Prolog - Wie kommt ein Weltenwanderer nach Hanoi?

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Prolog - Wie kommt ein Weltenwanderer nach Hanoi?
Die Psychologie des Hupens
Erfahrungen und Eindrücke eines Weltenwanderers in Hanoi
Reiseerzählung
von
Günter Lohse
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Erstausgabe im April 2014
als Orange Cursor-eBook
Alle Rechte bei Orange Cursor
Copyright © 2014
by Orange Cursor
A-9020 Klagenfurt
Schlossweg 6
Cover: Anne Paaschen
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Prolog - Wie kommt ein Weltenwanderer nach
Hanoi?
Ein Weltenwanderer ist ein imaginäres Wesen, das durch verschiedene Welten
wandert - durch unsere irdische, aber auch durch spirituelle oder imaginäre. Er
erscheint und entschwindet einfach, ohne dass wir dies mit unserem Verstand
nachempfinden können.
Je nach seiner Umgebung nimmt er dabei die Gestalt der dominierenden
Lebewesen an. In unserer Welt tritt er häufig als kleiner Junge in Erscheinung, der
sich recht gut in der jeweiligen Landessprache verständigen kann. Nur die
Umwelt, die Sitten und Gebräuche sind meist völlig neu für ihn.
Und genau solch ein Wanderer zwischen den Welten erscheint in Hanoi. Sein
Name ist Eli. Begleiten wir ihn auf den folgenden Seiten bei seinen Erlebnissen.
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Ankunft
»Oh weh oh weh oh weh … wo bin ich nur gelandet?« Völlig benommen steht
Eli, der Weltenwanderer, am Rand einer stark befahrenen Straße in Hanoi.
Gerade noch war er in aller Beschaulichkeit mit den Mönchen durch Luan
Prabang, dieser geschichtsträchtigen Stadt in Laos, geschlendert. Und nun ist er in
eine komplett andere Welt geraten.
Vor ihm ergießt sich ein nicht enden wollender Strom aus seltsamen Gefährten.
Auf zwei Rädern rollen und knattern Menschen dahin, allein oder zu zweit. Beim
näheren Hinschauen entdeckt Eli sogar drei, vier oder auch fünf Leute
unterschiedlicher Größe auf einem Gefährt. Und das ist noch nicht alles. Was da
nicht alles drauf geladen wurde: Kisten und Kästen, große und kleine Flaschen,
Blumen, Eisenstangen, Käfige mit Hühnern oder Hunden und … und … und. Bei
manchen dieser Fuhren kann Eli unter der großen Ladung kaum den Fahrer
sehen.
Diese seltsamen Zweiräder sind überall – vor ihm, hinter ihm und um ihn herum
fahren sie sogar auf dem Fußweg. Die Menschen hier scheint das aber nicht zu
stören, sie sind offensichtlich daran gewöhnt.
In dem Strom vor ihm entdeckt Eli auch vierrädrige Wagen. Schwarz, silbern,
rot, grün, blau rollen sie durch die Straßen. Der Weltenwanderer kann sich an der
breiten Farbenpalette, die ihm entgegen leuchtet, gar nicht satt sehen. Doch geben
alle diese Gefährte Lärm und stinkende Luft von sich, sodass Getöns und Gestank
seine Sinne aufs Äußerste reizen.
»Hallo! Da bist du ja. Du bist ja noch kleiner, als ich mir dich vorgestellt hatte.«
Gilt das etwa ihm? Suchend schaut sich Eli um. Sein Blick trifft auf ein Mädchen,
etwas größer als er selbst. Sie ist in ein weißes Gewand gehüllt, das er in dieser
Form auf all seinen Reisen noch nie gesehen hat. Eine lange, weite, weiße Hose
reicht hinab bis zu den Knöcheln. Darüber fällt ein weißes Kleid, einfach
geschnitten, vom Hals bis zu den Knien herab. Von der Hüfte an ist es an beiden
Seiten aufgeschlitzt. Auf dem Kopf trägt sie ein kegelförmiges Dach aus Bambus,
unter dem schwarze Haare als Pony keck hervorlugen. Nach hinten sind sie zu
einer Art Schwanz gebunden. Mit großen, dunklen, etwas mandelförmigen Augen
schaut sie ihn an.
»Herzlich willkommen in Hanoi. Mein Name ist Linh.«
Und als er seinen fragenden Blick immer noch auf das Kleid heftet, ergänzt sie:
»Das ist ein Ao Dai. Wir tragen dieses Kleid immer an Festtagen. Und heute ist
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ein Festtag, denn ich habe dich erwartet.«
Das nun findet der Weltenwanderer gar nicht seltsam. Er hat zwar niemandem
von seiner bevorstehenden Reise erzählt, aber, dass man ihn hier erwartet, hält er
für selbstverständlich.
Regel Nummer 1- Verhalten im Straßenverkehr
»Komm, ich zeige dir unsere Stadt«, sagt Linh, »aber dazu müssen wir auf die
andere Straßenseite.«
Schon fasst sie Eli an der Hand und steuert auf den Straßenrand zu. Doch Eli
wehrt sich mit Händen und Füßen. Nie und nimmer will er sich den Gefahren
dieses Malstromes aussetzen!
Und Linh versteht. »Verzeih mir, das war wohl etwas zu schnell. Aber das ist mit
das Wichtigste für ein Leben in Hanoi - sich im Straßenverkehr behaupten zu
können. Und glaub mir, es ist gar nicht so schwer, wie es anfangs scheinen mag.«
Und so erhält unser Weltenwanderer seine erste Lektion in Hanoi:
Immer in kleinen Schritten vorwärts gehen.
Niemals rückwärts laufen.
Immer nach rechts und links schauen, denn selbst im dicksten Verkehr oder in
Einbahnstraßen kann plötzlich unerwartet ein Moped aus der Gegenrichtung
kommen.
Und er lernt auch die seltsamen Handbewegungen der Fußgänger zu verstehen.
Sie wedeln mit der Hand - hoch erhoben oder in normaler Körperhöhe oder gar
gesenkt. Oftmals verstärken sie diese Geste noch, indem sie mit irgendeinem
Gegenstand ihre Handfläche vergrößern. Das alles hat nur den einen Sinn, die
Aufmerksamkeit der motorisierten Verkehrsteilnehmer auf sich zu lenken, um
nicht umgefahren zu werden. Später wird er noch bemerken, dass offenbar auch
Mopedfahrer ihren Blinklichtern nicht vertrauen und beim Abbiegen zusätzlich
noch Handzeichen geben.
Und es klappt. Wie durch wundersame Fügung teilt sich der Verkehrsstrom um
die beiden Wagemutigen. So wie beim Auszug der Juden aus Ägypten, als sich das
Meer teilte und der Zug unbehelligt weiterziehen konnte.
Das heißt, ganz so einfach ist es doch nicht. Die meisten Zweiradfahrer biegen
und kurven vor oder hinter den beiden mutigen Fußgängern vorbei. Manchmal so
dicht, dass der Kleine fast den Luftzug des Vorbeifahrenden spüren kann. Aber
die schwer beladenen Fahrzeuge mit zwei und drei Rädern und die Autos weichen
nicht aus und so müssen die beiden öfter mitten im dicksten Verkehr stehen
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bleiben. Krampfhaft hält der Weltenwanderer die Hand seiner Begleiterin und sein
Herz schlägt ihm bis an den Hals.
Aber sie erreichen die rettende andere Straßenseite.
»Siehst du, es war doch gar nicht so schwer.« Mit diesen Worten strahlt die stolze
Linh ihren Schutzbefohlenen an. »Das lernt hier jeder.«
Wie um ihre Worte zu bestätigen, kommt ein Mopedfahrer auf sie zugefahren.
Dicht vor ihnen am Straßenrand hält er an. Er trägt einen Helm, viel größer und
stabiler als die Kopfbedeckungen, die die meisten der Mopedfahrer und
-fahrerinnen tragen. Als er den Helm abnimmt, erkennt Eli einen jungen Mann,
der wohl schwerlich ein Einheimischer sein kann. Durch seine blonden, lockigen
Haare, aber besonders durch die Augen und die Nase unterscheidet sich der
Neuankömmling deutlich von den anderen Männern um ihn herum. Und schon
klassifiziert Eli die Ausländer als »Langnasen«.
»Xin chao, Linh, wen hast du denn da an deiner Seite?« Mit diesen Worten
begrüßt der Ankömmling Linh.
»Xin chao, Maik. Ich möchte dir Eli vorstellen. Eli ist gerade erst hier
angekommen und hat schon seine erste Begegnung mit dem Straßenverkehr
überstanden.«
Und zu Eli gewandt: »Maik lebt schon drei Jahre hier in Hanoi. In den ersten
Tagen nach seiner Ankunft hatte er die gleichen Ängste und Nöte auszustehen,
wie du eben auch. Bitte, Maik, erzähle Eli doch, wie du dich mit dem
Straßenverkehr in Hanoi arrangiert hast!«
So, wie Maik schnurstracks auf die beiden am Straßenrand zugefahren war und
wie nun Linh ihn anlächelt, scheint es Eli, als würden sich die beiden näher
kennen.
»Hi, Eli, ich kann dich gut verstehen«, wendet sich Maik an Eli. »Die ersten Tage
in den Straßen von Hanoi waren für mich auch sehr stressig. Aber als Fußgänger
habe ich mich doch dann sehr schnell zurechtgefunden. Wenn man einige Regeln
beherrscht, dann hält sich das Risiko eines Fußgängers in Grenzen. Und dieses
richtige Verhalten wird dir Linh bestimmt beibringen.« Verschmitzt lächelt er Linh
an. An Eli gewandt, fährt er fort: »Aber in den ersten Tagen habe ich mir niemals
vorstellen können, einmal selbst in diesem Gewühle auf den Straßen als
Mopedfahrer zu bestehen. Es hat schon mehrere Wochen gedauert, bevor ich
mich überhaupt traute, selbst ein Moped zu fahren. Aber heute macht mir das
alles gar nichts mehr aus.«
Diesen Worten folgt Eli mit einer gewissen Skepsis. »Man kann ja vieles lernen.
Aber um in Hanoi Moped zu fahren, bedarf es doch sicherlich viel persönlicher
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Überwindung«, murmelt er so vor sich hin.
»Weißt du was«, schlägt Maik daraufhin vor, »ich beschreibe dir einfach einmal,
was ich auf so einer Fahrt erlebe. Dann kannst du dich überzeugen, dass das
Fahren zwar nicht gerade einfach, aber auch nicht unmöglich ist.«
Da Maik keinen Widerspruch von Eli und Linh hört, beginnt er mit der
Schilderung über seine Fahrt in die Innenstadt.
»Bevor ich losfahre, zurre ich zuerst den Helm fest. Das ist Pflicht für die
Mopedfahrer hier in Vietnam und ich halte mich daran. Dann erst geht es los.
Nach zwei kurzen Schwenks verlasse ich unsere kleine Gartenstadt hinter der
Chua (Pagode) Vong Thi, fahre einhundert Meter entlang der Pagodenmauer und
dann lächelt er mir schon entgegen - der West-Lake. Genau genommen lächelt er
nicht immer . Sehr oft ist alles grau in grau.
Danach biege ich in die Uferstraße ein. Diese führt über ungefähr acht Kilometer
entlang des Südufers. Der Straßenbelag ist gut asphaltiert. Mittlerweile weiß ich
auch schon fast auf der ganzen Strecke, über welchen Gully-Deckel ich fahren
kann und welcher Kanaldeckel aus Beton besser zu umfahren ist.
Vormittags gegen halb zwölf Uhr ist der Verkehr relativ ruhig. Zu den
Hauptverkehrszeiten früh und abends ist die Anzahl der Zwei- und Vierräder aber
auch hier mindestens doppelt so hoch. Die Straßenbreite lässt es zu, dass zwei
PKW, auch Jeeps, bequem aneinander vorbeikommen. Wenn aber aus
irgendwelchen Gründen irgendjemand anhält oder irgendetwas am Rande steht,
dann staut sich ganz schnell ein Knäuel zusammen, zumal der Gegenverkehr
eigentlich niemals richtig abreißt. Ganz besonders oft passiert dies an den zwei
neuralgischen Punkten dieser Strecke - einer Schule und einem Kindergarten.
Zumeist werden die lieben Kleinen gebracht und abgeholt und so ist für die Dauer
von ungefähr dreißig Minuten das Chaos perfekt.
Wenn ich Glück habe und gut vorankomme, passiere ich gleich darauf rechter
Hand einige Verwaltungs- und viele Wohngebäude, ein »Bia Hoi« – ein Bierlokal
mit dem Charme einer Industrie-Lagerhalle - und viele kleine und mittlere Ca Phes
und Restaurants. Auf der gegenüber liegenden Uferseite weitet sich der mit
Bäumen bestandene Fußweg einige Male zu kleinen, ordentlich gepflegten Parks.
Überall stehen Tische und Bänke der Gastronomen und abends ist die ganze
Promenade ein beliebter Treff von geselligen Gruppen und vor allem von Paaren.
Nicht zu vergessen die vielen Angler, die teils am Ufer, teils auch im Wasser
stehen, und die zahlreichen Bewegungs-Enthusiasten aller Altersgruppen, die
joggend, walkend oder mit Gymnastik ihren Körper in Schwung halten und
frische Luft tanken. An einer anderen Stelle trifft sich sogar jeden Abend eine
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Aerobic-Truppe. Schon von Weitem hört man die heißen Rhythmen und das Mot,
Hay, Ba, Bon der Taktzählerin.«
Bis hierher kann sich Eli alles gut vorstellen. Mehr noch, es kommt ihm fast so
vor, als würde er Maik auf seiner Fahrt begleiten.
Der erzählt weiter: »Nun biege ich von der Promenade ab und fahre durch eine
kurze Verbindung auf die Pho Thuy Khue. Für die PKW ist das eine
Einbahnstraße, nicht aber für die Mopeds. Hier herrscht eigentlich zu jeder
Tageszeit starker Verkehr. Erschwerend kommt hinzu, dass der Fahrbahnbelag
hier einige Überraschungen parat hält. Das ist besonders kribbelig, weil man bei
der Verkehrsdichte gar nicht richtig vorausschauend fahren kann – äußerste
Konzentration ist angesagt! Denn der Verkehrsfluss wird durch die emsige
Betriebsamkeit von Geschäften, Straßenhändlern und vielen anderen an beiden
Straßenseiten noch stark beeinträchtigt. Ich verlasse die Thuy Khue und biege in
eine Verbindungsstraße zur Hoang Hoa Tam ein. Diese ist eigentlich für PKW
gesperrt - wie gesagt im Prinzip. Aber es kommt immer wieder vor, dass
PKW-Fahrer hier eine Abkürzung nehmen. Dennoch ist es hier relativ ruhig –
zwanzig Sekunden zum Luftholen und Entspannen. Rechts liegt die
Stadtgärtnerei, wo zu dieser Jahreszeit blühende Balsaminen durch den
Maschenzaun leuchten.«
Eli kann sich kaum vorstellen, dass ein Mopedfahrer, der sich ständig hoch
konzentriert in dem Verkehrsgewühl behaupten muss, auch noch einen Blick für
Blumen am Straßenrand übrig haben kann. Aber wenn er so beobachtet, wie
locker und leicht die meisten Fahrer und Fahrerinnen mit ihren Zweirädern
umgehen, wie sie sich auch im dicksten Verkehr mit ihrem Sozius oder gar mit
Nebenherfahrenden unterhalten, dann überkommt Eli so ein Gefühl, dass man
selbst als Fremder das Moped fahren in Hanoi erlernen kann. Doch er hat keine
Zeit, weiter darüber nachzudenken, denn schon nimmt Maik ihn in Gedanken auf
den nächsten Streckenabschnitt mit.
»Nun kommt der erste Höhepunkt der Fahrt - die Überquerung der Hoang Hoa
Tam. Eigentlich ist das eine richtige Kreuzung, auf der jeder aus jeder Richtung
kommen und in jede Richtung fahren kann - also Whooling in der dritten Potenz.
Manchmal versuchen Polizisten den Verkehr zu regeln, aber die stehen da sehr oft
auf verlorenem Posten. Und so gleicht es einer wundersamen Fügung, dass jeder
an jedem in seine gewünschte Richtung vorbeifährt, ohne dass es ständig kracht.
Aber das Whooling bleibt in der engen Straße.
Im Dezember lagen hier über mehrere Wochen Kabel auf der Straße. Wenn ich
daran denke, dass ich da jedes Mal über mehrere Tausend Volt gefahren bin …«
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Auch wenn Eli noch immer am Straßenrand steht, so kann er sich die Fahrt
doch gut vorstellen und er fühlt, dass sein Puls leicht angestiegen ist.
»Nach der letzten Kurve weitet sich die Straße hinter dem
Ho-Chi-Minh-Museum. Jetzt wird schon mal das Gas aufgedreht, obwohl auch
hier Überraschungen durch Straßenbelag und Verkehrsteilnehmer, egal, ob zu
Fuß, per Fahrrad, Moped oder PKW, nicht auszuschließen sind. Auch wenn ich
die Strecke inzwischen schon oft gefahren bin, muss ich mich immer wieder daran
erinnern, ruhig zu bleiben. Ich muss ja keinen Geschwindigkeitsrekord aufstellen.
Ankommen - das ist die Hauptsache!«
Das sieht Eli genauso.
»Und nun, Eli, kommen Schlag auf Schlag die absoluten Höhepunkte der Fahrt:
Als Erstes biege ich links in die Le Hong Phong ein. Diese verengt sich hier von
einer vierspurigen Allee mit baumbestandenen Mittelstreifen in die Doi Can in
eine normal enge Vorstadtstraße. Alles drängelt und wuselt sich voran. Es ist
immer wieder erstaunlich, wie lange man einerseits, fast im Stehversuch, das
Moped gerade halten und andererseits sich als motorisiertes Laufrad durch die
Autos hindurchschlängeln kann.
Vierhundert Meter bleiben zum Entspannen auf der Allee. Arme und Schultern
kann ich erst mal locker lassen.
Jetzt biege ich wieder rechts ab und schon kommt der nächste Knäuel in Sicht an der Tranh Phu ist fast die gleiche Situation wie an der Doi Can. Nur geht’s
diesmal über eine Kreuzung. Und gleich darauf kommt nach zweihundert Metern
die erste und einzige Ampel auf dieser Strecke - schließlich wird eine der großen
Hauptstraßen im Stadtinneren überquert. Auch hier wird gedrängelt und die
kleinste Lücke ausgenutzt, um eine Startposition möglichst weit vorn zu erreichen.
Nach der Ampel geht’s noch dreihundert Meter am Stadion linker Hand vorbei.
Hier fährt man fast unter den weit ausladenden Traversen hindurch. Auf der
rechten Seite reihen sich zahlreiche Sportgeschäfte mit vielfältigen Auslagen
aneinander.«
Eli, der sich ja immer noch keinen Zentimeter von seinem Platz am Straßenrand
entfernt hat, kann sich durch Maiks plastische Beschreibung all das sehr gut
vorstellen.
»So, nun kündigt sich der letzte Knüller an - die Einmündung in die Cat Linh.
Diese ist zwar eigentlich gar keine der großen Hauptstraßen, aber fast zu jeder
Tageszeit stark befahren. Und eine Vielzahl von Geschäften für Fliesen und
Sanitäreinrichtungen machen das Treiben noch verrückter. Häufig wird hier im
dichtesten Verkehr auf der Straße Fußbodenbelag ausgerollt und zugeschnitten.
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Ist doch irre, oder? Auf dieser Straße muss der Gegenverkehr öfters bremsen, weil
irgendein Idiot unbedingt bei vollem Verkehr auf die linke Seite will. Nach
ungefähr dreihundert Metern war ich heute Morgen selbst der Idiot, denn mein
Ziel lag eben nun mal auf der linken Seite. Auf dieser Tour betrug die Fahrtzeit für
die knapp acht Kilometer sechzehn Minuten. Der bisherige Rekord liegt bei zwölf
Minuten in der verkehrsarmen Mittagszeit. Ich habe aber auch schon fast vierzig
Minuten gebraucht.«
Für den Moment ist Eli wirklich froh, dass er diese Fahrt nur in der
Beschreibung durch Maik erlebt hat. Das war schon aufregend genug! Von heute
auf morgen würde er es bestimmt nicht schaffen, sich in diesem Getümmel
zurecht zu finden. Vielleicht, wenn er längere Zeit hier verbrächte?
Maik reißt ihn aus seinen Gedanken: »Nun muss ich mich aber sputen! Mach‘s
gut, Eli! Ich wünsche dir viel Freude in Hanoi.« Schon hat er seinen Helm wieder
aufgesetzt und braust davon. Jedoch nicht, ohne sich von Linh mit einem »Hen
gap lai!« zu verabschieden.
»Ja, ja, der Maik. Immer in Hektik und Eile.« Etwas ironisch lächelnd schaut
Linh dem Davoneilenden hinterher.
