursachen der Angst. Er warnt eindringlich vor der Suche nach einer singulären
Ursache. Zahlreichen Studien zufolge ergeben sich pathologische Ängste aus
dem Zusammenspiel der Erbanlagen,
des Erziehungsstils und der sozialen Umstände. Säuglinge mit unsicherer Mutterbindung erkranken im späteren Leben
erheblich öfter an Angststörungen. Die
Gene erklären etwa 30 Prozent der individuellen Unterschiede in der Anfälligkeit für Ängste.
Globalen Studien zufolge muss jeder
sechste Mensch wenigstens eine Angsterkrankung durchleiden. In den meisten
Ländern bilden Angststörungen die häufigsten Seelenkrankheiten, und vieles
spricht dafür, dass sie zunehmen. Scott
Stossel hält die täglichen Schreckensbilder in den Massenmedien und den raschen sozialen Wandel für die wichtigsten Gründe.
Die gute Nachricht: Wer Angst richtig
einsetzt, kann von ihr profitieren. So besteht ein statistischer Zusammenhang
zwischen einem hohen IQ und übermässiger Angst. Analysen zufolge leidet etwa
ein Drittel aller herausragenden Wissenschafter an Angst oder Depression. Aschkenasische Juden besitzen einen durchschnittlich höheren IQ als andere Gruppen und leiden häufiger an Angsterkrankungen. Angst kann zudem gewissenhaft und vorsichtig machen. Stossel erinnert an viele Berühmtheiten, die trotz
oder wegen ihrer starken Ängste Grosses
geleistet haben, darunter Jefferson, Gandhi, Darwin und Freud.
«Das öffentliche Eingeständnis meiner
Schmach und meiner Furchtsamkeit
werden mir, so hoffe ich, Kraft geben»,
schreibt Scott Stossel. Wir Lesenden
haben dieses wichtige Werk seiner grossen Angst und seinem noch grösseren
Mut zu verdanken. ●
28. September 2014 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 23
Sachbuch
Bundesstadt Philipp Gosset war vieles: Gletscherforscher, Stadtplaner, Topograf und Botaniker
Ein BritedrücktBerndenStempelauf
Georg Germann (Hrsg.): Das Multitalent
Philipp Gosset (1838–1911). Hier und Jetzt,
Baden 2014. 272 Seiten, Fr. 49.90.
Von Geneviève Lüscher
«Bern ist in mancher Hinsicht ein zu kleiner Ort für mich; nur selten treffe ich auf
einen Menschen, der andere als sehr
bourgeoise Ideen vom Leben hat.» So
äusserte sich der in Bern geborene Engländer Philipp Gosset zwei Jahre vor seinem Tod 1911. Der Satz klingt nach Verbitterung und Resignation. Gosset genügte die schweizerische Bundesstadt
nicht, die tonangebende Schicht war ihm
zu konservativ. Dennoch liess er sich in
Bern einbürgern und starb als ein Bernburger, der es verstanden hat, der Stadt
seinen Stempel aufzudrücken.
Überregional ist Philipp Gosset bestenfalls als Gletscherforscher bekannt,
sein Tätigkeitsfeld veränderte sich aber
im Verlauf seines Lebens, wie die Biografie des Kunst- und Architekturhistorikers
Georg Germann aufzeigt. Der langjährige
Direktor des Bernischen Historischen
Museums hat klugerweise darauf verzichtet, die vielen Facetten des Multitalents selber auszuleuchten, und hat
Spezialisten zu Wort kommen lassen:
den Historiker Quirinus Reichen, den
Kartenhistoriker Martin Rickenbacher,
den Architekturhistoriker Jürg Schweizer und den Gartendenkmalpfleger Steffen Osoegawa. Wie es in der Natur solcher Sammelwerke liegt: Redundanzen
liessen sich nicht vermeiden, und dem
Anmerkungsapparat hätte eine Straffung
nicht geschadet. Ansonsten liest sich die
Biografie flüssig und dürfte nicht nur
neue Einblicke in die Bundesstadt geben,
sie ruft auch die Verdienste eines nahezu
vergessenen Stadtplaners in Erinnerung.
