Prolog - Wie kommt ein Weltenwanderer nach Hanoi?
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Prolog - Wie kommt ein Weltenwanderer nach Hanoi?
Die Psychologie des Hupens Erfahrungen und Eindrücke eines Weltenwanderers in Hanoi Reiseerzählung von Günter Lohse 2 Erstausgabe im April 2014 als Orange Cursor-eBook Alle Rechte bei Orange Cursor Copyright © 2014 by Orange Cursor A-9020 Klagenfurt Schlossweg 6 Cover: Anne Paaschen www.orangecursor.com 978-3-902963-15-4 3 Prolog - Wie kommt ein Weltenwanderer nach Hanoi? Ein Weltenwanderer ist ein imaginäres Wesen, das durch verschiedene Welten wandert - durch unsere irdische, aber auch durch spirituelle oder imaginäre. Er erscheint und entschwindet einfach, ohne dass wir dies mit unserem Verstand nachempfinden können. Je nach seiner Umgebung nimmt er dabei die Gestalt der dominierenden Lebewesen an. In unserer Welt tritt er häufig als kleiner Junge in Erscheinung, der sich recht gut in der jeweiligen Landessprache verständigen kann. Nur die Umwelt, die Sitten und Gebräuche sind meist völlig neu für ihn. Und genau solch ein Wanderer zwischen den Welten erscheint in Hanoi. Sein Name ist Eli. Begleiten wir ihn auf den folgenden Seiten bei seinen Erlebnissen. 4 Ankunft »Oh weh oh weh oh weh … wo bin ich nur gelandet?« Völlig benommen steht Eli, der Weltenwanderer, am Rand einer stark befahrenen Straße in Hanoi. Gerade noch war er in aller Beschaulichkeit mit den Mönchen durch Luan Prabang, dieser geschichtsträchtigen Stadt in Laos, geschlendert. Und nun ist er in eine komplett andere Welt geraten. Vor ihm ergießt sich ein nicht enden wollender Strom aus seltsamen Gefährten. Auf zwei Rädern rollen und knattern Menschen dahin, allein oder zu zweit. Beim näheren Hinschauen entdeckt Eli sogar drei, vier oder auch fünf Leute unterschiedlicher Größe auf einem Gefährt. Und das ist noch nicht alles. Was da nicht alles drauf geladen wurde: Kisten und Kästen, große und kleine Flaschen, Blumen, Eisenstangen, Käfige mit Hühnern oder Hunden und … und … und. Bei manchen dieser Fuhren kann Eli unter der großen Ladung kaum den Fahrer sehen. Diese seltsamen Zweiräder sind überall – vor ihm, hinter ihm und um ihn herum fahren sie sogar auf dem Fußweg. Die Menschen hier scheint das aber nicht zu stören, sie sind offensichtlich daran gewöhnt. In dem Strom vor ihm entdeckt Eli auch vierrädrige Wagen. Schwarz, silbern, rot, grün, blau rollen sie durch die Straßen. Der Weltenwanderer kann sich an der breiten Farbenpalette, die ihm entgegen leuchtet, gar nicht satt sehen. Doch geben alle diese Gefährte Lärm und stinkende Luft von sich, sodass Getöns und Gestank seine Sinne aufs Äußerste reizen. »Hallo! Da bist du ja. Du bist ja noch kleiner, als ich mir dich vorgestellt hatte.« Gilt das etwa ihm? Suchend schaut sich Eli um. Sein Blick trifft auf ein Mädchen, etwas größer als er selbst. Sie ist in ein weißes Gewand gehüllt, das er in dieser Form auf all seinen Reisen noch nie gesehen hat. Eine lange, weite, weiße Hose reicht hinab bis zu den Knöcheln. Darüber fällt ein weißes Kleid, einfach geschnitten, vom Hals bis zu den Knien herab. Von der Hüfte an ist es an beiden Seiten aufgeschlitzt. Auf dem Kopf trägt sie ein kegelförmiges Dach aus Bambus, unter dem schwarze Haare als Pony keck hervorlugen. Nach hinten sind sie zu einer Art Schwanz gebunden. Mit großen, dunklen, etwas mandelförmigen Augen schaut sie ihn an. »Herzlich willkommen in Hanoi. Mein Name ist Linh.« Und als er seinen fragenden Blick immer noch auf das Kleid heftet, ergänzt sie: »Das ist ein Ao Dai. Wir tragen dieses Kleid immer an Festtagen. Und heute ist 5 ein Festtag, denn ich habe dich erwartet.« Das nun findet der Weltenwanderer gar nicht seltsam. Er hat zwar niemandem von seiner bevorstehenden Reise erzählt, aber, dass man ihn hier erwartet, hält er für selbstverständlich. Regel Nummer 1- Verhalten im Straßenverkehr »Komm, ich zeige dir unsere Stadt«, sagt Linh, »aber dazu müssen wir auf die andere Straßenseite.« Schon fasst sie Eli an der Hand und steuert auf den Straßenrand zu. Doch Eli wehrt sich mit Händen und Füßen. Nie und nimmer will er sich den Gefahren dieses Malstromes aussetzen! Und Linh versteht. »Verzeih mir, das war wohl etwas zu schnell. Aber das ist mit das Wichtigste für ein Leben in Hanoi - sich im Straßenverkehr behaupten zu können. Und glaub mir, es ist gar nicht so schwer, wie es anfangs scheinen mag.« Und so erhält unser Weltenwanderer seine erste Lektion in Hanoi: Immer in kleinen Schritten vorwärts gehen. Niemals rückwärts laufen. Immer nach rechts und links schauen, denn selbst im dicksten Verkehr oder in Einbahnstraßen kann plötzlich unerwartet ein Moped aus der Gegenrichtung kommen. Und er lernt auch die seltsamen Handbewegungen der Fußgänger zu verstehen. Sie wedeln mit der Hand - hoch erhoben oder in normaler Körperhöhe oder gar gesenkt. Oftmals verstärken sie diese Geste noch, indem sie mit irgendeinem Gegenstand ihre Handfläche vergrößern. Das alles hat nur den einen Sinn, die Aufmerksamkeit der motorisierten Verkehrsteilnehmer auf sich zu lenken, um nicht umgefahren zu werden. Später wird er noch bemerken, dass offenbar auch Mopedfahrer ihren Blinklichtern nicht vertrauen und beim Abbiegen zusätzlich noch Handzeichen geben. Und es klappt. Wie durch wundersame Fügung teilt sich der Verkehrsstrom um die beiden Wagemutigen. So wie beim Auszug der Juden aus Ägypten, als sich das Meer teilte und der Zug unbehelligt weiterziehen konnte. Das heißt, ganz so einfach ist es doch nicht. Die meisten Zweiradfahrer biegen und kurven vor oder hinter den beiden mutigen Fußgängern vorbei. Manchmal so dicht, dass der Kleine fast den Luftzug des Vorbeifahrenden spüren kann. Aber die schwer beladenen Fahrzeuge mit zwei und drei Rädern und die Autos weichen nicht aus und so müssen die beiden öfter mitten im dicksten Verkehr stehen 6 bleiben. Krampfhaft hält der Weltenwanderer die Hand seiner Begleiterin und sein Herz schlägt ihm bis an den Hals. Aber sie erreichen die rettende andere Straßenseite. »Siehst du, es war doch gar nicht so schwer.« Mit diesen Worten strahlt die stolze Linh ihren Schutzbefohlenen an. »Das lernt hier jeder.« Wie um ihre Worte zu bestätigen, kommt ein Mopedfahrer auf sie zugefahren. Dicht vor ihnen am Straßenrand hält er an. Er trägt einen Helm, viel größer und stabiler als die Kopfbedeckungen, die die meisten der Mopedfahrer und -fahrerinnen tragen. Als er den Helm abnimmt, erkennt Eli einen jungen Mann, der wohl schwerlich ein Einheimischer sein kann. Durch seine blonden, lockigen Haare, aber besonders durch die Augen und die Nase unterscheidet sich der Neuankömmling deutlich von den anderen Männern um ihn herum. Und schon klassifiziert Eli die Ausländer als »Langnasen«. »Xin chao, Linh, wen hast du denn da an deiner Seite?« Mit diesen Worten begrüßt der Ankömmling Linh. »Xin chao, Maik. Ich möchte dir Eli vorstellen. Eli ist gerade erst hier angekommen und hat schon seine erste Begegnung mit dem Straßenverkehr überstanden.« Und zu Eli gewandt: »Maik lebt schon drei Jahre hier in Hanoi. In den ersten Tagen nach seiner Ankunft hatte er die gleichen Ängste und Nöte auszustehen, wie du eben auch. Bitte, Maik, erzähle Eli doch, wie du dich mit dem Straßenverkehr in Hanoi arrangiert hast!« So, wie Maik schnurstracks auf die beiden am Straßenrand zugefahren war und wie nun Linh ihn anlächelt, scheint es Eli, als würden sich die beiden näher kennen. »Hi, Eli, ich kann dich gut verstehen«, wendet sich Maik an Eli. »Die ersten Tage in den Straßen von Hanoi waren für mich auch sehr stressig. Aber als Fußgänger habe ich mich doch dann sehr schnell zurechtgefunden. Wenn man einige Regeln beherrscht, dann hält sich das Risiko eines Fußgängers in Grenzen. Und dieses richtige Verhalten wird dir Linh bestimmt beibringen.« Verschmitzt lächelt er Linh an. An Eli gewandt, fährt er fort: »Aber in den ersten Tagen habe ich mir niemals vorstellen können, einmal selbst in diesem Gewühle auf den Straßen als Mopedfahrer zu bestehen. Es hat schon mehrere Wochen gedauert, bevor ich mich überhaupt traute, selbst ein Moped zu fahren. Aber heute macht mir das alles gar nichts mehr aus.« Diesen Worten folgt Eli mit einer gewissen Skepsis. »Man kann ja vieles lernen. Aber um in Hanoi Moped zu fahren, bedarf es doch sicherlich viel persönlicher 7 Überwindung«, murmelt er so vor sich hin. »Weißt du was«, schlägt Maik daraufhin vor, »ich beschreibe dir einfach einmal, was ich auf so einer Fahrt erlebe. Dann kannst du dich überzeugen, dass das Fahren zwar nicht gerade einfach, aber auch nicht unmöglich ist.« Da Maik keinen Widerspruch von Eli und Linh hört, beginnt er mit der Schilderung über seine Fahrt in die Innenstadt. »Bevor ich losfahre, zurre ich zuerst den Helm fest. Das ist Pflicht für die Mopedfahrer hier in Vietnam und ich halte mich daran. Dann erst geht es los. Nach zwei kurzen Schwenks verlasse ich unsere kleine Gartenstadt hinter der Chua (Pagode) Vong Thi, fahre einhundert Meter entlang der Pagodenmauer und dann lächelt er mir schon entgegen - der West-Lake. Genau genommen lächelt er nicht immer . Sehr oft ist alles grau in grau. Danach biege ich in die Uferstraße ein. Diese führt über ungefähr acht Kilometer entlang des Südufers. Der Straßenbelag ist gut asphaltiert. Mittlerweile weiß ich auch schon fast auf der ganzen Strecke, über welchen Gully-Deckel ich fahren kann und welcher Kanaldeckel aus Beton besser zu umfahren ist. Vormittags gegen halb zwölf Uhr ist der Verkehr relativ ruhig. Zu den Hauptverkehrszeiten früh und abends ist die Anzahl der Zwei- und Vierräder aber auch hier mindestens doppelt so hoch. Die Straßenbreite lässt es zu, dass zwei PKW, auch Jeeps, bequem aneinander vorbeikommen. Wenn aber aus irgendwelchen Gründen irgendjemand anhält oder irgendetwas am Rande steht, dann staut sich ganz schnell ein Knäuel zusammen, zumal der Gegenverkehr eigentlich niemals richtig abreißt. Ganz besonders oft passiert dies an den zwei neuralgischen Punkten dieser Strecke - einer Schule und einem Kindergarten. Zumeist werden die lieben Kleinen gebracht und abgeholt und so ist für die Dauer von ungefähr dreißig Minuten das Chaos perfekt. Wenn ich Glück habe und gut vorankomme, passiere ich gleich darauf rechter Hand einige Verwaltungs- und viele Wohngebäude, ein »Bia Hoi« – ein Bierlokal mit dem Charme einer Industrie-Lagerhalle - und viele kleine und mittlere Ca Phes und Restaurants. Auf der gegenüber liegenden Uferseite weitet sich der mit Bäumen bestandene Fußweg einige Male zu kleinen, ordentlich gepflegten Parks. Überall stehen Tische und Bänke der Gastronomen und abends ist die ganze Promenade ein beliebter Treff von geselligen Gruppen und vor allem von Paaren. Nicht zu vergessen die vielen Angler, die teils am Ufer, teils auch im Wasser stehen, und die zahlreichen Bewegungs-Enthusiasten aller Altersgruppen, die joggend, walkend oder mit Gymnastik ihren Körper in Schwung halten und frische Luft tanken. An einer anderen Stelle trifft sich sogar jeden Abend eine 8 Aerobic-Truppe. Schon von Weitem hört man die heißen Rhythmen und das Mot, Hay, Ba, Bon der Taktzählerin.« Bis hierher kann sich Eli alles gut vorstellen. Mehr noch, es kommt ihm fast so vor, als würde er Maik auf seiner Fahrt begleiten. Der erzählt weiter: »Nun biege ich von der Promenade ab und fahre durch eine kurze Verbindung auf die Pho Thuy Khue. Für die PKW ist das eine Einbahnstraße, nicht aber für die Mopeds. Hier herrscht eigentlich zu jeder Tageszeit starker Verkehr. Erschwerend kommt hinzu, dass der Fahrbahnbelag hier einige Überraschungen parat hält. Das ist besonders kribbelig, weil man bei der Verkehrsdichte gar nicht richtig vorausschauend fahren kann – äußerste Konzentration ist angesagt! Denn der Verkehrsfluss wird durch die emsige Betriebsamkeit von Geschäften, Straßenhändlern und vielen anderen an beiden Straßenseiten noch stark beeinträchtigt. Ich verlasse die Thuy Khue und biege in eine Verbindungsstraße zur Hoang Hoa Tam ein. Diese ist eigentlich für PKW gesperrt - wie gesagt im Prinzip. Aber es kommt immer wieder vor, dass PKW-Fahrer hier eine Abkürzung nehmen. Dennoch ist es hier relativ ruhig – zwanzig Sekunden zum Luftholen und Entspannen. Rechts liegt die Stadtgärtnerei, wo zu dieser Jahreszeit blühende Balsaminen durch den Maschenzaun leuchten.« Eli kann sich kaum vorstellen, dass ein Mopedfahrer, der sich ständig hoch konzentriert in dem Verkehrsgewühl behaupten muss, auch noch einen Blick für Blumen am Straßenrand übrig haben kann. Aber wenn er so beobachtet, wie locker und leicht die meisten Fahrer und Fahrerinnen mit ihren Zweirädern umgehen, wie sie sich auch im dicksten Verkehr mit ihrem Sozius oder gar mit Nebenherfahrenden unterhalten, dann überkommt Eli so ein Gefühl, dass man selbst als Fremder das Moped fahren in Hanoi erlernen kann. Doch er hat keine Zeit, weiter darüber nachzudenken, denn schon nimmt Maik ihn in Gedanken auf den nächsten Streckenabschnitt mit. »Nun kommt der erste Höhepunkt der Fahrt - die Überquerung der Hoang Hoa Tam. Eigentlich ist das eine richtige Kreuzung, auf der jeder aus jeder Richtung kommen und in jede Richtung fahren kann - also Whooling in der dritten Potenz. Manchmal versuchen Polizisten den Verkehr zu regeln, aber die stehen da sehr oft auf verlorenem Posten. Und so gleicht es einer wundersamen Fügung, dass jeder an jedem in seine gewünschte Richtung vorbeifährt, ohne dass es ständig kracht. Aber das Whooling bleibt in der engen Straße. Im Dezember lagen hier über mehrere Wochen Kabel auf der Straße. Wenn ich daran denke, dass ich da jedes Mal über mehrere Tausend Volt gefahren bin …« 9 Auch wenn Eli noch immer am Straßenrand steht, so kann er sich die Fahrt doch gut vorstellen und er fühlt, dass sein Puls leicht angestiegen ist. »Nach der letzten Kurve weitet sich die Straße hinter dem Ho-Chi-Minh-Museum. Jetzt wird schon mal das Gas aufgedreht, obwohl auch hier Überraschungen durch Straßenbelag und Verkehrsteilnehmer, egal, ob zu Fuß, per Fahrrad, Moped oder PKW, nicht auszuschließen sind. Auch wenn ich die Strecke inzwischen schon oft gefahren bin, muss ich mich immer wieder daran erinnern, ruhig zu bleiben. Ich muss ja keinen Geschwindigkeitsrekord aufstellen. Ankommen - das ist die Hauptsache!« Das sieht Eli genauso. »Und nun, Eli, kommen Schlag auf Schlag die absoluten Höhepunkte der Fahrt: Als Erstes biege ich links in die Le Hong Phong ein. Diese verengt sich hier von einer vierspurigen Allee mit baumbestandenen Mittelstreifen in die Doi Can in eine normal enge Vorstadtstraße. Alles drängelt und wuselt sich voran. Es ist immer wieder erstaunlich, wie lange man einerseits, fast im Stehversuch, das Moped gerade halten und andererseits sich als motorisiertes Laufrad durch die Autos hindurchschlängeln kann. Vierhundert Meter bleiben zum Entspannen auf der Allee. Arme und Schultern kann ich erst mal locker lassen. Jetzt biege ich wieder rechts ab und schon kommt der nächste Knäuel in Sicht an der Tranh Phu ist fast die gleiche Situation wie an der Doi Can. Nur geht’s diesmal über eine Kreuzung. Und gleich darauf kommt nach zweihundert Metern die erste und einzige Ampel auf dieser Strecke - schließlich wird eine der großen Hauptstraßen im Stadtinneren überquert. Auch hier wird gedrängelt und die kleinste Lücke ausgenutzt, um eine Startposition möglichst weit vorn zu erreichen. Nach der Ampel geht’s noch dreihundert Meter am Stadion linker Hand vorbei. Hier fährt man fast unter den weit ausladenden Traversen hindurch. Auf der rechten Seite reihen sich zahlreiche Sportgeschäfte mit vielfältigen Auslagen aneinander.« Eli, der sich ja immer noch keinen Zentimeter von seinem Platz am Straßenrand entfernt hat, kann sich durch Maiks plastische Beschreibung all das sehr gut vorstellen. »So, nun kündigt sich der letzte Knüller an - die Einmündung in die Cat Linh. Diese ist zwar eigentlich gar keine der großen Hauptstraßen, aber fast zu jeder Tageszeit stark befahren. Und eine Vielzahl von Geschäften für Fliesen und Sanitäreinrichtungen machen das Treiben noch verrückter. Häufig wird hier im dichtesten Verkehr auf der Straße Fußbodenbelag ausgerollt und zugeschnitten. 