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Ahnenverehrung
Im Tempel Bach Ma
Nach dieser Erzählung und seinem ersten Abenteuer beim Überqueren der Straße
ist sich Eli der Herausforderung, im Straßenverkehr von Hanoi zu bestehen,
bewusst. Aber er fühlt auch Zuversicht: Was der Ausländer geschafft hat, das wird
ihm doch wohl auch gelingen!
Linh schlägt vor: »Nun lass uns erst einmal ein ruhiges Plätzchen suchen.«
Jawohl, damit ist Eli sofort einverstanden. Eine Ruhepause hat er jetzt bitter
nötig.
Durch eine schmale Flügeltür gelangen sie in einen überdachten Hof. Ein Tisch
mit ein paar Stühlen lädt sie im gedämpften Licht zum Sitzen ein. Leise Musik mit
seltsamen Instrumenten schwingt durch die Luft. Nach kurzer Zeit reicht ihnen
eine freundliche alte Frau kleine Schälchen mit Tee - das tut gut!
»Wir befinden uns hier im Tempel des weißen Pferdes. Er ist mit einer
bedeutsamen Legende in der Geschichte Hanois verbunden. Als der König bei der
Gründung der neuen Hauptstadt eine Zitadelle errichten wollte, hatte er eine
Vision: Ein weißes Pferd, das aus diesem Tempel gekommen war, zeigte ihm den
richtigen Platz, an dem er die Mauern der Zitadelle erbauen sollte.« Mit diesen
wenigen Worten beschreibt Linh ihrem Gast die Bedeutung dieser historischen
Stätte. »Wenn du dich gestärkt hast, können wir uns etwas umsehen.«
Gern will Eli das tun. Aber vorerst genießt er einmal die Beschaulichkeit und
vor allem, dass der Straßenlärm doch nur noch sehr gedämpft an sein Ohr dringt.
Schon bald spürt er wieder neue Energie. Er betrachtet ein großes vierflügeliges
Tor, das in rötlich-braunem Lack mit goldener Bemalung glänzt.
Linh bemerkt seinen Blick. »Geht es wieder? Bereit zu neuen Erkundungen?«,
fragt sie. Eli nickt und so betreten sie kurz darauf durch eine kleinere, gleichsam
bemalte Tür den eigentlichen Tempel. Das heißt, der Kleine muss sich ganz schön
mühen, um über die sehr hohe Schwelle zu klettern.
»In den vietnamesischen Tempeln sind alle Schwellen zu den Haupträumen so
hoch. Damit werden die meisten Besucher automatisch gezwungen, sich beim
Betreten des Tempels zu verbeugen«, lautet Linhs Erklärung.
In diesem Raum ist es noch schummriger. Eli weiß gar nicht, wohin er zuerst
schauen soll, denn überall stehen Trommeln und Figuren, Vasen verschiedener
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Größen, echte Blumen und solche aus Papier. In zwei Ständern sind Holzstangen
mit Ehrenzeichen angeordnet. Und inmitten all dieser Einrichtungen steht es –
das weiße Pferd.
»Aber wieso steht es nicht auf eigenen Füßen, sondern auf einem Podest mit
Rädern?«, wundert sich der aufmerksame Betrachter.
Linh hat auch dafür eine Erklärung: »Bei bestimmten Anlässen wird dieses Pferd
mit einer Prozession durch die Straßen gezogen.«
In der etwas abseits stehenden Sänfte wurde dann sicher der König getragen,
vermutet Eli.
Durch zwei Seitentüren betreten sie nun das Heiligtum. Auf dem Hauptaltar sind
Blumen und Geschenke aufgestellt. Ohne das verstehen zu können, bemerkt Eli
Früchte, Getränkedosen und allerlei Snacks. Ganz oben auf dem Altar steht ein
Symbol - nein, keine menschliche Figur, sondern eher eine Tafel mit
Schriftzeichen, die in goldene Tücher gehüllt ist. Und vor dem Altar liegt eine
Bastmatte.
Gespräche mit den Ahnen
Als Linh ihm gerade einiges erklären will, kommt eine junge Frau herein. An der
Hand führt sie einen Jungen, ungefähr vier oder fünf Jahre alt. In der anderen
Hand hält sie eine flache Schale, gefüllt mit Obst, einer Büchse Coca-Cola und
einer Packung Kekse. Auch ein paar Geldscheine sind zu sehen.
Sie spricht eifrig mit einem der Männer, die unsere beiden Besucher vorher im
Vorhof gesehen haben, und übergibt ihm schließlich die Schale. Damit
verschwindet der Mann durch eine Tür neben dem Hauptaltar, um die Opfergabe
auf dem Altar zu platzieren.
Die Frau hat inzwischen Räucherstäbchen entzündet und an verschiedenen
Stellen im Raum in bereitstehende, mit Sand gefüllte Gefäße gesteckt. Drei der
rauchenden Stäbchen hält sie in beiden Händen, als sie sich vor dem Altar drei
Mal verneigt. Dann kniet sie sich auf die Bastmatte und bedeutet dem Jungen, es
ihr gleich zu tun. Ihr Umhängetäschchen stellt sie neben sich und die Stäbchen
finden schließlich auch noch Platz in einem der Gefäße.
Mit einem Holzklöppel schlägt sie mehrfach an eine am Boden stehende, an
einer Seite aufgeschlitzte bronzene Kugel und ein heller Ton wie von einer Glocke
erfüllt den Raum. Wieder und wieder verneigt sie sich fast bis auf den Boden und
beginnt halblaut zu erzählen, als sie plötzlich bemerkt, dass ihre Opfergabe nicht
an dem Platz angelangt ist, den sie sich vorgestellt hat. Lautstark gibt sie dem
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Mann, der immer noch hinter dem Altar verharrt, Anweisungen, bis er schließlich
den richtigen Platz gewählt hat. Nun kann sie sich wieder ungestört ihrem Bericht
an die Ahnen widmen.
Doch dauert es nicht lange, bis sie durch Musik, die aus ihrer Tasche dringt,
gestört wird. Die Frau unterbricht ihr Gebet und entnimmt der Tasche ein Handy
und beginnt lautstark zu reden. Das klingt aber ganz anders, als das vorherige
demütige Gemurmel - laut und, wie es scheint, ein wenig ärgerlich.
»Spricht die Frau mit dem Mobile-Phon zu ihren Ahnen?« Der ungläubige
Unterton dieser Frage ist nicht zu überhören.
Nein«, erwidert Linh lächelnd. »Wir können nur mit lebenden Menschen
sprechen. Mit den Ahnen sprechen wir nur spirituell.«
Und etwas verlegen fügt sie hinzu: »Wir Vietnamesen haben andauernd etwas
mit irgendjemand zu bereden. Es scheint fast so, als könnten wir ohne Handy
nicht leben.«
Eine Tatsache, die dem Weltenwanderer später noch sehr, sehr oft bestätigt wird.
Die Frau hat sich inzwischen wieder ihrem Gebet oder dem Gespräch mit den
Ahnen zugewandt. Noch mehrmals betätigt sie den Klöppel, sodass immer wieder
ein heller Ton im Raum hängt. Sind das die Rufzeichen an die Ahnen?
Nach weiteren dreimaligen Verbeugungen mit den zusammengelegten
Handflächen erhebt sie sich, nimmt ihren Sohn an die Hand und verlässt das
Heiligtum.
»Ich werde dir das alles gleich erklären«, beruhigt Linh den verwunderten Gast.
»Doch vorher lass dir noch wiedergeben, welche Beobachtung mir Maik erzählte.
Wie du aus seinem Bericht über die Mopedfahrt gehört hast, wohnt er am
Stadtrand neben einer Pagode.«
Linh atmet einmal tief durch und beginnt:
»Eines Morgens hörte er fremdes Stimmengewirr aus dem Chua-Garten - nicht
das übliche Palaver der Chua-Weiber bei der Gartenarbeit. Ein Ong wurde
begrüßt.
Ein Paar im besten Alter, ein jüngerer Mann und eben der Großvater - groß,
rüstig mit strahlend weißem, kurzgeschnittenen Haar, waren dabei, auf einer der
wenigen Grabstätten im Garten viele Utensilien für eine private Zeremonie der
Ahnenverehrung auszubreiten:
Zwei Papierpferde, ein Strauß roter Rosen, eine große Blechschale mit allerlei
Früchten, ein gebratenes Huhn, Wasserflaschen und allerhand sonstiges
Papierzeug wurden kunstvoll drapiert und jede Menge Räucherstäbchen im
Umfeld eingesteckt.
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Dann hockte sich der Familienvater auf eine Plastikfolie nieder. Er hatte die
Schuhe ausgezogen. Lautstark erstattete er den Ahnen Bericht, nachdem er sich
vorher einige Stichpunkte auf einem Zettel notiert hatte. Offensichtlich gab es viel
zu erzählen. Maik konnte ab und zu die Straßennamen Vong Thi, Hai Ba Trung
und auch Tay Ho herausfiltern.
Während dieser Rede bekam der Jüngere von seiner Mutter Geldscheine
übergeben, die er auf dem Grab platzierte. Mehrere der grünen 100.000
VND–Scheine [1] waren dabei.
Währenddessen verharrten die anderen drei in ehrfurchtsvoller Gebetshaltung.
Nach Beendigung der Rede und als die Räucherstäbchen niedergebrannt waren,
wurde das gesamte Papierzeug auf dem üblichen Zündelplatz verbrannt. Nachdem
die Flammen ihr Werk getan hatten, wurden die übrig gebliebenen Lebensmittel
und sicherlich auch das Geld wieder eingesammelt und die Gesellschaft
entschwand.
Zurück blieb der Rosenstrauß mit einem Kerzenlämpchen und ein neuer
Aschehaufen.«
Ahnenverehrung
Nach dem Erlebnis im Tempel und der Erzählung Maiks ahnt Eli, dass die
Beschäftigung mit den Ahnen für die Vietnamesen sehr wichtig sein muss. Doch
vieles von dem Erlebten ist ihm unverständlich.
Also ist Linh wieder an der Reihe mit ausführlichen Erläuterungen:
»Mit den Toten muss man sich gut stellen«, beginnt Linh sogleich. »Sie leben in
der Vorstellung vieler Vietnamesen im Jenseits weiter. Ob als gute oder böse
Geister, das hängt davon ab, wie die Lebenden im Diesseits sich um ihre Ahnen
kümmern. So wie im richtigen Leben, versorgen wir unsere Ahnen mit Speisen
und Getränken und mit Geld. Damit sie gut wohnen können, beschaffen wir
ihnen ab und zu ein neues Haus, schicken ihnen neue Bekleidung und für ihre
Fortbewegung erhalten sie von uns Pferde und Autos. Das alles senden wir mit
der Flammenpost zu ihnen - die Speisen und Getränke im Rauch der
Räucherstäbchen und alles andere, in dem wir die symbolischen Darstellungen
verbrennen. Wenn die Räucherstäbchen abgebrannt sind, haben die Ahnen das
Geschenk angenommen und laden die Spender zum Verzehren ein. Sind die toten
Seelen zufrieden, dann halten sie ihre schützende Hand über die Familie. Man
kann sie auch um Beistand oder um Rat bei wichtigen Entscheidungen bitten. So
hat es sicherlich auch die Frau getan, die wir vorhin beobachtet haben.«
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Das alles hat der Gast aus den anderen Welten zumindest in großen Zügen
verstanden. Und so wundert er sich in seiner ganzen Zeit in Hanoi nicht mehr, an
welchen Stellen er überall kleine Hausaltare bemerken kann - ob in den
Geschäften oder in der Bank, im Office oder im Kindergarten und natürlich in
den Wohnungen und Häusern. Er bemerkt auch die großen Unterschiede, mit
denen die verschiedenen Menschen diese Stätten der individuellen
Ahnenverehrung pflegen - von der lieblosen Routine bis zur hingebungsvollen
Andacht.
Mit einer gewissen Belustigung beobachtet er einige Zeit später, dass sich sogar
bei der Ahnenverehrung in Vietnam ein Markenbewusstsein entwickelt hat. Da
werden eben nicht nur die traditionellen Stiefelchen per Flammenpost zu den
Ahnen geschickt, sondern da will man auch schon mal mit einem Paar
Hochhackigen Eindruck schinden. Ob die Oma oder Ba, wie es auf Vietnamesisch
heißt, damit wirklich glücklich wird und gut zu Fuß sein kann?
Für die Fortbewegung der Ahnen stehen auch nicht mehr nur die traditionellen
Pferde zur Verfügung. Nein, PKW sind der Trend. Und da darf es doch auch
gleich mal ein Mercedes sein. Dass man für die Unterkunft der Ahnen nicht
einfach das Abbild der bescheidenen Hütte schickt, in der vielleicht schon die
Ahnen gewohnt hatten, ist dabei verständlich. Ein schmuckes Häuschen soll es
schon sein. Eli ist gespannt, wann die ersten Hochhäuser oder gar einer der neuen
Super-Tower in der Version für die Ahnen auftauchen werden.
Aber so manche Beobachtung kann der Gast aus der anderen Welt eben auch
nicht verstehen. So zum Beispiel, als er in einer Gaststätte einen Mangosaft
bestellt und ein Junge aus der Küche eine Mangofrucht aus dem Altar entnimmt,
um diese zu seinem Saft zu bereiten. War die Küche nur nachlässig und hatte
nicht genügend Vorrat eingekauft oder haben die Ahnen dieses Restaurants ihn,
den Weltenwanderer, eingeladen, gemeinsam mit ihnen den Saft zu genießen?
Oft und lange grübelt er darüber, ob die Ahnen die Flammenpost in der heutigen
Zeit auch immer noch so gut finden. Denn schließlich werden viele der zu
verbrennenden Symbole in der modernen Welt nicht mehr nur aus Papier
hergestellt. So geraten häufig auch Materialien aus Kunststoff mit ins Feuer, was
nicht gerade förderlich für die Umwelt ist. Die empfindsame Nase unseres kleinen
Helden signalisiert ihm mehr als einmal, dass in seiner Umgebung nicht nur Laub
oder Papier verbrannt wird. Und das macht ihn traurig. Wann werden diese
giftigen Dämpfe wohl auch seine eigenen Welten heimsuchen?
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Religiös-spirituelle Stätten
In ihren Erklärungen hat Linh sehr oft die Begriffe Chua, Den und Dinh
verwendet, sodass diese unserem Eli schon bald im Kopf herumschwirren.
»Weißt du, so manchmal geht das bei den Leuten mit den Bezeichnungen etwas
durcheinander«, beruhigt Linh den Kleinen, als sie dessen Verwirrung bemerkt.
»Wie ich mir das so eingeprägt habe, erkläre ich dir gleich. Aber sicherlich gibt es
auch noch eine umfangreichere und wissenschaftlichere Erläuterung.«
Und damit erhält der Weltenwanderer schon seine zweite Lektion - diesmal über
die religiös-spirituellen Stätten in Vietnam:
In einem Den werden hauptsächlich weltliche Lebewesen verehrt. Das sind
meistens historisch bedeutsame Persönlichkeiten und davon gibt es auch in
Vietnam viele. Aber auch Tiere und Bäume finden die Aufmerksamkeit der
Spender und Bittsteller.[2]
Chua ist eigentlich die Bezeichnung für das zentrale Heiligtum in einer
buddhistischen Tempelanlage. Hier stehen viele Figuren aus der buddhistischen
Glaubenswelt.
Die Bezeichnung Chua wird aber sehr oft auch für die gesamte Anlage
verwendet, in der die Buddha-Statuen auch durch andere Götter und Ahnengeister
der Volksreligion begleitet werden. Und in einigen Chua haben auch
verdienstvolle Persönlichkeiten der Vergangenheit ihren Ehrenplatz gefunden, wie
zum Beispiel der Begründer des Wasserpuppentheaters in der sogenannten
Meisterpagode Chua Thay. Nicht fehlen dürfen in einem Chua die
Wächterfiguren. Auch wenn sie grimmig drein blicken, denn schließlich sollen sie
ja den bösen Geistern den Zutritt verwehren, so wollen sie auch freundliche
Besucher begrüßen.
Im Aberglauben vieler Vietnamesen ist der Gedanke tief verwurzelt, dass man
mit Gaben, insbesondere auch mit Geld, neben den Ahnen auch die Götter und
Geister friedlich stimmen kann. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass an vielen
Stellen in den Chua und Den Geldscheine abgelegt werden. Vor den großen
Statuen stehen verschlossene Boxen. Aber auch die kleineren Statuen sowie die
Bildnisse von Bäumen und Tieren und auch die Wächterfiguren bekommen ihre
Geldscheine zugesteckt. Meist sind das Banknoten bis 5.000 VND, für die deshalb
im Volksmund auch die Bezeichnung Pagodengeld kursiert.
Und mit dem Rauch von Räucherstäbchen werden Botschaften an die
Schutzpatronen gesandt.
Einen etwas anderen Charakter haben die Dinh - die Gemeindehäuser. Sie
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dienen gleichzeitig als Versammlungs- und als Kultstätten, aber kaum der
Verehrung von Buddha.
Ganz Vietnam ist von einem dichten Netz von Tempeln, Pagoden und
Gemeindehäusern überzogen, das auch noch von Kirchen verschiedener
christlicher Glaubensrichtungen ergänzt wird.
Die Zeremonie im Dinh Vong Thi
Lauter Trommelklang weckt das Interesse der beiden. Es kommt aus dem
Gemeindehaus direkt am Ho Tay, dem Westlake. Und flugs lenken sie ihre
Schritte dahin.
Das ganze Gelände ist festlich geschmückt mit Fahnen und Wimpeln.
Auf dem Plateau vor der Halle stehen vier große Pauken auf Holzstellagen. Sie
werden von vier Frauen geschlagen. Diese tragen rote weite Hosen und gelb-rot
abgesetzte Oberteile. In ihre Haare haben sie bunt bestickten Kopfschmuck
gesteckt. Die großen Schlegel aus Holz sind mit roten und grünen Bändern
beklebt. Etwas zurückgesetzt steht ein Mann, analog gekleidet. Er bedient Schellen
und Becken. Und in der Mitte, vor einer noch größeren Pauke, steht die
Oberpaukerin. Ihr rotes Oberteil ist besonders festlich mit Glasperlen bestickt.
Vor diesem Ensemble sind zwei Reihen zu je vier Trommeln aufgestellt. Im Takt
der Klänge aus Schlägen auf die Trommelfelle, auf die Holzkörper und die
Schlegel gegeneinander wiegen sich acht ganz in rosé gekleidete Frauen und
tanzen auch um die Trommeln herum. Ihre dunklen Haare sind mit weißen
Haarbändern zusammengesteckt.
Dieses Orchester spielt ganz unterschiedlich Rhythmen von dezent bis mächtig
gewaltig. Und gibt damit den Auftakt für eine Zeremonie.
Nun wechselt die Szene.
Sechzehn Männer haben sich in zwei Reihen hintereinander aufgestellt. Sie
tragen lange, bis zum Hals geschlossene Gewänder. In die blaue Seide sind weiße
kreisförmige Ornamente gewebt. Unter dem Gewand lugen lange weiße Hosen
hervor. Ihre Beinenden stecken in den schwarzen Schäften von Stiefeln aus Stoff.
Bis zum Knöchel sind diese bunt bestickt. Die Sohlen aus Filz sind vorn
hochgezogen und auf dieser Fläche ist ein Schriftzeichen in Rot eingestickt.
Bemerkenswert sind auch die Mützen. Blaue Trapeze sind auch bunt bestickt. An
der Rückseite reichen zwei blaue Bänder bis auf den Rücken.
Der Anführer der Gruppe trägt das gleiche Outfit, aber alles ist in Rot gehalten.
Mit einer großen Pauke gibt ein älterer Herr den Takt an und ein Ansager gibt
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für jede Schrittfolge und Handlung das Kommando. Die Texte konnte er sich
sicherlich nicht alle merken. Er hat sie auf einen Zettel aufgeschrieben, den er
mehr oder weniger geschickt in seinem großen blauen Ärmel verbirgt. Sein
wichtiger Posten bietet ihm aber ab und an auch noch Zeit für eine Zigarette
zwischendurch.
Die Gruppe hat nun den Innenraum erreicht und bringt symbolische Geschenke
und Posen der Ehrerweisung dar.
Doch wem wird hier gehuldigt?
Linh hat es herausgefunden und berichtet ihrem Schutzbefohlenen in kurzen
Worten:
»Vor fast tausend Jahren bewahrte in einem Dorf am Ho Tay ein Fischer seinen
König vor einem Attentat. Als bescheidener Mensch lehnte er die ihm daraufhin
zuteil werdenden vielen Ehrungen und gesellschaftliche Höherstellung ab. Er
wollte lieber Fischer bleiben. Heute ist dieses Dorf längst ein Stadtteil von Hanoi.