Philipp wurde 1838 als Sohn des vermögenden, aus Jersey stammenden und
mit einer Bernerin verheirateten Kaufmanns Robin Gosset geboren. Er besuchte Schule und Universität in Bern, in
Paris bildete er sich zum Ingenieur weiter. Zurück in Bern heiratete er Henriette
von Linden, eine Ehe, die kinderlos bleiben sollte, ihm aber den Eintritt in die
bernische Oberschicht verschaffte.
Sein Hobby bis ins hohe Alter war das
Bergsteigen. 1859 tritt er dem exklusiven
britischen Alpine Club bei, später dem
Schweizer Alpenclub. Die Bergtouren
dienten aber nicht bloss der Leidenschaft, sondern immer auch der Wissenschaft. Er unternahm glaziologische wie
hydrologische Untersuchungen und interessierte sich für die Alpenflora.
Philipp Gossets berufliche Laufbahn
verläuft alles andere als gradlinig. 1862
amtet er als Vermessungsingenieur im
Philipp Gosset hielt
seine Bergtouren auch
zeichnerisch fest:
Hier die Schnapsfluh
mit Blüemlisalphorn
rechts und Weisse
Frau links; 30.8.1859.
Wallis. Bereits 1864 wird er Stadtplaner
in Bern und entwirft die Überbauung des
bis anhin brachliegenden Kirchenfeldes,
die später in Teilen realisiert werden
wird. Bei der Gestaltung der Oberstadt
um das neue Bundeshaus wirkt er mit.
1867 bis 1879 ist Gosset als Topograf
im Eidgenössischen Stabsbureau (heute
Bundesamt für Landestopographie) angestellt und zuständig für die Vermessung der Schweizer Seen und Gletscher.
Als sein Hauptwerk gilt die aufwendige
Vermessung des Rhonegletschers, ein
Auftrag des SAC und der Schweizerischen Naturforschenden Gesellschaft.
Mit beiden überwirft sich Gosset aber
alsbald; er gilt als «schwierig». Schliesslich verliert er wegen Termin- und Kostenüberschreitungen sowie Insubordination seine Stelle; die bahnbrechenden
Forschungen über den Rhonegletscher
publizieren andere.
Die Missachtung seines geistigen Eigentums verbittert Gosset. Er macht
einen radikalen Schnitt und wird Landschaftsgärtner. Dieser Statuswechsel ist
in der Berner Oberschicht unüblich,
zumal Gosset nach wie vor vermögend
ist. Nach der Gründung einer Baumschule gelingt es ihm aber, bedeutende
Aufträge zu ergattern. Unter anderem gestaltet er die Höfe des neuen Bundeshauses. Und noch heute steht im Bremgartenfriedhof die von ihm gepflanzte
Schwarzkiefernallee.
1903 stirbt Gossets geliebte Frau Henriette. Bereits zwei Jahre später heiratet
er die 35 Jahre jüngere Alice Fehr. Sie verhilft ihm 1907 zu einer späten Vaterschaft, die er jedoch kaum mehr geniessen kann. 1911 stirbt Philipp Gosset auf
seinem Landgut in Wabern. ●
Wirtschaft Beat Kappeler sprüht vor Ideen zur Überwindung selbstgewählter Unmündigkeit
«Manchmal reicht auch die zweitbeste Lösung»
Beat Kappeler: Leidenschaftlich nüchtern.
Für eine freie und vitale Gesellschaft.
NZZ Libro, Zürich 2014. 288 S., Fr. 44.–.
Von Tobias Straumann
Keine Frage, Westeuropa hat schon bessere Tage erlebt. Schwaches Wirtschaftswachstum, Massenarbeitslosigkeit und
Nullzinspolitik zeugen von einer allgemeinen Malaise. Woran liegt es? Braucht
die EU einfach länger Zeit, bis sie ihre institutionellen Widersprüche in den Griff
bekommt, oder ist etwas grundsätzlich
faul in der westlichen Welt?