10 Ist doch irre, oder? Auf dieser Straße muss der Gegenverkehr öfters bremsen, weil irgendein Idiot unbedingt bei vollem Verkehr auf die linke Seite will. Nach ungefähr dreihundert Metern war ich heute Morgen selbst der Idiot, denn mein Ziel lag eben nun mal auf der linken Seite. Auf dieser Tour betrug die Fahrtzeit für die knapp acht Kilometer sechzehn Minuten. Der bisherige Rekord liegt bei zwölf Minuten in der verkehrsarmen Mittagszeit. Ich habe aber auch schon fast vierzig Minuten gebraucht.« Für den Moment ist Eli wirklich froh, dass er diese Fahrt nur in der Beschreibung durch Maik erlebt hat. Das war schon aufregend genug! Von heute auf morgen würde er es bestimmt nicht schaffen, sich in diesem Getümmel zurecht zu finden. Vielleicht, wenn er längere Zeit hier verbrächte? Maik reißt ihn aus seinen Gedanken: »Nun muss ich mich aber sputen! Mach‘s gut, Eli! Ich wünsche dir viel Freude in Hanoi.« Schon hat er seinen Helm wieder aufgesetzt und braust davon. Jedoch nicht, ohne sich von Linh mit einem »Hen gap lai!« zu verabschieden. »Ja, ja, der Maik. Immer in Hektik und Eile.« Etwas ironisch lächelnd schaut Linh dem Davoneilenden hinterher. 11 Ahnenverehrung Im Tempel Bach Ma Nach dieser Erzählung und seinem ersten Abenteuer beim Überqueren der Straße ist sich Eli der Herausforderung, im Straßenverkehr von Hanoi zu bestehen, bewusst. Aber er fühlt auch Zuversicht: Was der Ausländer geschafft hat, das wird ihm doch wohl auch gelingen! Linh schlägt vor: »Nun lass uns erst einmal ein ruhiges Plätzchen suchen.« Jawohl, damit ist Eli sofort einverstanden. Eine Ruhepause hat er jetzt bitter nötig. Durch eine schmale Flügeltür gelangen sie in einen überdachten Hof. Ein Tisch mit ein paar Stühlen lädt sie im gedämpften Licht zum Sitzen ein. Leise Musik mit seltsamen Instrumenten schwingt durch die Luft. Nach kurzer Zeit reicht ihnen eine freundliche alte Frau kleine Schälchen mit Tee - das tut gut! »Wir befinden uns hier im Tempel des weißen Pferdes. Er ist mit einer bedeutsamen Legende in der Geschichte Hanois verbunden. Als der König bei der Gründung der neuen Hauptstadt eine Zitadelle errichten wollte, hatte er eine Vision: Ein weißes Pferd, das aus diesem Tempel gekommen war, zeigte ihm den richtigen Platz, an dem er die Mauern der Zitadelle erbauen sollte.« Mit diesen wenigen Worten beschreibt Linh ihrem Gast die Bedeutung dieser historischen Stätte. »Wenn du dich gestärkt hast, können wir uns etwas umsehen.« Gern will Eli das tun. Aber vorerst genießt er einmal die Beschaulichkeit und vor allem, dass der Straßenlärm doch nur noch sehr gedämpft an sein Ohr dringt. Schon bald spürt er wieder neue Energie. Er betrachtet ein großes vierflügeliges Tor, das in rötlich-braunem Lack mit goldener Bemalung glänzt. Linh bemerkt seinen Blick. »Geht es wieder? Bereit zu neuen Erkundungen?«, fragt sie. Eli nickt und so betreten sie kurz darauf durch eine kleinere, gleichsam bemalte Tür den eigentlichen Tempel. Das heißt, der Kleine muss sich ganz schön mühen, um über die sehr hohe Schwelle zu klettern. »In den vietnamesischen Tempeln sind alle Schwellen zu den Haupträumen so hoch. Damit werden die meisten Besucher automatisch gezwungen, sich beim Betreten des Tempels zu verbeugen«, lautet Linhs Erklärung. In diesem Raum ist es noch schummriger. Eli weiß gar nicht, wohin er zuerst schauen soll, denn überall stehen Trommeln und Figuren, Vasen verschiedener 12 Größen, echte Blumen und solche aus Papier. In zwei Ständern sind Holzstangen mit Ehrenzeichen angeordnet. Und inmitten all dieser Einrichtungen steht es – das weiße Pferd. »Aber wieso steht es nicht auf eigenen Füßen, sondern auf einem Podest mit Rädern?«, wundert sich der aufmerksame Betrachter. Linh hat auch dafür eine Erklärung: »Bei bestimmten Anlässen wird dieses Pferd mit einer Prozession durch die Straßen gezogen.« In der etwas abseits stehenden Sänfte wurde dann sicher der König getragen, vermutet Eli. Durch zwei Seitentüren betreten sie nun das Heiligtum. Auf dem Hauptaltar sind Blumen und Geschenke aufgestellt. Ohne das verstehen zu können, bemerkt Eli Früchte, Getränkedosen und allerlei Snacks. Ganz oben auf dem Altar steht ein Symbol - nein, keine menschliche Figur, sondern eher eine Tafel mit Schriftzeichen, die in goldene Tücher gehüllt ist. Und vor dem Altar liegt eine Bastmatte. Gespräche mit den Ahnen Als Linh ihm gerade einiges erklären will, kommt eine junge Frau herein. An der Hand führt sie einen Jungen, ungefähr vier oder fünf Jahre alt. In der anderen Hand hält sie eine flache Schale, gefüllt mit Obst, einer Büchse Coca-Cola und einer Packung Kekse. Auch ein paar Geldscheine sind zu sehen. Sie spricht eifrig mit einem der Männer, die unsere beiden Besucher vorher im Vorhof gesehen haben, und übergibt ihm schließlich die Schale. Damit verschwindet der Mann durch eine Tür neben dem Hauptaltar, um die Opfergabe auf dem Altar zu platzieren. Die Frau hat inzwischen Räucherstäbchen entzündet und an verschiedenen Stellen im Raum in bereitstehende, mit Sand gefüllte Gefäße gesteckt. Drei der rauchenden Stäbchen hält sie in beiden Händen, als sie sich vor dem Altar drei Mal verneigt. Dann kniet sie sich auf die Bastmatte und bedeutet dem Jungen, es ihr gleich zu tun. Ihr Umhängetäschchen stellt sie neben sich und die Stäbchen finden schließlich auch noch Platz in einem der Gefäße. Mit einem Holzklöppel schlägt sie mehrfach an eine am Boden stehende, an einer Seite aufgeschlitzte bronzene Kugel und ein heller Ton wie von einer Glocke erfüllt den Raum. Wieder und wieder verneigt sie sich fast bis auf den Boden und beginnt halblaut zu erzählen, als sie plötzlich bemerkt, dass ihre Opfergabe nicht an dem Platz angelangt ist, den sie sich vorgestellt hat. Lautstark gibt sie dem 13 Mann, der immer noch hinter dem Altar verharrt, Anweisungen, bis er schließlich den richtigen Platz gewählt hat. Nun kann sie sich wieder ungestört ihrem Bericht an die Ahnen widmen. Doch dauert es nicht lange, bis sie durch Musik, die aus ihrer Tasche dringt, gestört wird. Die Frau unterbricht ihr Gebet und entnimmt der Tasche ein Handy und beginnt lautstark zu reden. Das klingt aber ganz anders, als das vorherige demütige Gemurmel - laut und, wie es scheint, ein wenig ärgerlich. »Spricht die Frau mit dem Mobile-Phon zu ihren Ahnen?« Der ungläubige Unterton dieser Frage ist nicht zu überhören. Nein«, erwidert Linh lächelnd. »Wir können nur mit lebenden Menschen sprechen. Mit den Ahnen sprechen wir nur spirituell.« Und etwas verlegen fügt sie hinzu: »Wir Vietnamesen haben andauernd etwas mit irgendjemand zu bereden. Es scheint fast so, als könnten wir ohne Handy nicht leben.« Eine Tatsache, die dem Weltenwanderer später noch sehr, sehr oft bestätigt wird. Die Frau hat sich inzwischen wieder ihrem Gebet oder dem Gespräch mit den Ahnen zugewandt. Noch mehrmals betätigt sie den Klöppel, sodass immer wieder ein heller Ton im Raum hängt. Sind das die Rufzeichen an die Ahnen? Nach weiteren dreimaligen Verbeugungen mit den zusammengelegten Handflächen erhebt sie sich, nimmt ihren Sohn an die Hand und verlässt das Heiligtum. »Ich werde dir das alles gleich erklären«, beruhigt Linh den verwunderten Gast. »Doch vorher lass dir noch wiedergeben, welche Beobachtung mir Maik erzählte. Wie du aus seinem Bericht über die Mopedfahrt gehört hast, wohnt er am Stadtrand neben einer Pagode.« Linh atmet einmal tief durch und beginnt: »Eines Morgens hörte er fremdes Stimmengewirr aus dem Chua-Garten - nicht das übliche Palaver der Chua-Weiber bei der Gartenarbeit. Ein Ong wurde begrüßt. Ein Paar im besten Alter, ein jüngerer Mann und eben der Großvater - groß, rüstig mit strahlend weißem, kurzgeschnittenen Haar, waren dabei, auf einer der wenigen Grabstätten im Garten viele Utensilien für eine private Zeremonie der Ahnenverehrung auszubreiten: Zwei Papierpferde, ein Strauß roter Rosen, eine große Blechschale mit allerlei Früchten, ein gebratenes Huhn, Wasserflaschen und allerhand sonstiges Papierzeug wurden kunstvoll drapiert und jede Menge Räucherstäbchen im Umfeld eingesteckt. 14 Dann hockte sich der Familienvater auf eine Plastikfolie nieder. Er hatte die Schuhe ausgezogen. Lautstark erstattete er den Ahnen Bericht, nachdem er sich vorher einige Stichpunkte auf einem Zettel notiert hatte. Offensichtlich gab es viel zu erzählen. Maik konnte ab und zu die Straßennamen Vong Thi, Hai Ba Trung und auch Tay Ho herausfiltern. Während dieser Rede bekam der Jüngere von seiner Mutter Geldscheine übergeben, die er auf dem Grab platzierte. Mehrere der grünen 100.000 VND–Scheine [1] waren dabei. Währenddessen verharrten die anderen drei in ehrfurchtsvoller Gebetshaltung. Nach Beendigung der Rede und als die Räucherstäbchen niedergebrannt waren, wurde das gesamte Papierzeug auf dem üblichen Zündelplatz verbrannt. Nachdem die Flammen ihr Werk getan hatten, wurden die übrig gebliebenen Lebensmittel und sicherlich auch das Geld wieder eingesammelt und die Gesellschaft entschwand. Zurück blieb der Rosenstrauß mit einem Kerzenlämpchen und ein neuer Aschehaufen.« Ahnenverehrung Nach dem Erlebnis im Tempel und der Erzählung Maiks ahnt Eli, dass die Beschäftigung mit den Ahnen für die Vietnamesen sehr wichtig sein muss. Doch vieles von dem Erlebten ist ihm unverständlich. Also ist Linh wieder an der Reihe mit ausführlichen Erläuterungen: »Mit den Toten muss man sich gut stellen«, beginnt Linh sogleich. »Sie leben in der Vorstellung vieler Vietnamesen im Jenseits weiter. Ob als gute oder böse Geister, das hängt davon ab, wie die Lebenden im Diesseits sich um ihre Ahnen kümmern. So wie im richtigen Leben, versorgen wir unsere Ahnen mit Speisen und Getränken und mit Geld. Damit sie gut wohnen können, beschaffen wir ihnen ab und zu ein neues Haus, schicken ihnen neue Bekleidung und für ihre Fortbewegung erhalten sie von uns Pferde und Autos. Das alles senden wir mit der Flammenpost zu ihnen - die Speisen und Getränke im Rauch der Räucherstäbchen und alles andere, in dem wir die symbolischen Darstellungen verbrennen. Wenn die Räucherstäbchen abgebrannt sind, haben die Ahnen das Geschenk angenommen und laden die Spender zum Verzehren ein. Sind die toten Seelen zufrieden, dann halten sie ihre schützende Hand über die Familie. Man kann sie auch um Beistand oder um Rat bei wichtigen Entscheidungen bitten. So hat es sicherlich auch die Frau getan, die wir vorhin beobachtet haben.« 15 Das alles hat der Gast aus den anderen Welten zumindest in großen Zügen verstanden. Und so wundert er sich in seiner ganzen Zeit in Hanoi nicht mehr, an welchen Stellen er überall kleine Hausaltare bemerken kann - ob in den Geschäften oder in der Bank, im Office oder im Kindergarten und natürlich in den Wohnungen und Häusern. Er bemerkt auch die großen Unterschiede, mit denen die verschiedenen Menschen diese Stätten der individuellen Ahnenverehrung pflegen - von der lieblosen Routine bis zur hingebungsvollen Andacht. Mit einer gewissen Belustigung beobachtet er einige Zeit später, dass sich sogar bei der Ahnenverehrung in Vietnam ein Markenbewusstsein entwickelt hat. Da werden eben nicht nur die traditionellen Stiefelchen per Flammenpost zu den Ahnen geschickt, sondern da will man auch schon mal mit einem Paar Hochhackigen Eindruck schinden. Ob die Oma oder Ba, wie es auf Vietnamesisch heißt, damit wirklich glücklich wird und gut zu Fuß sein kann? Für die Fortbewegung der Ahnen stehen auch nicht mehr nur die traditionellen Pferde zur Verfügung. Nein, PKW sind der Trend. Und da darf es doch auch gleich mal ein Mercedes sein. Dass man für die Unterkunft der Ahnen nicht einfach das Abbild der bescheidenen Hütte schickt, in der vielleicht schon die Ahnen gewohnt hatten, ist dabei verständlich. Ein schmuckes Häuschen soll es schon sein. Eli ist gespannt, wann die ersten Hochhäuser oder gar einer der neuen Super-Tower in der Version für die Ahnen auftauchen werden. Aber so manche Beobachtung kann der Gast aus der anderen Welt eben auch nicht verstehen. So zum Beispiel, als er in einer Gaststätte einen Mangosaft bestellt und ein Junge aus der Küche eine Mangofrucht aus dem Altar entnimmt, um diese zu seinem Saft zu bereiten. War die Küche nur nachlässig und hatte nicht genügend Vorrat eingekauft oder haben die Ahnen dieses Restaurants ihn, den Weltenwanderer, eingeladen, gemeinsam mit ihnen den Saft zu genießen? Oft und lange grübelt er darüber, ob die Ahnen die Flammenpost in der heutigen Zeit auch immer noch so gut finden. Denn schließlich werden viele der zu verbrennenden Symbole in der modernen Welt nicht mehr nur aus Papier hergestellt. So geraten häufig auch Materialien aus Kunststoff mit ins Feuer, was nicht gerade förderlich für die Umwelt ist. Die empfindsame Nase unseres kleinen Helden signalisiert ihm mehr als einmal, dass in seiner Umgebung nicht nur Laub oder Papier verbrannt wird. Und das macht ihn traurig. Wann werden diese giftigen Dämpfe wohl auch seine eigenen Welten heimsuchen? 16 Religiös-spirituelle Stätten In ihren Erklärungen hat Linh sehr oft die Begriffe Chua, Den und Dinh verwendet, sodass diese unserem Eli schon bald im Kopf herumschwirren. »Weißt du, so manchmal geht das bei den Leuten mit den Bezeichnungen etwas durcheinander«, beruhigt Linh den Kleinen, als sie dessen Verwirrung bemerkt. »Wie ich mir das so eingeprägt habe, erkläre ich dir gleich. Aber sicherlich gibt es auch noch eine umfangreichere und wissenschaftlichere Erläuterung.« Und damit erhält der Weltenwanderer schon seine zweite Lektion - diesmal über die religiös-spirituellen Stätten in Vietnam: In einem Den werden hauptsächlich weltliche Lebewesen verehrt. Das sind meistens historisch bedeutsame Persönlichkeiten und davon gibt es auch in Vietnam viele. Aber auch Tiere und Bäume finden die Aufmerksamkeit der Spender und Bittsteller.[2] Chua ist eigentlich die Bezeichnung für das zentrale Heiligtum in einer buddhistischen Tempelanlage. Hier stehen viele Figuren aus der buddhistischen Glaubenswelt. Die Bezeichnung Chua wird aber sehr oft auch für die gesamte Anlage verwendet, in der die Buddha-Statuen auch durch andere Götter und Ahnengeister der Volksreligion begleitet werden. Und in einigen Chua haben auch verdienstvolle Persönlichkeiten der Vergangenheit ihren Ehrenplatz gefunden, wie zum Beispiel der Begründer des Wasserpuppentheaters in der sogenannten Meisterpagode Chua Thay. Nicht fehlen dürfen in einem Chua die Wächterfiguren. Auch wenn sie grimmig drein blicken, denn schließlich sollen sie ja den bösen Geistern den Zutritt verwehren, so wollen sie auch freundliche Besucher begrüßen. Im Aberglauben vieler Vietnamesen ist der Gedanke tief verwurzelt, dass man mit Gaben, insbesondere auch mit Geld, neben den Ahnen auch die Götter und Geister friedlich stimmen kann. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass an vielen Stellen in den Chua und Den Geldscheine abgelegt werden. Vor den großen Statuen stehen verschlossene Boxen. Aber auch die kleineren Statuen sowie die Bildnisse von Bäumen und Tieren und auch die Wächterfiguren bekommen ihre Geldscheine zugesteckt. Meist sind das Banknoten bis 5.000 VND, für die deshalb im Volksmund auch die Bezeichnung Pagodengeld kursiert. Und mit dem Rauch von Räucherstäbchen werden Botschaften an die Schutzpatronen gesandt. Einen etwas anderen Charakter haben die Dinh - die Gemeindehäuser. Sie 17 dienen gleichzeitig als Versammlungs- und als Kultstätten, aber kaum der Verehrung von Buddha. Ganz Vietnam ist von einem dichten Netz von Tempeln, Pagoden und Gemeindehäusern überzogen, das auch noch von Kirchen verschiedener christlicher Glaubensrichtungen ergänzt wird. Die Zeremonie im Dinh Vong Thi Lauter Trommelklang weckt das Interesse der beiden. Es kommt aus dem Gemeindehaus direkt am Ho Tay, dem Westlake. Und flugs lenken sie ihre Schritte dahin. Das ganze Gelände ist festlich geschmückt mit Fahnen und Wimpeln. Auf dem Plateau vor der Halle stehen vier große Pauken auf Holzstellagen. Sie werden von vier Frauen geschlagen. Diese tragen rote weite Hosen und gelb-rot abgesetzte Oberteile. In ihre Haare haben sie bunt bestickten Kopfschmuck gesteckt. Die großen Schlegel aus Holz sind mit roten und grünen Bändern beklebt. Etwas zurückgesetzt steht ein Mann, analog gekleidet. Er bedient Schellen und Becken. Und in der Mitte, vor einer noch größeren Pauke, steht die Oberpaukerin. Ihr rotes Oberteil ist besonders festlich mit Glasperlen bestickt. Vor diesem Ensemble sind zwei Reihen zu je vier Trommeln aufgestellt. Im Takt der Klänge aus Schlägen auf die Trommelfelle, auf die Holzkörper und die Schlegel gegeneinander wiegen sich acht ganz in rosé gekleidete Frauen und tanzen auch um die Trommeln herum. Ihre dunklen Haare sind mit weißen Haarbändern zusammengesteckt. Dieses Orchester spielt ganz unterschiedlich Rhythmen von dezent bis mächtig gewaltig. Und gibt damit den Auftakt für eine Zeremonie. Nun wechselt die Szene. Sechzehn Männer haben sich in zwei Reihen hintereinander aufgestellt. Sie tragen lange, bis zum Hals geschlossene Gewänder. In die blaue Seide sind weiße kreisförmige Ornamente gewebt. Unter dem Gewand lugen lange weiße Hosen hervor. Ihre Beinenden stecken in den schwarzen Schäften von Stiefeln aus Stoff. Bis zum Knöchel sind diese bunt bestickt. Die Sohlen aus Filz sind vorn hochgezogen und auf dieser Fläche ist ein Schriftzeichen in Rot eingestickt. Bemerkenswert sind auch die Mützen. Blaue Trapeze sind auch bunt bestickt. An der Rückseite reichen zwei blaue Bänder bis auf den Rücken. Der Anführer der Gruppe trägt das gleiche Outfit, aber alles ist in Rot gehalten. Mit einer großen Pauke gibt ein älterer Herr den Takt an und ein Ansager gibt 18 für jede Schrittfolge und Handlung das Kommando. Die Texte konnte er sich sicherlich nicht alle merken. Er hat sie auf einen Zettel aufgeschrieben, den er mehr oder weniger geschickt in seinem großen blauen Ärmel verbirgt. Sein wichtiger Posten bietet ihm aber ab und an auch noch Zeit für eine Zigarette zwischendurch. Die Gruppe hat nun den Innenraum erreicht und bringt symbolische Geschenke und Posen der Ehrerweisung dar. Doch wem wird hier gehuldigt? Linh hat es herausgefunden und berichtet ihrem Schutzbefohlenen in kurzen Worten: »Vor fast tausend Jahren bewahrte in einem Dorf am Ho Tay ein Fischer seinen König vor einem Attentat. Als bescheidener Mensch lehnte er die ihm daraufhin zuteil werdenden vielen Ehrungen und gesellschaftliche Höherstellung ab. Er wollte lieber Fischer bleiben. Heute ist dieses Dorf längst ein Stadtteil von Hanoi. Aber seine Bewohner verehren den Fischer immer noch in ihrem Dinh - dem Gemeindehaus. Und zwei Mal jährlich findet zu seinem Geburts- und Todestag ein Dorffest mit einer großen Zeremonie statt.« Im letzten Innenraum sind vor der Symbolfigur des zu Verehrenden die wirklichen Geschenke aufgebaut: Diese reichen von den üblichen Keksen und Snacks über Getränke und Obst bis zu fleischlichen Gaben – ja, sogar ein richtiger, gekochter Schweinskopf steht da. Und zahlreiche Spendenquittungen - an Stelle eines Eintrittes entrichten die vielen Besucher eine Spende - sind dort deponiert. Schon wieder hat die Szene gewechselt. Nun sind die Frauen die Akteure. Sie werden angeführt von einer bunt gekleideten Tanzgruppe, die auch schon bei den Trommlerinnen mitwirkte. Jetzt erheischen sie mit Schellen und Glöckchen die Aufmerksamkeit. Die Frauen selbst sind in einfarbig gelbe Gewänder gekleidet, die mit einem breiten Gürtel zusammengehalten werden. Auch sie tragen weiße Hosen, aber schlichte einfarbig weiße Schuhe. Ihr ringförmiger Kopfschmuck besteht aus mehreren Lagen roter Streifen, die etwas versetzt übereinander fast eine Art Krone bilden und khan dong genannt werden[3]. Breite Bänder reichen von diesem Schmuck bis fast an die Hüfte. Wie bei den Männern ist auch die Anführerin rot gekleidet. Und als Taktgeberin hat die Obertrommlerin an der großen Pauke Platz genommen und die Kommandos werden auch von einer Frau gegeben. An der Spitze des Zuges tragen mehrere Frauen paarweise große Schalen, auf denen Geschenkpäckchen 19 und Früchte sich türmen. Nachdem diese Gaben in der Vorhalle platziert sind, gehen alle nachfolgenden Damen auf die Knie und verneigen sich tief. Die beiden aufmerksamen Beobachter registrieren, dass die Frauen nur bis zu der Vorhalle gelangen. Der Zutritt zu der Haupthalle ist ihnen also auch bei der Zeremonie verwehrt. Und sie haben auch bemerkt, dass sich nun, da sich die Zeremonie dem Ende zuneigt, der Hof doch sehr mit Besuchern gefüllt hat. Deren Aufmerksamkeit scheint aber größtenteils nicht der Zeremonie selbst zu gelten, sondern den im Hintergrund stattfindenden Hahnenkämpfen und der sich dann anschließenden Festtafel. Tatsächlich haben fleißige Hände fast unbemerkt unter zwei großen Zeltdächern für über hundertfünfzig Personen die Tische eingedeckt. Darauf finden sich Essschüsseln, Stäbchen und Löffel sowie Teller und Schüsseln mit allerlei Gemüse, und natürlich Reis und Nudeln. Als die ersten Gäste Platz genommen haben, werden Suppe und gekochte Wurst zusätzlich gereicht. Zu den bereitstehenden Getränken wie Bier, Wasser und Cola wird dann auch sehr bald Reisschnaps ausgeschenkt und der Geräuschpegel der lautstarken Unterhaltungen steigt sehr schnell an. Auch Linh und ihr Gast werden mit zu Tisch gebeten. Aus den Erzählungen der Leute und Linhs Übersetzung erfährt Eli noch, dass die Darsteller der Zeremonie alles Laien aus dem ehemaligen Dorf und jetzigen Stadtteil von Hanoi sind. Die Anführer der Prozession der Männer und Frauen werden auf Lebzeiten gewählt und geben den Posten dann ab, wenn sie körperlich nicht mehr in der Lage dazu sind. Die Trommlerinnen haben wochenlang vorher geübt – sehr zur Freude oder auch zum Leidwesen der anliegenden Nachbarn. Danach verflachen die Gespräche und der kleine Gast scheint in einem Meer der Geräusche zu versinken. 20 Besuch bei Onkel Ho Am Mausoleum CHU TICH HO CHI MINH (Präsident Ho Chi Minh) So prangt es in großen Lettern aus rötlich-braunem Marmor an dem großen Steinkoloss aus grauem Granit, zu dem Eli ehrfürchtig empor schaut. Über zwanzig Meter hoch, so steht das Bauwerk dominierend in seiner Umgebung. Es erinnert etwas an einen griechischen Tempel mit seinen angedeuteten Säulen, die aus ebenfalls rötlich-braunen Marmorflächen hervortreten. Aber die harten Kanten und die geometrisch exakte Gestaltung betonen andererseits einen völlig anderen Baustil und verstärken eher einen Ehrfurcht gebietenden Eindruck. Von seinem Standpunkt an der Frontseite des Gebäudes lässt Eli seinen Blick über eine große Fläche aus quadratischen Rasenfeldern schweifen, die von Steinplatten akkurat abgegrenzt werden. Zu beiden Seiten des Gebäudes erblickt er steinerne Tribünen mit Losungen in, wie es ihm scheint, riesengroßen Buchstaben. Am Gebäude selbst hebt sich zu ebener Erde ein Eingangsbereich aus schwarzen und braunen Platten vom grauen Stein ab, in dem eine zweiflügelige Tür aus hellbraunem Holz den Zutritt bei offiziellen Anlässen gestattet. Meist ist diese Tür aber geschlossen. Zwei in strahlendem weiß gekleidete Posten halten die Ehrenwache. »Wir stehen hier am Mausoleum, der letzten Ruhestätte von Ho Chi Minh. In einem Glassarg liegt er da, einbalsamiert«, erklärt Linh mit ehrfurchtsvoller Stimme. »Für einen guten Vietnamesen ist es selbstverständlich, mindestens einmal im Leben die Ruhestätte des großen Vorbildes zu besuchen. Ich bin schon einmal mit meiner Schulklasse hier gewesen. Wollen wir auch hineingehen?« Als Eli die nicht enden wollende Schlange der Wartenden erblickt, erscheint ihm das nicht sehr verlockend. Nein, das will er sich doch nicht antun - bei allem Respekt vor dem ihm unbekannten, aber offensichtlich sehr wichtigen Menschen. Zum Glück treffen sie Heike, die gerade mit ihrem Sohn und ihrer Tochter das Mausoleum besichtigt hat. Und so lauschen Eli und Linh Heikes Schilderung ihrer Eindrücke. 21 Erzählung von Heike über ihren Besuch im Mausoleum »Natürlich wollten wir uns den Besuch in diesem touristischen Anziehungspunkt für Hanoi–Besucher nicht entgehen lassen. Die Öffnungszeiten sind ja begrenzt: Montag und Freitag geschlossen, an den übrigen Tagen von 8 bis 11 Uhr und im Oktober und November zwecks Auffrischung der Mumie ganz geschlossen. Deshalb ist hier immer viel los. Als wir uns zum Eingang begaben und die scheinbar endlose Menschenschlange und die vielen Reisebusse sahen, hatten wir uns schon auf eine lange Wartezeit eingestellt. Jedoch werden die Besucherströme so akribisch und perfekt organisiert, dass auch eine fünfhundert Meter lange Schlange nicht mehr als fünfundvierzig Minuten Wartezeit bedeutet. Und gerade die Wartezeit war sehr interessant. Wir konnten beobachten, wie Schulkinder in Uniformen aus Bussen quollen und einige, die Schaukelfahrt wohl nicht gewohnt, sich erst mal am nächsten Straßenbaum erbrachen. Vietnamesische Senioren, so schlank und zierlich und einfach gekleidet, reihten sich ein. Manchmal mit blinkenden Orden an der Brust, und wir fragten uns, wie sie den Krieg wohl erlebt hatten. Wir mussten auch feststellen, dass manche Vietnamesen es nicht so genau mit dem Anstellen nehmen und plötzlich vor einem stehen und dass sie sich auch gern mal an fremde Leute anlehnen. Alle zwanzig Meter in der Schlange stand ein Uniformierter und passte auf, dass keiner Faxen machte und es dem Anlass entsprechend würdig zuging. Die Menschenschlange wurde durch Kontrollhäuschen geleitet, wo die Frauen ihre Handtasche öffnen mussten und gefragt wurden, ob sie ein Messer dabei hätten. Später wand sich die Schlange durch einen Pavillon, in dem ein Röntgengerät und ein Türrahmenscanner stehen, ganz so wie auf dem Flughafen. Besucher, bei denen Fotoapparate und Handys gescannt wurden, bekamen rote Neopren-Täschchen in die Hand gedrückt und mussten dort hinein ihre Elektronik verstauen. Wieder war Wundern angesagt. Aber dreißig Meter weiter gab es die Erklärung, warum, denn dort mussten diese roten Täschchen abgegeben werden und wir bekamen dafür eine Marke mit Nummer. Inzwischen waren wir schon auf dem eigentlichen Vorplatz des Mausoleums angekommen. Ab und an stoppte der Vormarsch, um angemeldete Gruppen oder Schulkassen vorzulassen. Der gesamte Weg der Menschenschlange ist zum Schutz vor Sonne und Regen überdacht. Flachbildschirme alle zwanzig Meter unterhalten mit bunten Bildern von Parteifeierlichkeiten und historischen Ereignissen. Etwa achtzig Meter vor dem Ziel wurden wir aufgefordert, in Zweierreihen zu 22 gehen. Das war etwas schwierig, denn wir waren ja zu dritt unterwegs und die Gruppen vor und hinter uns hatten auch gerade Teilnehmeranzahlen. Direkt am Eingang der letzten Ruhestätte Ho Chi Minhs stehen stets frische Kränze, die von verschiedenen Besuchergruppen mitgebracht wurden. Vor dem Eintritt ins Mausoleum steht nun alle drei Meter ein Soldat in weißer Paradeuniform und gibt Anweisungen, Sonnenbrillen und Kappen abzusetzen und »die Klappe zu halten«. Bekleidungsstücke wie Tops mit Spaghettiträger, Miniröcke und Shorts werden schon gleich beim Eintritt durch Umhüllen mit Tüchern oder gar durch Umkleidung korrigiert. Es ist ja auch kein Jahrmarkt, sondern eine Gelegenheit, dem Toten, dessen Name in den 70er Jahren in allen europäischen Hauptstädten auf Anti-Kriegs-Demonstrationen im Chor gerufen wurde, die letzte Ehre zu erweisen. Beim Eintreten ins Mausoleum schlug uns eine unglaubliche Kälte entgegen. Ich schätze mal so ungefähr acht Grad Celsius. Wir stiegen Stufen empor und wurden von den Soldaten, die jetzt alle zwei Meter stehen, dazu angehalten, zügig durchzugehen. Alles ohne Worte. Dann erreichten wir endlich den oberen Innenraum, wo der Sarg steht. Auf einer Art Brüstung geht man an drei Seiten des Sarges entlang, der von vier Paradesoldaten flankiert wird. Wir fragten uns, ob das, was man sieht, wohl echt oder eine Wachsfigur ist. Stehen bleiben und in Ruhe alles angucken, das ist nicht möglich und - schwupps - waren wir wieder draußen im warmen Licht. Drinnen hatte ich auch noch einen tonlosen Rüffel kassiert. Wegen der Kälte hatte ich die Arme verschränkt und wurde aufgefordert, sie gerade herunterhängen zu lassen. Anschließend konnten wir noch unsere Elektronikgeräte abholen, die nun offen ohne Tasche in einem Regal herum lagen.« Damit beendet Heike ihre Schilderung. Eli ist sich nicht so ganz sicher, wie er diesen Bericht werten soll. Und als Heike seine fragenden und unsicheren Blicke bemerkt, ergänzt sie noch: »Wenn man über Onkel Ho‘s Leben und seine Absichten etwas mehr gelesen hat, weiß man gar nicht so genau, ob es ihm recht gewesen wäre, dass jeden Tag Tausende Menschen durchs Mausoleum ziehen.« Und damit lassen Heike und ihre Kinder Linh und Eli allein. Im Umfeld des Mausoleums fallen Eli die vielen, weiß gekleideten Uniformierten auf. Deren gelangweilte Haltung und Bewegungen haben aber hier mit denen eines Ehrenpostens wenig zu tun. Später ergibt sich für die beiden noch die Gelegenheit, den schönen Park und das historische Gartenhaus auf Stelzen zu besichtigen und sich von der 23 bescheidenen Lebensweise des Präsidenten beeindrucken zu lassen. Da sitzt tatsächlich Bac Ho, wie ihn die Vietnamesen zum Teil heute noch liebevoll nennen, sogar im Garten, bereit zu einer Audienz, wenn auch nur als Bronzeplastik. Und hier treffen sie Verena, die ihnen von einem anderen Besuch bei Bac Ho erzählt. »Die bedeutendste Persönlichkeit in der Neuzeit Vietnams ist zweifellos Ho Chi Minh. Deshalb nimmt es auch nicht Wunder, dass sich an vielen Orten Stätten der Verehrung finden, an denen man es wirklich nicht vermuten würde. Es war an einem meiner ersten Arbeitstage in einem staatsnahen Finanzinstitut in Hanoi. Bevor ich mein Arbeitszimmer in der vierten Etage erreichte, drängte sich der Geruch von Räucherstäbchen in meine Nase. Neugierig folgte ich diesem Duft und entdeckte die Quelle. Hinter einer dunklen zweiflügeligen Tür, die durch zwei fast mannshohe japanische Steinlampen flankiert wird, erstreckt sich ein Raum in schummrigem Licht. Der Zutritt wird durch eine sehr hohe Schwelle erschwert. Erst später habe ich gelernt, dass sich dadurch die Besucher automatisch vor dem zu Verehrenden verneigen sollen. Eine im Raum stehende massive Holzwand verwehrt neugierigen Blicken den Zugang. Also stellte ich meine Schuhe auf die vor dem Zugang liegende Matte, stieg über die hohe Schwelle und schlängelte mich an der Holzwand vorbei. Die vietnamesischen Schriftzeichen konnte ich sowieso nicht entziffern. Und dann traute ich meinen Augen kaum. Dieser Raum, ungefähr in den Ausmaßen von sechs mal sechs Metern, entpuppte sich als kleiner Tempel. Er wird dominiert von einem hohen Altar, dessen Ablagefläche ich gerade so erreichen könnte. Auf dieser Fläche steht ein Gefäß mit brennenden Räucherstäbchen, deren Duft mich hierher geführt hatte. Zwei Vasen mit frischen Blumen und zahlreiche Gaben füllen die Fläche. Ich erkannte Dosen von Bier und Cola, Schalen mit frischem Obst und aufgestapelte Packungen von Leibnitz-Keksen. Der Altar wird rechts und links flankiert von zwei großen Vögeln aus Bronze, die jeweils auf einer Schildkröte stehen. Rechts steht auch noch eine fast mannshohe Vase mit künstlichen Lotusblumen. Daneben hängt eine Trommel, die auf der anderen Seite von einem Gong komplementiert wird. Ja, und oben auf dem Altar, noch mal durch ein Podest erhöht, thront »ER« - Ho Chi Minh - als ungefähr ein Meter große Bronzefigur. Er sitzt und hält ein Buch auf den Knien. Nachdem ich meine Verwunderung überwunden hatte, verließ ich ehrfurchtsvoll 24 den Raum und entdeckte dann über dem Eingang noch die Inschrift: Phong tuong niem CHU TICH HO CHI MINH (Gedächtnisstätte für Präsident Ho Chi Minh) Später habe ich diesen Raum noch einige Male betreten. Dann in Begleitung meiner Kollegen, die zu offiziellen Anlässen dem großen Lehrer huldigten. Sie sprechen immer von der Chua, aber eigentlich ist es doch ein Den - ein Tempel? Bis heute habe ich nicht erkunden können, von wem denn die Opfergaben stammen und wer dann letztendlich in deren Genuss kommt. Aber einmal brachten mir meine Kolleginnen aus der Chua einen großen Blumenstrauß.