Aber seine Bewohner verehren den Fischer immer noch in ihrem Dinh - dem
Gemeindehaus. Und zwei Mal jährlich findet zu seinem Geburts- und Todestag
ein Dorffest mit einer großen Zeremonie statt.«
Im letzten Innenraum sind vor der Symbolfigur des zu Verehrenden die
wirklichen Geschenke aufgebaut: Diese reichen von den üblichen Keksen und
Snacks über Getränke und Obst bis zu fleischlichen Gaben – ja, sogar ein
richtiger, gekochter Schweinskopf steht da.
Und zahlreiche Spendenquittungen - an Stelle eines Eintrittes entrichten die
vielen Besucher eine Spende - sind dort deponiert.
Schon wieder hat die Szene gewechselt. Nun sind die Frauen die Akteure.
Sie werden angeführt von einer bunt gekleideten Tanzgruppe, die auch schon bei
den Trommlerinnen mitwirkte. Jetzt erheischen sie mit Schellen und Glöckchen
die Aufmerksamkeit.
Die Frauen selbst sind in einfarbig gelbe Gewänder gekleidet, die mit einem
breiten Gürtel zusammengehalten werden. Auch sie tragen weiße Hosen, aber
schlichte einfarbig weiße Schuhe. Ihr ringförmiger Kopfschmuck besteht aus
mehreren Lagen roter Streifen, die etwas versetzt übereinander fast eine Art
Krone bilden und khan dong genannt werden[3]. Breite Bänder reichen von
diesem Schmuck bis fast an die Hüfte.
Wie bei den Männern ist auch die Anführerin rot gekleidet. Und als Taktgeberin
hat die Obertrommlerin an der großen Pauke Platz genommen und die
Kommandos werden auch von einer Frau gegeben. An der Spitze des Zuges
tragen mehrere Frauen paarweise große Schalen, auf denen Geschenkpäckchen
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und Früchte sich türmen. Nachdem diese Gaben in der Vorhalle platziert sind,
gehen alle nachfolgenden Damen auf die Knie und verneigen sich tief.
Die beiden aufmerksamen Beobachter registrieren, dass die Frauen nur bis zu
der Vorhalle gelangen. Der Zutritt zu der Haupthalle ist ihnen also auch bei der
Zeremonie verwehrt.
Und sie haben auch bemerkt, dass sich nun, da sich die Zeremonie dem Ende
zuneigt, der Hof doch sehr mit Besuchern gefüllt hat. Deren Aufmerksamkeit
scheint aber größtenteils nicht der Zeremonie selbst zu gelten, sondern den im
Hintergrund stattfindenden Hahnenkämpfen und der sich dann anschließenden
Festtafel.
Tatsächlich haben fleißige Hände fast unbemerkt unter zwei großen Zeltdächern
für über hundertfünfzig Personen die Tische eingedeckt. Darauf finden sich
Essschüsseln, Stäbchen und Löffel sowie Teller und Schüsseln mit allerlei
Gemüse, und natürlich Reis und Nudeln.
Als die ersten Gäste Platz genommen haben, werden Suppe und gekochte Wurst
zusätzlich gereicht. Zu den bereitstehenden Getränken wie Bier, Wasser und Cola
wird dann auch sehr bald Reisschnaps ausgeschenkt und der Geräuschpegel der
lautstarken Unterhaltungen steigt sehr schnell an.
Auch Linh und ihr Gast werden mit zu Tisch gebeten. Aus den Erzählungen der
Leute und Linhs Übersetzung erfährt Eli noch, dass die Darsteller der Zeremonie
alles Laien aus dem ehemaligen Dorf und jetzigen Stadtteil von Hanoi sind. Die
Anführer der Prozession der Männer und Frauen werden auf Lebzeiten gewählt
und geben den Posten dann ab, wenn sie körperlich nicht mehr in der Lage dazu
sind. Die Trommlerinnen haben wochenlang vorher geübt – sehr zur Freude oder
auch zum Leidwesen der anliegenden Nachbarn.
Danach verflachen die Gespräche und der kleine Gast scheint in einem Meer der
Geräusche zu versinken.
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Besuch bei Onkel Ho
Am Mausoleum
CHU TICH HO CHI MINH (Präsident Ho Chi Minh)
So prangt es in großen Lettern aus rötlich-braunem Marmor an dem großen
Steinkoloss aus grauem Granit, zu dem Eli ehrfürchtig empor schaut. Über
zwanzig Meter hoch, so steht das Bauwerk dominierend in seiner Umgebung. Es
erinnert etwas an einen griechischen Tempel mit seinen angedeuteten Säulen, die
aus ebenfalls rötlich-braunen Marmorflächen hervortreten. Aber die harten
Kanten und die geometrisch exakte Gestaltung betonen andererseits einen völlig
anderen Baustil und verstärken eher einen Ehrfurcht gebietenden Eindruck.
Von seinem Standpunkt an der Frontseite des Gebäudes lässt Eli seinen Blick
über eine große Fläche aus quadratischen Rasenfeldern schweifen, die von
Steinplatten akkurat abgegrenzt werden. Zu beiden Seiten des Gebäudes erblickt
er steinerne Tribünen mit Losungen in, wie es ihm scheint, riesengroßen
Buchstaben. Am Gebäude selbst hebt sich zu ebener Erde ein Eingangsbereich
aus schwarzen und braunen Platten vom grauen Stein ab, in dem eine
zweiflügelige Tür aus hellbraunem Holz den Zutritt bei offiziellen Anlässen
gestattet. Meist ist diese Tür aber geschlossen. Zwei in strahlendem weiß
gekleidete Posten halten die Ehrenwache.
»Wir stehen hier am Mausoleum, der letzten Ruhestätte von Ho Chi Minh. In
einem Glassarg liegt er da, einbalsamiert«, erklärt Linh mit ehrfurchtsvoller
Stimme. »Für einen guten Vietnamesen ist es selbstverständlich, mindestens
einmal im Leben die Ruhestätte des großen Vorbildes zu besuchen. Ich bin schon
einmal mit meiner Schulklasse hier gewesen. Wollen wir auch hineingehen?«
Als Eli die nicht enden wollende Schlange der Wartenden erblickt, erscheint ihm
das nicht sehr verlockend. Nein, das will er sich doch nicht antun - bei allem
Respekt vor dem ihm unbekannten, aber offensichtlich sehr wichtigen Menschen.
Zum Glück treffen sie Heike, die gerade mit ihrem Sohn und ihrer Tochter das
Mausoleum besichtigt hat. Und so lauschen Eli und Linh Heikes Schilderung ihrer
Eindrücke.
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Erzählung von Heike über ihren Besuch im Mausoleum
»Natürlich wollten wir uns den Besuch in diesem touristischen Anziehungspunkt
für Hanoi–Besucher nicht entgehen lassen.
Die Öffnungszeiten sind ja begrenzt: Montag und Freitag geschlossen, an den
übrigen Tagen von 8 bis 11 Uhr und im Oktober und November zwecks
Auffrischung der Mumie ganz geschlossen. Deshalb ist hier immer viel los. Als wir
uns zum Eingang begaben und die scheinbar endlose Menschenschlange und die
vielen Reisebusse sahen, hatten wir uns schon auf eine lange Wartezeit eingestellt.
Jedoch werden die Besucherströme so akribisch und perfekt organisiert, dass
auch eine fünfhundert Meter lange Schlange nicht mehr als fünfundvierzig
Minuten Wartezeit bedeutet.
Und gerade die Wartezeit war sehr interessant. Wir konnten beobachten, wie
Schulkinder in Uniformen aus Bussen quollen und einige, die Schaukelfahrt wohl
nicht gewohnt, sich erst mal am nächsten Straßenbaum erbrachen. Vietnamesische
Senioren, so schlank und zierlich und einfach gekleidet, reihten sich ein.
Manchmal mit blinkenden Orden an der Brust, und wir fragten uns, wie sie den
Krieg wohl erlebt hatten. Wir mussten auch feststellen, dass manche Vietnamesen
es nicht so genau mit dem Anstellen nehmen und plötzlich vor einem stehen und
dass sie sich auch gern mal an fremde Leute anlehnen. Alle zwanzig Meter in der
Schlange stand ein Uniformierter und passte auf, dass keiner Faxen machte und es
dem Anlass entsprechend würdig zuging. Die Menschenschlange wurde durch
Kontrollhäuschen geleitet, wo die Frauen ihre Handtasche öffnen mussten und
gefragt wurden, ob sie ein Messer dabei hätten.
Später wand sich die Schlange durch einen Pavillon, in dem ein Röntgengerät
und ein Türrahmenscanner stehen, ganz so wie auf dem Flughafen. Besucher, bei
denen Fotoapparate und Handys gescannt wurden, bekamen rote
Neopren-Täschchen in die Hand gedrückt und mussten dort hinein ihre
Elektronik verstauen. Wieder war Wundern angesagt. Aber dreißig Meter weiter
gab es die Erklärung, warum, denn dort mussten diese roten Täschchen
abgegeben werden und wir bekamen dafür eine Marke mit Nummer. Inzwischen
waren wir schon auf dem eigentlichen Vorplatz des Mausoleums angekommen.
Ab und an stoppte der Vormarsch, um angemeldete Gruppen oder Schulkassen
vorzulassen. Der gesamte Weg der Menschenschlange ist zum Schutz vor Sonne
und Regen überdacht. Flachbildschirme alle zwanzig Meter unterhalten mit
bunten Bildern von Parteifeierlichkeiten und historischen Ereignissen.
Etwa achtzig Meter vor dem Ziel wurden wir aufgefordert, in Zweierreihen zu
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gehen. Das war etwas schwierig, denn wir waren ja zu dritt unterwegs und die
Gruppen vor und hinter uns hatten auch gerade Teilnehmeranzahlen. Direkt am
Eingang der letzten Ruhestätte Ho Chi Minhs stehen stets frische Kränze, die von
verschiedenen Besuchergruppen mitgebracht wurden. Vor dem Eintritt ins
Mausoleum steht nun alle drei Meter ein Soldat in weißer Paradeuniform und gibt
Anweisungen, Sonnenbrillen und Kappen abzusetzen und »die Klappe zu halten«.
Bekleidungsstücke wie Tops mit Spaghettiträger, Miniröcke und Shorts werden
schon gleich beim Eintritt durch Umhüllen mit Tüchern oder gar durch
Umkleidung korrigiert. Es ist ja auch kein Jahrmarkt, sondern eine Gelegenheit,
dem Toten, dessen Name in den 70er Jahren in allen europäischen Hauptstädten
auf Anti-Kriegs-Demonstrationen im Chor gerufen wurde, die letzte Ehre zu
erweisen.
Beim Eintreten ins Mausoleum schlug uns eine unglaubliche Kälte entgegen. Ich
schätze mal so ungefähr acht Grad Celsius. Wir stiegen Stufen empor und wurden
von den Soldaten, die jetzt alle zwei Meter stehen, dazu angehalten, zügig
durchzugehen. Alles ohne Worte. Dann erreichten wir endlich den oberen
Innenraum, wo der Sarg steht. Auf einer Art Brüstung geht man an drei Seiten des
Sarges entlang, der von vier Paradesoldaten flankiert wird. Wir fragten uns, ob das,
was man sieht, wohl echt oder eine Wachsfigur ist. Stehen bleiben und in Ruhe
alles angucken, das ist nicht möglich und - schwupps - waren wir wieder draußen
im warmen Licht. Drinnen hatte ich auch noch einen tonlosen Rüffel kassiert.
Wegen der Kälte hatte ich die Arme verschränkt und wurde aufgefordert, sie
gerade herunterhängen zu lassen. Anschließend konnten wir noch unsere
Elektronikgeräte abholen, die nun offen ohne Tasche in einem Regal herum
lagen.«
Damit beendet Heike ihre Schilderung. Eli ist sich nicht so ganz sicher, wie er
diesen Bericht werten soll. Und als Heike seine fragenden und unsicheren Blicke
bemerkt, ergänzt sie noch:
»Wenn man über Onkel Ho‘s Leben und seine Absichten etwas mehr gelesen
hat, weiß man gar nicht so genau, ob es ihm recht gewesen wäre, dass jeden Tag
Tausende Menschen durchs Mausoleum ziehen.« Und damit lassen Heike und ihre
Kinder Linh und Eli allein.
Im Umfeld des Mausoleums fallen Eli die vielen, weiß gekleideten Uniformierten
auf. Deren gelangweilte Haltung und Bewegungen haben aber hier mit denen
eines Ehrenpostens wenig zu tun.
Später ergibt sich für die beiden noch die Gelegenheit, den schönen Park und
das historische Gartenhaus auf Stelzen zu besichtigen und sich von der
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bescheidenen Lebensweise des Präsidenten beeindrucken zu lassen. Da sitzt
tatsächlich Bac Ho, wie ihn die Vietnamesen zum Teil heute noch liebevoll
nennen, sogar im Garten, bereit zu einer Audienz, wenn auch nur als
Bronzeplastik.
Und hier treffen sie Verena, die ihnen von einem anderen Besuch bei Bac Ho
erzählt.
»Die bedeutendste Persönlichkeit in der Neuzeit Vietnams ist zweifellos Ho Chi
Minh. Deshalb nimmt es auch nicht Wunder, dass sich an vielen Orten Stätten der
Verehrung finden, an denen man es wirklich nicht vermuten würde.
Es war an einem meiner ersten Arbeitstage in einem staatsnahen Finanzinstitut
in Hanoi. Bevor ich mein Arbeitszimmer in der vierten Etage erreichte, drängte
sich der Geruch von Räucherstäbchen in meine Nase. Neugierig folgte ich diesem
Duft und entdeckte die Quelle.
Hinter einer dunklen zweiflügeligen Tür, die durch zwei fast mannshohe
japanische Steinlampen flankiert wird, erstreckt sich ein Raum in schummrigem
Licht. Der Zutritt wird durch eine sehr hohe Schwelle erschwert. Erst später habe
ich gelernt, dass sich dadurch die Besucher automatisch vor dem zu Verehrenden
verneigen sollen. Eine im Raum stehende massive Holzwand verwehrt neugierigen
Blicken den Zugang. Also stellte ich meine Schuhe auf die vor dem Zugang
liegende Matte, stieg über die hohe Schwelle und schlängelte mich an der
Holzwand vorbei. Die vietnamesischen Schriftzeichen konnte ich sowieso nicht
entziffern. Und dann traute ich meinen Augen kaum. Dieser Raum, ungefähr in
den Ausmaßen von sechs mal sechs Metern, entpuppte sich als kleiner Tempel. Er
wird dominiert von einem hohen Altar, dessen Ablagefläche ich gerade so
erreichen könnte. Auf dieser Fläche steht ein Gefäß mit brennenden
Räucherstäbchen, deren Duft mich hierher geführt hatte. Zwei Vasen mit frischen
Blumen und zahlreiche Gaben füllen die Fläche. Ich erkannte Dosen von Bier und
Cola, Schalen mit frischem Obst und aufgestapelte Packungen von
Leibnitz-Keksen.
Der Altar wird rechts und links flankiert von zwei großen Vögeln aus Bronze, die
jeweils auf einer Schildkröte stehen. Rechts steht auch noch eine fast mannshohe
Vase mit künstlichen Lotusblumen. Daneben hängt eine Trommel, die auf der
anderen Seite von einem Gong komplementiert wird.
Ja, und oben auf dem Altar, noch mal durch ein Podest erhöht, thront »ER« - Ho
Chi Minh - als ungefähr ein Meter große Bronzefigur. Er sitzt und hält ein Buch
auf den Knien.
Nachdem ich meine Verwunderung überwunden hatte, verließ ich ehrfurchtsvoll
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den Raum und entdeckte dann über dem Eingang noch die Inschrift:
Phong tuong niem CHU TICH HO CHI MINH (Gedächtnisstätte für Präsident Ho Chi
Minh)
Später habe ich diesen Raum noch einige Male betreten. Dann in Begleitung
meiner Kollegen, die zu offiziellen Anlässen dem großen Lehrer huldigten. Sie
sprechen immer von der Chua, aber eigentlich ist es doch ein Den - ein Tempel?
Bis heute habe ich nicht erkunden können, von wem denn die Opfergaben
stammen und wer dann letztendlich in deren Genuss kommt. Aber einmal
brachten mir meine Kolleginnen aus der Chua einen großen Blumenstrauß.«
Verena wirft einen Blick auf die Uhr und verabschiedet sich. Sie ist im Park mit
ein paar Freundinnen verabredet und muss sich sputen.
Eli hebt die Hand zum Gruß und ist schon gespannt, wer als Nächstes vorbei
kommen wird, denn offenbar ist immer jemand aus Linhs Freundeskreis zur
Stelle, um ihm mit einer Geschichte Land und Leute näher zu bringen. Doch
momentan bewegt ihn etwas ganz anderes: Die vielen Erlebnisse und Erzählungen
haben ihn hungrig gemacht.
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Nudelsuppe mit Stäbchen
In einer Garküche
»Könnten wir vielleicht etwas essen?« Mit diesen Worten wendet sich Eli
schüchtern an seine Begleiterin.
Linh ist keineswegs beleidigt. Im Gegenteil.
»Ja, ich bin auch hungrig«, sagt sie und strahlt ihn an. »Komm, lass uns eine Pho
essen.«
Zielstrebig steuert sie auf einen der auf dem Fußweg stehenden Tische zu und
setzt sich auf einen der niedrigen blauen Plaste-Höckerchen. Eli tut es ihr gleich.
Mit seiner Körpergröße hat er damit kein Problem. Er beobachtet aber belustigt,
wie viele der meist größeren, hier anwesenden Ausländer sich bemühen, ihre
langen Beine in dem geringen Platzangebot zwischen Hocker und Tisch zu
verstauen. Und da viele der »Gäste mit den langen Nasen« auch noch ziemlich
beleibt, um nicht zu sagen dick sind, bedarf es dazu schon einigen Geschickes und
einiger Verrenkungen.
Auf dem Tisch stehen röhrenförmige Behältnisse. Aus ihnen ragen lange braune
Holzstäbchen hervor und in einem Seitenfach stecken schaufelförmige
Blechlöffel. Verschiedene Flaschen, Gläser, Schüsselchen und Schälchen mit
roten, braunen und weißlichen Flüssigkeiten und Pasten und ein Ständer mit
weißen Papiertüchlein vervollständigen das Ensemble auf dem Tisch. Und
während der Kleine das alles betrachtet, stehen plötzlich zwei große irdene
Schüsseln vor ihnen. Daraus dampft eine gut riechende Brühe, in der allerhand
Grünzeug, Fleischstücke und lange weiße Nudeln schwimmen.
Linh hat inzwischen für sich und ihren Gast je zwei der Stäbchen und einen der
Schaufel-Löffel mit einem der Papiertücher abgewischt und parat gelegt. Nun
beginnt sie, verschiedene der Flüssigkeiten und Pasten in ihre Suppe zu schütten.
Als Eli dies nachahmen will, warnt sie ihn: »Sei vorsichtig! Die Gewürze sind
teilweise sehr scharf und du musst erst probieren, was dir schmeckt und
bekommt. Wir Vietnamesen lieben scharfe Würzen und viel Knoblauch.« Damit
deutet sie auf das Glas, in dem in der weißlichen Brühe kleine Stücke schwimmen.
Nun gut, das ist recht einfach zu bewältigen und mit Genuss löffelt Eli die
wohlschmeckende Brühe. Aber nun kommt die große Herausforderung. Linh hat
inzwischen damit begonnen, geschickt mit den beiden Stäbchen Fleischstücke und
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Gemüse aus der Suppe zu fischen und zu verzehren. Und mit den Stäbchen und
dem Löffel bereitet es ihr scheinbar gar keine Mühe, die langen Nudeln so weit
aus der Suppe zu heben, dass sie diese schlürfen kann.
Das will aber Eli überhaupt nicht gelingen. Verstohlen schaut er sich um. Wie
machen das die anderen Ausländer? Mit leichter Genugtuung stellt er fest, dass
einige von ihnen genau mit den gleichen Problemen kämpfen müssen wie er
selbst. Aber andere haben offensichtlich schon so viel Übung und Routine, dass
sie sich in ihrem Essverhalten kaum von den Vietnamesen unterscheiden. Wie
haben sie das nur geschafft?
Nun, Linh wäre keine gute Gastgeberin, wenn sie die Nöte ihres Gastes nicht
sehr bald bemerkte. Geduldig erklärt sie ihm die Handhabung der Stäbchen. Und
siehe da, nach einigem Üben gelingt es Eli, nach und nach das Fleisch und die
Nudeln in seinen Mund zu befördern. Und es schmeckt lecker!
Mit großem Appetit und Vergnügen verzehren sie ihre Nudelsuppe mit
Rindfleisch, denn so heißt die traditionelle pho bo.
Als sich Eli dann nach dem Essen gemütlich zurück lehnen will, fällt ihm zum
Glück gerade noch rechtzeitig ein, dass er ja nicht auf einem Stuhl sitzt, sondern
nur auf einem Hocker.
Bun cha, Com Binh Dan und Lau
Im Laufe seines Aufenthaltes in Hanoi lernt der Besucher dann auch noch eine
zweite Variante der Nudelsuppe kennen: pho ga mit Hühnchenfleisch.