Beat Kappeler ist in seinem neuen
Buch «Leidenschaftlich nüchtern» klar
der Meinung, dass letztere Diagnose zutrifft. «Die Westeuropäer sind im Kopf
alle zu Opfern geworden, sie sind nicht
mehr Schmiede ihres Schicksals.» Um
dem schleichenden Abstieg etwas entge24 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. September 2014
genzusetzen, hat er 144 kleine Gedankenblitze, Erinnerungen und Einsichten
auf Papier gebracht. Einige davon sind
bereits als «Standpunkte» in der NZZ am
Sonntag erschienen.
Die Kritik an den bestehenden Verhältnissen formuliert Kappeler aus einer
prononciert liberalen Sicht. Die Politik
führe ständig neue Regeln ein, ohne die
Konsequenzen zu bedenken. Weniger
wäre mehr. Zum Beispiel: «Da führten
die Planer teure Brücken für den Tierwechsel über die Autobahnen und Kanäle unten durch für Frösche und Lurche. Nach Hunderten von Millionen an
Kosten stellt man nun fest, dass die
Raubtiere sich an den Enden der Brücken
und Kanäle niederlassen, das Maul aufhalten, und die so sorglich geschützte
Beute spaziert ihnen hinein.»
Die Beschreibung von falsch gesetzten
Anreizen und widersinnigen Massnahmen erstreckt sich auf eine breite Palette
von Themen: Schule, Geldpolitik, Währungsunion, Arbeitsmarkt, Sozialstaat,
Einwanderung, Steuerpolitik und vieles
mehr. So fragt man sich bisweilen beim
Lesen, ob der Abstieg Westeuropas nicht
schon längst beschlossene Sache sei.
Doch weit gefehlt. Kappeler vertritt mit
grosser Zuversicht sein Plädoyer «für
eine freie und vitale Gesellschaft».
Kappeler überrascht mit historischen
Exkursen und kuriosen Beispielen. Seine
Rezepte zur Überwindung der Unmündigkeit sind realistisch und menschenfreundlich. «Manchmal reicht auch
schon eine zweitbeste Lösung.» Das
Buch schliesst deshalb mit der Überzeugung, dass nichts so wandelbar ist wie
die Zukunft: «Die Gesellschaft ist auf
Wanderschaft, mit offenem, nicht garantiertem Ziel, das muss uns genügen.» ●
Tobias Straumann ist Wirtschaftshistoriker und Titularprofessor an der
Universität Zürich.
Biografie Der Brite Alastair Brotchie legt das bisher umfassendste Buch über den französischen
Avantgardisten und Exzentriker Alfred Jarry (1873–1907) vor
Skandalautortrittin
diePedale
Alastair Brotchie: Alfred Jarry. Ein
pataphysisches Leben. Piet Meyer,
Wien 2014. 548 Seiten, Fr. 64.90.
Von Manfred Papst
Manche Autoren verbindet man mit
einem einzigen Werk, ja sogar mit einer
einzigen Figur. Alfred Jarry, der 1873 in
der Bretagne geboren wurde und 1907
mit nur 34 Jahren in Paris an einer tuberkulösen Meningitis starb, war so ein
Autor. 1896 wurde sein Drama «Ubu Roi»
uraufgeführt. Es geriet mit seinem Ausruf «Merdre!» («Schreisse!») ganz zu Beginn des Fünfakters sofort zum Skandal.
Die Farce um den «Père Ubu», einen so
dummen wie gierigen Tyrannen, der
sein Volk gegen sich aufbringt und am
Ende als Verlierer dasteht, wurde zunächst wegen seiner derben Sprache und
grotesken Heftigkeit verunglimpft.
Heute gelten uns das Werk und sein
Autor als bedeutende Vorläufer von Dadaismus und Surrealismus. Das Absurde
Theater beruft sich immer wieder auf
Jarry und seinen König, für den der verhasste Physiklehrer des Autors Modell
stand. Das Adjektiv «ubuesque» hat – wie
«kafkaesk» im Deutschen – als Bezeichnung für alles Groteske und Abseitige
Eingang in die französische Alltagssprache gefunden. Der Père Ubu ist längst aus
seinem Theaterstück herausspaziert, so
wie Rostands Cyrano de Bergerac aus
dem seinen.