« Verena wirft einen Blick auf die Uhr und verabschiedet sich. Sie ist im Park mit ein paar Freundinnen verabredet und muss sich sputen. Eli hebt die Hand zum Gruß und ist schon gespannt, wer als Nächstes vorbei kommen wird, denn offenbar ist immer jemand aus Linhs Freundeskreis zur Stelle, um ihm mit einer Geschichte Land und Leute näher zu bringen. Doch momentan bewegt ihn etwas ganz anderes: Die vielen Erlebnisse und Erzählungen haben ihn hungrig gemacht. 25 Nudelsuppe mit Stäbchen In einer Garküche »Könnten wir vielleicht etwas essen?« Mit diesen Worten wendet sich Eli schüchtern an seine Begleiterin. Linh ist keineswegs beleidigt. Im Gegenteil. »Ja, ich bin auch hungrig«, sagt sie und strahlt ihn an. »Komm, lass uns eine Pho essen.« Zielstrebig steuert sie auf einen der auf dem Fußweg stehenden Tische zu und setzt sich auf einen der niedrigen blauen Plaste-Höckerchen. Eli tut es ihr gleich. Mit seiner Körpergröße hat er damit kein Problem. Er beobachtet aber belustigt, wie viele der meist größeren, hier anwesenden Ausländer sich bemühen, ihre langen Beine in dem geringen Platzangebot zwischen Hocker und Tisch zu verstauen. Und da viele der »Gäste mit den langen Nasen« auch noch ziemlich beleibt, um nicht zu sagen dick sind, bedarf es dazu schon einigen Geschickes und einiger Verrenkungen. Auf dem Tisch stehen röhrenförmige Behältnisse. Aus ihnen ragen lange braune Holzstäbchen hervor und in einem Seitenfach stecken schaufelförmige Blechlöffel. Verschiedene Flaschen, Gläser, Schüsselchen und Schälchen mit roten, braunen und weißlichen Flüssigkeiten und Pasten und ein Ständer mit weißen Papiertüchlein vervollständigen das Ensemble auf dem Tisch. Und während der Kleine das alles betrachtet, stehen plötzlich zwei große irdene Schüsseln vor ihnen. Daraus dampft eine gut riechende Brühe, in der allerhand Grünzeug, Fleischstücke und lange weiße Nudeln schwimmen. Linh hat inzwischen für sich und ihren Gast je zwei der Stäbchen und einen der Schaufel-Löffel mit einem der Papiertücher abgewischt und parat gelegt. Nun beginnt sie, verschiedene der Flüssigkeiten und Pasten in ihre Suppe zu schütten. Als Eli dies nachahmen will, warnt sie ihn: »Sei vorsichtig! Die Gewürze sind teilweise sehr scharf und du musst erst probieren, was dir schmeckt und bekommt. Wir Vietnamesen lieben scharfe Würzen und viel Knoblauch.« Damit deutet sie auf das Glas, in dem in der weißlichen Brühe kleine Stücke schwimmen. Nun gut, das ist recht einfach zu bewältigen und mit Genuss löffelt Eli die wohlschmeckende Brühe. Aber nun kommt die große Herausforderung. Linh hat inzwischen damit begonnen, geschickt mit den beiden Stäbchen Fleischstücke und 26 Gemüse aus der Suppe zu fischen und zu verzehren. Und mit den Stäbchen und dem Löffel bereitet es ihr scheinbar gar keine Mühe, die langen Nudeln so weit aus der Suppe zu heben, dass sie diese schlürfen kann. Das will aber Eli überhaupt nicht gelingen. Verstohlen schaut er sich um. Wie machen das die anderen Ausländer? Mit leichter Genugtuung stellt er fest, dass einige von ihnen genau mit den gleichen Problemen kämpfen müssen wie er selbst. Aber andere haben offensichtlich schon so viel Übung und Routine, dass sie sich in ihrem Essverhalten kaum von den Vietnamesen unterscheiden. Wie haben sie das nur geschafft? Nun, Linh wäre keine gute Gastgeberin, wenn sie die Nöte ihres Gastes nicht sehr bald bemerkte. Geduldig erklärt sie ihm die Handhabung der Stäbchen. Und siehe da, nach einigem Üben gelingt es Eli, nach und nach das Fleisch und die Nudeln in seinen Mund zu befördern. Und es schmeckt lecker! Mit großem Appetit und Vergnügen verzehren sie ihre Nudelsuppe mit Rindfleisch, denn so heißt die traditionelle pho bo. Als sich Eli dann nach dem Essen gemütlich zurück lehnen will, fällt ihm zum Glück gerade noch rechtzeitig ein, dass er ja nicht auf einem Stuhl sitzt, sondern nur auf einem Hocker. Bun cha, Com Binh Dan und Lau Im Laufe seines Aufenthaltes in Hanoi lernt der Besucher dann auch noch eine zweite Variante der Nudelsuppe kennen: pho ga mit Hühnchenfleisch. Aber das ist noch längst nicht alles, was die Garküchen so zu bieten haben. Eine ganze Reihe von köstlichen Gerichten und die Art und Weise der Zubereitung und Darbietung werden Eli auch später in Erinnerung bleiben. Mit seiner systematisierenden Denkweise hat er sie für sich wie folgt beschrieben und gespeichert: Bun cha - Nudeln mit Gegrilltem Vor einem Holzkohlefeuer hockt eine Frau. Im Schweiße ihres Angesichts hält und wendet sie Drahtgitter über die Glut. In diese Gitter sind Hackfleischbällchen, Schweinebauchstücke oder Filetscheiben eingeklemmt, die über der Glut gegrillt werden. Die Gitter werden von einem jungen Mann auf Vorrat gefüllt und vor der Grillerin griffbereit gestapelt. In dieser Garküche wird hauptsächlich Bun cha angeboten, eine Hanoier Spezialität. Serviert wird dieses gegrillte Fleisch - eben das cha - in einer heißen Brühe aus 27 verdünnter Nuoc mam (Fischsoße) mit Kohlrabistücken. Vor den Gästen werden dabei Teller mit kalten Reisnudeln (Bun), jede Menge Grünzeug, Zitronenstücken aufgebaut und auf dem Tisch stehen selbstverständlich die schon bekannten Behältnisse mit Stäbchen und allerlei Gewürzen. Je nach individuellem Geschmack wird die Brühe angerichtet. Und dann beginnt wieder das abenteuerliche Spielchen. Mit den Stäbchen werden Portionen von Nudeln und Grünzeug in die Brühe getaucht, die man dann nach leichtem Angaren wieder herausfischt und im Wechsel mit den Fleischstücken verzehrt. Com Binh Dan – Volkstümliches Essen In einer Theke stehen unzählige Teller und Schüsseln mit verschiedenen Arten von Gemüse, Fleisch und Fisch. Sie werden noch ergänzt durch gekochte und gebratene Eier und gebratene Frühlingsrollen. Und zumeist dürfen die klitzekleinen Garnelen - gekocht, gebraten oder getrocknet - nicht fehlen. Ab und an stehen auch noch Teller mit Raupen oder Larven oder sonstige Abstrusitäten zum Angebot. Hinter der Theke dampft aus einem großen Kessel körniger Reis. Die Brühe im kleineren Kessel daneben ist schon etwas abgekühlt. Der Gast erhält auf einem großen Teller eine Portion Reis und artikuliert der Austeilerin auf Vietnamesisch oder mit Fingerzeig seine Wahl an Fleisch und Beilagen. Das alles wird auf dem Teller platziert. Auf dem Tisch stehen dann, wie sollte es anders sein, die Behältnisse mit Stäbchen, Schaufellöffel und Gewürzen. Zu seinem Hauptgericht bekommt man noch ein Schälchen mit der Brühe und dann schlürft, schaufelt und schmatzt man alles in sich hinein. Das Gemüse und Fleisch wird fein portioniert mit den Stäbchen gegessen, die Brühe natürlich mit dem Löffel. Der Reis geht seinen Weg entweder nur per Stäbchen oder mit Stäbchen und Löffel und oftmals wird der letzte Rest an Reis dann noch mit der restlichen Brühe gemischt. Lau - Feuertopf Auf dem Tisch steht ein transportabler einflammiger Gaskocher oder, schon etwas moderner, ein Elektrokocher. Darauf steht er - der Lau oder Feuertopf. Je nach Wärmezufuhr brodelt und dampft in ihm die Brühe oder sie köchelt nur still vor sich hin. Und in diese Brühe kommt nun vielerlei Essbares hinein: Verschiedene Fischsorten in Stücken oder sogar auch im Ganzen, Garnelen, Schnecken und Muscheln, Fleisch und natürlich Gemüse. Während man Pho, Bun oder Com auch jederzeit allein essen kann, so ist ein Lau eher ein gesellschaftliches Ereignis mit mindestens zwei Personen. 28 Jeder Gast bereitet sich aber sein eigenes Menü in dem zentralen Topf zu, wenn nicht gerade ein anderer die Einlage seiner Wahl weggeschnappt hat. Nach der entsprechenden Garzeit fischt sich jeder seine Einlage mit einem Schöpflöffel oder mit den Stäbchen heraus. Diese Speisenarten sind im Prinzip alle ähnlich. Sie unterscheiden sich nur etwas in der Rezeptur, im Geschmackssinn der Köchin und auch im Preis. Natürlich bekommt der Gast aus den fernen Welten im Laufe seines Aufenthaltes in Hanoi noch viele andere Speisen angeboten. Da sind dann auch Sachen dabei, bei denen schon beim bloßen Angebot die inneren Organe mancher Ausländer in Aufruhr geraten: Raupen und Würmer, Schlangen und Schildkröten, Fledermäuse, Hund und Katze und einiges anderes mehr. Aber das stört Eli wenig. Schließlich sind in seinen anderen Welten die Nahrungen auch sehr ungewöhnlich. Lokalitäten Wo und wie man aber diese Speisen zu sich nehmen kann, da beobachtet Eli schon erhebliche Unterschiede im Niveau: Man hockt sich in einem mehr oder weniger dunklen Verschlag, der die Bezeichnung Gastraum wirklich nicht verdient, auf Bretterbänke oder Plastehocker an langen Tafeln. Oft genug steht auch noch ein Fass Bier in Reichweite. Hier gehören meist Bauarbeiter oder sonstige Handwerker zu den Stammkunden. Aber auch besser gekleidete Frauen und Männer sind ab und an hier zu finden. Auf breiten Bürgersteigen sind Planen gespannt. Unter denen stehen niedrige Tische und Hocker, meist für vier Personen. Hier ist die Gästeschar sehr gemischt aus einfachem Volk, Büroangestellten und Touristen. In richtigen Gasträumen unterschiedlicher Größe und Qualität der Wandgestaltung und sonstigen Ausstattung - da können schon mal ein paar Blumentöpfe oder sogar ein Aquarium herum stehen - sitzt man auf richtigen Stühlen an Tischen in normaler Sitzhöhe. Hier nehmen kleinere Gruppen und am Wochenende auch Familien Platz. Aber wohl gemerkt: Das sind keine Restaurants mit separater Küche, sondern die Garküche steht gewissermaßen coram publico. Natürlich stellt Eli auch fest, dass es in dieser Riesenstadt nicht an Gaststätten und Restaurants fehlt. Da gibt es eine breite Vielfalt und auch sehr noble Etablissements sind vertreten. All diese sind nicht nur den zahlreichen Ausländern 29 vorbehalten. Nein, zu verschiedenen Tageszeiten nehmen dort auch viele Vietnamesen ihre Speisen zu sich; oft genug in kleineren oder größeren Gruppen. Aber für mindesten genauso viele Vietnamesen ist es selbstverständlich, eine oder mehrere Mahlzeiten auf der Straße einzunehmen. Es stört sie dann ebenso wenig, dass sich ab und an eben auch einige Passanten durch ihr Fußwegstüb'l quälen oder dass sich die Abgase der Mopeds und Autos in den Duft des Essens mischen. Es ist eben ihre Lebensart. Den Begriff Fußwegstüb'l hatte Linh übrigens von Touristen aufgeschnappt, die wohl aus dem fernen Bayern nach Hanoi gefunden hatten. Sehr oft beobachtet Eli, dass die Leute eben ihre Schüssel oder die Stäbchen und Löffel erst einmal mit Papier abwischen. Nachdem er mehrfach zugeschaut hat, wo und wie das Geschirr gewaschen wird, erscheint ihm diese Handlung auch logisch und nachvollziehbar. Viel später bringt ihn aber eine Bemerkung eines klugen Reiseleiters zum Nachdenken. Dieser erklärt seiner Reisegruppe, dass die Leute ja gar nicht wüssten, wie lange das Papier schon Gelegenheit hatte, hier vor Ort Schadstoffe aufzunehmen oder was bei der Herstellung des Papieres schon so alles hinein geraten war. Da sehnt sich der Weltenwandler dann doch wieder nach einer seiner anderen Welten, in der es sauber und fast steril zugeht - aber lange nicht so lustig und aufregend wie hier in Hanoi, wie er ehrlich zugeben muss. Eli sieht auch, dass man sich die Reis- oder Nudelgerichte auch einpacken lassen und sie dann genüsslich zu Hause verzehren kann. Auch wird auf die Art die Versorgung auf kleineren Baustellen oder Offices sichergestellt. In dem Fall hat der Essenholer beispielsweise bis zu sechs oder noch mehr eingepackte Portionen zu bewältigen. Mit besonderer Überraschung beobachtet Eli dabei, dass auch die Suppen in Plastetüten abgefüllt werden; sowohl die Brühe zum Com als auch die komplette, noch heiße Nudelsuppe. Dazu erzählt ihm Linh folgende Geschichte. Pho in der Tüte »Eines morgens begleitete ich Maik in der Vong Thi, einer Straße in der Vorstadt. Gegen acht Uhr pulsierte schon richtig das Leben. Maik hatte neues Obst und sehr preiswert einen Strauß Strelitzien eingekauft. Die gibt es nachmittags nicht mehr. An vielen Ecken waren mehr oder weniger mobile Garküchen postiert und auch stark frequentiert - die meisten Vietnamesen frühstücken ja nicht zu Hause. 30 Maik war gerade vom Frühstück gekommen und hatte keinen Hunger. Aber die Pho bo duftete doch sehr lecker! Also kaufte er sie kurzer Hand in der Tüte. Für die Verkäuferin und für mich selbst war das nicht ungewöhnlich, die anwesenden Bewohner und Passanten der Straße beobachteten den Vorgang mit Interesse und Belustigung: Ein Ausländer mit Blumenstrauß und Obstbeuteln kauft Pho zum Mitnehmen. Die Nudeln wurden kurz in der im Kessel köchelnden Fleischbrühe aufgebrüht und kamen in einen Plastebeutel; Fleisch und Gemüse und Brühe in den anderen (doppelten) und fertig war`s. Damit kam er nach etwas mehr als einhundert Metern Weg noch mit der richtig heißen Suppe zu Hause an. Später erzählte er mir dann, dass er die Suppe zu Mittag in der Mikrowelle erwärmt und diese wie frisch zubereitet geschmeckt hätte.« 31 Das eigenwillige Verhalten der Vietnamesen im Straßenverkehr Die Todsünden im Straßenverkehr Was der Weltenwanderer auch immer in diesen Tagen erlebt, welche Eindrücke er auch immer zu verarbeiten hat - eines beschäftigt ihn immer wieder: das seltsame Verhalten der Leute im Straßenverkehr. Sehr schnell findet er mit wachem Verstand heraus, dass in Vietnam Regeln im Straßenverkehr, wenn es sie wirklich geben sollte, kaum eingehalten werden. Jeder fährt so, dass er nur irgendwie schnell sein Fahrziel erreicht. Fahrer von LKW und Pkw, Mopeds, Motorrädern und Fahrrädern sind sich kaum bewusst oder nehmen kaum Rücksicht darauf, wie ihr Verhalten andere Verkehrsteilnehmer beeinträchtigen oder gar gefährden kann. Dabei stellt Eli wenig Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Verkehrsteilnehmern fest, auch Altersunterschiede gibt es kaum - abgesehen von den jugendlichen Rasern, die sich besonders gefahrvoll benehmen. Schon nach kurzer Zeit kann er daher zehn Todsünden im Straßenverkehr klassifizieren. Fahren bei roter Ampel Nein, damit ist nicht das Hineinschnippeln im letzten Moment der Grün-Phase oder der Frühstart am Ende der Rot-Phase gemeint. Teils zögerlich, aber auch zum Teil forsch bis aggressiv fahren diese Verkehrsteilnehmer voll gegen die frei gegebene Richtung und nutzen dabei jede noch so kleine Lücke oder bringen sogar den Verkehrsstrom zum Stoppen. Rasen Die Durchschnittsgeschwindigkeit auf den Straßen Hanois ist nicht sehr hoch. Aber immer finden sich zumeist jugendliche Raser, die durch den Verkehr preschen. Eigentlich beherrschen sie ihre Maschinen. Wenn dann doch einmal etwas Unverhofftes in die Quere kommt, kann das natürlich sehr böse enden. Telefonieren im Straßenverkehr Für viele der PKW- oder Taxi-Fahrer ist ja schon das gleichzeitige Bedienen von Lenkrad, Blinklichtschalter und Schalthebel oder das Fahren einer rechtwinkligen Abbiegung eine Herausforderung, die sie oft genug nur unzureichend bewältigen. Das hindert sie aber nicht daran, das Handy zu benutzen, egal, ob sie angerufen werden oder gar selbst anrufen. Je nach Temperament kurven sie dann riskant oder schleichen im dicksten Gewühl oder bleiben gar stehen. Wie auch immer 32 sie behindern alle anderen Verkehrsteilnehmer. Noch schlimmer sind die Zweirad-Fahrer. Sie fingern das Handy aus der Hosenoder Handtasche, schauen aufs Display oder halten das Handy ans Ohr (dafür bedecken ja die wenigsten Helme auch die Ohren) und schreien laut. Für die eigentlichen Aufgaben beim Fahren, nämlich Lenker halten, bremsen, Gas geben, bleibt eben dann