Aber das ist noch längst nicht alles, was die Garküchen so zu bieten haben. Eine
ganze Reihe von köstlichen Gerichten und die Art und Weise der Zubereitung
und Darbietung werden Eli auch später in Erinnerung bleiben. Mit seiner
systematisierenden Denkweise hat er sie für sich wie folgt beschrieben und
gespeichert:
Bun cha - Nudeln mit Gegrilltem
Vor einem Holzkohlefeuer hockt eine Frau. Im Schweiße ihres Angesichts hält
und wendet sie Drahtgitter über die Glut. In diese Gitter sind
Hackfleischbällchen, Schweinebauchstücke oder Filetscheiben eingeklemmt, die
über der Glut gegrillt werden. Die Gitter werden von einem jungen Mann auf
Vorrat gefüllt und vor der Grillerin griffbereit gestapelt.
In dieser Garküche wird hauptsächlich Bun cha angeboten, eine Hanoier
Spezialität.
Serviert wird dieses gegrillte Fleisch - eben das cha - in einer heißen Brühe aus
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verdünnter Nuoc mam (Fischsoße) mit Kohlrabistücken. Vor den Gästen werden
dabei Teller mit kalten Reisnudeln (Bun), jede Menge Grünzeug, Zitronenstücken
aufgebaut und auf dem Tisch stehen selbstverständlich die schon bekannten
Behältnisse mit Stäbchen und allerlei Gewürzen.
Je nach individuellem Geschmack wird die Brühe angerichtet. Und dann beginnt
wieder das abenteuerliche Spielchen. Mit den Stäbchen werden Portionen von
Nudeln und Grünzeug in die Brühe getaucht, die man dann nach leichtem
Angaren wieder herausfischt und im Wechsel mit den Fleischstücken verzehrt.
Com Binh Dan – Volkstümliches Essen
In einer Theke stehen unzählige Teller und Schüsseln mit verschiedenen Arten
von Gemüse, Fleisch und Fisch. Sie werden noch ergänzt durch gekochte und
gebratene Eier und gebratene Frühlingsrollen. Und zumeist dürfen die
klitzekleinen Garnelen - gekocht, gebraten oder getrocknet - nicht fehlen. Ab und
an stehen auch noch Teller mit Raupen oder Larven oder sonstige Abstrusitäten
zum Angebot.
Hinter der Theke dampft aus einem großen Kessel körniger Reis. Die Brühe im
kleineren Kessel daneben ist schon etwas abgekühlt.
Der Gast erhält auf einem großen Teller eine Portion Reis und artikuliert der
Austeilerin auf Vietnamesisch oder mit Fingerzeig seine Wahl an Fleisch und
Beilagen. Das alles wird auf dem Teller platziert.
Auf dem Tisch stehen dann, wie sollte es anders sein, die Behältnisse mit
Stäbchen, Schaufellöffel und Gewürzen.
Zu seinem Hauptgericht bekommt man noch ein Schälchen mit der Brühe und
dann schlürft, schaufelt und schmatzt man alles in sich hinein. Das Gemüse und
Fleisch wird fein portioniert mit den Stäbchen gegessen, die Brühe natürlich mit
dem Löffel. Der Reis geht seinen Weg entweder nur per Stäbchen oder mit
Stäbchen und Löffel und oftmals wird der letzte Rest an Reis dann noch mit der
restlichen Brühe gemischt.
Lau - Feuertopf
Auf dem Tisch steht ein transportabler einflammiger Gaskocher oder, schon
etwas moderner, ein Elektrokocher. Darauf steht er - der Lau oder Feuertopf. Je
nach Wärmezufuhr brodelt und dampft in ihm die Brühe oder sie köchelt nur still
vor sich hin. Und in diese Brühe kommt nun vielerlei Essbares hinein:
Verschiedene Fischsorten in Stücken oder sogar auch im Ganzen, Garnelen,
Schnecken und Muscheln, Fleisch und natürlich Gemüse.
Während man Pho, Bun oder Com auch jederzeit allein essen kann, so ist ein
Lau eher ein gesellschaftliches Ereignis mit mindestens zwei Personen.
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Jeder Gast bereitet sich aber sein eigenes Menü in dem zentralen Topf zu, wenn
nicht gerade ein anderer die Einlage seiner Wahl weggeschnappt hat. Nach der
entsprechenden Garzeit fischt sich jeder seine Einlage mit einem Schöpflöffel
oder mit den Stäbchen heraus.
Diese Speisenarten sind im Prinzip alle ähnlich. Sie unterscheiden sich nur etwas
in der Rezeptur, im Geschmackssinn der Köchin und auch im Preis.
Natürlich bekommt der Gast aus den fernen Welten im Laufe seines
Aufenthaltes in Hanoi noch viele andere Speisen angeboten. Da sind dann auch
Sachen dabei, bei denen schon beim bloßen Angebot die inneren Organe mancher
Ausländer in Aufruhr geraten: Raupen und Würmer, Schlangen und Schildkröten,
Fledermäuse, Hund und Katze und einiges anderes mehr. Aber das stört Eli
wenig. Schließlich sind in seinen anderen Welten die Nahrungen auch sehr
ungewöhnlich.
Lokalitäten
Wo und wie man aber diese Speisen zu sich nehmen kann, da beobachtet Eli
schon erhebliche Unterschiede im Niveau:
Man hockt sich in einem mehr oder weniger dunklen Verschlag, der die
Bezeichnung Gastraum wirklich nicht verdient, auf Bretterbänke oder
Plastehocker an langen Tafeln. Oft genug steht auch noch ein Fass Bier in
Reichweite. Hier gehören meist Bauarbeiter oder sonstige Handwerker zu den
Stammkunden. Aber auch besser gekleidete Frauen und Männer sind ab und an
hier zu finden.
Auf breiten Bürgersteigen sind Planen gespannt. Unter denen stehen niedrige
Tische und Hocker, meist für vier Personen. Hier ist die Gästeschar sehr gemischt
aus einfachem Volk, Büroangestellten und Touristen.
In richtigen Gasträumen unterschiedlicher Größe und Qualität der
Wandgestaltung und sonstigen Ausstattung - da können schon mal ein paar
Blumentöpfe oder sogar ein Aquarium herum stehen - sitzt man auf richtigen
Stühlen an Tischen in normaler Sitzhöhe. Hier nehmen kleinere Gruppen und am
Wochenende auch Familien Platz.
Aber wohl gemerkt: Das sind keine Restaurants mit separater Küche, sondern
die Garküche steht gewissermaßen coram publico.
Natürlich stellt Eli auch fest, dass es in dieser Riesenstadt nicht an Gaststätten
und Restaurants fehlt. Da gibt es eine breite Vielfalt und auch sehr noble
Etablissements sind vertreten. All diese sind nicht nur den zahlreichen Ausländern
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vorbehalten. Nein, zu verschiedenen Tageszeiten nehmen dort auch viele
Vietnamesen ihre Speisen zu sich; oft genug in kleineren oder größeren Gruppen.
Aber für mindesten genauso viele Vietnamesen ist es selbstverständlich, eine oder
mehrere Mahlzeiten auf der Straße einzunehmen. Es stört sie dann ebenso wenig,
dass sich ab und an eben auch einige Passanten durch ihr Fußwegstüb'l quälen
oder dass sich die Abgase der Mopeds und Autos in den Duft des Essens
mischen. Es ist eben ihre Lebensart.
Den Begriff Fußwegstüb'l hatte Linh übrigens von Touristen aufgeschnappt, die
wohl aus dem fernen Bayern nach Hanoi gefunden hatten.
Sehr oft beobachtet Eli, dass die Leute eben ihre Schüssel oder die Stäbchen und
Löffel erst einmal mit Papier abwischen. Nachdem er mehrfach zugeschaut hat,
wo und wie das Geschirr gewaschen wird, erscheint ihm diese Handlung auch
logisch und nachvollziehbar. Viel später bringt ihn aber eine Bemerkung eines
klugen Reiseleiters zum Nachdenken. Dieser erklärt seiner Reisegruppe, dass die
Leute ja gar nicht wüssten, wie lange das Papier schon Gelegenheit hatte, hier vor
Ort Schadstoffe aufzunehmen oder was bei der Herstellung des Papieres schon so
alles hinein geraten war. Da sehnt sich der Weltenwandler dann doch wieder nach
einer seiner anderen Welten, in der es sauber und fast steril zugeht - aber lange
nicht so lustig und aufregend wie hier in Hanoi, wie er ehrlich zugeben muss.
Eli sieht auch, dass man sich die Reis- oder Nudelgerichte auch einpacken lassen
und sie dann genüsslich zu Hause verzehren kann. Auch wird auf die Art die
Versorgung auf kleineren Baustellen oder Offices sichergestellt. In dem Fall hat
der Essenholer beispielsweise bis zu sechs oder noch mehr eingepackte Portionen
zu bewältigen.
Mit besonderer Überraschung beobachtet Eli dabei, dass auch die Suppen in
Plastetüten abgefüllt werden; sowohl die Brühe zum Com als auch die komplette,
noch heiße Nudelsuppe.
Dazu erzählt ihm Linh folgende Geschichte.
Pho in der Tüte
»Eines morgens begleitete ich Maik in der Vong Thi, einer Straße in der Vorstadt.
Gegen acht Uhr pulsierte schon richtig das Leben.
Maik hatte neues Obst und sehr preiswert einen Strauß Strelitzien eingekauft.
Die gibt es nachmittags nicht mehr. An vielen Ecken waren mehr oder weniger
mobile Garküchen postiert und auch stark frequentiert - die meisten Vietnamesen
frühstücken ja nicht zu Hause.
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Maik war gerade vom Frühstück gekommen und hatte keinen Hunger. Aber die
Pho bo duftete doch sehr lecker! Also kaufte er sie kurzer Hand in der Tüte. Für
die Verkäuferin und für mich selbst war das nicht ungewöhnlich, die anwesenden
Bewohner und Passanten der Straße beobachteten den Vorgang mit Interesse und
Belustigung: Ein Ausländer mit Blumenstrauß und Obstbeuteln kauft Pho zum
Mitnehmen.
Die Nudeln wurden kurz in der im Kessel köchelnden Fleischbrühe aufgebrüht
und kamen in einen Plastebeutel; Fleisch und Gemüse und Brühe in den anderen
(doppelten) und fertig war`s. Damit kam er nach etwas mehr als einhundert
Metern Weg noch mit der richtig heißen Suppe zu Hause an.
Später erzählte er mir dann, dass er die Suppe zu Mittag in der Mikrowelle
erwärmt und diese wie frisch zubereitet geschmeckt hätte.«
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Das eigenwillige Verhalten der Vietnamesen im
Straßenverkehr
Die Todsünden im Straßenverkehr
Was der Weltenwanderer auch immer in diesen Tagen erlebt, welche Eindrücke er
auch immer zu verarbeiten hat - eines beschäftigt ihn immer wieder: das seltsame
Verhalten der Leute im Straßenverkehr. Sehr schnell findet er mit wachem
Verstand heraus, dass in Vietnam Regeln im Straßenverkehr, wenn es sie wirklich
geben sollte, kaum eingehalten werden. Jeder fährt so, dass er nur irgendwie
schnell sein Fahrziel erreicht. Fahrer von LKW und Pkw, Mopeds, Motorrädern
und Fahrrädern sind sich kaum bewusst oder nehmen kaum Rücksicht darauf, wie
ihr Verhalten andere Verkehrsteilnehmer beeinträchtigen oder gar gefährden kann.
Dabei stellt Eli wenig Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen
Verkehrsteilnehmern fest, auch Altersunterschiede gibt es kaum - abgesehen von
den jugendlichen Rasern, die sich besonders gefahrvoll benehmen.
Schon nach kurzer Zeit kann er daher zehn Todsünden im Straßenverkehr
klassifizieren.
Fahren bei roter Ampel
Nein, damit ist nicht das Hineinschnippeln im letzten Moment der Grün-Phase
oder der Frühstart am Ende der Rot-Phase gemeint. Teils zögerlich, aber auch
zum Teil forsch bis aggressiv fahren diese Verkehrsteilnehmer voll gegen die frei
gegebene Richtung und nutzen dabei jede noch so kleine Lücke oder bringen
sogar den Verkehrsstrom zum Stoppen.
Rasen
Die Durchschnittsgeschwindigkeit auf den Straßen Hanois ist nicht sehr hoch.
Aber immer finden sich zumeist jugendliche Raser, die durch den Verkehr
preschen. Eigentlich beherrschen sie ihre Maschinen. Wenn dann doch einmal
etwas Unverhofftes in die Quere kommt, kann das natürlich sehr böse enden.
Telefonieren im Straßenverkehr
Für viele der PKW- oder Taxi-Fahrer ist ja schon das gleichzeitige Bedienen von
Lenkrad, Blinklichtschalter und Schalthebel oder das Fahren einer rechtwinkligen
Abbiegung eine Herausforderung, die sie oft genug nur unzureichend bewältigen.
Das hindert sie aber nicht daran, das Handy zu benutzen, egal, ob sie angerufen
werden oder gar selbst anrufen. Je nach Temperament kurven sie dann riskant
oder schleichen im dicksten Gewühl oder bleiben gar stehen. Wie auch immer 32
sie behindern alle anderen Verkehrsteilnehmer.
Noch schlimmer sind die Zweirad-Fahrer. Sie fingern das Handy aus der Hosenoder Handtasche, schauen aufs Display oder halten das Handy ans Ohr (dafür
bedecken ja die wenigsten Helme auch die Ohren) und schreien laut. Für die
eigentlichen Aufgaben beim Fahren, nämlich Lenker halten, bremsen, Gas geben,
bleibt eben dann eben nur eine Hand und insgesamt die geteilte Aufmerksamkeit.
Den Gipfel der Leichtsinnigkeit erreichen sie, wenn sie nicht nur telefonieren,
sondern sogar SMS eintippen. Da ist es ihnen auch gleichgültig, ob sie allein
fahren oder noch eine oder mehrere Personen und gar kleine Kinder mit von der
Partie sind.
Fahren in der Gegenrichtung
Prinzipiell wird in Vietnam rechts gefahren. Das bedeutet aber nicht, dass
prinzipiell auch links überholt wird. Und aufgepasst: Man ist nicht sicher davor,
dass in der eigenen Fahrtrichtung nicht doch jemand entgegen kommt. Die
Gründe dafür sind mannigfaltig und unterliegen gern einem Motto:
Bequemlichkeit geht vor Risiko
Wenn in einer Richtungsfahrbahn die nächste Möglichkeit zum Abbiegen oder
Wenden erst in dreihundert Meter kommt, dann fahre ich doch lieber hundert
Meter in der falschen Richtung.
Wenn meine Richtungsfahrbahn verstopft ist und ich nicht schnell genug
vorankomme, dann fahre ich doch lieber auf der nicht so frequentierten
Gegenfahrbahn.
Ganz besonders gefährlich ist solch ein Verhalten für den ungeübten Fußgänger.
Wenn sich dieser beim Überqueren der Straße zunächst nur nach links orientiert,
dann kann es durchaus vorkommen, dass er von rechts von einem Moped
angerempelt wird.
Falsches Einordnen
Traditionell fahren in Vietnam die Zweiräder rechts außen und die Autos in der
Mitte oder links - je nachdem, wie breit die Straße in der betreffenden
Fahrtrichtung ist. Ein rechtzeitiges Einordnen vor Kreuzungen oder
Abzweigungen ist den meisten Verkehrsteilnehmern nicht geläufig. So passiert es
sehr häufig, dass ein Zweirad von ganz rechts außen urplötzlich nach links
schwenkt oder ein PKW von ganz links außen nach rechts drängelt und alle
anderen Verkehrsteilnehmer zum Bremsen zwingt.
Auf die Blinklichter kann man sich sowieso kaum verlassen, denn oft genug wird
vergessen, diese wieder auszuschalten.
Einige Rüpel unter den Mopedianern verstärken diese Gefahrenquelle noch,
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indem sie schnell noch links überholen, um unmittelbar vor dem gerade
Überholten rechts abzubiegen.
Nebeneinander fahren
Das tägliche Leben in Vietnam ist interessant und spannend. Da gibt es immer
genügend zu erzählen - selbst wenn man vielleicht den ganzen Tag gemeinsam in
der Schule zugebracht oder gemeinsam im Office gearbeitet hat. Also fährt man
nebeneinander her und schwatzt. Fahrradfahrer, meist Schüler oder Schülerinnen,
oft genug auch zu dritt, und Mopedfahrer zu zweit. Und das auch im dicksten
Gewühl. Dass sich ein PKW-Fahrer in so einem Fall nicht vorbei traut und sich
somit ganz schnell ein Stau aufbaut, stört die Schwätzer wenig.
Fahren auf dem Fußweg
Zu bestimmten Zeiten gibt es auf vielen Straßen Staus, weil einfach die vielen
Verkehrsteilnehmer nicht durch die diversen Nadelöhre passen. Dann ist es für
etliche Zweiradfahrer selbstverständlich, auf den Fußweg auszuweichen. Sei es,
um auf diese Weise an fünf bis manchmal sogar fünfzehn Fahrzeugen vorbei zu
kommen und sich wieder vor ihnen einzuordnen oder gar die Chance zu ergreifen,
schneller an die nächste Abzweigung zu gelangen und dort abzubiegen.
Dass sich auf dem Fußweg eventuell auch Fußgänger befinden und vielleicht
sogar an der Haltestelle auf den Bus warten, gilt dann ganz lässig als Risiko der
Fußgänger. Und diese scheinen solch Vorgehensweise auch als normal zu
empfinden. Zumindest empören sie sich nicht darüber.
Gefährliche Ladungen
Linh hatte Eli erklärt, dass Zweiräder eigentlich für den Transport von bis zu
zwei Personen bestimmt sind. Aber Eli konnte unzählige Beispiele dafür
beobachten, dass es die Vietnamesen damit nicht so genau nehmen. Wie viele
Menschen und welche Güter in Vietnam alles mit Mopeds transportiert werden,
das kommt ihm schon sehr grotesk vor. Oft genug aber können die Fahrer oder
auch Fahrerinnen dadurch ihr Fahrzeug nicht mehr richtig beherrschen oder die
Ladung ragt unkontrollierbar in den übrigen Verkehr hinein. In solchen Fällen
wird es gefährlich!
Fahren ohne Helm
Eigentlich besteht in Vietnam Helmpflicht. Die wird aber bei den wenigsten
Kindern eingehalten und auch meist jugendliche Raser halten sich nicht immer an
das Gebot. Auch, wenn Eli zugeben muss, dass solche Fahrer im Grunde nur sich
selbst verletzen, kann er eine derartige Fahrlässigkeit nur schwer nachvollziehen.
Anhalten oder Parken an den unmöglichsten Stellen
Eli hat nun schon mehrfach festgestellt, dass viele der Straßen von Hanoi recht
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eng sind. Im normalen Tempo kommen oft genug zwei PKW gerade aneinander
vorbei. Wenn sich dann aber bei dem meist starken Verkehr nur ein kleines
Hindernis am Straßenrand befindet, ist Stau vorprogrammiert.
Eli wundert sich aber sehr, dass viele der Verkehrsteilnehmer überhaupt nicht
darüber nachdenken, welche Konsequenzen ein Anhalten in solchen Situationen
mit sich bringt:
Mopedfahrer halten oder parken, um irgendetwas einzukaufen oder mit
jemandem am Straßenrand zu schwatzen; Taxifahrer halten an, um Fahrgäste einoder auszuladen (bei etwas breiteren Straßen dann auch gleich mal in der zweiten
Reihe); andere versuchen mit ihren Fahrzeugen, die hohe Bordsteinkante zu
erklimmen und/oder parken halb auf dem Fußweg und halb auf der Straße; im
PKW sitzt ein Fahrer, der offensichtlich auf jemanden wartet und sich freut oder
wundert, dass um ihn herum das blanke Chaos herrscht.
Als besondere Zugabe an die Freude der anderen versucht dann ab und an der
Fahrer eines Mini-Taxis oder gar eines großen Jeeps auf einer zweispurigen Straße
zu wenden.
Schon ein paar Mal konnten Eli und Linh miterleben, wie nahezu katastrophal
die Situation täglich an den Schulen ist, wenn die lieben Kleinen abgeholt werden.
Da wird ganz schnell eine vier- bis fünfspurige Straße bis zu Hälfte zugestellt und
der Verkehrsstrom der rush hour kann sehen, wie er sich daran vorbei quält.
Nach dieser Aufzählung kommt der Weltenwanderer gar nicht dazu, die
sonstigen, mehr oder wenig kleinen Verstöße gegen jegliche Ordnungen und das
unlogische Verhalten ohne eine Spur von Voraussicht, zu beschreiben. Je nach
seiner Gemütslage müsste er sich den ganzen Tag nur darüber wundern oder
ärgern.