Philosophische Parodie
Der zweite Begriff, den wir mit Jarry verbinden, ist jener der «Pataphysik». In
dem Wort verstecken sich die homophonen Wendungen «patte à physique»,
«pas ta physique» und «pâte à physique».
Mit dieser Pseudolehre vom Imaginären
und Einzelnen hat Jarry die Philosophie
wie die naturwissenschaftliche Theoriebildung seiner Zeit parodistisch unterlaufen, beispielsweise, indem er die
Oberfläche Gottes berechnete.
Auf den Ubu-Stoff ist Jarry noch mehrfach zurückgekommen: in drei weiteren
Dramen und zwei Almanachen, mit dem
Kompendium «Les minutes de sable»
und dem erst postum veröffentlichten
Roman «Faustroll», der uns Heutigen in
seiner wuchernden Vielfalt als Hauptwerk des Dichters erscheint. Hier werden
Protokolle eines Gerichtsvollziehers,
Exkurse zur Pataphysik, Reiseberichte
und vieles andere zu einem irritierend
modernen Text montiert.
Nach dem frühen Tod des Dichters geriet sein höchst heterogenes, umfangreiches Werk, das Lyrik, erzählende Prosa,
Dramen, Kunstkritiken, Feuilletons und
Briefe umfasst, zunächst einmal in Vergessenheit. Erst nach 1945 wurde es in
Als früher Velofahrer
machte der Dadaist
und selbsternannte
Pataphysiker
Alfred Jarry die
Strassen von Paris
unsicher (undatierte
Aufnahme).
breitem Masse wiederentdeckt und
durch die dreibändige Pléiade-Ausgabe
(1972–1988) sowie die grosse Biografie
von Patrick Besnier (2005) auf den Parnass gehoben. Im deutschen Sprachraum machte sich Klaus Völker durch
eine Jarry-Ausgabe in 11 Bänden (Zweitausendeins 1987–1993) verdient.
Im Jahr 2011 erschien in London und
Cambridge, Massachusetts, die umfassende Jarry-Biografie des 1952 geborenen Forschers und Sammlers Alastair
Brotchie. Sie wurde sowohl als Monografie wie als Panorama einer Epoche von
der angelsächsischen Presse begeistert
rezensiert und vom «Times Literary
Supplement» sogar zum «Buch des Jahres» erkoren. Nun liegt das Werk auch auf
Deutsch vor – in sorgsamer Übersetzung
und bemerkenswert schöner Gestaltung,
als grossformatige Broschur in Spaltendruck und mit 275 Illustrationen.
Es fällt schwer, Alfred Jarrys Leben
und Werk auf einen Begriff zu bringen.
Der Autor entstammte einer recht wohlhabenden bretonischen Familie, brachte
aber seine Studien nicht zu Ende und geriet deshalb in die Künstlerbohème statt
in einen gutbürgerlichen Beruf. Eine
Zeitlang war er Sekretär am Théâtre de
l ̦Œuvre, wo sein «Ubu Roi» uraufgeführt
wurde. Seine Schriften erschienen verstreut und hatten kaum Erfolg. War er ein
genialer Ideen-Akrobat und Spieler, der
sich hinter zahllosen Masken versteckte?
Oder wusste er selber allmählich nicht
mehr, was Maskerade war und was Gesicht? Ein Meister der Selbstinszenierung
war er auf alle Fälle – als Exzentriker und
früher Fahrradfahrer. 1896 hatte er ein
Vehikel des Typs Clément luxe 96 erstanden, das damals der letzte Schrei war
und mit dem er die Pariser Strassen unsicher machte. Er wurde zunehmend
aber auch zum Opfer seiner Schrullen,
Ängste und Launen. In Gesellschaft war
er oft unberechenbar.