eben nur eine Hand und insgesamt die geteilte Aufmerksamkeit. Den Gipfel der Leichtsinnigkeit erreichen sie, wenn sie nicht nur telefonieren, sondern sogar SMS eintippen. Da ist es ihnen auch gleichgültig, ob sie allein fahren oder noch eine oder mehrere Personen und gar kleine Kinder mit von der Partie sind. Fahren in der Gegenrichtung Prinzipiell wird in Vietnam rechts gefahren. Das bedeutet aber nicht, dass prinzipiell auch links überholt wird. Und aufgepasst: Man ist nicht sicher davor, dass in der eigenen Fahrtrichtung nicht doch jemand entgegen kommt. Die Gründe dafür sind mannigfaltig und unterliegen gern einem Motto: Bequemlichkeit geht vor Risiko Wenn in einer Richtungsfahrbahn die nächste Möglichkeit zum Abbiegen oder Wenden erst in dreihundert Meter kommt, dann fahre ich doch lieber hundert Meter in der falschen Richtung. Wenn meine Richtungsfahrbahn verstopft ist und ich nicht schnell genug vorankomme, dann fahre ich doch lieber auf der nicht so frequentierten Gegenfahrbahn. Ganz besonders gefährlich ist solch ein Verhalten für den ungeübten Fußgänger. Wenn sich dieser beim Überqueren der Straße zunächst nur nach links orientiert, dann kann es durchaus vorkommen, dass er von rechts von einem Moped angerempelt wird. Falsches Einordnen Traditionell fahren in Vietnam die Zweiräder rechts außen und die Autos in der Mitte oder links - je nachdem, wie breit die Straße in der betreffenden Fahrtrichtung ist. Ein rechtzeitiges Einordnen vor Kreuzungen oder Abzweigungen ist den meisten Verkehrsteilnehmern nicht geläufig. So passiert es sehr häufig, dass ein Zweirad von ganz rechts außen urplötzlich nach links schwenkt oder ein PKW von ganz links außen nach rechts drängelt und alle anderen Verkehrsteilnehmer zum Bremsen zwingt. Auf die Blinklichter kann man sich sowieso kaum verlassen, denn oft genug wird vergessen, diese wieder auszuschalten. Einige Rüpel unter den Mopedianern verstärken diese Gefahrenquelle noch, 33 indem sie schnell noch links überholen, um unmittelbar vor dem gerade Überholten rechts abzubiegen. Nebeneinander fahren Das tägliche Leben in Vietnam ist interessant und spannend. Da gibt es immer genügend zu erzählen - selbst wenn man vielleicht den ganzen Tag gemeinsam in der Schule zugebracht oder gemeinsam im Office gearbeitet hat. Also fährt man nebeneinander her und schwatzt. Fahrradfahrer, meist Schüler oder Schülerinnen, oft genug auch zu dritt, und Mopedfahrer zu zweit. Und das auch im dicksten Gewühl. Dass sich ein PKW-Fahrer in so einem Fall nicht vorbei traut und sich somit ganz schnell ein Stau aufbaut, stört die Schwätzer wenig. Fahren auf dem Fußweg Zu bestimmten Zeiten gibt es auf vielen Straßen Staus, weil einfach die vielen Verkehrsteilnehmer nicht durch die diversen Nadelöhre passen. Dann ist es für etliche Zweiradfahrer selbstverständlich, auf den Fußweg auszuweichen. Sei es, um auf diese Weise an fünf bis manchmal sogar fünfzehn Fahrzeugen vorbei zu kommen und sich wieder vor ihnen einzuordnen oder gar die Chance zu ergreifen, schneller an die nächste Abzweigung zu gelangen und dort abzubiegen. Dass sich auf dem Fußweg eventuell auch Fußgänger befinden und vielleicht sogar an der Haltestelle auf den Bus warten, gilt dann ganz lässig als Risiko der Fußgänger. Und diese scheinen solch Vorgehensweise auch als normal zu empfinden. Zumindest empören sie sich nicht darüber. Gefährliche Ladungen Linh hatte Eli erklärt, dass Zweiräder eigentlich für den Transport von bis zu zwei Personen bestimmt sind. Aber Eli konnte unzählige Beispiele dafür beobachten, dass es die Vietnamesen damit nicht so genau nehmen. Wie viele Menschen und welche Güter in Vietnam alles mit Mopeds transportiert werden, das kommt ihm schon sehr grotesk vor. Oft genug aber können die Fahrer oder auch Fahrerinnen dadurch ihr Fahrzeug nicht mehr richtig beherrschen oder die Ladung ragt unkontrollierbar in den übrigen Verkehr hinein. In solchen Fällen wird es gefährlich! Fahren ohne Helm Eigentlich besteht in Vietnam Helmpflicht. Die wird aber bei den wenigsten Kindern eingehalten und auch meist jugendliche Raser halten sich nicht immer an das Gebot. Auch, wenn Eli zugeben muss, dass solche Fahrer im Grunde nur sich selbst verletzen, kann er eine derartige Fahrlässigkeit nur schwer nachvollziehen. Anhalten oder Parken an den unmöglichsten Stellen Eli hat nun schon mehrfach festgestellt, dass viele der Straßen von Hanoi recht 34 eng sind. Im normalen Tempo kommen oft genug zwei PKW gerade aneinander vorbei. Wenn sich dann aber bei dem meist starken Verkehr nur ein kleines Hindernis am Straßenrand befindet, ist Stau vorprogrammiert. Eli wundert sich aber sehr, dass viele der Verkehrsteilnehmer überhaupt nicht darüber nachdenken, welche Konsequenzen ein Anhalten in solchen Situationen mit sich bringt: Mopedfahrer halten oder parken, um irgendetwas einzukaufen oder mit jemandem am Straßenrand zu schwatzen; Taxifahrer halten an, um Fahrgäste einoder auszuladen (bei etwas breiteren Straßen dann auch gleich mal in der zweiten Reihe); andere versuchen mit ihren Fahrzeugen, die hohe Bordsteinkante zu erklimmen und/oder parken halb auf dem Fußweg und halb auf der Straße; im PKW sitzt ein Fahrer, der offensichtlich auf jemanden wartet und sich freut oder wundert, dass um ihn herum das blanke Chaos herrscht. Als besondere Zugabe an die Freude der anderen versucht dann ab und an der Fahrer eines Mini-Taxis oder gar eines großen Jeeps auf einer zweispurigen Straße zu wenden. Schon ein paar Mal konnten Eli und Linh miterleben, wie nahezu katastrophal die Situation täglich an den Schulen ist, wenn die lieben Kleinen abgeholt werden. Da wird ganz schnell eine vier- bis fünfspurige Straße bis zu Hälfte zugestellt und der Verkehrsstrom der rush hour kann sehen, wie er sich daran vorbei quält. Nach dieser Aufzählung kommt der Weltenwanderer gar nicht dazu, die sonstigen, mehr oder wenig kleinen Verstöße gegen jegliche Ordnungen und das unlogische Verhalten ohne eine Spur von Voraussicht, zu beschreiben. Je nach seiner Gemütslage müsste er sich den ganzen Tag nur darüber wundern oder ärgern. Er kann nicht verstehen, dass die meisten Verkehrsteilnehmer dieses tägliche Chaos relativ gelassen ertragen und sich zumindest äußerlich kaum aufregen. Linh berichtet ihm aber, dass manchmal zwei Verkehrssünder durchaus so richtig aneinander geraten und dann auch mal die Fäuste fliegen. Psychologie des Hupens Als ob dieses Chaos jetzt nicht schon schlimm genug wäre, gesellt sich auch noch ein permanentes Hupkonzert hinzu. Nach einigem Beobachten kommt Eli zu dem Schluss, dass Hupen noch lange nicht gleich Hupen ist. So gelingt es ihm, die verschiedenen Typen in bestimmte Kategorien einzuteilen. 35 Die Mopedfahrer gliedert er in: Der Vollbepackte »He Leute, ihr seht doch, dass ich mein Moped kaum beherrschen kann - also macht mir bitte Platz!« Der jugendliche Raser Meist ohne Helm, mit oder ohne Sozius/Sozia, slalomt er in einem Affenzahn durch das Verkehrsgewühl und hupt permanent. Der Angeber »Seht her - ich bin der Schönste!« Der Eilige Meist bepackt mit einer Gasflasche oder einem Pizza-Auslieferungscontainer. »Macht Platz! Meine Kunden können keine Minute länger warten!« Der zivile Eilige Mit Akten- oder Computertasche bestückt. »Ich muss schnell nach Hause. Meine Familie wartet schon auf mich.« Oder »Meine Frau ist allein zu Hause. Wer weiß, was die alles anstellt.« Der Unverschämte »He, ich weiß ja, dass ich falsch fahre. Aber das muss sein. Also, passt gefälligst auf und lasst mich vorbei!« Der Zornige »Pass doch auf! Jetzt musste ich wegen dir bremsen!« Der Vorsorgliche »Ich fahre hinter dir, mach dir keine Sorgen, ich habe dich gesehen und werde gut auf dich achten und dich nicht an- oder umfahren. Mach aber bitte keine unkontrollierten Schlenker, bis ich an dir vorbei bin - dann ist alles gut.« Der Blödmann Diese Sorte steht im Stau in der fünften Reihe und hupt. Die Ängstliche So eine steigt aufs Moped und hupt schon, bevor sie vorsichtig das Grundstück verlässt. Die Autofahrer teilt er ein in: Der Ängstliche »Ich habe keinen Führerschein und das Auto gehört mir nicht - bitte macht keine Kratzer an den Lack!« 36 Der mit dem angewachsenen Finger Beim ersten Griff an das Lenkrad scheint der Finger am Hupknopf anzuwachsen. Der Lokführer Als Nachweis, dass er nicht eingeschlafen ist, muss er regelmäßig die Hupe betätigen (so wie in früheren Zeiten die Lokführer den »Toter-Mann-Knopf« ) All diese Typen findet Eli bei beiden Geschlechtern. Das permanente Hupkonzert ist aber scheinbar auch keine Erfindung der neueren Zeit. Ein Freund hatte Linh einmal erzählt, dass er in den 70er Jahren durch die Prüfung für den PKW-Führerschein gefallen war, weil er zu wenig gehupt hatte. An der Kreuzung An nicht wenigen Kreuzungen in Hanoi beobachtet Eli solche Vorgänge, die ihm fast wie ein dramatisches Schauspiel vorkommen: Sie stehen sich gegenüber. In breiter Front. Zum Speed bereit! Von Sekunde zu Sekunde werden es mehr. Längst sind die Grenzen ihres Aufstellungsraumes überschritten, aber noch hält sie das rote Licht zurück - zumindest die meisten von ihnen. Sie - das sind PKW, Mopeds und Fahrräder. Ihre Fahrer benehmen sich normal vietnamesisch, das heißt, ungefähr die Hälfte aller Beteiligten reiht sich ordentlich ein und wartet mehr oder weniger geduldig oder gelangweilt auf die nächste Grün-Phase. Viele von ihnen haben sogar den Motor abgestellt. Die andere Hälfte aber sieht zu, wie auch in dieser Situation wieder ein kleiner Vorteil gegenüber den anderen zu erreichen ist. Da stellt man sich eben nicht hinten an, sondern fährt an den Wartenden links vorbei, möglichst weit nach vorn. Dass dabei die aufgemalte Sperrlinie überschritten wird, kümmert sie wenig. Oft genug ist dann die ganze Straßenbreite ausgefüllt. Dumm wird es nur, wenn doch einmal aus dem fließenden Verkehr auf der Hauptstraße ein PKW in die nun volle Straße abbiegen will. Dann kommt er eben nicht durch und wieder einmal ist ein Stau vorprogrammiert. Wieder andere Moped- und auch Radfahrer sind scheinbar farbenblind. Sie kommen nach vorn gefahren, stoppen kurz oder auch nicht, und fahren direkt in den Strom der Fahrzeuge, die ja in ihrer Fahrtrichtung Grün haben, hinein und schlüpfen hindurch, nicht ohne einige eben auch zum Bremsen zu zwingen. Andere wiederum fahren plötzlich noch bei Rot los, nachdem sie vorher auch eine 37 Weile gestanden hatten. Das alles erfüllt den Beobachter aus den anderen Welten mit Erstaunen, Furcht oder Entsetzen - je nachdem, was sich da gerade entwickelt. So oft er diese oder ähnliche Szenen auch beobachtet, er findet keine Erklärung dafür, was in den Köpfen dieser Rot-Fahrer vorgeht. Warum sie sich bewusst dieser Gefahren aussetzen? Oder sind sie sich der Gefahren gar nicht bewusst und vertrauen einfach darauf, dass die anderen schon aufpassen werden? Mit zunehmender Erregung stellt Eli fest, dass sich auf der gegenüber liegenden Straßenseite genau die gleiche Entwicklung vollzieht. Wenn nun dann die Ampel auf Grün schaltet und die beiden Ströme mit voller Wucht aufeinanderprallen, dann … … passiert in den meisten Fällen gar nichts. Wie durch eine wundersame Fügung gleiten die beiden Ströme ineinander und nach wenigen Metern schleicht oder rast wieder jeder dahin wie immer - bis zur nächsten Kreuzung. Wozu sind Verkehrspolizisten da? Nach all diesen Beobachtungen und Erfahrungen drängt sich natürlich auch dem Weltenwanderer die Frage auf: Gibt es denn niemanden, der im Straßenverkehr für Ordnung sorgt? »Doch. Es gibt doch die Verkehrspolizisten«, ereifert sich Linh. »Schau nur genau hin! Dann wirst du sie auch finden.« Und wirklich, Eli findet sie. Sie sind in sandgelbe Uniformen gekleidet. Die Schulterstücke sind unifarben. Nur an den Kragenspiegeln scheint man ihren Rang erkennen zu können. Ihre Kopfbedeckung ähnelt einem Tropenhelm, aber auch in sandgelb. Bei Regenwetter sehen sie besonders putzig aus: dann sind auch sie in Regencapes gehüllt und tragen Gummistiefel. Einer steht an einer Ampelkreuzung auf einem Podest. Manchmal auch daneben auf der Straße. Er hat eigentlich nichts weiter zu tun, denn der Verkehr wird ja durch die Ampel geregelt. Also telefoniert er sehr oft. Nur wenn die Ampel umschaltet, dann wird auch der Polizist aktiv. Er fuchtelt mit seinem Stab herum. So als wolle er den Verkehrsstrom in der jeweiligen Richtung beschleunigen. Doch der Verkehr kümmert sich kaum um den Polizisten. Wenn es geht, fahren alle sowieso schnell genug; manchmal auch um ihn herum. Und wenn es staut, dann kann er mit den Armen herumrudern, so viel er will. Nur ab und an wird der Alleinkämpfer von mehreren Kollegen unterstützt. 38 Manchmal kommen die auch von der mobilen Truppe und tragen Integral-Helme, auch in sandgelb. Diese geballte Kraft sieht dann ihre Hauptaufgabe darin, zumeist Mopeds aus dem Verkehr herauszuwinken. Dann werden Protokolle geschrieben oder es wird besser gleich kassiert. Ein System dafür, wer, wann und warum davon betroffen sein kann, das vermag der Gast aus der anderen Welt während seiner ganzen Anwesenheit in Vietnam nicht zu ergründen. Dass einmal ein richtiger Verkehrssünder durch die Polizisten aus dem Verkehr und zur Verantwortung gezogen wurde, kann er nicht beobachten. Ein besonderes Erlebnis macht Eli sehr nachdenklich. Ort des Geschehens: Einmündung in die Thuy Khue, von der Promenade kommend. Ein einzelner Polizist steht auf der Einmündung. Mit Pfeifsignalen und Armbewegungen glaubt er, den fließenden Verkehr auf der Thuy Khue zu beschleunigen. Den normalen Regeln folgend, hält ein Ausländer mit seinem Moped an und wartet, bis der Verkehr aus seiner Richtung freigegeben wird. Wunder über Wunder: neben ihm halten tatsächlich auch einige Vietnamesen mit ihren Zweirädern an. Als sich die Anzahl auf fünf bis acht erhöht, bedeutet ihnen der Polizist, dass sie doch fahren sollten. Ohne jedoch den fließenden Verkehr anzuhalten! Also wursteln sie sich an dem Polizisten vorbei durch die in beide Richtungen fahrenden Zweiräder und PKW hindurch und reihen sich in den Strom ein. So wie sie es auch ohne den Polizisten getan hätten! Im Nachhinein kommen dem Gast dann doch ein paar peinliche Fragen: Was wäre geschehen, wenn es an dieser Stelle durch den Ausländer zu einer Kollision gekommen wäre? Wer würde dann zur Verantwortung gezogen? Der Polizist, denn er hat alle doch zu dieser Handlung aufgefordert? Oder doch eher der Ausländer? Bloß nicht darüber nachdenken! Aber an einigen Kreuzungen kann Eli feststellen, dass es manchmal ganz gut mit der Verkehrsregelung funktioniert. Dann stehen die Polizisten zu dritt oder gar zu viert und jeder hält an einer Einmündung den Verkehrsstrom im Zaum, stoppt diesen oder gibt ihn frei. Dass aber auch dann einige vorwitzige Mopedianer an den Polizisten entgegen den Weisungen vorbei huschen, das können oder wollen sie auch nicht weiter beachten. In neuerer Zeit werden diese Verkehrspolizisten durch Kolleginnen ergänzt. Sie 39 sollen das Antlitz der Polizei freundlicher machen, lautet eine offizielle Verlautbarung. Diese weiblichen Verkehrsregler versuchen dann, durch ganz besonders exakte und graziöse Bewegungen ihrem Dasein eine Berechtigung zu geben. Aber ihre Wirkung ist gleich der ihrer männlichen Kollegen - nämlich nahe Null. Ordnungshüter? Öfters sieht Eli auch noch andere Uniformierte im Stadtbild von Hanoi auftauchen. Sie sind grün gekleidet. Auf den roten Kragenspiegeln und Schulterstücken geben Streifen, Winkel und Sterne in Silber oder gar Gold über ihren Dienstrang Auskunft. Wenn sie nicht gerade als Fahrrad-Streife unterwegs sind, dann erscheinen sie meist mit einem Kleintransporter. »canh sat« steht daran geschrieben - Polizei. Und sie werden oft genug noch von Männern in blauen Uniformen assistiert. Es ist nicht so ganz einfach herauszufinden, ob diese zu einer besonderen Abteilung der unzähligen Hilfspolizisten oder zu privaten Sicherheitsunternehmen gehören, die auch zu Hauf als Wachpersonal vor Banken und Büros anzutreffen sind. Manchmal greifen die Uniformierten wirklich regelnd in den Verkehrsstrom ein. Aber viel öfter stehen sie wie Greifvögel an Kreuzungen, um sich dann urplötzlich auf irgendeinen Verkehrsteilnehmer zu stürzen. Wenn es sich da um offensichtliche Verkehrssünder handeln sollte - wie Fahrer ohne Helm - dann wäre das ja verständlich. Aber in relativ wenigen Fällen ist ein plausibler Grund dafür zu erkennen. Diese scheinen aber doch zu existieren, denn sonst würden ja nicht selten Mopeds aus dem Verkehr gezogen und auf die Transporter aufgeladen werden. In einer sonst in den Vormittagsstunden sehr lebhaften Gasse wundert sich Eli sehr, dass nahezu gespenstige Ruhe und Leere herrschen. »Wo sind nur die vielen Händlerinnen geblieben?