Er kann nicht verstehen, dass die meisten Verkehrsteilnehmer dieses tägliche
Chaos relativ gelassen ertragen und sich zumindest äußerlich kaum aufregen. Linh
berichtet ihm aber, dass manchmal zwei Verkehrssünder durchaus so richtig
aneinander geraten und dann auch mal die Fäuste fliegen.
Psychologie des Hupens
Als ob dieses Chaos jetzt nicht schon schlimm genug wäre, gesellt sich auch noch
ein permanentes Hupkonzert hinzu. Nach einigem Beobachten kommt Eli zu dem
Schluss, dass Hupen noch lange nicht gleich Hupen ist. So gelingt es ihm, die
verschiedenen Typen in bestimmte Kategorien einzuteilen.
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Die Mopedfahrer gliedert er in:
Der Vollbepackte
»He Leute, ihr seht doch, dass ich mein Moped kaum beherrschen kann - also
macht mir bitte Platz!«
Der jugendliche Raser
Meist ohne Helm, mit oder ohne Sozius/Sozia, slalomt er in einem Affenzahn
durch das Verkehrsgewühl und hupt permanent.
Der Angeber
»Seht her - ich bin der Schönste!«
Der Eilige
Meist bepackt mit einer Gasflasche oder einem Pizza-Auslieferungscontainer.
»Macht Platz! Meine Kunden können keine Minute länger warten!«
Der zivile Eilige
Mit Akten- oder Computertasche bestückt.
»Ich muss schnell nach Hause. Meine Familie wartet schon auf mich.« Oder
»Meine Frau ist allein zu Hause. Wer weiß, was die alles anstellt.«
Der Unverschämte
»He, ich weiß ja, dass ich falsch fahre. Aber das muss sein. Also, passt gefälligst
auf und lasst mich vorbei!«
Der Zornige
»Pass doch auf! Jetzt musste ich wegen dir bremsen!«
Der Vorsorgliche
»Ich fahre hinter dir, mach dir keine Sorgen, ich habe dich gesehen und werde
gut auf dich achten und dich nicht an- oder umfahren. Mach aber bitte keine
unkontrollierten Schlenker, bis ich an dir vorbei bin - dann ist alles gut.«
Der Blödmann
Diese Sorte steht im Stau in der fünften Reihe und hupt.
Die Ängstliche
So eine steigt aufs Moped und hupt schon, bevor sie vorsichtig das Grundstück
verlässt.
Die Autofahrer teilt er ein in:
Der Ängstliche
»Ich habe keinen Führerschein und das Auto gehört mir nicht - bitte macht keine
Kratzer an den Lack!«
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Der mit dem angewachsenen Finger
Beim ersten Griff an das Lenkrad scheint der Finger am Hupknopf
anzuwachsen.
Der Lokführer
Als Nachweis, dass er nicht eingeschlafen ist, muss er regelmäßig die Hupe
betätigen (so wie in früheren Zeiten die Lokführer den »Toter-Mann-Knopf« )
All diese Typen findet Eli bei beiden Geschlechtern.
Das permanente Hupkonzert ist aber scheinbar auch keine Erfindung der
neueren Zeit. Ein Freund hatte Linh einmal erzählt, dass er in den 70er Jahren
durch die Prüfung für den PKW-Führerschein gefallen war, weil er zu wenig
gehupt hatte.
An der Kreuzung
An nicht wenigen Kreuzungen in Hanoi beobachtet Eli solche Vorgänge, die ihm
fast wie ein dramatisches Schauspiel vorkommen:
Sie stehen sich gegenüber. In breiter Front. Zum Speed bereit! Von Sekunde zu
Sekunde werden es mehr. Längst sind die Grenzen ihres Aufstellungsraumes
überschritten, aber noch hält sie das rote Licht zurück - zumindest die meisten
von ihnen.
Sie - das sind PKW, Mopeds und Fahrräder. Ihre Fahrer benehmen sich normal
vietnamesisch, das heißt, ungefähr die Hälfte aller Beteiligten reiht sich ordentlich
ein und wartet mehr oder weniger geduldig oder gelangweilt auf die nächste
Grün-Phase. Viele von ihnen haben sogar den Motor abgestellt.
Die andere Hälfte aber sieht zu, wie auch in dieser Situation wieder ein kleiner
Vorteil gegenüber den anderen zu erreichen ist.
Da stellt man sich eben nicht hinten an, sondern fährt an den Wartenden links
vorbei, möglichst weit nach vorn. Dass dabei die aufgemalte Sperrlinie
überschritten wird, kümmert sie wenig. Oft genug ist dann die ganze Straßenbreite
ausgefüllt. Dumm wird es nur, wenn doch einmal aus dem fließenden Verkehr auf
der Hauptstraße ein PKW in die nun volle Straße abbiegen will. Dann kommt er
eben nicht durch und wieder einmal ist ein Stau vorprogrammiert.
Wieder andere Moped- und auch Radfahrer sind scheinbar farbenblind. Sie
kommen nach vorn gefahren, stoppen kurz oder auch nicht, und fahren direkt in
den Strom der Fahrzeuge, die ja in ihrer Fahrtrichtung Grün haben, hinein und
schlüpfen hindurch, nicht ohne einige eben auch zum Bremsen zu zwingen.
Andere wiederum fahren plötzlich noch bei Rot los, nachdem sie vorher auch eine
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Weile gestanden hatten.
Das alles erfüllt den Beobachter aus den anderen Welten mit Erstaunen, Furcht
oder Entsetzen - je nachdem, was sich da gerade entwickelt. So oft er diese oder
ähnliche Szenen auch beobachtet, er findet keine Erklärung dafür, was in den
Köpfen dieser Rot-Fahrer vorgeht. Warum sie sich bewusst dieser Gefahren
aussetzen? Oder sind sie sich der Gefahren gar nicht bewusst und vertrauen
einfach darauf, dass die anderen schon aufpassen werden?
Mit zunehmender Erregung stellt Eli fest, dass sich auf der gegenüber liegenden
Straßenseite genau die gleiche Entwicklung vollzieht. Wenn nun dann die Ampel
auf Grün schaltet und die beiden Ströme mit voller Wucht aufeinanderprallen,
dann …
… passiert in den meisten Fällen gar nichts. Wie durch eine wundersame Fügung
gleiten die beiden Ströme ineinander und nach wenigen Metern schleicht oder rast
wieder jeder dahin wie immer - bis zur nächsten Kreuzung.
Wozu sind Verkehrspolizisten da?
Nach all diesen Beobachtungen und Erfahrungen drängt sich natürlich auch dem
Weltenwanderer die Frage auf:
Gibt es denn niemanden, der im Straßenverkehr für Ordnung sorgt?
»Doch. Es gibt doch die Verkehrspolizisten«, ereifert sich Linh. »Schau nur
genau hin! Dann wirst du sie auch finden.«
Und wirklich, Eli findet sie.
Sie sind in sandgelbe Uniformen gekleidet. Die Schulterstücke sind unifarben.
Nur an den Kragenspiegeln scheint man ihren Rang erkennen zu können. Ihre
Kopfbedeckung ähnelt einem Tropenhelm, aber auch in sandgelb. Bei
Regenwetter sehen sie besonders putzig aus: dann sind auch sie in Regencapes
gehüllt und tragen Gummistiefel.
Einer steht an einer Ampelkreuzung auf einem Podest. Manchmal auch daneben
auf der Straße. Er hat eigentlich nichts weiter zu tun, denn der Verkehr wird ja
durch die Ampel geregelt. Also telefoniert er sehr oft. Nur wenn die Ampel
umschaltet, dann wird auch der Polizist aktiv. Er fuchtelt mit seinem Stab herum.
So als wolle er den Verkehrsstrom in der jeweiligen Richtung beschleunigen. Doch
der Verkehr kümmert sich kaum um den Polizisten. Wenn es geht, fahren alle
sowieso schnell genug; manchmal auch um ihn herum. Und wenn es staut, dann
kann er mit den Armen herumrudern, so viel er will.
Nur ab und an wird der Alleinkämpfer von mehreren Kollegen unterstützt.
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Manchmal kommen die auch von der mobilen Truppe und tragen Integral-Helme,
auch in sandgelb.
Diese geballte Kraft sieht dann ihre Hauptaufgabe darin, zumeist Mopeds aus
dem Verkehr herauszuwinken. Dann werden Protokolle geschrieben oder es wird
besser gleich kassiert. Ein System dafür, wer, wann und warum davon betroffen
sein kann, das vermag der Gast aus der anderen Welt während seiner ganzen
Anwesenheit in Vietnam nicht zu ergründen. Dass einmal ein richtiger
Verkehrssünder durch die Polizisten aus dem Verkehr und zur Verantwortung
gezogen wurde, kann er nicht beobachten.
Ein besonderes Erlebnis macht Eli sehr nachdenklich.
Ort des Geschehens: Einmündung in die Thuy Khue, von der Promenade
kommend.
Ein einzelner Polizist steht auf der Einmündung. Mit Pfeifsignalen und
Armbewegungen glaubt er, den fließenden Verkehr auf der Thuy Khue zu
beschleunigen.
Den normalen Regeln folgend, hält ein Ausländer mit seinem Moped an und
wartet, bis der Verkehr aus seiner Richtung freigegeben wird. Wunder über
Wunder: neben ihm halten tatsächlich auch einige Vietnamesen mit ihren
Zweirädern an. Als sich die Anzahl auf fünf bis acht erhöht, bedeutet ihnen der
Polizist, dass sie doch fahren sollten. Ohne jedoch den fließenden Verkehr
anzuhalten!
Also wursteln sie sich an dem Polizisten vorbei durch die in beide Richtungen
fahrenden Zweiräder und PKW hindurch und reihen sich in den Strom ein. So wie
sie es auch ohne den Polizisten getan hätten!
Im Nachhinein kommen dem Gast dann doch ein paar peinliche Fragen: Was
wäre geschehen, wenn es an dieser Stelle durch den Ausländer zu einer Kollision
gekommen wäre?
Wer würde dann zur Verantwortung gezogen? Der Polizist, denn er hat alle doch
zu dieser Handlung aufgefordert? Oder doch eher der Ausländer?
Bloß nicht darüber nachdenken!
Aber an einigen Kreuzungen kann Eli feststellen, dass es manchmal ganz gut mit
der Verkehrsregelung funktioniert. Dann stehen die Polizisten zu dritt oder gar zu
viert und jeder hält an einer Einmündung den Verkehrsstrom im Zaum, stoppt
diesen oder gibt ihn frei. Dass aber auch dann einige vorwitzige Mopedianer an
den Polizisten entgegen den Weisungen vorbei huschen, das können oder wollen
sie auch nicht weiter beachten.
In neuerer Zeit werden diese Verkehrspolizisten durch Kolleginnen ergänzt. Sie
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sollen das Antlitz der Polizei freundlicher machen, lautet eine offizielle
Verlautbarung.
Diese weiblichen Verkehrsregler versuchen dann, durch ganz besonders exakte
und graziöse Bewegungen ihrem Dasein eine Berechtigung zu geben. Aber ihre
Wirkung ist gleich der ihrer männlichen Kollegen - nämlich nahe Null.
Ordnungshüter?
Öfters sieht Eli auch noch andere Uniformierte im Stadtbild von Hanoi
auftauchen. Sie sind grün gekleidet. Auf den roten Kragenspiegeln und
Schulterstücken geben Streifen, Winkel und Sterne in Silber oder gar Gold über
ihren Dienstrang Auskunft. Wenn sie nicht gerade als Fahrrad-Streife unterwegs
sind, dann erscheinen sie meist mit einem Kleintransporter.
»canh sat« steht daran geschrieben - Polizei. Und sie werden oft genug noch von
Männern in blauen Uniformen assistiert. Es ist nicht so ganz einfach
herauszufinden, ob diese zu einer besonderen Abteilung der unzähligen
Hilfspolizisten oder zu privaten Sicherheitsunternehmen gehören, die auch zu
Hauf als Wachpersonal vor Banken und Büros anzutreffen sind.
Manchmal greifen die Uniformierten wirklich regelnd in den Verkehrsstrom ein.
Aber viel öfter stehen sie wie Greifvögel an Kreuzungen, um sich dann urplötzlich
auf irgendeinen Verkehrsteilnehmer zu stürzen. Wenn es sich da um
offensichtliche Verkehrssünder handeln sollte - wie Fahrer ohne Helm - dann
wäre das ja verständlich. Aber in relativ wenigen Fällen ist ein plausibler Grund
dafür zu erkennen. Diese scheinen aber doch zu existieren, denn sonst würden ja
nicht selten Mopeds aus dem Verkehr gezogen und auf die Transporter aufgeladen
werden.
In einer sonst in den Vormittagsstunden sehr lebhaften Gasse wundert sich Eli
sehr, dass nahezu gespenstige Ruhe und Leere herrschen. »Wo sind nur die vielen
Händlerinnen geblieben?« Linh vermutet, dass hier der Händlerschreck zu Gange
war. Tatsächlich finden sie dann auch in einer abgelegenen Ecke einen solchen
canh sat-Transporter. Vor diesem sind die Händlerinnen geflüchtet, weil sie in den
wenigsten Fällen über eine Gewerbe- oder Handelserlaubnis verfügen und
demzufolge Strafzahlungen vermeiden wollen.
Aber lange hält dieser Zustand der scheinbaren Ordnung nicht an. Nachdem die
Uniformierten wieder abgezogen sind, stellt sich schon bald wieder der
ursprüngliche Zustand ein.
Dies alles beobachtet der Weltenwanderer verwirrt und erstaunt. »Wie schnell
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könnte man doch eigentlich mit dieser geballten Kraft wirkliche Ordnung
schaffen«, sinniert er vor sich hin.
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Alltagsszenen
Der Weltenwanderer ist es gewöhnt, dass er in jeder neuen Welt mit anderen
Kommunikationsformen konfrontiert wird, in dieser irdischen Welt zudem in fast
jedem Land mit einer anderen Sprache. So auch in Hanoi. Mit Linh kann er sich
ausreichend verständigen, denn sie spricht langsam und mit einfachen Worten.
Doch es fällt ihm schwer, aus den Gesprächs- und Wortfetzen, die immer wieder
an sein Ohr dringen, bekannte Laute zu erkennen.
Linh beruhigt ihn: »Unsere Sprache ist für viele Ausländer sehr kompliziert. Wir
können viele Silben in bis sieben verschiedenen Tonmelodien aussprechen.
Dadurch erhält die fast gleich aussehende Silbe aber auch bis zu sieben
verschiedene Bedeutungen. Wenn man dabei Fehler macht, dann kann es schon
oft zu vielen Unverständnissen, aber auch zu lustigen oder auch peinlichen
Verwechslungen führen. Aber tröste dich, mein Freund, ich kenne nur wenige
Ausländer, die die vietnamesische Sprache wirklich richtig beherrschen und dafür
mussten sie viele Jahre intensiv lernen.«
Noch während Linh spricht, entdeckt sie in der Menge der sie umgebenden
Passanten einen Mann mittleren Alters und winkt ihn heran. Eli identifiziert
diesen auch sofort als Langnase.
» Xin chao, Frank« begrüßt Linh den Neuankömmling. »Ich habe gerade meinem
Freund Eli berichtet, dass du ein lustiges Erlebnis mit deinen Sprachkenntnissen
auf dem Markt hattest. Kannst du bitte Eli die Geschichte noch einmal erzählen.
Ich höre sie selbst auch gern noch einmal.«
Frank lässt sich nicht zweimal bitten und beginnt zu erzählen.
Chi co khoe khong? - Wie geht es dir? ( Erzählung von
Frank)
»Zu dieser Zeit lebte ich schon ein paar Monate in Hanoi. Ich kaufte schon seit
längerer Zeit auf dem Markt frisches Gemüse. Mit den Fingern traf ich meine
Auswahl und auch in der Fingersprache und durch Zeigen der entsprechenden
Geldscheine verständigte ich mich mit den Marktfrauen über den Preis. Da war
sogar ab und an ein leichtes Handeln möglich.
Da wir ja mit ein paar Kollegen zusammen Vietnamesisch-Unterricht genommen
hatten, wollte ich eines Tages, angeregt durch erste Fortschritte, diese Form der
Kommunikation in der Fingersprache auf eine höhere Niveaustufe bringen schließlich hatten wir schon die einfache Grußformel »Chi co khoe khong?«
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gelernt. Wörtlich heißt das so viel wie »Du, Frau, bist gesund?«
Nach vielem Üben klang das auch in meiner Aussprache schon fast
vietnamesisch. Und in anderen Sprachen hat das doch auch immer ganz gut
geklappt: Nach einem »Kak delo?«
(wörtlich: »Wie ist die Sache?«) wurden doch die Menschen in Russland und in
der Ukraine auch immer gleich etwas freundlicher. Und das »How are you?« ist
doch fast in aller Welt geläufig. In Baku waren es wohl die einzigen englischen
Worte unseres Hausmeisters, die er mir zu jeder passenden und unpassenden
Gelegenheit fröhlich entgegen geschmettert hatte. Derart motiviert wollte ich also
bei meinem nächsten Einkauf zur Tat schreiten.
Selbstbewusst betrat ich die Bühne, sprich den Marktstand, und bot laut und
deutlich meine Grußformel dar. Doch was passierte? Statt einer Antwort mischten
sich in die Augen der Verkäuferin, die freudig-erregt auf die bevorstehende
Kaufhandlung gerichtet waren, Überraschung und Unverständnis. »Was will dieser
langnasige Ausländer nur?« Sie zeigte auf dies und das. Ein Redeschwall quoll mir
entgegen, aus dem meine Ohren die Worte« mua, mua ...« (kaufen, kaufen!!)
filterten.
Nein, ich wollte jetzt noch keine Möhren oder Ingwer kaufen, auch Auberginen
oder Zwiebeln nicht. All das, was ich in den vergangenen Tagen immer gekauft
hatte, bot sie mir an. Ich wollte einfach nur freundlich sein und wiederholte noch
mal mein »Chi co khoe khong?« - laut und deutlich, so bildete ich mir es ein.
Die Nachbarverkäuferin kam zu Hilfe. Sie tippte Zahlen in den Taschenrechner sicher hat sie vermutet, dass ich den Preis erfragen wollte. Nein, auch das wollte
ich nicht und schon ein wenig trotzig wiederholte ich mein »Chi co khoe khong?«.
Nun wurde es beinahe hektisch. Lautstarke Gesprächsfetzen schwirrten
zwischen den Verkaufsständen hin und her, eine Kundin kam hinzu, eine Zweite,
ein Mopedfahrer hielt an und beteiligte sich am Palaver. Im Nu bildete sich eine
wild gestikulierende Menschentraube. Und ich armer Kerl, der einfach nur
freundlich sein wollte, mittendrin. Was hatte ich nur angerichtet?
Gerade wollte ich mich vorsichtig davonstehlen, da hörte ich doch ein paar
bekannte Laute. Eine Kundin lächelte mich freundlich an und ich interpretierte
ihre Worte als »Cam on. Em khoe. Va Co?« (Danke! Mir geht es gut - und dir?).
Erleichtert brachte ich noch ein »Toi khoe« (Mir geht es gut) hervor und dann
trollte ich mich von dannen. Zurück blieb eine sich langsam auflösende
Menschenmenge, die sich scheinbar noch länger über den »Komischen Ausländer«
amüsierte...
In den nächsten Tagen hatte ich dann mein Gemüse erst mal an einem anderen
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Ort gekauft.«
Über diesen Bericht muss selbst Eli etwas schmunzeln und auch Frank und Linh
scheinen sich darüber immer wieder amüsieren zu können.
»Und wie haben sich deine Kenntnisse in der vietnamesischen Sprache dann
weiter entwickelt?«, möchte Eli gern von Frank erfahren. »Sprichst du jetzt perfekt
vietnamesisch?«
»Leider nicht«, muss Frank zugeben. Und etwas bedauernd begründet er das so:
»Weißt du, Eli, wie alle übrigen Kursteilnehmer habe auch ich nicht die nötige
Kraft und Energie aufgebracht. Einer nach dem anderen verabschiedeten sich die
Kollegen aus dem Unterricht. Als wir dann nur noch zu zweit übrig geblieben
waren, haben wir das ganze Unterfangen ganz einschlafen lassen. Schade
eigentlich! Aber da spielte bestimmt auch der Gedanke im Unterbewusstsein eine
Rolle, dass wir ja sowieso nicht so lange in diesem Land bleiben werden und
Vietnamesisch nun auch nicht gerade eine Weltsprache ist.«
Eli klingt Franks letzter Satz fast wie eine Entschuldigung vor sich selbst.
»Aber die Zahlen beherrsche ich einigermaßen sicher und so kann ich auf dem
Markt wenigstens auf Vietnamesisch um den Preis feilschen.« Damit gibt Frank
dem Ganzen doch noch eine optimistische Note und verkündet stolz: »Das werde
ich jetzt tun! Macht es gut ihr beiden und dir, Eli, noch viele schöne Erlebnisse in
Hanoi.« Damit verschwindet Frank wieder in der Menge.
Hallo, hallo, ...
Egal, ob man sie Mobile oder Handy nennt, diese kleinen Geräte sind
allgegenwärtig in Hanoi.