Ein verlässlicher Kanton war Jarry
auch in geistigen Dingen nie. Er feierte in
vielen seiner Texte die exzessive (namentlich homoerotische) Sexualität und
galt deshalb als Libertin und Antibürger,
konnte in seinen späteren Jahren, die
von Armut, Krankheit und Alkoholismus
geprägt waren, neben seinen abstrusen
pataphysischen Ideen aber auch katholisches und monarchistisches Gedankengut propagieren.
Der Ruhm kam erst postum
Erst postum gelangte er zu Ruhm. Von
Apollinaire über Breton bis zu Ionesco,
von Raymond Queneau bis zu Georges
Perec reicht die Liste seiner Bewunderer;
ausserhalb der französischen Literatur
bekannten sich Italo Calvino, Julio Cortázar, Witold Gombowicz, Wole Soyinka
und viele andere zu seinem Werk. Seine
radikale, dem Psychologismus wie dem
Realismus entgegengesetzte Theaterästhetik hat eine mächtige Wirkungsgeschichte entfaltet.
Es ist Alastair Brotchies Verdienst,
dass er in seinem Opus magnum diese
so faszinierende wie widersprüchliche
Randfigur einer bedeutenden Kulturepoche für uns lebendig und fassbar
macht. ●
28. September 2014 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25
Sachbuch
Universität Erfahrungen einer Lehrbeauftragten aus den Geisteswissenschaften
Weshalb Seminare schieflaufen
Christiane Florin: Warum unsere Studenten
so angepasst sind. Rowohlt, Reinbek 2014.
80 Seiten, Fr. 8.40, E-Book 6.-.
Von Seán Williams
Die Verschulung der Universitäten seit
der Bologna-Reform wird schon lange
beklagt. Christiane Florin beschreibt
mitreissend den miesen Uni-Alltag in
den Geisteswissenschaften in Deutschland. Es herrschen keine strittigen Diskussionen über Klassiker wie Adorno
mehr, sondern die Serviceleistung einer
Dialektik der Abklärung, in der Dozenten
zu Ersatz-Erziehern und Entertainern,
die Studenten zu Notensammlern werden. Doch anstatt die Umstellung der
Studiengänge auf BA und MA zu bedauern, versteht Florin das Problem als Generationenfrage. Die Generation nach
1985 sei postdemokratisch und ersetze
den Geist durch das Googlebare. Man
müsse nicht nur gegen eine Hochschulpolitik zu Felde ziehen, sondern gegen
einen Kulturwandel.
Der Essay ist gewagt und wichtiger
denn je. Die Autorin ist seit 14 Jahren
Lehrbeauftragte für Politische Wissenschaft an der Universität Bonn. Viele
Hochschullehrer würden es nicht wagen,
für den Intellektualismus ihren Kopf zu
riskieren. Florins Argument gilt auch für
den weltweiten Wissensmarkt. Auch die
Schweizer Debatte, ob Fachhochschulen
Doktortitel verleihen sollten, lässt sich
beispielsweise aus der Homogenisierung
der «(Aus-)Bildung» herleiten. Das Angewandte, das Akademische sowie das
Amüsement werden zu einem Topos zusammengeführt. Pädagogik ist ein Produkt, dessen Wert in Punkten messbar
sein soll. Florins Buch nennt sich ein Protokoll dieser Anpassung. In der Dozentensprache würde man sagen: «Im
Ansatz gut». Die Beschreibung des Problems ist nützlich, aber es fehlen konstruktive Kritik oder jener Intellektualismus, den Florin selbst fordert. Sie
schreibt zwar mit Verve, aber manchmal
ist unklar, ob ihre Zukunftsvorschläge
bissig oder pessimistisch gemeint sind.
«Wenn ich schon Animateur, Erzieher
und Motivationstrainer sein soll, will ich
das ebenso professionell gelernt haben
wie die Luhmann’schen Nachrichtenkriterien.»