« Linh vermutet, dass hier der Händlerschreck zu Gange war. Tatsächlich finden sie dann auch in einer abgelegenen Ecke einen solchen canh sat-Transporter. Vor diesem sind die Händlerinnen geflüchtet, weil sie in den wenigsten Fällen über eine Gewerbe- oder Handelserlaubnis verfügen und demzufolge Strafzahlungen vermeiden wollen. Aber lange hält dieser Zustand der scheinbaren Ordnung nicht an. Nachdem die Uniformierten wieder abgezogen sind, stellt sich schon bald wieder der ursprüngliche Zustand ein. Dies alles beobachtet der Weltenwanderer verwirrt und erstaunt. »Wie schnell 40 könnte man doch eigentlich mit dieser geballten Kraft wirkliche Ordnung schaffen«, sinniert er vor sich hin. 41 Alltagsszenen Der Weltenwanderer ist es gewöhnt, dass er in jeder neuen Welt mit anderen Kommunikationsformen konfrontiert wird, in dieser irdischen Welt zudem in fast jedem Land mit einer anderen Sprache. So auch in Hanoi. Mit Linh kann er sich ausreichend verständigen, denn sie spricht langsam und mit einfachen Worten. Doch es fällt ihm schwer, aus den Gesprächs- und Wortfetzen, die immer wieder an sein Ohr dringen, bekannte Laute zu erkennen. Linh beruhigt ihn: »Unsere Sprache ist für viele Ausländer sehr kompliziert. Wir können viele Silben in bis sieben verschiedenen Tonmelodien aussprechen. Dadurch erhält die fast gleich aussehende Silbe aber auch bis zu sieben verschiedene Bedeutungen. Wenn man dabei Fehler macht, dann kann es schon oft zu vielen Unverständnissen, aber auch zu lustigen oder auch peinlichen Verwechslungen führen. Aber tröste dich, mein Freund, ich kenne nur wenige Ausländer, die die vietnamesische Sprache wirklich richtig beherrschen und dafür mussten sie viele Jahre intensiv lernen.« Noch während Linh spricht, entdeckt sie in der Menge der sie umgebenden Passanten einen Mann mittleren Alters und winkt ihn heran. Eli identifiziert diesen auch sofort als Langnase. » Xin chao, Frank« begrüßt Linh den Neuankömmling. »Ich habe gerade meinem Freund Eli berichtet, dass du ein lustiges Erlebnis mit deinen Sprachkenntnissen auf dem Markt hattest. Kannst du bitte Eli die Geschichte noch einmal erzählen. Ich höre sie selbst auch gern noch einmal.« Frank lässt sich nicht zweimal bitten und beginnt zu erzählen. Chi co khoe khong? - Wie geht es dir? ( Erzählung von Frank) »Zu dieser Zeit lebte ich schon ein paar Monate in Hanoi. Ich kaufte schon seit längerer Zeit auf dem Markt frisches Gemüse. Mit den Fingern traf ich meine Auswahl und auch in der Fingersprache und durch Zeigen der entsprechenden Geldscheine verständigte ich mich mit den Marktfrauen über den Preis. Da war sogar ab und an ein leichtes Handeln möglich. Da wir ja mit ein paar Kollegen zusammen Vietnamesisch-Unterricht genommen hatten, wollte ich eines Tages, angeregt durch erste Fortschritte, diese Form der Kommunikation in der Fingersprache auf eine höhere Niveaustufe bringen schließlich hatten wir schon die einfache Grußformel »Chi co khoe khong?« 42 gelernt. Wörtlich heißt das so viel wie »Du, Frau, bist gesund?« Nach vielem Üben klang das auch in meiner Aussprache schon fast vietnamesisch. Und in anderen Sprachen hat das doch auch immer ganz gut geklappt: Nach einem »Kak delo?« (wörtlich: »Wie ist die Sache?«) wurden doch die Menschen in Russland und in der Ukraine auch immer gleich etwas freundlicher. Und das »How are you?« ist doch fast in aller Welt geläufig. In Baku waren es wohl die einzigen englischen Worte unseres Hausmeisters, die er mir zu jeder passenden und unpassenden Gelegenheit fröhlich entgegen geschmettert hatte. Derart motiviert wollte ich also bei meinem nächsten Einkauf zur Tat schreiten. Selbstbewusst betrat ich die Bühne, sprich den Marktstand, und bot laut und deutlich meine Grußformel dar. Doch was passierte? Statt einer Antwort mischten sich in die Augen der Verkäuferin, die freudig-erregt auf die bevorstehende Kaufhandlung gerichtet waren, Überraschung und Unverständnis. »Was will dieser langnasige Ausländer nur?« Sie zeigte auf dies und das. Ein Redeschwall quoll mir entgegen, aus dem meine Ohren die Worte« mua, mua ...« (kaufen, kaufen!!) filterten. Nein, ich wollte jetzt noch keine Möhren oder Ingwer kaufen, auch Auberginen oder Zwiebeln nicht. All das, was ich in den vergangenen Tagen immer gekauft hatte, bot sie mir an. Ich wollte einfach nur freundlich sein und wiederholte noch mal mein »Chi co khoe khong?« - laut und deutlich, so bildete ich mir es ein. Die Nachbarverkäuferin kam zu Hilfe. Sie tippte Zahlen in den Taschenrechner sicher hat sie vermutet, dass ich den Preis erfragen wollte. Nein, auch das wollte ich nicht und schon ein wenig trotzig wiederholte ich mein »Chi co khoe khong?«. Nun wurde es beinahe hektisch. Lautstarke Gesprächsfetzen schwirrten zwischen den Verkaufsständen hin und her, eine Kundin kam hinzu, eine Zweite, ein Mopedfahrer hielt an und beteiligte sich am Palaver. Im Nu bildete sich eine wild gestikulierende Menschentraube. Und ich armer Kerl, der einfach nur freundlich sein wollte, mittendrin. Was hatte ich nur angerichtet? Gerade wollte ich mich vorsichtig davonstehlen, da hörte ich doch ein paar bekannte Laute. Eine Kundin lächelte mich freundlich an und ich interpretierte ihre Worte als »Cam on. Em khoe. Va Co?« (Danke! Mir geht es gut - und dir?). Erleichtert brachte ich noch ein »Toi khoe« (Mir geht es gut) hervor und dann trollte ich mich von dannen. Zurück blieb eine sich langsam auflösende Menschenmenge, die sich scheinbar noch länger über den »Komischen Ausländer« amüsierte... In den nächsten Tagen hatte ich dann mein Gemüse erst mal an einem anderen 43 Ort gekauft.« Über diesen Bericht muss selbst Eli etwas schmunzeln und auch Frank und Linh scheinen sich darüber immer wieder amüsieren zu können. »Und wie haben sich deine Kenntnisse in der vietnamesischen Sprache dann weiter entwickelt?«, möchte Eli gern von Frank erfahren. »Sprichst du jetzt perfekt vietnamesisch?« »Leider nicht«, muss Frank zugeben. Und etwas bedauernd begründet er das so: »Weißt du, Eli, wie alle übrigen Kursteilnehmer habe auch ich nicht die nötige Kraft und Energie aufgebracht. Einer nach dem anderen verabschiedeten sich die Kollegen aus dem Unterricht. Als wir dann nur noch zu zweit übrig geblieben waren, haben wir das ganze Unterfangen ganz einschlafen lassen. Schade eigentlich! Aber da spielte bestimmt auch der Gedanke im Unterbewusstsein eine Rolle, dass wir ja sowieso nicht so lange in diesem Land bleiben werden und Vietnamesisch nun auch nicht gerade eine Weltsprache ist.« Eli klingt Franks letzter Satz fast wie eine Entschuldigung vor sich selbst. »Aber die Zahlen beherrsche ich einigermaßen sicher und so kann ich auf dem Markt wenigstens auf Vietnamesisch um den Preis feilschen.« Damit gibt Frank dem Ganzen doch noch eine optimistische Note und verkündet stolz: »Das werde ich jetzt tun! Macht es gut ihr beiden und dir, Eli, noch viele schöne Erlebnisse in Hanoi.« Damit verschwindet Frank wieder in der Menge. Hallo, hallo, ... Egal, ob man sie Mobile oder Handy nennt, diese kleinen Geräte sind allgegenwärtig in Hanoi. Während Eli und Linh beim Essen sitzen oder wenn sie durch die Stadt gehen, ständig sieht Eli Menschen mit diesen Geräten in Aktion. Und er überlegt, was den Vietnamesen wohl wichtiger sei: ein Handy oder ein Moped. Schließlich nutzen nicht alle Fahrer von Mopeds oder Fahrrädern während der Fahrt ein Handy, aber viele Menschen hantieren mit solchen Geräten, auch wenn sie sich nicht gerade im Straßenverkehr befinden. Und was sie nicht alles damit anstellen: Sie halten das Gerät an ein Ohr und brüllen laut oder flüstern verschämt. Sie tippen wie wild auf die Tasten oder streichen mit eleganten Fingerbewegungen über die glatte Oberfläche - nach rechts oder nach links, nach oben oder nach unten. Und dann wechseln immer die bunten Bilder. Sie schauen sich bunte Bilder an, stecken die Köpfe zusammen und kichern. Das 44 tun besonders oft Gruppen von jungen Mädchen. Es kommt Eli doch sehr, sehr merkwürdig vor, was er so alles beobachtet und von Linh erfährt, wer, wann und wo und bei welcher Gelegenheit das Handy benutzt. Im dicksten Straßenverkehr, ganz egal, ob sie Auto, Moped oder Fahrrad fahren. Der Autofahrer bedient Lenkrad, Hupe, Blinklicht und Schalthebel mit einer Hand, um in der anderen Hand das Handy zu halten. Der Mopedfahrer fingert das Gerät aus der Hosentasche, schaut darauf, steckt es halb unter den Helmgurt oder noch schlimmer, tippt wild auf die Tasten. Manchmal fahren die Mopeds oder Autos dann etwas langsamer und behindern somit den Verkehr. Im Kino oder in der Oper tönen die oftmals gar nicht dezenten Klingeltöne. Die Sportlerinnen, die während Aerobic und Laufband telefonieren. Alle haben ihr Handy während der Übungen direkt vor den Füßen liegen. Da hilft auch das Handy-Verbotsschild an der Eingangstür nicht. Eine Kundin telefoniert während der Massage, oder aber die Masseurin muss Wichtiges loswerden und einhändig weiterarbeiten. Der Friseur empfängt Anrufe, während er den Kopf der Kundin bearbeitet. Eine Freundin hatte bei ihrer ersten Einladung zu einer Hochzeitsparty beobachtet, dass die Braut die ganze Zeit das Handy in der Hand trug. War ihr dies das Wichtigste an diesem bedeutsamen Tag oder musste sie sich nur die Zeit vertreiben, weil ihr Bräutigam auch andauernd telefonierte? Ein Freund musste ganz entsetzt bemerken, dass sogar bei seiner Operation am Auge der Professor nicht ohne Telefonat mit dem Handy auskommen konnte. Nun wartet der Freund nur noch darauf, dass er eine Frau im Kreissaal bei der Geburt mit dem Handy fotografieren kann oder dass sogar die ersten Babys mit dem Handy in der Hand das Licht der Welt erblicken. Nun, ganz so weit wird es sicher nicht kommen. Aber der Gebrauch dieser sicherlich nützlichen Geräte treibt doch seltsame Blüten. Berufsbilder Immer und immer wieder überlegt Eli bei seinen Gängen mit Linh durch die Stadt, auf welche Art und Weise die Menschen dieser Stadt ein solch betriebsames, aber auch liebenswertes Gepräge geben. Was zeichnet diese Menschen noch aus, außer, dass sie sich chaotisch im Straßenverkehr benehmen und andauernd telefonieren, außer, dass sie ausgiebig die Ahnen verehren und auf der Straße essen? So nach und nach kommt es Eli ins Bewusstsein, dass die Menschen in 45 Hanoi scheinbar niemals Ruhe finden. Sie sind stets und ständig mit irgend etwas beschäftigt, haben immer etwas herum zu wuseln. Mit seinem analytischen Verstand klassifiziert er verschiedene Tätigkeiten und Berufsbilder: Die Stangenfrauen Sie begegnen Eli überall in der Stadt - in der Altstadt wie auch in den Außenbezirken. Ständig schleppen sie etwas durch die Gegend. Früchte und Gemüse, Backwaren oder Dumblings oder allerlei Krimskrams für das tägliche Leben. Öfters sieht man sie auch mit aufgesammelten Plasteflaschen oder Wiederverwertbarem aus dem Bauschutt. Dann tragen sie ihre Beute zur nächsten Sammelstelle, um sich auf diese Weise ein paar Dong zu verdienen. Aber der Kleine beobachtet auch eine tragbare Mini-Garküche. An einer verkehrsreichen Straße in der Altstadt stellt eine noch junge Frau ihre Last am Straßenrand ab. Flink entfacht sie in dem mitgebrachten Öfchen die Glut und wärmt irgendetwas Essbares auf. Und siehe da, in kurzer Zeit stellen sich doch tatsächlich Kunden ein, gehen in die typische Hockstellung und nehmen einen kleinen Imbiss ein. Ob es sich dabei schon um feste Kundenbeziehungen handelt oder die Frau tatsächlich mit wachem Auge einen Laufkunden im wahrsten Sinne des Wortes entdeckt hat - wer weiß. Die Frauen haben oft genug tüchtig zu tragen und dafür haben sie einen ganz speziellen Gang entwickelt: sie rollen in der Hüfte, fast so wie die Geher in der Leichtathletik. Eli kann sich das gut vorstellen, als Linh ihm erklärt, dass die Frauen mit diesem Gewerbe nicht reich werden. Nein, sie kämpfen ständig den Kampf ums tägliche Überleben. Was nimmt es Wunder, wenn sie ab und zu versuchen, einem Touristen einen stark überhöhten Preis für ein paar Bananen abzunehmen. Eli wird sogar Zeuge, wie eine dieser Frauen versucht, einem ahnungslosen Touristen die Tragestange auf die Schulter zu legen, damit dieser sich dann authentisch vietnamesisch fotografieren lassen kann. Als Zugabe will sie ihm auch noch den Non, den kegelförmigen Bambushut auf den Kopf setzen. Und für diesen Service soll der Tourist kräftig zahlen. Händlerinnen Nicht mit der Stange über den Schultern, sondern mit vollgepackten Fahrrädern treffen die beiden eine andere Sparte von Verkäuferinnen an vielen Stellen in der Stadt an. Und sie freuen sich an den farbenprächtigen Bildern. Das ist wirklich eine Augenweide: Je nach Saison leuchten ihnen kunstvoll drapierte Sonnenblumen, Gerbera, rote 46 und weiße Lotos und knallgelbe Chrysanthemen oder viele andere Blumen entgegen; Rosen sind in dicken Bündeln rot, weiß, gelb, orange oder rosé übereinandergestapelt. An verkehrsgünstigen Positionen stehen die Händlerinnen dann oft genug nicht allein, sondern zu zweit, zu dritt oder gar zu viert buhlen sie um die Gunst der Käufer. Nahezu einen Meter im Durchmesser messen die flachen Geflechte aus Bambus, auf denen die Obstverkäuferinnen ebenfalls auf Fahrrädern ihre Ware feilbieten. Auch bei ihnen wechselt je nach Saison das Angebot: Erdbeeren im Januar in dieser Menge, das hat schon etwas. Die kleinen braunen Kugeln - Longan oder Litchi-, die stacheligen Chom Chom und die knall-roten Drachenfrüchte lassen auch Eli aus dem Staunen nicht herauskommen. Optisch nicht so attraktiv, aber doch auch in großer Anzahl stehen, schieben und fahren meist Frauen mit Bananen, Jackfrüchten und Ananas. Mit geübten Griffen hantieren sie mit scharfen Messern und schälen die Ananas, um sie in verzehrgerechten Portionen anzubieten. Und während sich Linh und Eli gerade an einem schattigen Plätzchen niederlassen und an einer solchen frischen Ananas laben, sitzt dort auch Vinh, eine Händlerin. Sie erzählt über einen Tag aus ihrem Leben. »Mein Name ist Nguyen Th? Vinh, aber die Leute rufen üblicherweise nur Hey oder Nhua (Plastik), wenn sie etwas bei mir kaufen wollen. Ich werde im August fünfundzwanzig Jahre alt und arbeite seit drei Jahren in Hanoi als Straßenhändlerin. Ein Verwandter hat mir diesen Job besorgt. Die Leute sehen mich gleich, wenn ich mit meinem Fahrrad durch die Stadt ziehe. Denn es ist hoch beladen mit Plastikartikeln wie Haushaltszubehör, Schüsseln, Eimern, aber auch kleineren Gegenständen wie Haarnadeln oder Wäscheklammern. Insgesamt wiegen diese Sachen um die dreißig Kilogramm und haben einen Warenwert von etwa zwei Millionen VND (ungefähr siebzig Euro). Das ist alles, was ich brauche, um meinen Arbeitstag zu bestreiten. Jeden Tag verlasse ich um sieben Uhr meine Unterkunft in der Nähe der Long Bien Brücke, die pro Nacht zehntausend Vietnamesische Dong (ungefähr dreißig Cent) kostet. Ich schiebe mein Fahrrad, weil die Plastik-Artikel jeden verfügbaren Raum einnehmen, so dass ich nicht aufsteigen kann. Jeden Morgen zahle ich dreitausend Dong für eine Schale Xoi (gedämpfter Klebreis) als Frühstück. Täglich komme ich an zahllosen Pho- (Suppen-) und Bun- (Nudel-) Läden vorbei. Jedes mal steigen mir die delikaten Gerüche in die Nase. Ich hatte noch nie eine Chance, solche Gerichte zu probieren. Aber ich hoffe, eines Tages werde ich es mir leisten können. 