Während Eli und Linh beim Essen sitzen oder wenn sie durch die Stadt gehen,
ständig sieht Eli Menschen mit diesen Geräten in Aktion. Und er überlegt, was
den Vietnamesen wohl wichtiger sei: ein Handy oder ein Moped. Schließlich
nutzen nicht alle Fahrer von Mopeds oder Fahrrädern während der Fahrt ein
Handy, aber viele Menschen hantieren mit solchen Geräten, auch wenn sie sich
nicht gerade im Straßenverkehr befinden.
Und was sie nicht alles damit anstellen:
Sie halten das Gerät an ein Ohr und brüllen laut oder flüstern verschämt.
Sie tippen wie wild auf die Tasten oder streichen mit eleganten
Fingerbewegungen über die glatte Oberfläche - nach rechts oder nach links, nach
oben oder nach unten. Und dann wechseln immer die bunten Bilder.
Sie schauen sich bunte Bilder an, stecken die Köpfe zusammen und kichern. Das
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tun besonders oft Gruppen von jungen Mädchen.
Es kommt Eli doch sehr, sehr merkwürdig vor, was er so alles beobachtet und
von Linh erfährt, wer, wann und wo und bei welcher Gelegenheit das Handy
benutzt.
Im dicksten Straßenverkehr, ganz egal, ob sie Auto, Moped oder Fahrrad fahren.
Der Autofahrer bedient Lenkrad, Hupe, Blinklicht und Schalthebel mit einer
Hand, um in der anderen Hand das Handy zu halten. Der Mopedfahrer fingert das
Gerät aus der Hosentasche, schaut darauf, steckt es halb unter den Helmgurt oder
noch schlimmer, tippt wild auf die Tasten. Manchmal fahren die Mopeds oder
Autos dann etwas langsamer und behindern somit den Verkehr.
Im Kino oder in der Oper tönen die oftmals gar nicht dezenten Klingeltöne.
Die Sportlerinnen, die während Aerobic und Laufband telefonieren. Alle haben
ihr Handy während der Übungen direkt vor den Füßen liegen. Da hilft auch das
Handy-Verbotsschild an der Eingangstür nicht.
Eine Kundin telefoniert während der Massage, oder aber die Masseurin muss
Wichtiges loswerden und einhändig weiterarbeiten.
Der Friseur empfängt Anrufe, während er den Kopf der Kundin bearbeitet.
Eine Freundin hatte bei ihrer ersten Einladung zu einer Hochzeitsparty
beobachtet, dass die Braut die ganze Zeit das Handy in der Hand trug. War ihr
dies das Wichtigste an diesem bedeutsamen Tag oder musste sie sich nur die Zeit
vertreiben, weil ihr Bräutigam auch andauernd telefonierte?
Ein Freund musste ganz entsetzt bemerken, dass sogar bei seiner Operation am
Auge der Professor nicht ohne Telefonat mit dem Handy auskommen konnte.
Nun wartet der Freund nur noch darauf, dass er eine Frau im Kreissaal bei der
Geburt mit dem Handy fotografieren kann oder dass sogar die ersten Babys mit
dem Handy in der Hand das Licht der Welt erblicken.
Nun, ganz so weit wird es sicher nicht kommen. Aber der Gebrauch dieser
sicherlich nützlichen Geräte treibt doch seltsame Blüten.
Berufsbilder
Immer und immer wieder überlegt Eli bei seinen Gängen mit Linh durch die
Stadt, auf welche Art und Weise die Menschen dieser Stadt ein solch betriebsames,
aber auch liebenswertes Gepräge geben. Was zeichnet diese Menschen noch aus,
außer, dass sie sich chaotisch im Straßenverkehr benehmen und andauernd
telefonieren, außer, dass sie ausgiebig die Ahnen verehren und auf der Straße
essen? So nach und nach kommt es Eli ins Bewusstsein, dass die Menschen in
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Hanoi scheinbar niemals Ruhe finden. Sie sind stets und ständig mit irgend etwas
beschäftigt, haben immer etwas herum zu wuseln. Mit seinem analytischen
Verstand klassifiziert er verschiedene Tätigkeiten und Berufsbilder:
Die Stangenfrauen
Sie begegnen Eli überall in der Stadt - in der Altstadt wie auch in den
Außenbezirken.
Ständig schleppen sie etwas durch die Gegend. Früchte und Gemüse, Backwaren
oder Dumblings oder allerlei Krimskrams für das tägliche Leben. Öfters sieht man
sie auch mit aufgesammelten Plasteflaschen oder Wiederverwertbarem aus dem
Bauschutt. Dann tragen sie ihre Beute zur nächsten Sammelstelle, um sich auf
diese Weise ein paar Dong zu verdienen.
Aber der Kleine beobachtet auch eine tragbare Mini-Garküche. An einer
verkehrsreichen Straße in der Altstadt stellt eine noch junge Frau ihre Last am
Straßenrand ab. Flink entfacht sie in dem mitgebrachten Öfchen die Glut und
wärmt irgendetwas Essbares auf. Und siehe da, in kurzer Zeit stellen sich doch
tatsächlich Kunden ein, gehen in die typische Hockstellung und nehmen einen
kleinen Imbiss ein. Ob es sich dabei schon um feste Kundenbeziehungen handelt
oder die Frau tatsächlich mit wachem Auge einen Laufkunden im wahrsten Sinne
des Wortes entdeckt hat - wer weiß.
Die Frauen haben oft genug tüchtig zu tragen und dafür haben sie einen ganz
speziellen Gang entwickelt: sie rollen in der Hüfte, fast so wie die Geher in der
Leichtathletik.
Eli kann sich das gut vorstellen, als Linh ihm erklärt, dass die Frauen mit diesem
Gewerbe nicht reich werden. Nein, sie kämpfen ständig den Kampf ums tägliche
Überleben. Was nimmt es Wunder, wenn sie ab und zu versuchen, einem
Touristen einen stark überhöhten Preis für ein paar Bananen abzunehmen. Eli
wird sogar Zeuge, wie eine dieser Frauen versucht, einem ahnungslosen Touristen
die Tragestange auf die Schulter zu legen, damit dieser sich dann authentisch
vietnamesisch fotografieren lassen kann. Als Zugabe will sie ihm auch noch den
Non, den kegelförmigen Bambushut auf den Kopf setzen. Und für diesen Service
soll der Tourist kräftig zahlen.
Händlerinnen
Nicht mit der Stange über den Schultern, sondern mit vollgepackten Fahrrädern
treffen die beiden eine andere Sparte von Verkäuferinnen an vielen Stellen in der
Stadt an. Und sie freuen sich an den farbenprächtigen Bildern. Das ist wirklich
eine Augenweide:
Je nach Saison leuchten ihnen kunstvoll drapierte Sonnenblumen, Gerbera, rote
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und weiße Lotos und knallgelbe Chrysanthemen oder viele andere Blumen
entgegen; Rosen sind in dicken Bündeln rot, weiß, gelb, orange oder rosé
übereinandergestapelt. An verkehrsgünstigen Positionen stehen die Händlerinnen
dann oft genug nicht allein, sondern zu zweit, zu dritt oder gar zu viert buhlen sie
um die Gunst der Käufer.
Nahezu einen Meter im Durchmesser messen die flachen Geflechte aus Bambus,
auf denen die Obstverkäuferinnen ebenfalls auf Fahrrädern ihre Ware feilbieten.
Auch bei ihnen wechselt je nach Saison das Angebot: Erdbeeren im Januar in
dieser Menge, das hat schon etwas.
Die kleinen braunen Kugeln - Longan oder Litchi-, die stacheligen Chom Chom
und die knall-roten Drachenfrüchte lassen auch Eli aus dem Staunen nicht
herauskommen. Optisch nicht so attraktiv, aber doch auch in großer Anzahl
stehen, schieben und fahren meist Frauen mit Bananen, Jackfrüchten und Ananas.
Mit geübten Griffen hantieren sie mit scharfen Messern und schälen die Ananas,
um sie in verzehrgerechten Portionen anzubieten. Und während sich Linh und Eli
gerade an einem schattigen Plätzchen niederlassen und an einer solchen frischen
Ananas laben, sitzt dort auch Vinh, eine Händlerin. Sie erzählt über einen Tag aus
ihrem Leben.
»Mein Name ist Nguyen Th? Vinh, aber die Leute rufen üblicherweise nur Hey
oder Nhua (Plastik), wenn sie etwas bei mir kaufen wollen. Ich werde im August
fünfundzwanzig Jahre alt und arbeite seit drei Jahren in Hanoi als
Straßenhändlerin. Ein Verwandter hat mir diesen Job besorgt. Die Leute sehen
mich gleich, wenn ich mit meinem Fahrrad durch die Stadt ziehe. Denn es ist
hoch beladen mit Plastikartikeln wie Haushaltszubehör, Schüsseln, Eimern, aber
auch kleineren Gegenständen wie Haarnadeln oder Wäscheklammern. Insgesamt
wiegen diese Sachen um die dreißig Kilogramm und haben einen Warenwert von
etwa zwei Millionen VND (ungefähr siebzig Euro). Das ist alles, was ich brauche,
um meinen Arbeitstag zu bestreiten.
Jeden Tag verlasse ich um sieben Uhr meine Unterkunft in der Nähe der Long
Bien Brücke, die pro Nacht zehntausend Vietnamesische Dong (ungefähr dreißig
Cent) kostet. Ich schiebe mein Fahrrad, weil die Plastik-Artikel jeden verfügbaren
Raum einnehmen, so dass ich nicht aufsteigen kann. Jeden Morgen zahle ich
dreitausend Dong für eine Schale Xoi (gedämpfter Klebreis) als Frühstück.
Täglich komme ich an zahllosen Pho- (Suppen-) und Bun- (Nudel-) Läden vorbei.
Jedes mal steigen mir die delikaten Gerüche in die Nase. Ich hatte noch nie eine
Chance, solche Gerichte zu probieren. Aber ich hoffe, eines Tages werde ich es
mir leisten können.
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Meine regelmäßigen Runden führen durch viele Teile der Stadt. Meine Kunden
halten mich an, indem sie aus ihren Häusern rufen oder ihre Mopeds vor meinem
Fahrrad anhalten. Oft sind es Frauen mit viel Erfahrung im Haushalt. Sie sind sehr
wählerisch beim Aussuchen der Waren und reden oft sehr herablassend. Sie
machen meine Ware schlecht, um einen besseren Preis herauszuholen. Beim Kauf
auf der Straße muss man immer feilschen. Üblicherweise verdiene ich je
verkauften Artikel zwischen fünfhundert und dreitausend Dong. Wenn ich Glück
habe, gerate ich an männliche Kunden, die keine Zeit oder Lust haben, mit mir zu
handeln.
Die meisten der Plastik-Händlerinnen beziehen, wie ich auch, ihre Waren von
einem Betrieb im Stadtbezirk Long Bien. Normalerweise zahlen wir für die Ware
im Voraus. Wenn wir sie nicht verkaufen, können wir sie gegen andere Waren
zum gleichen Preis eintauschen. Manchmal können wir die Waren auch
übernehmen und später zahlen. An einem guten Tag verkaufe ich Ware für
300.000 bis 400.000 VND (10-15 Euro). Aber manchmal reicht es an einem Tag
gerade für Essen und Unterkunft. Immer versuche ich, etwas zu sparen, sodass ich
jeden Monat Geld nach Hause schicken kann, um meinen Eltern zu helfen.«
Eli hat natürlich all diese Zahlen erfasst und analysiert. Ganz schnell kommt er
zu der Erkenntnis, dass Vinh von ihrer Arbeit am Ende des Tages nicht viel übrig
bleibt.
Vinh setzt ihre Erzählung fort:
»Gegen Mittag mache ich eine Pause in einer Straße in der Nähe des
Bach-Mai-Krankenhauses, wo ich ein kleines Mittagessen zu mir nehme.
Normalerweise gebe ich etwa zehntausend für Reis, Tofu, Gemüse und eine
Schüssel Suppe aus. Manchmal wird die Pause etwas länger und ich schwatze noch
im Schatten eines Baumes mit anderen Straßenhändlern. Gegen zwei Uhr
nachmittags beginnt dann wieder die Arbeit. Im Sommer, wenn die Leute die
Mittagshitze in der Sonne meiden, kann ich später anfangen. Ich habe keine feste
Zeit für das Ende meines Arbeitstages. Wenn ich meine, dass ich genug verkauft
habe oder dass es spät ist, esse ich auf der Straße zu Abend und kehre zu meiner
Unterkunft zurück. Dort komme ich üblicherweise gegen zehn Uhr abends an.
Ich stamme aus einer landwirtschaftlichen Gemeinde in der Provinz Hung Yen
nördlich von Hanoi. Meine Familie hat sieben Sao Land. Das sind ungefähr zwei
Tausend und fünfhundert Quadratmeter. Dennoch sind wir noch sehr arm. Ich
bin das älteste von vier Kindern. Meine beiden jüngeren Schwestern sind
verheiratet. Mein Bruder lebt bei den Eltern. Mein Vater leidet an Krebs. Er bleibt
deshalb zu Hause und hilft beim Kochen, wenn er dazu in der Lage ist. Meine
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Mutter und mein Bruder arbeiten in einer Ziegelei, wenn sie auf den Feldern
nichts zu tun haben.
Ich teile meine Unterkunft mit drei anderen Händlerinnen und mit fünf
Obstverkäuferinnen. Jede von uns hat nur einen kleinen Bereich zum Schlafen.
Einmal im Monat, wenn mein Vater zur Behandlung nach Hanoi ins
Krankenhaus kommt, treffen wir uns und reden über die Verwandten und die
anderen Leute im Dorf. Sie fehlen mir sehr. Immer, wenn ich einer glücklichen
Familie begegne, fühle ich mich einsam und habe Heimweh. Ich weiß aber, dass
ich nur durch meine Arbeit hier Geld habe, das ich für die Behandlung meines
Vaters und für die Verbesserung des Lebens meiner Familie nach Hause schicken
kann. Ich habe nicht vor, diese Arbeit noch allzu lange zu betreiben, weil meine
Waren sperrig sind und weil ich Ärger mit der Polizei wegen Schwarzhandels
bekomme. Ich habe schon oft Strafen wegen Schwarzhandels von der zuständigen
Aufsicht erhalten, manchmal sind sogar meine Waren beschlagnahmt worden. In
der Zukunft werde ich möglicherweise Hanoi verlassen und in mein Dorf
zurückkehren, um zu heiraten. Vorher muss ich diese Arbeit wohl noch zwei oder
drei Jahre weitermachen. Ich weiß aber auch, dass ich meine Zeit in Hanoi nie
vergessen werde, wie ich durch die Straßen laufe und darauf warte, dass jemand
Hey oder Plastik ruft.« [3]
Diese Geschichte beeindruckt Eli sehr. Vor allem bewegt ihn, wie gelassen Vinh
ihre Geschichte erzählte. Fast scheint es ihm so, als hätte sich Vinh in ihr
Schicksal ergeben. Ob sie wohl jemals eine Chance haben wird, ihr Leben zu
ändern?
Neben diesen Handelsgewerken entdeckt Eli auch noch außergewöhnliche
Berufsstände, die er bisher überhaupt nicht oder in dieser Form noch nicht
kennengelernt hatte.
Kohlenmunk
Diesen Spitznamen hatte Linh von Maik gehört, weil er sich beim Anblick dieser
Männer an den Peter Munk aus der Geschichte von Wilhelm Hauff`s Kaltem
Herz erinnert fühlte.
Diesen Beruf üben hauptsächlich Männer aus, aber Eli hat auch schon vereinzelt
Frauen gesehen. Die Leute bringen zu den vietnamesischen Haushalten die
Kohlen-Schamotte-Steine, mit denen diese ihre Schamotte-Öfchen heizen, um
ihre Mahlzeiten zu bereiten.
Schuhputzer
Einen solchen Beruf kennt der Weltenwanderer aus verschiedenen Ländern, die
er schon bereist hatte. Und auch in Frankfurt auf dem Hauptbahnhof hatte er vor
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Jahren einen beobachtet, der auf einen teilstationären Stand nahezu thronte und
seine Dienste anbot.
Hier in Hanoi ziehen ausschließlich Männer mit ihrer Minimal-Ausrüstung durch
die Straßen. In der Altstadt wollten sie auch unbedingt Eli sogar die Riemchen der
Sandalen oder Linh gar die Flip-Flops putzen und wurden dabei teilweise ganz
schön lästig. Eli beobachtet aber auch mehrfach, dass die Schuhputzer sogar zu
den Leuten ins Haus kommen, um dann vor Ort den familiären Schuhbestand zu
pflegen. Nicht selten hocken dann der Hausherr oder die Hausfrau zu einem
Schwätzchen daneben.
Straßenfriseure
Sie sind aus dem Stadtbild nicht mehr wegzudenken und bilden schon fast so
etwas wie ein Markenzeichen der Stadt. Ob am Straßenbaum oder an einer Mauer
(wie zum Beispiel an der Ostseite des Literaturtempels) - sie haben offensichtlich
ihre Stammplätze und vielleicht auch Stammkunden. Die Minimalausstattung
besteht aus Hocker und Spiegel, Umhang und Schere. Aber oft genug haben sie
sogar elektrischen Strom und können somit auch elektrische Schergeräte
einsetzen.
Und das Geschäft boomt. Aber Frauen als Kundinnen hat der aufmerksame
Beobachter nicht gesehen. Die ziehen wohl doch die Salons vor.
Xe om-Fahrer
Sie lungern an vielen markanten Positionen herum - an Kreuzungen, vor
Einkaufszentren oder Touristenattraktionen oder eben auch nur so auf den
Straßen. Mopedfahrer sitzen oder liegen auf ihren Gefährten. Und oft genug
sprechen sie auch Passanten, also auch Eli, an in der Sprache, die dem Kleinen
immer noch nicht so ganz geläufig ist.
»Das sind Xe om«, sagt Linh mit einer Selbstverständlichkeit, als wüsste das doch
jeder. Xe om - diese Buchstaben hat Eli auch schon mehrfach gelesen. Einfach auf
Pappe gekritzelt, auch wenn da weit und breit kein Moped zu sehen war. Aber
auch nach Linhs dahingeworfener Bemerkung kann er deren Bedeutung nicht
verstehen. Wieder ist die hilfreiche Linh mit einer Erklärung zur Stelle.
»Xe om heißt so viel wie ›Umarme den Fahrer‹ oder ›Moped fahren mit
Umarmung‹. Die Fahrer bieten ihre Dienste als einfachste Form des
Personentransportes an. Viele Vietnamesen nutzen diese Möglichkeit, mal schnell
irgendwohin gefahren zu werden, wo kein Bus hinfährt und ein Taxi gerade nicht
verfügbar oder zu teuer ist. Man nennt das Ziel, handelt den Preis aus, der
meistens unter dem eines Taxis liegt, bekommt einen Helm ausgehändigt und los
geht die Fahrt. Und nicht selten halten sich die Fahrgäste am Fahrer fest - sie
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umarmen ihn eben. Auch viele Ausländer nutzen diese Dienste. Manche von
ihnen haben sogar feste Geschäftsbeziehungen aufgebaut, um sich ins Büro
bringen oder von da abholen zu lassen.«
Das hat Eli verstanden. Viel später bringt er dann auch noch in Erfahrung, dass
die Nachsilbe »om« auch noch ganz andere Bedeutungen haben kann. Zum
Beispiel in Zusammenhang mit dem vietnamesischen Wort für Massage. Da
beinhaltet die Massage eben auch eine Umarmung.
Müllentsorgung
»Dong nat ban di« oder »ban la, may hong ban di«
Mit solchen oder ähnlichen Sing-Sangs radeln öfters junge oder ältere Frauen an
unserem Besucher vorbei. Er kann den Sinn der Worte zwar nicht verstehen, aber
Linh übersetzt den wesentlichen Inhalt schnell: Ich sammle Altstoffe.
Die Stimmlagen, die Eli wahrnimmt, reichen vom piepsigen Sopran bis zum
rostigen Alt. Ja, und wenn die Frauen Glück haben, hält sie ein Ruf aus einem der
Grundstücke zurück oder an einem der Tore hängt ein Beutel mit Plastikflaschen,
Papier oder ähnlichem. Erstaunlicherweise scheinen sie sich sogar auf bestimmte
Altstoffarten spezialisiert zu haben.
Bemerkenswert ist auch, welche Wegstrecken sie täglich zurücklegen. Und je
nach Ausbeute ihrer Sammlung streben sie dann später den Aufkaufstellen zu, vor
denen zu bestimmten Tageszeiten reger Andrang herrscht. Dort wird dann
gewogen, gezählt, gebündelt und gehämmert. Die finanzielle Ausbeute reicht
bestimmt nicht annähernd für eine Rockefeller-Story. Aber die wenigen Dong, die
diese mühselige Arbeit einbringt, tragen etwas zum Familien-Etat bei.