Man möchte die Autorin fragen: Reden
Sie wirklich einer solchen Umwandlung
der Bildung das Wort? Aus der Spannung
der «Seminarshow» zwischen Studenten
und Dozenten entsteht zwar die Möglichkeit zum Widerstand, aus der wöchentlich 90-minütigen pädagogischen
Performance eine theatralische Option
zum Anderssein. Sie haben gut protokolliert, Frau Florin. Wir sind gespannt auf
Ihr Manifest! ●
Das amerikanische Buch Mehr als drei Jahre auf der Bestsellerliste
Ein Titel ohne Sex und Sentimentalität
zeigt in den USA seltene Ausdauer. Seit
November 2010 steht Unbroken. A World
War II Story of Survival, Resilience and
Redemption (Random House, 500 Seiten) von Laura Hillenbrand ununterbrochen in den Bestsellerlisten. Im Juli erschien mit ungewöhnlich langer Verzögerung die um ein Interview mit der
Autorin, Fotos und weitere Materialien
erweiterte Taschenbuch-Ausgabe dieser «Geschichte aus dem Zweiten Weltkrieg von Überleben, Widerstandsfähigkeit und Erlösung». Danach rückten
die Hardcover- und die Neuausgabe
gleichzeitig an die Spitze der jeweiligen
Sachbuch-Rankings. Laut Branchenangaben wurden die verschiedenen
Versionen des Titels bislang über
4,3 Millionen Mal verkauft.
Zamperini hat sein Leben erneut im
Jahr 2003 geschildert. Doch erst Laura
Hillenbrand hat den Captain der USLuftwaffe in den Olymp amerikanischer Ikonen gehoben. Die 47-Jährige
wurde 2001 durch den Mega-Seller
26 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. September 2014
LOUIS ZAMPERINI
Einen derart ungebrochenen Erfolg hat
die amerikanische Buchbranche in der
jüngeren Vergangenheit nicht erlebt.
Dabei ist die Geschichte von Louis
Zamperini seit 1956 aus den Memoiren
«Devil at my Heels» (Den Teufel an den
Fersen) des italienischen Immigrantensohnes bekannt. Zamperini wuchs in
Kalifornien als unbezähmbarer Lausbub auf. Sein Talent als Langläufer
machte den 19-Jährigen zu einer Medaillenhoffnung der USA bei der Berliner Olympiade von 1936, ehe er 1943
im Zweiten Weltkrieg 47 Tage lang auf
einem winzigen Rettungsfloss auf dem
Pazifik trieb und anschliessend in japanischer Kriegsgefangenschaft Folter,
Hunger und Erniedrigung überstand.
heitsgetreue Reportage, ohne dass
Hillenbrand die Wachen verteufelt. Sie
folgt Zamperini zudem durch die Zeit
nach seiner Freilassung, die er zum
Skelett abgemagert und schwer krank
erlebt hat. Von Albträumen gequält,
kehrte er 1950 nach Japan zurück, um
ehemalige Wachen und die Schauplätze seines und des Leidens so vieler anderer US-Soldaten zu konfrontieren. In
späteren Jahren als Athlet und Patriot
verehrt, fand Zamperini durch den Eintritt in die Gemeinde des fundamentalistischen Predigers Billy Graham ein
Mass an innerem Frieden, das vielen
Veteranen nie zuteil wurde.
Ein von japanischen
Streitkräften im
April 1943 zerstörter
US-Bomber auf
Funafuti, Tuvalu.
Autorin Laura
Hillenbrand (unten).
«Seabiscuit» über das gleichnamige
Rennpferd aus der Depressionsära bekannt.
Hillenbrand demonstriert in «Unbroken» erneut ihr schriftstellerisches Können. Auf Interviews mit dem Protagonisten, mit anderen Zeitzeugen auf beiden Seiten des Pazifiks und umfassenden Hintergrundrecherchen bauend, erzählt die Autorin schnörkellos und dicht
gewebt, reich an Dialogen und Details
eine Geschichte, die unter künstlichem
Pathos nur leiden würde. Obwohl sie
die systematische Grausamkeit der japanischen Lagermannschaften ungeschminkt darstellt, erscheinen auch
schwer aushaltbare Passagen als wahr-
Hier liegt wohl ein weiterer Schlüssel
zum Erfolg von «Unbroken». Wie Laura
Hillenbrand schreibt, ist das Buch eine
Würdigung der «grössten Generation
Amerikas», die den Zweiten Weltkrieg
durchlitten und gewonnen hat. Doch
ihr Werk erschien am Ende des IrakFeldzuges und während der letzten
Grossoffensive Amerikas in
Afghanistan, als die Traumata von
Veteranen erneut ins Zentrum der öffentlichen Debatte rückten.