47 Meine regelmäßigen Runden führen durch viele Teile der Stadt. Meine Kunden halten mich an, indem sie aus ihren Häusern rufen oder ihre Mopeds vor meinem Fahrrad anhalten. Oft sind es Frauen mit viel Erfahrung im Haushalt. Sie sind sehr wählerisch beim Aussuchen der Waren und reden oft sehr herablassend. Sie machen meine Ware schlecht, um einen besseren Preis herauszuholen. Beim Kauf auf der Straße muss man immer feilschen. Üblicherweise verdiene ich je verkauften Artikel zwischen fünfhundert und dreitausend Dong. Wenn ich Glück habe, gerate ich an männliche Kunden, die keine Zeit oder Lust haben, mit mir zu handeln. Die meisten der Plastik-Händlerinnen beziehen, wie ich auch, ihre Waren von einem Betrieb im Stadtbezirk Long Bien. Normalerweise zahlen wir für die Ware im Voraus. Wenn wir sie nicht verkaufen, können wir sie gegen andere Waren zum gleichen Preis eintauschen. Manchmal können wir die Waren auch übernehmen und später zahlen. An einem guten Tag verkaufe ich Ware für 300.000 bis 400.000 VND (10-15 Euro). Aber manchmal reicht es an einem Tag gerade für Essen und Unterkunft. Immer versuche ich, etwas zu sparen, sodass ich jeden Monat Geld nach Hause schicken kann, um meinen Eltern zu helfen.« Eli hat natürlich all diese Zahlen erfasst und analysiert. Ganz schnell kommt er zu der Erkenntnis, dass Vinh von ihrer Arbeit am Ende des Tages nicht viel übrig bleibt. Vinh setzt ihre Erzählung fort: »Gegen Mittag mache ich eine Pause in einer Straße in der Nähe des Bach-Mai-Krankenhauses, wo ich ein kleines Mittagessen zu mir nehme. Normalerweise gebe ich etwa zehntausend für Reis, Tofu, Gemüse und eine Schüssel Suppe aus. Manchmal wird die Pause etwas länger und ich schwatze noch im Schatten eines Baumes mit anderen Straßenhändlern. Gegen zwei Uhr nachmittags beginnt dann wieder die Arbeit. Im Sommer, wenn die Leute die Mittagshitze in der Sonne meiden, kann ich später anfangen. Ich habe keine feste Zeit für das Ende meines Arbeitstages. Wenn ich meine, dass ich genug verkauft habe oder dass es spät ist, esse ich auf der Straße zu Abend und kehre zu meiner Unterkunft zurück. Dort komme ich üblicherweise gegen zehn Uhr abends an. Ich stamme aus einer landwirtschaftlichen Gemeinde in der Provinz Hung Yen nördlich von Hanoi. Meine Familie hat sieben Sao Land. Das sind ungefähr zwei Tausend und fünfhundert Quadratmeter. Dennoch sind wir noch sehr arm. Ich bin das älteste von vier Kindern. Meine beiden jüngeren Schwestern sind verheiratet. Mein Bruder lebt bei den Eltern. Mein Vater leidet an Krebs. Er bleibt deshalb zu Hause und hilft beim Kochen, wenn er dazu in der Lage ist. Meine 48 Mutter und mein Bruder arbeiten in einer Ziegelei, wenn sie auf den Feldern nichts zu tun haben. Ich teile meine Unterkunft mit drei anderen Händlerinnen und mit fünf Obstverkäuferinnen. Jede von uns hat nur einen kleinen Bereich zum Schlafen. Einmal im Monat, wenn mein Vater zur Behandlung nach Hanoi ins Krankenhaus kommt, treffen wir uns und reden über die Verwandten und die anderen Leute im Dorf. Sie fehlen mir sehr. Immer, wenn ich einer glücklichen Familie begegne, fühle ich mich einsam und habe Heimweh. Ich weiß aber, dass ich nur durch meine Arbeit hier Geld habe, das ich für die Behandlung meines Vaters und für die Verbesserung des Lebens meiner Familie nach Hause schicken kann. Ich habe nicht vor, diese Arbeit noch allzu lange zu betreiben, weil meine Waren sperrig sind und weil ich Ärger mit der Polizei wegen Schwarzhandels bekomme. Ich habe schon oft Strafen wegen Schwarzhandels von der zuständigen Aufsicht erhalten, manchmal sind sogar meine Waren beschlagnahmt worden. In der Zukunft werde ich möglicherweise Hanoi verlassen und in mein Dorf zurückkehren, um zu heiraten. Vorher muss ich diese Arbeit wohl noch zwei oder drei Jahre weitermachen. Ich weiß aber auch, dass ich meine Zeit in Hanoi nie vergessen werde, wie ich durch die Straßen laufe und darauf warte, dass jemand Hey oder Plastik ruft.« [3] Diese Geschichte beeindruckt Eli sehr. Vor allem bewegt ihn, wie gelassen Vinh ihre Geschichte erzählte. Fast scheint es ihm so, als hätte sich Vinh in ihr Schicksal ergeben. Ob sie wohl jemals eine Chance haben wird, ihr Leben zu ändern? Neben diesen Handelsgewerken entdeckt Eli auch noch außergewöhnliche Berufsstände, die er bisher überhaupt nicht oder in dieser Form noch nicht kennengelernt hatte. Kohlenmunk Diesen Spitznamen hatte Linh von Maik gehört, weil er sich beim Anblick dieser Männer an den Peter Munk aus der Geschichte von Wilhelm Hauff`s Kaltem Herz erinnert fühlte. Diesen Beruf üben hauptsächlich Männer aus, aber Eli hat auch schon vereinzelt Frauen gesehen. Die Leute bringen zu den vietnamesischen Haushalten die Kohlen-Schamotte-Steine, mit denen diese ihre Schamotte-Öfchen heizen, um ihre Mahlzeiten zu bereiten. Schuhputzer Einen solchen Beruf kennt der Weltenwanderer aus verschiedenen Ländern, die er schon bereist hatte. Und auch in Frankfurt auf dem Hauptbahnhof hatte er vor 49 Jahren einen beobachtet, der auf einen teilstationären Stand nahezu thronte und seine Dienste anbot. Hier in Hanoi ziehen ausschließlich Männer mit ihrer Minimal-Ausrüstung durch die Straßen. In der Altstadt wollten sie auch unbedingt Eli sogar die Riemchen der Sandalen oder Linh gar die Flip-Flops putzen und wurden dabei teilweise ganz schön lästig. Eli beobachtet aber auch mehrfach, dass die Schuhputzer sogar zu den Leuten ins Haus kommen, um dann vor Ort den familiären Schuhbestand zu pflegen. Nicht selten hocken dann der Hausherr oder die Hausfrau zu einem Schwätzchen daneben. Straßenfriseure Sie sind aus dem Stadtbild nicht mehr wegzudenken und bilden schon fast so etwas wie ein Markenzeichen der Stadt. Ob am Straßenbaum oder an einer Mauer (wie zum Beispiel an der Ostseite des Literaturtempels) - sie haben offensichtlich ihre Stammplätze und vielleicht auch Stammkunden. Die Minimalausstattung besteht aus Hocker und Spiegel, Umhang und Schere. Aber oft genug haben sie sogar elektrischen Strom und können somit auch elektrische Schergeräte einsetzen. Und das Geschäft boomt. Aber Frauen als Kundinnen hat der aufmerksame Beobachter nicht gesehen. Die ziehen wohl doch die Salons vor. Xe om-Fahrer Sie lungern an vielen markanten Positionen herum - an Kreuzungen, vor Einkaufszentren oder Touristenattraktionen oder eben auch nur so auf den Straßen. Mopedfahrer sitzen oder liegen auf ihren Gefährten. Und oft genug sprechen sie auch Passanten, also auch Eli, an in der Sprache, die dem Kleinen immer noch nicht so ganz geläufig ist. »Das sind Xe om«, sagt Linh mit einer Selbstverständlichkeit, als wüsste das doch jeder. Xe om - diese Buchstaben hat Eli auch schon mehrfach gelesen. Einfach auf Pappe gekritzelt, auch wenn da weit und breit kein Moped zu sehen war. Aber auch nach Linhs dahingeworfener Bemerkung kann er deren Bedeutung nicht verstehen. Wieder ist die hilfreiche Linh mit einer Erklärung zur Stelle. »Xe om heißt so viel wie ›Umarme den Fahrer‹ oder ›Moped fahren mit Umarmung‹. Die Fahrer bieten ihre Dienste als einfachste Form des Personentransportes an. Viele Vietnamesen nutzen diese Möglichkeit, mal schnell irgendwohin gefahren zu werden, wo kein Bus hinfährt und ein Taxi gerade nicht verfügbar oder zu teuer ist. Man nennt das Ziel, handelt den Preis aus, der meistens unter dem eines Taxis liegt, bekommt einen Helm ausgehändigt und los geht die Fahrt. Und nicht selten halten sich die Fahrgäste am Fahrer fest - sie 50 umarmen ihn eben. Auch viele Ausländer nutzen diese Dienste. Manche von ihnen haben sogar feste Geschäftsbeziehungen aufgebaut, um sich ins Büro bringen oder von da abholen zu lassen.« Das hat Eli verstanden. Viel später bringt er dann auch noch in Erfahrung, dass die Nachsilbe »om« auch noch ganz andere Bedeutungen haben kann. Zum Beispiel in Zusammenhang mit dem vietnamesischen Wort für Massage. Da beinhaltet die Massage eben auch eine Umarmung. Müllentsorgung »Dong nat ban di« oder »ban la, may hong ban di« Mit solchen oder ähnlichen Sing-Sangs radeln öfters junge oder ältere Frauen an unserem Besucher vorbei. Er kann den Sinn der Worte zwar nicht verstehen, aber Linh übersetzt den wesentlichen Inhalt schnell: Ich sammle Altstoffe. Die Stimmlagen, die Eli wahrnimmt, reichen vom piepsigen Sopran bis zum rostigen Alt. Ja, und wenn die Frauen Glück haben, hält sie ein Ruf aus einem der Grundstücke zurück oder an einem der Tore hängt ein Beutel mit Plastikflaschen, Papier oder ähnlichem. Erstaunlicherweise scheinen sie sich sogar auf bestimmte Altstoffarten spezialisiert zu haben. Bemerkenswert ist auch, welche Wegstrecken sie täglich zurücklegen. Und je nach Ausbeute ihrer Sammlung streben sie dann später den Aufkaufstellen zu, vor denen zu bestimmten Tageszeiten reger Andrang herrscht. Dort wird dann gewogen, gezählt, gebündelt und gehämmert. Die finanzielle Ausbeute reicht bestimmt nicht annähernd für eine Rockefeller-Story. Aber die wenigen Dong, die diese mühselige Arbeit einbringt, tragen etwas zum Familien-Etat bei. »ding, ding, ding …« Täglich zu bestimmten, aber von Standort zu Standort unterschiedlichen Zeiten, klingt dieser Ruf hell durch alle Straßen von Hanoi. Belustigt beobachtet Eli, wie sich dann überall die Garten- oder Haustore oder Geschäfte und Büros öffnen und die Anwohner oder ihre Maids zur mobilen Sammelstelle kommen. Meist steht dort eine junge Frau und verstaut allen Müll in den Karren. Die typische vietnamesische Kopfbedeckung, der Non, und der Mundschutz lassen nur einen schmalen Spalt für die Augen frei, die oft lustig drein schauen und manchmal auch dem seltenen Gast zulächeln. Aber auch gelangweilte oder gar missmutige Blicke fängt Eli auf und er hat sogar Verständnis dafür. Schließlich ist das ja nicht gerade ein einfacher Job. Teilweise sortieren die Sammlerinnen und Sammler hier schon etwas 51 Verwertbares aus und dann strebt das Gefährt dem nächsten Sammelplatz zu und wieder erklingt das ding, ding, ding. Später abends begegnet Eli solchen Karren wieder. Dann sind diese aber hoch beladen und schwer und die meist schmächtigen Frauen haben mächtig zu tun, ihre Fracht durch Straßenunebenheiten und den Verkehr hindurch zum Standplatz zu befördern. Oftmals werden sie dann von einer Kollegin im grün-weißen Arbeitsoverall oder zumindest mit einer Schutzweste bekleidet unterstützt. Diese Frauen gehören zum Besengeschwader. Mit ihren langstieligen Rutenbesen haben sie vorher Laub und Unrat zusammengefegt. Nicht jeder Haushalt oder jedes Lädchen wartet auf das Abholkommando, sondern schmeißt eben seinen Abfall einfach so auf die Straße. Das alles sammeln die Grüngekleideten in derartige Müllkarren. Manche der Damen - auch sind vereinzelt männliche Kollegen zu Gange - sind auch schon mit orangefarbenen Plastetonnen ausgerüstet. So finden sich bis zum Abend an den Standplätzen eine ganze Menge solcher Behältnisse ein. Und dann kommen in den Abend bis Nachtstunden die großen Räumfahrzeuge verschiedener Typen asiatischer Hersteller, in deren gefräßigen Bauch all dieser Müll verschwindet. Wohin diese dann fahren und wo sie ihre Fracht entladen, das wusste Linh auch nicht zu erklären. Aber sie berichtet Eli, dass sich dieses dreistufige Procedere der Müllbeseitigung in Hanoi und in anderen Orten Vietnams jeden Tag in zig-facher Ausführung vollzieht. Oft genug sind die Besenfrauen oder die Rumpelkarren störende Verkehrshindernisse für den Verkehr in den engen Gassen und Straßen. Dabei sollten doch alle froh sein, dass es sie gibt. Auf größeren Straßen begegnet Eli sogar ab und an Kehrmaschinen und Sprühfahrzeugen aus dem Fuhrpark der Stadtreinigung.« Xanh Sach Dep - Grün Gastfreundlich Schön« steht in großen Lettern als Motto an ihnen geschrieben. Eli schlussfolgert, dass wenigstens einmal am Tage jeder öffentliche Winkel der Stadt vom Müll befreit wird. Aber etwas resignierend muss er auch konstatieren, dass dieser saubere Zustand nicht allzu lange anhält. Denn bald darauf fliegt wieder genügend Müll auf die Straße - verpackt oder lose. Insgesamt, so resümiert der Weltenwanderer, ist Hanoi nicht gerade die sauberste Stadt. Aber er hat auch in Europa schon schlimmere Zustände erlebt. 52 Das Leben in der Gasse Nun hat Eli, der Weltenwandler, schon vieles erlebt in dieser quirligen Stadt; hat manch ungewöhnliche, schon beinahe seltsame Angewohnheiten seiner Bewohner kennengelernt. Er fühlt sich gar nicht mehr so fremd wie bei seiner Ankunft, fast schon etwas vertraut. Aber dennoch fragt er sich immer wieder: Wie leben diese Menschen wirklich? Nein, der Alltag in den zahlreichen Offices oder in den großen Wohnhäusern der Neubauviertel interessiert ihn nicht so sehr. Wie läuft der Alltag in einem typischen Wohnviertel ab, wenn die Menschen nicht gerade Moped fahren, telefonieren oder die Ahnen verehren? Und wiederum, als könne sie Gedanken lesen, fasst Linh, die unermüdliche und aufmerksame Begleiterin, den Kleinen an der Hand. »Komm, lass uns in die Vong Thi gehen. Dort wirst du vieles sehen und unser Leben vielleicht noch mehr verstehen lernen«. Die Pho Vong Thi Dies ist eine typische Straße im Stadtbezirk Tay Ho in der nordwestlichen Vorstadt von Hanoi. Sie verbindet die Lac Long Quan, eine der größeren Ausfallstraßen nach Norden, mit der Uferpromenade am südlichen Ufer des West-Lake. Ausländer kommen nur äußerst selten hierher. Nur einige wenige von ihnen wohnen hier. Breiter als sechs Meter ist sie wohl überhaupt nicht und ihre engste Stelle kann gerade mal ein PKW oder kleinerer Transporter passieren. Auf ungefähr vierhundert Metern Länge findet man so ziemlich alles, was man zum täglichen vietnamesischen Leben braucht. Und schon zählt Linh auf: »Hier in dieser Straße befinden sich - zwei Schulen: das achtstöckige Gebäude der Schule für die älteren Jahrgänge dominiert das ganze Terrain. Alle anderen Gebäude erheben sich maximal bis zu vier Etagen. - vier Kindergärten (besser gesagt: Kinderaufbewahrungsanstalten, denn mit Garten haben diese Häuser nichts zu tun) - eine Apotheke im Sinne eines kleinen Ladens, in dem hauptsächlich medizinische Produkte, aber auch Kosmetikartikel verkauft werden - ein Zahnarzt - drei Behörden 53 - ein Internet-Café - zwei Copy-Shops - vier Fahrzeugwäschen ( natürlich von Hand betrieben) - vier Friseur-Salons - ein Taxistand - zwei kleine Garküchen, in denen man Com Binh Dan oder Bun Cha vor Ort essen oder zum Mitnehmen kaufen kann - drei mobile Fleischer und eine ganze Anzahl von kleinen Geschäften. Einige dieser winzig kleinen nennt Maik immer Tante-Emma-Laden.« Linh holt etwas Luft und fügt dann noch hinzu: »Aber jedesmal, wenn ich durch die Vong Thi laufe, hat sich etwas verändert. Fast ist es so, als würde ich bei der Aufzählung all dieser Örtlichkeiten im Wettlauf mit der Zeit stehen. Wenn du später noch einmal hierher kommst, wirst du vielleicht ganz andere Gegebenheiten vorfinden. Aus einem Copy-Shop ist dann vielleicht eine Schneiderei geworden, einige Garküchen wurden geschlossen und wiederum neue eröffnet oder was sich sonst so entwickeln kann. Die Straße befindet sich in ständiger Veränderung.