»ding, ding, ding …«
Täglich zu bestimmten, aber von Standort zu Standort unterschiedlichen Zeiten,
klingt dieser Ruf hell durch alle Straßen von Hanoi.
Belustigt beobachtet Eli, wie sich dann überall die Garten- oder Haustore oder
Geschäfte und Büros öffnen und die Anwohner oder ihre Maids zur mobilen
Sammelstelle kommen. Meist steht dort eine junge Frau und verstaut allen Müll in
den Karren. Die typische vietnamesische Kopfbedeckung, der Non, und der
Mundschutz lassen nur einen schmalen Spalt für die Augen frei, die oft lustig
drein schauen und manchmal auch dem seltenen Gast zulächeln. Aber auch
gelangweilte oder gar missmutige Blicke fängt Eli auf und er hat sogar Verständnis
dafür. Schließlich ist das ja nicht gerade ein einfacher Job.
Teilweise sortieren die Sammlerinnen und Sammler hier schon etwas
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Verwertbares aus und dann strebt das Gefährt dem nächsten Sammelplatz zu und
wieder erklingt das ding, ding, ding.
Später abends begegnet Eli solchen Karren wieder. Dann sind diese aber hoch
beladen und schwer und die meist schmächtigen Frauen haben mächtig zu tun,
ihre Fracht durch Straßenunebenheiten und den Verkehr hindurch zum
Standplatz zu befördern. Oftmals werden sie dann von einer Kollegin im
grün-weißen Arbeitsoverall oder zumindest mit einer Schutzweste bekleidet
unterstützt. Diese Frauen gehören zum Besengeschwader. Mit ihren langstieligen
Rutenbesen haben sie vorher Laub und Unrat zusammengefegt. Nicht jeder
Haushalt oder jedes Lädchen wartet auf das Abholkommando, sondern schmeißt
eben seinen Abfall einfach so auf die Straße.
Das alles sammeln die Grüngekleideten in derartige Müllkarren. Manche der
Damen - auch sind vereinzelt männliche Kollegen zu Gange - sind auch schon mit
orangefarbenen Plastetonnen ausgerüstet.
So finden sich bis zum Abend an den Standplätzen eine ganze Menge solcher
Behältnisse ein. Und dann kommen in den Abend bis Nachtstunden die großen
Räumfahrzeuge verschiedener Typen asiatischer Hersteller, in deren gefräßigen
Bauch all dieser Müll verschwindet. Wohin diese dann fahren und wo sie ihre
Fracht entladen, das wusste Linh auch nicht zu erklären. Aber sie berichtet Eli,
dass sich dieses dreistufige Procedere der Müllbeseitigung in Hanoi und in
anderen Orten Vietnams jeden Tag in zig-facher Ausführung vollzieht. Oft genug
sind die Besenfrauen oder die Rumpelkarren störende Verkehrshindernisse für
den Verkehr in den engen Gassen und Straßen. Dabei sollten doch alle froh sein,
dass es sie gibt.
Auf größeren Straßen begegnet Eli sogar ab und an Kehrmaschinen und
Sprühfahrzeugen aus dem Fuhrpark der Stadtreinigung.« Xanh Sach Dep - Grün
Gastfreundlich Schön« steht in großen Lettern als Motto an ihnen geschrieben.
Eli schlussfolgert, dass wenigstens einmal am Tage jeder öffentliche Winkel der
Stadt vom Müll befreit wird. Aber etwas resignierend muss er auch konstatieren,
dass dieser saubere Zustand nicht allzu lange anhält. Denn bald darauf fliegt
wieder genügend Müll auf die Straße - verpackt oder lose.
Insgesamt, so resümiert der Weltenwanderer, ist Hanoi nicht gerade die
sauberste Stadt. Aber er hat auch in Europa schon schlimmere Zustände erlebt.
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Das Leben in der Gasse
Nun hat Eli, der Weltenwandler, schon vieles erlebt in dieser quirligen Stadt; hat
manch ungewöhnliche, schon beinahe seltsame Angewohnheiten seiner Bewohner
kennengelernt. Er fühlt sich gar nicht mehr so fremd wie bei seiner Ankunft, fast
schon etwas vertraut. Aber dennoch fragt er sich immer wieder: Wie leben diese
Menschen wirklich? Nein, der Alltag in den zahlreichen Offices oder in den
großen Wohnhäusern der Neubauviertel interessiert ihn nicht so sehr. Wie läuft
der Alltag in einem typischen Wohnviertel ab, wenn die Menschen nicht gerade
Moped fahren, telefonieren oder die Ahnen verehren?
Und wiederum, als könne sie Gedanken lesen, fasst Linh, die unermüdliche und
aufmerksame Begleiterin, den Kleinen an der Hand.
»Komm, lass uns in die Vong Thi gehen. Dort wirst du vieles sehen und unser
Leben vielleicht noch mehr verstehen lernen«.
Die Pho Vong Thi
Dies ist eine typische Straße im Stadtbezirk Tay Ho in der nordwestlichen
Vorstadt von Hanoi. Sie verbindet die Lac Long Quan, eine der größeren
Ausfallstraßen nach Norden, mit der Uferpromenade am südlichen Ufer des
West-Lake. Ausländer kommen nur äußerst selten hierher. Nur einige wenige von
ihnen wohnen hier.
Breiter als sechs Meter ist sie wohl überhaupt nicht und ihre engste Stelle kann
gerade mal ein PKW oder kleinerer Transporter passieren.
Auf ungefähr vierhundert Metern Länge findet man so ziemlich alles, was man
zum täglichen vietnamesischen Leben braucht. Und schon zählt Linh auf: »Hier in
dieser Straße befinden sich
- zwei Schulen: das achtstöckige Gebäude der Schule für die älteren Jahrgänge
dominiert das ganze Terrain. Alle anderen Gebäude erheben sich maximal bis zu
vier Etagen.
- vier Kindergärten (besser gesagt: Kinderaufbewahrungsanstalten, denn mit
Garten haben diese Häuser nichts zu tun)
- eine Apotheke im Sinne eines kleinen Ladens, in dem hauptsächlich
medizinische Produkte, aber auch Kosmetikartikel verkauft werden
- ein Zahnarzt
- drei Behörden
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- ein Internet-Café
- zwei Copy-Shops
- vier Fahrzeugwäschen ( natürlich von Hand betrieben)
- vier Friseur-Salons
- ein Taxistand
- zwei kleine Garküchen, in denen man Com Binh Dan oder Bun Cha vor Ort
essen oder zum Mitnehmen kaufen kann
- drei mobile Fleischer
und eine ganze Anzahl von kleinen Geschäften. Einige dieser winzig kleinen
nennt Maik immer Tante-Emma-Laden.«
Linh holt etwas Luft und fügt dann noch hinzu: »Aber jedesmal, wenn ich durch
die Vong Thi laufe, hat sich etwas verändert. Fast ist es so, als würde ich bei der
Aufzählung all dieser Örtlichkeiten im Wettlauf mit der Zeit stehen. Wenn du
später noch einmal hierher kommst, wirst du vielleicht ganz andere
Gegebenheiten vorfinden. Aus einem Copy-Shop ist dann vielleicht eine
Schneiderei geworden, einige Garküchen wurden geschlossen und wiederum neue
eröffnet oder was sich sonst so entwickeln kann. Die Straße befindet sich in
ständiger Veränderung.«
Natürlich sieht Eli auch einige Wohnhäuser. Aber die meisten stehen in den
abzweigenden Gassen.
Es ist noch früh am Morgen, als Linh und Eli ihre Schritte durch diese Straße
lenken. Aber dennoch herrscht hier Hochbetrieb. Ein nicht enden wollender
Strom an Mopeds und auch einigen PKW fließt in beiden Richtungen. Für viele
Frauen und Männer führt der Weg zur Arbeit eben auch hier entlang. Manchmal
stockt der Strom an einer engen Stelle, wenn dort jemand gerade noch ein paar
Blumen oder etwas Gemüse bei den vielen Händlern erwerben will.
An Händlern und vor allem Händlerinnen mangelt es hier zu diesem Zeitpunkt
nicht. Frauen stehen mit ihren voll bepackten Fahrrädern da und bieten Ananas
oder Mango oder sonstige Früchte an. An verschiedenen Stellen haben andere
Frauen Gemüse und Kräuter auf Planen auf dem Boden ausgebreitet. Ihr Angebot
ist zum Teil recht breit gefächert: Tomaten, Gurken, Kürbis, Möhren und allerlei
Grünzeug, auch Eier und ein paar Hühner im Käfig stehen herum. An anderer
Stelle sitzt ein altes Mütterchen mit sehr geringem Angebot: etwas Grünzeug, ein
paar Knoblauchzehen. Stammt das aus ihrem eigenen Garten oder versucht auch
sie noch am Ende der Verteilungskette ein paar Dong zu verdienen? Gegenüber
haben zwei junge Frauen Blumenbündel um sich gelagert - zumeist Rosen und
Chrysanthemen. Auch das ist nicht die FirstClass-Ware und ist auch nicht so
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kunstvoll drapiert, wie bei den vielen Blumenverkäuferinnen mit ihren Fahrrädern
überall sonst in der Stadt. Aber auch für die meisten dieser
Am-Boden-Händlerinnen finden sich Käufer, die Waren werden begutachtet, es
wird gefeilscht und für ein Schwätzchen ist oftmals auch noch Zeit. Nicht lange
und dann sind die meisten dieser Boden-Händlerinnen wieder verschwunden. Der
junge Mann, der aber gerade an einer Hofeinfahrt Kisten ablädt und ein breiteres
Angebot an Gemüse ausbreitet, richtet sich dagegen für den Aufenthalt am
ganzen Tag ein.
Das alles beobachtet Eli mit großem Interesse. Und er stellt fest, dass neben dem
Kaufen und Verkaufen auch das Essen in aller Öffentlichkeit an diesem Morgen
die Menschen sehr stark beschäftigt.
Hier hat ein Café geöffnet. So steht es zumindest in großen Buchstaben auf die
blau-violette Hauswand geschrieben. Ein Scherentor-Gitter ist zur Seite
geschoben und in dem Raum sitzen Jüngere und Ältere auf Holzbänken und
schlürfen und stopfen etwas aus dampfenden Schüsseln in sich hinein. Vor dem
Café in einer Seitengasse sind auch ein paar niedrige Plastehöckerchen gut besetzt.
Dort ist ein Hoftor geöffnet. Davor sitzt eine schon etwas ältere Frau. Um sich
herum hat sie Töpfe postiert. Ab und an kommen Frauen und auch Kinder mit
kleineren Schüsseln und bekommen in diese eine breiartige Masse gefüllt. Aber
auch Rad- und Mopedfahrer stoppen, bekommen ihren Brei in Beutel abgepackt
und fahren von dannen.
Vor dem Friseursalon an der nächsten Ecke hat sich ein schon etwas
komfortabler Imbissstand etabliert. Zur Ausstattung gehören eine kleine, fahrbare
Theke, zwei Sonnenschirme und die obligatorischen Plastehocker. An der Theke
dampft und brutzelt ein offenbar etwas größeres Speisenangebot.
Selbst zu den beiden Frauen, die am Boden ihr Gemüse feilbieten, hat sich
mittlerweile eine dritte gesellt. Mit dem Moped hat sie einen Kübel angeschleppt,
aus dem sie auch eine dampfende Speise an die Kunden verteilt.
Etwas weiter vorn in der Nachbarschaft der Schulen sind mehrere Stände und
kleine Geschäfte von den Schülern zeitweilig dicht umringt, die noch schnell einen
Hot Dog oder irgendwelche Snacks zu sich nehmen. Und dann dürfen natürlich
auch die schon bekannten Garküchen nicht fehlen, in denen schon am frühen
Morgen Pho konsumiert wird.
»Weißt du«, so nimmt Linh den Gesprächsfaden zur Erläuterung des
Geschehens wieder auf, »in den meisten vietnamesischen Familien wird das
Frühstück nicht zu Hause zubereitet und eingenommen. Wie du sehen kannst,
frühstücken viele Menschen einfach auf der Straße oder sie holen sich etwas nach
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Hause. Und nicht wenige nehmen ihr Frühstück auch mit an ihren Arbeitsplatz oft genug in irgendwelchen Büros.«
In die Straße Vong Thi mündet ein weit verzweigtes Netz von Gassen und
Gässchen, in dem man sich fast verlaufen kann. Eine davon verbindet über fast
fünfhundert Meter die Vong Thi mit der Thuy Khue, eine der Straßen, die vom
erweiterten Stadtzentrum in Richtung Westen führt.
Durch diese Gasse laufen nun unser Weltenwandler und seine eifrige und
umsichtige Begleiterin. Sie ist eng, diese Gasse. Zwei Mopeds passen in langsamer
Fahrt gerade so aneinander vorbei. Die engste Stelle, die jeweils rechtwinklig um
zwei Mauerecken führt, kann aber immer nur ein Moped oder ein Fußgänger
passieren. Die Mopedfahrer verständigen sich auch hier mit lautem Hupen.
»Hier kann man sich ja wirklich verlaufen, wie in einem Labyrinth«, stellt Eli fest,
nachdem sie bereits mehrfach in eine Seitengasse abgebogen waren und von dieser
wieder in eine Seitengasse und schließlich vor drei Hauseingängen stehen, bei
denen es kein Durchkommen mehr gibt. Schon einige Zeit stellt er sich die Frage,
wie man denn hier solch hohe Häuser bauen könne. In der Enge der Gasse
kommen ihm die meist drei- bis vierstöckigen Häuser riesig vor.
»Hier kommt doch kein noch so kleiner Transporter durch. Wie gelangt dann
das ganze Baumaterial hierher?«
In einer der weiteren Seiten-Seitengasse bekommt er seine Antwort. Hier
herrscht reger Baustellenverkehr. Einachsige Karren - vollbeladen mit Sand,
Ziegelsteinen, Zementsäcken oder anderem Baumaterial - werden von Männern in
abgewetzter Kleidung gezogen oder geschoben. Bei der Begegnung mit den leeren
Karren auf dem Rückweg müssen sie immer an bestimmten Stellen warten, um
auch wirklich aneinander vorbei zu kommen. In diesen Verkehrsstrom mischen
sich auch noch geschobene Fahrräder, rechts und links mit großen Körben oder
Gestellen behangen, in denen ebenfalls Baumaterial transportiert wird.
»In einem Museum habe ich auf Bildern und Ausstellungsstücken gesehen, wie
auf diese Art während der Kriege tonnenweise Versorgungsgüter, Waffen und
Munition über große Entfernungen bewegt wurden«, ergänzt Linh die
Beobachtungen.
Sie gelangen wieder zurück zu der langgestreckten Verbindungsgasse. Auch hier
stehen die Häuser dicht an dicht. Aber Eli stellt fest, dass keines dem anderen
gleicht. Ja doch, schmal und hoch sind die meisten von ihnen. Aber fast kommt es
ihm vor, als hätte jedes Haus sein eigenes Gesicht.
Viele von ihnen schließen direkt an der Kante zur Gasse ab. Ein Scherengitter
schützt noch eine mehr oder weniger verzierte Tür, oftmals aus Blech. Diese ist
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tagsüber meistens geschlossen, wenn die Anwohner zur Arbeit gefahren sind. Nur
bei einigen Häusern können die Beiden im Vorbeigehen einen Blick in den sich
dahinter befindlichen Raum werfen, der die ganze Breite des Hauses einnimmt.
Und das sind selten mehr als drei bis vier Meter.
Da können sie aber doch ein sehr breites Spektrum der Inneneinrichtung
erkennen: breite wuchtige Bänke und Sessel stehen an niedrigen Tischen, die Armund Rückenlehnen sind kunstvoll geschnitzt und das ganze Holz ist dunkelbraun
bis fast schwarz gebeizt und lackiert. An der gegenüberliegenden Wand stehen
halbhohe Schränke, ebenso kunstvoll gearbeitet;
In anderen Wohnungen stehen einfache Stühle aus Holz, Metall oder Plaste an
ebensolchen Tischen, in vielen Räumen ist der Fußboden aber nur mit Matten
ausgelegt, auf denen ab und zu auch Kissen liegen. Auch einige bettartige Gestelle,
ebenfalls mit Matten belegt, können die Beobachter erkennen.
Aber eines trifft für nahezu alle Wohnungen zu: wenn die Tür offen ist, das
heißt, wenn auch Leute anwesend sind, dann ist auch der Fernseher eingeschaltet.
Und da flimmern schon sehr oft große Flachbildschirme.
In den hinteren Partien der Häuser führen Treppen in die oberen Stockwerke
und daneben und dahinter sind Küchen eingerichtet.
Und so eng die Räume auch sein mögen, Platz für ein oder mehrere Mopeds
findet sich immer. Auch wenn eng daneben die Bewohner sitzen oder Kinder
spielen.
In nicht wenigen Häusern wird der untere Raum, der auch dicht an die Gasse
grenzt, als Geschäft genutzt. Eli registriert das als zweiten Haustyp. An einigen
Verkaufsständen, Marke Kleine Tante Emma würde Maik dazu sagen, wird das
angeboten, was die weniger mobilen Einwohner der Nachbarschaft so zum
täglichen Leben benötigen - Snacks und Öl, Saft und Zigaretten und dies und das.
Gerade bedient eine junge Frau eine Kundin, um sich gleich darauf wieder ihrem
Kleinkind zu widmen, das im Hintergrund im Stühlchen sitzt - natürlich vor dem
Fernseher!
Auch ein Mini-Friseursalon mit einem Platz ist zu sehen.
Eine andere Frau hat diese Geschäftskombination gewählt: Im hinteren Teil des
Raumes stehen zwei Reihen Computer und Spielkonsolen. Den vorderen Teil hat
sie sich als Nähstube eingerichtet. Da bekommt sie wenigstens noch etwas vom
Tageslicht ab. Am nun mittlerweile frühen Vormittag sind die Computer nur
spärlich besetzt, aber die Frau ist schon emsig beim Nähen.
Während die beiden so dahin schlendern, treffen sie Lori auf ihrem Weg zu einer
Schule für Behinderte, wo sie ein Praktikum absolviert. Sie wohnt bei einer
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vietnamesischen Gastfamilie nicht weit von hier entfernt.
Linh stellt ihren Begleiter kurz vor und bittet sie, Eli doch einmal zu schildern,
wie sich das Leben da abspielt. Und Lori lässt sich nicht lange bitten und
berichtet.
»Unser Haus ist enorm schmal. In Vietnam werden Steuern nach der Breite des
Hauses gezahlt, das heißt, wer reich ist, hat kein großes, sondern ein breites Haus.
Unser Haus ist wirklich nicht viel breiter als meine Armspanne. Die Wendeltreppe
ist deshalb enorm steil, sodass ich sie meist seitlich hochsteigen muss. Deswegen
gibt es auch auf jeder Etage nur ein Zimmer. Ganz unten ist das Wohnzimmer,
dessen Tür zur Straße hin immer offen steht. Es dient gleichzeitig als
Ladenverkaufsfläche für Zeitungen und Bücher - das Familiengeschäft sozusagen und als Esszimmer. Gegessen wird auf einer Bambusmatte auf dem Boden.
Nachts werden noch zwei Motorräder herein geschoben, die tagsüber vor der Tür
stehen, denn es gibt einfach nirgendwo Platz. Unser Haus ist immer offen, und es
ist völlig normal, dass Schulmädchen in unserem Wohnzimmer rumschlendern,
um sich die Comicbücher anzugucken.
Wie in Vietnam so oft üblich, verkauft meine Gastfamilie direkt aus dem
Wohnzimmer heraus. Deswegen muss praktisch immer jemand unten sitzen und
aufpassen und unsere Haustür wird auch nur nachts verschlossen. Es gibt beim
Zeitungsverkaufen keine wirklich festen Schichten. Wer halt da ist, der verkauft.
Wenn die anderen gerade in der Küche oder im Bad sind, habe ich auch schon die
eine oder andere Zeitung verkauft. Man hat dadurch allerdings nie Privatsphäre,
selbst während der Mahlzeiten bedienen wir Kundschaft. Aber nach einiger Zeit
findet man Gefallen daran. Man ist eben Teil der Nachbarschaft [4]. Nun muss ich
mich aber sputen. Meine Schüler warten schon auf mich.«
Mit diesen Worten eilt Lori davon, nicht ohne vorher Eli noch viel Freude beim
Erkunden des Lebens in Hanoi gewünscht zu haben.
Nach ein paar Schritten weiter gerät Eli wieder einmal sehr ins Staunen und auch
Linh scheint etwas überrascht zu sein. Sie stehen vor einem Schmuckgeschäft, in
dem in hellen ordentlichen Vitrinen sogar Silberschmuck angeboten wird. Das
hatte selbst Linh in dieser Umgebung nicht erwartet. Als krasser Gegensatz dazu
befindet sich zwei Häuser weiter eine kleine mechanische Werkstatt mit Bohr- und
Drehmaschine.