Zudem dürfte auch Hillenbrands beharrliches Ringen mit dem Chronischen Erschöpfungssyndrom viele
Leser inspirieren. Die Krankheit machte das Schreiben für sie von Jugend an
zu einem heroischen Kraftakt. Der aktuelle Sprung des Buches zurück an die
Spitze der Bestsellerlisten geht jedoch
auf zwei weitere, publicityträchtige
Ereignisse zurück: Anfang Juli erlag
Zamperini 97-jährig einer Lungenentzündung. Gleichzeitig wurde bekannt,
dass die von Angelina Jolie verfilmte
Kinoversion zu Weihnachten 2014 anlaufen wird.
Von Andreas Mink ●
Agenda
Buchmalerei Alchemie der Liebe
Agenda Oktober 2014
Basel
Mittwoch, 15. Oktober, 19 Uhr
Meir Shalev: Zwei Bärinnen.
Lesung, Fr. 17.–. Literaturhaus, Barfüssergasse 3.
Tel. 061 261 29 50.
Samstag, 18. Oktober, 15 Uhr
Iris Lydia Frei: D'Mäss. KinderbuchTaufe mit Überraschungen. Thalia,
Freie Strasse 32, Platzreservation:
Tel. 061 264 26 55.
Bern
Sonntag, 5. Oktober, 11 Uhr
Thomas Meyer: Rechnung über meine
Dukaten. Lesung, Ausstellungseintritt.
ZPK, Monument im Fruchtland 3.
Info: Tel. 031 359 01 01.
Dienstag, 14. Oktober, 20 Uhr
François Loeb: Happy Birthday, Babyboomers! Lesung, Gespräch, Musik,
Fr. 15.-. Thalia, Spitalgasse 47/51.
Tickets: Tel. 031 320 20 40.
Zwei gekrönte Gestalten nehmen ein Bad in einem Teich.
Beide sind nackt und geflügelt. Unten ruht der König
mit goldener Krone und rötlichen Flügeln. Auf ihm liegt
die Königin. Sie trägt eine silberne, mit Edelsteinen besetzte Krone; ihre Flügel sind silbrig-grün. Das anmutige Bild einer mystischen Vereinigung entstammt dem
«Rosarium Philosophorum», einem der beliebtesten
Kompendien frühneuzeitlicher Alchemie. 1550 wurde
es erstmals gedruckt. Es enthält einen lateinischen
Grundtext, einen Bilderzyklus sowie ein deutschsprachiges Gedicht. Das Buch faszinierte Denker und Künstler von Isaac Newton bis zu C. G. Jung und Leonard
Cohen. Hier wird es in einer wissenschaftlich gründlichen und schönen, reich illustrierten Ausgabe präsentiert, die keine Wünsche offen lässt. Manfred Papst
Rudolf Gamper, Thomas Hofmeier: Alchemische
Vereinigung. Chronos, Zürich 2014. 238 Seiten,
183 Farbabbildungen, Fr. 47.90.
Belletristik
Sachbuch
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
Guillaume Musso: Vielleicht morgen.
Pendo. 480 Seiten, Fr. 22.90.
Charles Lewinsky: Kastelau.
Nagel & Kimche. 400 Seiten, Fr. 35.90.
Bernhard Schlink: Die Frau auf der Treppe.
Diogenes. 256 Seiten, Fr. 30.90.
Judith Hermann: Aller Liebe Anfang.
S. Fischer. 224 Seiten, Fr. 23.90.
Jean-Luc Bannalec: Bretonisches Gold.
Kiepenheuer & Witsch. 352 Seiten, Fr. 22.90.
Daniel Glattauer: Geschenkt.
Zsolnay. 334 Seiten, Fr. 22.90.
Karin Slaughter: Bittere Wunden.
Blanvalet. 576 Seiten, Fr. 29.90.
Donna Leon: Das goldene Ei.
Diogenes. 368 Seiten, Fr. 26.90.
Michael Robotham: Erlöse mich.
Goldmann. 448 Seiten, Fr. 22.90.
Luzern
Mittwoch, 22. Oktober, bis Samstag,
1. November, 18.15 Uhr
3. Luzerner Mordsabende, mit Diner.
Fr. 89.-. Restaurant 1871, Haldenstr. 4.
Reservation: Tel. 041 422 18 71.
Zürich
Bestseller September 2014
Lori Nelson Spielman: Morgen kommt ein neuer
Himmel. Fischer Krüger. 368 Seiten, Fr. 22.90.
Donnerstag, 23. Oktober, 19.15 Uhr
Werner Bätzing: Leben in den Alpen. Lesung, Fr. 16.- inkl. Apéro. Haupt, Falkenplatz 14. Tickets: Tel. 031 309 09 09.
Giulia Enders: Darm mit Charme.
Ullstein. 288 Seiten, Fr. 27.90.
Silvia Aeschbach: Leonardo Di Caprio trifft keine
Schuld. Wörterseh. 208 Seiten, Fr. 27.90.
Duden. Die deutsche Rechtschreibung. 26. Aufl.
Bibliogr. Institut. 1216 Seiten, Fr. 39.90.
Wilhelm Schmid: Gelassenheit.
Insel. 118 Seiten, Fr. 12.90.
Brigitte Trümpy-Birkeland: Sternenkind.
Wörterseh. 192 Seiten, Fr. 39.90.
Fritz Hegi: Mit WanderFritz durch die Schweiz.
Weltbild. 143 Seiten, Fr. 29.90.
Antony Beevor: Der Zweite Weltkrieg.
Bertelsmann. 976 Seiten, Fr. 59.90.
Rudolf H. Strahm: Die Akademisierungsfalle.
Hep. 240 Seiten, Fr. 37.90.
Gerold Biner: Fliegen um Leben und Tod.
Orell Füssli. 256 Seiten, Fr. 37.90.
Bronnie Ware: Leben ohne Reue.
Arkana. 224 Seiten, Fr. 23.90.
Erhebung Media Control® AG im Auftrag des SBVV; 16.9.2014. Preise laut Angaben von www.buch.ch.
Montag, 6. Oktober, 20 Uhr
Franz Hohler, Susanna Schwager: Züri
Littéraire, Live-Literaturclub im Kaufleuten. Fr. 25.-. Pelikanplatz 18.
Tickets: Tel. 044 225 33 77.
Donnerstag, 16. Oktober, 20 Uhr
Franzobel: Wiener Wunder. Lesung,
Fr. 25.-. Kaufleuten (s. oben).
Mittwoch, 22. Oktober, 19.30 Uhr
Jan M. Piskorski: Die Verjagten. Flucht
und Vertreibung im Europa des 20. Jahrhunderts. Lesung, Fr. 18.– inkl. Apéro.
Literaturhaus, Limmatquai 62.
Info: Tel. 044 254 50 08.
Donnerstag, 23., bis Sonntag, 26. Oktober
«Zürich liest». Bekannte Autoren und
Autorinnen lesen in der ganzen Stadt.
Programm: www.zuerich-liest.ch.
Samstag, 25. Oktober,
19.30 Uhr
Nino Haratischwili: Das
achte Leben (Für Brilka).
Lesung, Fr. 18.– inkl. Apéro.
Literaturhaus (s. oben).
Bücher am Sonntag Nr.9
erscheint am 26.10.2014
Weitere Exemplare der Literaturbeilage «Bücher am
Sonntag» können bestellt werden per Fax 044 258 13 60
oder E-Mail [email protected]. Oder sind
– solange Vorrat – beim Kundendienst der NZZ,
Falkenstrasse 11, 8001 Zürich, erhältlich.
28. September 2014 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27
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