Eli denkt ja immer sehr logisch und ist geübt, seine Beobachtungen möglichst
sofort zu strukturieren und statistisch zu ordnen. So wie er das Verhalten der
Vietnamesen im Straßenverkehr klassifiziert hatte. Und so kann er beim Gang
durch die Gasse auch noch einen dritten Haustyp ausmachen:
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Diese Häuser stehen etwas nach hinten versetzt und lassen somit Platz für einen
mehr oder weniger kleinen Hof. Im Kleinsten finden gerade mal zwei Mopeds
und ein Blumentopf Platz. Ein paar Schritte weiter gibt ein halb offenstehendes
Metalltor den Blick auf einen geräumigen Hof frei. Dieser ist sauber gefliest. An
einer Seitenwand ist ein kleines Wasserbassin in den Boden eingelassen, in das aus
der mit Felssteinen verkleideten Wand ein kleiner Wasserfall plätschert. Auf der
Gegenseite zieht sich eine Rabatte hin, in der neben anderen grünen Gewächsen
sogar eine Bananenstaude in die Höhe ragt.
Überhaupt Blumen. Egal wie die Häuser aussehen - ob gut gepflegt oder doch in
nicht so gutem Zustand - etwas Blühendes oder zumindest etwas grünes
Lebendiges findet sich fast in und an jedem Haus. Da ragen ein paar
Christusdornen von der Mauer herunter und dort hängen viele Orchideen über
den engen Hof. Hier recken sich die Zweige von Bambus empor und dort steht
eine kleine Palme auf dem Balkon. An einer besonders sonnigen Ecke ist eine
Bougainvillea bis in die zweite Etage hochgeklettert und entfaltet als wahres
Feuerwerk ihre leuchtenden rot-violetten Blüten.
Über all diesen Betrachtungen der Häuser verliert Eli nicht den Blick auf die
Menschen in dieser Gasse. Vor ihnen läuft eine junge Frau. Auf dem linken Arm
trägt sie einen kleinen Jungen, sicherlich nicht älter als sechs Monate. Die linke
Hand hält noch einen Becher, aus dem die Mutter ab und an mit einem Löffel
dem Jungen etwas Brei in den Mund stopft.
Das war Eli schon mehrfach aufgefallen, dass Mütter und Großmütter ihre
Sprösslinge auf der Straße füttern, egal ob sie diese auf dem Arm halten oder sie
in irgendwelchen Wägelchen oder auf Plastetieren auf Rädern über die Wege
schieben - eine seltsame Angewohnheit. Selbst die sonst um keine Antwort
verlegene Linh findet dafür keine plausible Erklärung außer der lapidaren
Feststellung: »Das ist eben bei uns so Sitte.«
Ein paar Schritte weiter - gerade mussten sie zum wiederholten Male entgegen
oder von hinten kommenden Mopeds ausweichen - hat Eli wieder allen Grund
zum Staunen. Ein Mann hockt vor seinem Hauseingang auf der Gasse. Vor ihm
brutzelt etwas in einer Blechpfanne. Beim genaueren Betrachten entdeckt Eli eine
eigenartige Konstruktion. Ein Hohl-Zylinder aus einer steinartigen Masse von
ungefähr vierzig Zentimeter Durchmesser wird von Blech umhüllt. In der
Zylinderröhre steckt ein glühender Stein, der die darüber stehende Pfanne erhitzt.
Nein, ein natürlicher Stein ist das nicht. Daneben liegt ein solcher Stein im kalten
Zustand. Es ist ebenfalls ein glatter Zylinder, ungefähr fünfzehn Zentimeter im
Durchmesser, grau-braun mit mehreren röhrenförmigen Löchern.
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»Das ist ein transportabler Mini-Ofen«, erklärt Linh einmal mehr. »Du hast ja
schon mehrfach die Männer gesehen, die solche Glüh-Steine auf ihren Fahrrädern
transportieren. Diese Steine sind aus einem Gemisch aus Kohle und Schamotte
zusammengepresst. Einmal angezündet, glühen sie lange Zeit vor sich hin und
geben Hitze ab. Der Mantel des Ofens ist ebenfalls aus Schamotte und dadurch
wird die Wärme kontrolliert nach oben abgegeben. Und damit die ganze Hitze
und der Qualm und Geruch beim Kochen und Braten nicht in das enge Haus
ziehen, wird der Vorgang eben nach draußen auf die Gasse verlegt. Du hast ja
auch den Henkel an dem Öfchen gesehen. Damit kann man diesen im Winter
auch nach dem Kochen in das Haus tragen und drinnen etwas für Wärme sorgen.
Viele dieser Häuser haben keinen richtigen Ofen oder gar eine Heizung. Übrigens
gibt es solche Öfen auch noch in größerer Ausführung, die gleich drei solcher
Glüh-Steine aufnehmen kann«.
»Was man sich doch alles einfallen lassen kann«, sinniert Eli beeindruckt vor sich
hin. Doch sogleich wird er wieder aus seinen Gedanken gerissen, denn vor ihm auch in der Gasse - bewältigt eine Frau gerade den Aufwasch des Geschirrs. Ein
Schlauch kommt von irgendwo aus dem Haus. Aus ihm fließt Wasser in eine
große, grüne Plaste-Schüssel. Links neben der Schüssel türmt sich das schmutzige
Geschirr, eine Vielzahl von irdenen Schüsseln und Blechtöpfen. Auch die
obligatorischen Stäbchen dürfen nicht fehlen. Nachdem die Frau das alles mit
einem Lappen und reichlich Wasser gesäubert hat, postiert sie das nun saubere
Geschirr im Hauseingang, ebenfalls auf dem Fußboden. Das überschüssige
Wasser fließt derweil in die Gasse und versickert in die Lücken in den
Betonplatten, die nun die Aufmerksamkeit des Beobachters erwecken.
»Unter diesen Platten verläuft ein Kanal, der all das Wasser aufnimmt.« Mit
diesen Worten ist Linh schon wieder mit einer Erklärung zur Stelle, bevor Eli nur
eine Frage stellen kann. »Du hast ja sicher schon bemerkt, dass von vielen
Dächern und Balkonen Abflussrohre mehr oder weniger weit oben in der Luft
enden. Daraus fließt das Regenwasser eben einfach in die Gasse und der Kanal
leitet es ab. Du bist ja jetzt in der Trockenzeit zu uns gekommen. Aber in der
Regenzeit, da plätschert, oder besser gesagt, gießt es manchmal ganz schön heftig.
Dann können solche Kanäle die Wassermassen gar nicht so schnell ableiten und
auch solche Gassen stehen manchmal unter Wasser, obwohl sie weit weg von
irgendwelchen Flüssen oder Kanälen sind. Aber meistens ist das nach kurzer Zeit
wieder vorüber«.
Diese Worte sind für Eli Anlass, auch ab und zu einmal den Blick nach oben zu
richten. Ohje, ohje, was er da erblickt, lässt ihn erschaudern. Wüste Kabelstränge
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ziehen sich da von Mast zu Mast. Manche Kabel hängen gefährlich weit nach
unten, einige sind an freier Luft einfach aneinander geklemmt.
»Ja, das ist wirklich nicht in Ordnung«, bestätigt Linh Elis besorgten Blick. »Ein
ausländischer Bekannter hat mir einmal erzählt, dass er mit dem Moped auf dem
Weg zu seinem Haus in einer Seiten-Seiten-Gasse fast an einem solchen Kabel
hängengeblieben war. Die Bauarbeiter hatten es zu ihrem Feierabend einfach so
tief hängen lassen. Aber die Behörden haben uns versprochen, dass all diese
Kabelverbindungen bald geordnet und zum Teil in die Erde verlegt werden
sollen.« Doch mit einem resignierenden Seufzer fügt sie hinzu: »Bis dahin wird
wohl noch einige Zeit vergehen. Es ist schon ein Wunder, dass bei diesem
Kabelsalat nicht viel öfter Kurzschlüsse und Stromausfälle passieren.«
An einem der Maste hängen viele graue Kästen mit einer kleinen Glasfläche. Eli
erscheint es fast so, als würden ihn viele einäugige Monster anstarren.
»Das sind die Stromzähler«, erklärt die sachkundige Linh. »Einmal im Monat
klettern Mitarbeiter der Stromversorgungsgesellschaft mit Leitern nach oben, um
die Zählerstände abzulesen. Erstaunlich, wie sie diese dann auch den richtigen
Haushalten zuordnen können. Denn viele der Leute wissen selbst gar nicht, wo
sich ihr Stromzähler befindet. Mein ausländischer Bekannter hat sich vor einiger
Zeit gewundert, dass seine Stromrechnung so hoch ausgefallen war. Er musste
dann feststellen, dass irgendjemand an seinem Zähler Kabel angeschlossen und
sich so auf seine Kosten mit Strom versorgt hatte.«
Mit diesen Worten sind die beiden wieder etwas weiter gewandert. Eli erfreut
sich an den Blumen, die in der hellen Sonne von den Balkonen der Häuser zu ihm
herunter grüßen. Nun wird es aber etwas dunkler. Fast erscheint es ihm, als liefen
sie in einen Tunnel hinein. Tatsächlich sind auf einer Strecke von fast vierzig
Metern die Häuserfronten ab der ersten Etage etwas vorgebaut.
»Da kann man ja fast von einem Haus über die Gasse in das gegenüberliegende
Haus klettern«, belustigt sich der Kleine. Und ebenso bemerkenswert findet er,
dass auch hier, so wie an vielen anderen Häusern, rote Fahnen mit einem gelben
Stern hängen.
»Unsere Nationalflagge«, bemerkt Linh, nicht ohne einen gewissen Anflug von
Stolz in ihrer Stimme. Ob aber hier in dieser engen Gasse besonders viele
Patrioten wohnen, das kann Linh auch nicht erklären.
Auch in diesem Tunnel pulsiert das Leben. In einer Nische sitzt eine ältere Frau
und bietet allerlei Papiere und Räucherstäbchen für die Ahnenverehrung an. Mit
schlohweißen Haaren und ganz heller Haut muss sie wohl die Sonne besonders
meiden und hat deshalb hier ihren Standort gewählt.
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Zahnbehandlung Coram publico
Nach all diesen Beobachtungen sind Eli und Linh wieder in die Vong Thi
zurückgekehrt.
Ein vermeintliches Geschäft erweckt Elis besonderes Interesse. Die vor dem
ungefähr fünf Meter breiten Gebäude geparkten Mopeds lassen erwarten, dass
mehrere Menschen hineingegangen sind. Und tatsächlich, durch die Glasfront
über die gesamte Gebäudebreite sehen die Beobachter mehrere Frauen mit
Kindern und auch einen Mann sitzen. Eigentümlich ist nur, dass sie alle ihre
Schuhe oder Flip-Flops außen vor der Glastür abgestellt haben. Und beim
näheren Hinschauen will Eli seinen Augen nicht trauen - er schaut in eine
Zahnarztpraxis. Wie in einem Friseursalon sitzen hier Wartende und Patient in
engster Nachbarschaft. Auf dem Behandlungsstuhl sitzt ein Kind, über das sich
der Arzt im grünen Kittel beugt. Drum herum stehen drei Assistentinnen in
weißen Kitteln und die besorgt-aufgeregte Mutter in normaler Straßenkleidung.
Außer einem von der Decke hängenden Spiegel und einem Ventilator kann Eli
keine weitere Gerätschaft entdecken. Nur ein paar Glasschränke füllten die
gegenüberliegende Seite des Raumes.
Die wartenden Patienten nehmen von dem ganzen Geschehen wenig Kenntnis,
sondern schauen auf einen großen Flachbildschirm-TV - da wird aber nicht die
Zahnbehandlung live übertragen, sondern es läuft ein Movie - oder blättern
gelangweilt in irgendwelchen Zeitschriften.
An der Rückseite des Raumes prangen, ebenfalls an einer Wand aus Milchglas,
die großen Buchstaben VIP. Ob dahinter in einem separaten Raum die besser
zahlenden Patienten behandelt werden?
Das alte Haus
»Komm, jetzt zeige ich dir etwas, was du in Hanoi nur ganz selten zu sehen
bekommst.«
Mit diesen fast verschwörerisch klingenden Worten öffnet Linh eine
unscheinbare Pforte in der Gasse 45 A. Zuvor waren sie einige Schritte an einer
schon etwas verwitterten Mauer entlang gelaufen. Über der Pforte sind noch alte
Schriftzeichen zu erkennen, die Eli doch sehr dem Chinesischen ähnlich
vorkommen.
Sie betreten einen Hof, ungefähr fünfzehn mal zwanzig Meter groß.
Linh verständigt sich kurz mit einer jungen Frau, die in einer Ecke des Hofes
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Wäsche aufhängt. »Sie hat nichts dagegen, wenn wir uns hier etwas umsehen.«
Die Rückfront des Grundstückes wird von einem einstöckigen Haus
eingenommen. Das Zentrum bildet ein fast fünf Meter breiter Raum. Er ist über
die ganze Breite von Holztüren verschließbar. Einige stehen offen. Und so
erblickt Eli in der Mitte des Raumes einen Altar, das Heiligtum der Familie. Hier
sind Bilder der Vorfahren, Lampen und Räucherstäbchen und die obligatorischen
Opfergaben angeordnet.
Vor dem Altar steht ein halbhoher Tisch, der rechts und links von Sitzbänken
mit Lehnen flankiert wird. An den Wänden erkennt Eli noch ein paar kleine
Schränkchen und Regale. Aber den, für die meisten der vorher betrachteten
Häuser, selbstverständlichen Fernseher kann er nicht entdecken. Gern hätte der
Erkunder noch ein paar Blicke in die rechts und links angrenzenden Räume
geworfen. Aber er will ja nicht zu neugierig und aufdringlich sein. So lässt er
seinen Blick weiter im Grundstück kreisen. An der gegenüberliegenden Seite, also
an der Straßenfront, steht noch ein Gebäude. Hier verraten Zahnputzbecher über
einem Waschbecken mit Spiegel an einer halbhoch gefliesten Wand, dass es sich
wohl um den Sanitärtrakt handeln muss.
Im Grundstück stehen noch einige Bäume und Beete mit Blumen und etwas
Gemüse. Ein paar Hühner scharren im Boden.
Diese Beobachtungen ergänzt Linh noch mit einer umfangreichen Erklärung.
»Dieses Haus hier ist ein sogenanntes historisches Haus. Es stammt in seiner
Urform noch aus der Zeit, als die Chinesen über Tausend Jahre unser Land
besetzt hatten. Über die vielen Jahre hinweg haben sich die Häuser sicherlich in
vielen Details verändert, aber der prinzipielle Aufbau der Häuser ist erhalten
geblieben. In der Stadt wurden die meisten dieser historischen Häuser durch die
typischen vietnamesischen Häuser mit kleiner Grundfläche und vielen
Stockwerken verdrängt.
Dieses Haus hier habe ich mit meiner Freundin Hong entdeckt. Sie arbeitet in
einem Immobilienbüro und hatte die Information über das Haus von Maik
erhalten, der in diesem Terrain wohnt. Das Haus ist mit seinem Grundstück leider
nicht sehr gepflegt. Aber Hong hatte mich zu ihrer Hochzeit in ihr Dorf, ungefähr
fünfzig Kilometer von Hanoi entfernt, eingeladen. Dort konnte ich noch mehrere
dieser Häuser betrachten. Sie waren größer und gut erhalten und gepflegt und
hatten noch mehrere Nebengelasse. Aber der prinzipielle Aufbau des Haupthauses
war nicht zu übersehen. Und noch eine Besonderheit konnte ich dort bestaunen:
Das Dach ist eigentlich der wichtigste und schönste Teil des Hauses. Je nach
Geschick und Geldbeutel der Hausherren werden die Dächer von innen und von
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außen kunstvoll gestaltet. Und in Hongs Dorf gibt es offensichtlich einige
geschickte Handwerker und dicke Geldbeutel.«
Bei diesen letzten Worten muss Eli wieder an die Erzählung Vinhs denken.
»Offensichtlich ist in Hanoi die Dicke des Geldbeutels sehr ungleich verteilt«,
sinniert er.
Doch Linh erzählt fröhlich weiter von ihren Erkundungen in Hongs
Heimatdorf.
»Und noch etwas fand ich bemerkenswert: Auch einige junge Leute bewahren
die Tradition dieser alten Häuser. Hong hat mit ihrem Ehemann das Dach für ein
historisches Haus von einer anderen Familie gekauft und sich selbst ein solches
Haus errichtet, wo sie nun schon als richtige Familie mit einem kleinen Jungen
wohnt.«
Eli, der Weltenwandler, ist der guten Seele Linh richtig dankbar, dass sie ihm
eine solche Rarität in Hanoi gezeigt und erklärt hat. Aber eine Frage kann die
sonst fast beinahe allwissend erscheinende Linh auch nicht klären.
Eli hatte ja schon darüber gehört, dass die Preise und Steuern für ein Grundstück
nach der Länge der Straßenfront berechnet werden. Deshalb sind ja die meisten
vietnamesischen Häuser so schmal, aber oft sehr lang und hoch. Aber dieses Haus
in der Ngo 45A hat doch eine sehr lange Straßenfront. Müssen die Besitzer oder
Bewohner dieses Hauses so viel Steuern bezahlen oder gelten für diese
historischen Häuser andere Maßstäbe?
Nach diesem aufregenden und äußerst informativem Spaziergang kommt es Eli
so vor, als präsentiere sich hier in der Vong Thi und ihren angrenzenden Gassen
das einfache Leben der Vietnamesen wie auf einer großen Bühne, nur dass es eben
das wirkliche Leben ist und keine arrangierte Vorstellung für Touristen und
Zuschauer.
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Abschied
Es waren nicht viele Tage, die der Weltenwanderer in Hanoi verbrachte. Aber sie
kommen ihm wie eine Ewigkeit vor. Solch eine Fülle von Eindrücken war noch
nie auf seinen bisherigen Reisen auf ihn hereingebrochen.
So verspürt er immer stärker, wie eine gewisse Müdigkeit sich in ihm breit macht.
Und ein Gefühl der Sehnsucht. Sehnsucht nach seiner eigenen Welt, in die er sich
zurückziehen kann.
Es ist also Zeit für die Abreise. Als er Linh, seiner Freundin, die ihn so
fürsorglich in Hanoi begleitet hat, erklärt, wie ihm zumute ist, scheint sie zu
verstehen. Aber sie schaut ihn mit ihren großen dunklen Augen traurig an. »Du
wirst mir fehlen, kleiner Freund!«
Das sind seine letzten Eindrücke von Hanoi, als er entschwindet. Einfach so, wie
er auch einfach so erschienen war.
Linh reibt sich verwundert die Augen. Ist da eine kleine Träne?
Ob sie den Kleinen noch einmal wiedersehen wird? Es gäbe ja noch so vieles zu
zeigen und zu erzählen über ihr Land.
Oder ob sie das alles nur geträumt hat?
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Epilog
Der Weltenwanderer Eli hat schon längst Hanoi verlassen und ist wieder in andere
Welten eingetaucht.
Das Leben in Hanoi ist weitergegangen. Sicherlich hat sich seit dem Besuch Elis
einiges in Hanoi verändert. Viele neue moderne Gebäude, Geschäfte und
Einrichtungen werden entstanden sein. An einigen, damals neuen Gebäuden und
Straßenzügen wird auch schon wieder der Zahn der Zeit genagt haben, weil die
Bauausführung oft nicht genügend sorgsam und tiefgründig erfolgte und weil das
Klima auch sein Übriges dazu beigetragen hat.
Vielleicht haben es die Ordnungshüter geschafft, das tägliche Chaos auf den
Straßen wenigstens etwas in den Griff zu bekommen. Vielleicht ist es aber auch
noch schlimmer geworden, denn die Verkehrsdichte insgesamt und besonders die
Anzahl der PKW ist sicherlich noch weiter angestiegen und hat das
Fassungsvermögen der meisten Straßen in Hanoi weit übertroffen.
Ein jeder Besucher, egal ob er das erste Mal seine Schritte durch Hanoi lenkt
oder ob er zum wiederholten Mal diese Stadt aufsucht, wird also immer wieder ein
neues Bild von Hanoi wahrnehmen.
Was sich aber mit größerer Wahrscheinlichkeit nicht so schnell geändert haben
wird, das sind die Menschen mit ihrer Betriebsamkeit und ihren Eigenarten, von
denen Eli einige kennengelernt und beschrieben hat.
Man kann sie lieben oder hassen, diese Stadt und die Menschen. Aber
besuchenswert sind sie allemal!
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Anmerkungen
[1] 100.000 VND (Vietnamesische Dong) entsprechen ungefähr 3,80 Euro
[2] Ein gutes Beispiel dafür ist der »Tempel des Himmelskönigs von Phu Dong«
http://cathrinka.blog.de/2011/05/14/himmelskoenig-phu-272-7893-ng-1115148
1/
[3] die Übersetzung »Turban« ist da wohl etwas irreführend
[4] http://cathrinka.blog.de/2012/04/23/alltag-strassenhaendlerin-13564025
[5] http://maivietnam.myblog.de/maivietnam/art/7249809
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