« Natürlich sieht Eli auch einige Wohnhäuser. Aber die meisten stehen in den abzweigenden Gassen. Es ist noch früh am Morgen, als Linh und Eli ihre Schritte durch diese Straße lenken. Aber dennoch herrscht hier Hochbetrieb. Ein nicht enden wollender Strom an Mopeds und auch einigen PKW fließt in beiden Richtungen. Für viele Frauen und Männer führt der Weg zur Arbeit eben auch hier entlang. Manchmal stockt der Strom an einer engen Stelle, wenn dort jemand gerade noch ein paar Blumen oder etwas Gemüse bei den vielen Händlern erwerben will. An Händlern und vor allem Händlerinnen mangelt es hier zu diesem Zeitpunkt nicht. Frauen stehen mit ihren voll bepackten Fahrrädern da und bieten Ananas oder Mango oder sonstige Früchte an. An verschiedenen Stellen haben andere Frauen Gemüse und Kräuter auf Planen auf dem Boden ausgebreitet. Ihr Angebot ist zum Teil recht breit gefächert: Tomaten, Gurken, Kürbis, Möhren und allerlei Grünzeug, auch Eier und ein paar Hühner im Käfig stehen herum. An anderer Stelle sitzt ein altes Mütterchen mit sehr geringem Angebot: etwas Grünzeug, ein paar Knoblauchzehen. Stammt das aus ihrem eigenen Garten oder versucht auch sie noch am Ende der Verteilungskette ein paar Dong zu verdienen? Gegenüber haben zwei junge Frauen Blumenbündel um sich gelagert - zumeist Rosen und Chrysanthemen. Auch das ist nicht die FirstClass-Ware und ist auch nicht so 54 kunstvoll drapiert, wie bei den vielen Blumenverkäuferinnen mit ihren Fahrrädern überall sonst in der Stadt. Aber auch für die meisten dieser Am-Boden-Händlerinnen finden sich Käufer, die Waren werden begutachtet, es wird gefeilscht und für ein Schwätzchen ist oftmals auch noch Zeit. Nicht lange und dann sind die meisten dieser Boden-Händlerinnen wieder verschwunden. Der junge Mann, der aber gerade an einer Hofeinfahrt Kisten ablädt und ein breiteres Angebot an Gemüse ausbreitet, richtet sich dagegen für den Aufenthalt am ganzen Tag ein. Das alles beobachtet Eli mit großem Interesse. Und er stellt fest, dass neben dem Kaufen und Verkaufen auch das Essen in aller Öffentlichkeit an diesem Morgen die Menschen sehr stark beschäftigt. Hier hat ein Café geöffnet. So steht es zumindest in großen Buchstaben auf die blau-violette Hauswand geschrieben. Ein Scherentor-Gitter ist zur Seite geschoben und in dem Raum sitzen Jüngere und Ältere auf Holzbänken und schlürfen und stopfen etwas aus dampfenden Schüsseln in sich hinein. Vor dem Café in einer Seitengasse sind auch ein paar niedrige Plastehöckerchen gut besetzt. Dort ist ein Hoftor geöffnet. Davor sitzt eine schon etwas ältere Frau. Um sich herum hat sie Töpfe postiert. Ab und an kommen Frauen und auch Kinder mit kleineren Schüsseln und bekommen in diese eine breiartige Masse gefüllt. Aber auch Rad- und Mopedfahrer stoppen, bekommen ihren Brei in Beutel abgepackt und fahren von dannen. Vor dem Friseursalon an der nächsten Ecke hat sich ein schon etwas komfortabler Imbissstand etabliert. Zur Ausstattung gehören eine kleine, fahrbare Theke, zwei Sonnenschirme und die obligatorischen Plastehocker. An der Theke dampft und brutzelt ein offenbar etwas größeres Speisenangebot. Selbst zu den beiden Frauen, die am Boden ihr Gemüse feilbieten, hat sich mittlerweile eine dritte gesellt. Mit dem Moped hat sie einen Kübel angeschleppt, aus dem sie auch eine dampfende Speise an die Kunden verteilt. Etwas weiter vorn in der Nachbarschaft der Schulen sind mehrere Stände und kleine Geschäfte von den Schülern zeitweilig dicht umringt, die noch schnell einen Hot Dog oder irgendwelche Snacks zu sich nehmen. Und dann dürfen natürlich auch die schon bekannten Garküchen nicht fehlen, in denen schon am frühen Morgen Pho konsumiert wird. »Weißt du«, so nimmt Linh den Gesprächsfaden zur Erläuterung des Geschehens wieder auf, »in den meisten vietnamesischen Familien wird das Frühstück nicht zu Hause zubereitet und eingenommen. Wie du sehen kannst, frühstücken viele Menschen einfach auf der Straße oder sie holen sich etwas nach 55 Hause. Und nicht wenige nehmen ihr Frühstück auch mit an ihren Arbeitsplatz oft genug in irgendwelchen Büros.« In die Straße Vong Thi mündet ein weit verzweigtes Netz von Gassen und Gässchen, in dem man sich fast verlaufen kann. Eine davon verbindet über fast fünfhundert Meter die Vong Thi mit der Thuy Khue, eine der Straßen, die vom erweiterten Stadtzentrum in Richtung Westen führt. Durch diese Gasse laufen nun unser Weltenwandler und seine eifrige und umsichtige Begleiterin. Sie ist eng, diese Gasse. Zwei Mopeds passen in langsamer Fahrt gerade so aneinander vorbei. Die engste Stelle, die jeweils rechtwinklig um zwei Mauerecken führt, kann aber immer nur ein Moped oder ein Fußgänger passieren. Die Mopedfahrer verständigen sich auch hier mit lautem Hupen. »Hier kann man sich ja wirklich verlaufen, wie in einem Labyrinth«, stellt Eli fest, nachdem sie bereits mehrfach in eine Seitengasse abgebogen waren und von dieser wieder in eine Seitengasse und schließlich vor drei Hauseingängen stehen, bei denen es kein Durchkommen mehr gibt. Schon einige Zeit stellt er sich die Frage, wie man denn hier solch hohe Häuser bauen könne. In der Enge der Gasse kommen ihm die meist drei- bis vierstöckigen Häuser riesig vor. »Hier kommt doch kein noch so kleiner Transporter durch. Wie gelangt dann das ganze Baumaterial hierher?« In einer der weiteren Seiten-Seitengasse bekommt er seine Antwort. Hier herrscht reger Baustellenverkehr. Einachsige Karren - vollbeladen mit Sand, Ziegelsteinen, Zementsäcken oder anderem Baumaterial - werden von Männern in abgewetzter Kleidung gezogen oder geschoben. Bei der Begegnung mit den leeren Karren auf dem Rückweg müssen sie immer an bestimmten Stellen warten, um auch wirklich aneinander vorbei zu kommen. In diesen Verkehrsstrom mischen sich auch noch geschobene Fahrräder, rechts und links mit großen Körben oder Gestellen behangen, in denen ebenfalls Baumaterial transportiert wird. »In einem Museum habe ich auf Bildern und Ausstellungsstücken gesehen, wie auf diese Art während der Kriege tonnenweise Versorgungsgüter, Waffen und Munition über große Entfernungen bewegt wurden«, ergänzt Linh die Beobachtungen. Sie gelangen wieder zurück zu der langgestreckten Verbindungsgasse. Auch hier stehen die Häuser dicht an dicht. Aber Eli stellt fest, dass keines dem anderen gleicht. Ja doch, schmal und hoch sind die meisten von ihnen. Aber fast kommt es ihm vor, als hätte jedes Haus sein eigenes Gesicht. Viele von ihnen schließen direkt an der Kante zur Gasse ab. Ein Scherengitter schützt noch eine mehr oder weniger verzierte Tür, oftmals aus Blech. Diese ist 56 tagsüber meistens geschlossen, wenn die Anwohner zur Arbeit gefahren sind. Nur bei einigen Häusern können die Beiden im Vorbeigehen einen Blick in den sich dahinter befindlichen Raum werfen, der die ganze Breite des Hauses einnimmt. Und das sind selten mehr als drei bis vier Meter. Da können sie aber doch ein sehr breites Spektrum der Inneneinrichtung erkennen: breite wuchtige Bänke und Sessel stehen an niedrigen Tischen, die Armund Rückenlehnen sind kunstvoll geschnitzt und das ganze Holz ist dunkelbraun bis fast schwarz gebeizt und lackiert. An der gegenüberliegenden Wand stehen halbhohe Schränke, ebenso kunstvoll gearbeitet; In anderen Wohnungen stehen einfache Stühle aus Holz, Metall oder Plaste an ebensolchen Tischen, in vielen Räumen ist der Fußboden aber nur mit Matten ausgelegt, auf denen ab und zu auch Kissen liegen. Auch einige bettartige Gestelle, ebenfalls mit Matten belegt, können die Beobachter erkennen. Aber eines trifft für nahezu alle Wohnungen zu: wenn die Tür offen ist, das heißt, wenn auch Leute anwesend sind, dann ist auch der Fernseher eingeschaltet. Und da flimmern schon sehr oft große Flachbildschirme. In den hinteren Partien der Häuser führen Treppen in die oberen Stockwerke und daneben und dahinter sind Küchen eingerichtet. Und so eng die Räume auch sein mögen, Platz für ein oder mehrere Mopeds findet sich immer. Auch wenn eng daneben die Bewohner sitzen oder Kinder spielen. In nicht wenigen Häusern wird der untere Raum, der auch dicht an die Gasse grenzt, als Geschäft genutzt. Eli registriert das als zweiten Haustyp. An einigen Verkaufsständen, Marke Kleine Tante Emma würde Maik dazu sagen, wird das angeboten, was die weniger mobilen Einwohner der Nachbarschaft so zum täglichen Leben benötigen - Snacks und Öl, Saft und Zigaretten und dies und das. Gerade bedient eine junge Frau eine Kundin, um sich gleich darauf wieder ihrem Kleinkind zu widmen, das im Hintergrund im Stühlchen sitzt - natürlich vor dem Fernseher! Auch ein Mini-Friseursalon mit einem Platz ist zu sehen. Eine andere Frau hat diese Geschäftskombination gewählt: Im hinteren Teil des Raumes stehen zwei Reihen Computer und Spielkonsolen. Den vorderen Teil hat sie sich als Nähstube eingerichtet. Da bekommt sie wenigstens noch etwas vom Tageslicht ab. Am nun mittlerweile frühen Vormittag sind die Computer nur spärlich besetzt, aber die Frau ist schon emsig beim Nähen. Während die beiden so dahin schlendern, treffen sie Lori auf ihrem Weg zu einer Schule für Behinderte, wo sie ein Praktikum absolviert. Sie wohnt bei einer 57 vietnamesischen Gastfamilie nicht weit von hier entfernt. Linh stellt ihren Begleiter kurz vor und bittet sie, Eli doch einmal zu schildern, wie sich das Leben da abspielt. Und Lori lässt sich nicht lange bitten und berichtet. »Unser Haus ist enorm schmal. In Vietnam werden Steuern nach der Breite des Hauses gezahlt, das heißt, wer reich ist, hat kein großes, sondern ein breites Haus. Unser Haus ist wirklich nicht viel breiter als meine Armspanne. Die Wendeltreppe ist deshalb enorm steil, sodass ich sie meist seitlich hochsteigen muss. Deswegen gibt es auch auf jeder Etage nur ein Zimmer. Ganz unten ist das Wohnzimmer, dessen Tür zur Straße hin immer offen steht. Es dient gleichzeitig als Ladenverkaufsfläche für Zeitungen und Bücher - das Familiengeschäft sozusagen und als Esszimmer. Gegessen wird auf einer Bambusmatte auf dem Boden. Nachts werden noch zwei Motorräder herein geschoben, die tagsüber vor der Tür stehen, denn es gibt einfach nirgendwo Platz. Unser Haus ist immer offen, und es ist völlig normal, dass Schulmädchen in unserem Wohnzimmer rumschlendern, um sich die Comicbücher anzugucken. Wie in Vietnam so oft üblich, verkauft meine Gastfamilie direkt aus dem Wohnzimmer heraus. Deswegen muss praktisch immer jemand unten sitzen und aufpassen und unsere Haustür wird auch nur nachts verschlossen. Es gibt beim Zeitungsverkaufen keine wirklich festen Schichten. Wer halt da ist, der verkauft. Wenn die anderen gerade in der Küche oder im Bad sind, habe ich auch schon die eine oder andere Zeitung verkauft. Man hat dadurch allerdings nie Privatsphäre, selbst während der Mahlzeiten bedienen wir Kundschaft. Aber nach einiger Zeit findet man Gefallen daran. Man ist eben Teil der Nachbarschaft [4]. Nun muss ich mich aber sputen. Meine Schüler warten schon auf mich.« Mit diesen Worten eilt Lori davon, nicht ohne vorher Eli noch viel Freude beim Erkunden des Lebens in Hanoi gewünscht zu haben. Nach ein paar Schritten weiter gerät Eli wieder einmal sehr ins Staunen und auch Linh scheint etwas überrascht zu sein. Sie stehen vor einem Schmuckgeschäft, in dem in hellen ordentlichen Vitrinen sogar Silberschmuck angeboten wird. Das hatte selbst Linh in dieser Umgebung nicht erwartet. Als krasser Gegensatz dazu befindet sich zwei Häuser weiter eine kleine mechanische Werkstatt mit Bohr- und Drehmaschine. Eli denkt ja immer sehr logisch und ist geübt, seine Beobachtungen möglichst sofort zu strukturieren und statistisch zu ordnen. So wie er das Verhalten der Vietnamesen im Straßenverkehr klassifiziert hatte. Und so kann er beim Gang durch die Gasse auch noch einen dritten Haustyp ausmachen: 58 Diese Häuser stehen etwas nach hinten versetzt und lassen somit Platz für einen mehr oder weniger kleinen Hof. Im Kleinsten finden gerade mal zwei Mopeds und ein Blumentopf Platz. Ein paar Schritte weiter gibt ein halb offenstehendes Metalltor den Blick auf einen geräumigen Hof frei. Dieser ist sauber gefliest. An einer Seitenwand ist ein kleines Wasserbassin in den Boden eingelassen, in das aus der mit Felssteinen verkleideten Wand ein kleiner Wasserfall plätschert. Auf der Gegenseite zieht sich eine Rabatte hin, in der neben anderen grünen Gewächsen sogar eine Bananenstaude in die Höhe ragt. Überhaupt Blumen. Egal wie die Häuser aussehen - ob gut gepflegt oder doch in nicht so gutem Zustand - etwas Blühendes oder zumindest etwas grünes Lebendiges findet sich fast in und an jedem Haus. Da ragen ein paar Christusdornen von der Mauer herunter und dort hängen viele Orchideen über den engen Hof. Hier recken sich die Zweige von Bambus empor und dort steht eine kleine Palme auf dem Balkon. An einer besonders sonnigen Ecke ist eine Bougainvillea bis in die zweite Etage hochgeklettert und entfaltet als wahres Feuerwerk ihre leuchtenden rot-violetten Blüten. Über all diesen Betrachtungen der Häuser verliert Eli nicht den Blick auf die Menschen in dieser Gasse. Vor ihnen läuft eine junge Frau. Auf dem linken Arm trägt sie einen kleinen Jungen, sicherlich nicht älter als sechs Monate. Die linke Hand hält noch einen Becher, aus dem die Mutter ab und an mit einem Löffel dem Jungen etwas Brei in den Mund stopft. Das war Eli schon mehrfach aufgefallen, dass Mütter und Großmütter ihre Sprösslinge auf der Straße füttern, egal ob sie diese auf dem Arm halten oder sie in irgendwelchen Wägelchen oder auf Plastetieren auf Rädern über die Wege schieben - eine seltsame Angewohnheit. Selbst die sonst um keine Antwort verlegene Linh findet dafür keine plausible Erklärung außer der lapidaren Feststellung: »Das ist eben bei uns so Sitte.« Ein paar Schritte weiter - gerade mussten sie zum wiederholten Male entgegen oder von hinten kommenden Mopeds ausweichen - hat Eli wieder allen Grund zum Staunen. Ein Mann hockt vor seinem Hauseingang auf der Gasse. Vor ihm brutzelt etwas in einer Blechpfanne. Beim genaueren Betrachten entdeckt Eli eine eigenartige Konstruktion. Ein Hohl-Zylinder aus einer steinartigen Masse von ungefähr vierzig Zentimeter Durchmesser wird von Blech umhüllt. In der Zylinderröhre steckt ein glühender Stein, der die darüber stehende Pfanne erhitzt. Nein, ein natürlicher Stein ist das nicht. Daneben liegt ein solcher Stein im kalten Zustand. Es ist ebenfalls ein glatter Zylinder, ungefähr fünfzehn Zentimeter im Durchmesser, grau-braun mit mehreren röhrenförmigen Löchern. 59 »Das ist ein transportabler Mini-Ofen«, erklärt Linh einmal mehr. »Du hast ja schon mehrfach die Männer gesehen, die solche Glüh-Steine auf ihren Fahrrädern transportieren. Diese Steine sind aus einem Gemisch aus Kohle und Schamotte zusammengepresst. Einmal angezündet, glühen sie lange Zeit vor sich hin und geben Hitze ab. Der Mantel des Ofens ist ebenfalls aus Schamotte und dadurch wird die Wärme kontrolliert nach oben abgegeben. Und damit die ganze Hitze und der Qualm und Geruch beim Kochen und Braten nicht in das enge Haus ziehen, wird der Vorgang eben nach draußen auf die Gasse verlegt. Du hast ja auch den Henkel an dem Öfchen gesehen. Damit kann man diesen im Winter auch nach dem Kochen in das Haus tragen und drinnen etwas für Wärme sorgen. Viele dieser Häuser haben keinen richtigen Ofen oder gar eine Heizung. Übrigens gibt es solche Öfen auch noch in größerer Ausführung, die gleich drei solcher Glüh-Steine aufnehmen kann«. »Was man sich doch alles einfallen lassen kann«, sinniert Eli beeindruckt vor sich hin. Doch sogleich wird er wieder aus seinen Gedanken gerissen, denn vor ihm auch in der Gasse - bewältigt eine Frau gerade den Aufwasch des Geschirrs. Ein Schlauch kommt von irgendwo aus dem Haus. Aus ihm fließt Wasser in eine große, grüne Plaste-Schüssel. Links neben der Schüssel türmt sich das schmutzige Geschirr, eine Vielzahl von irdenen Schüsseln und Blechtöpfen. Auch die obligatorischen Stäbchen dürfen nicht fehlen. Nachdem die Frau das alles mit einem Lappen und reichlich Wasser gesäubert hat, postiert sie das nun saubere Geschirr im Hauseingang, ebenfalls auf dem Fußboden. Das überschüssige Wasser fließt derweil in die Gasse und versickert in die Lücken in den Betonplatten, die nun die Aufmerksamkeit des Beobachters erwecken. »Unter diesen Platten verläuft ein Kanal, der all das Wasser aufnimmt.« Mit diesen Worten ist Linh schon wieder mit einer Erklärung zur Stelle, bevor Eli nur eine Frage stellen kann. »Du hast ja sicher schon bemerkt, dass von vielen Dächern und Balkonen Abflussrohre mehr oder weniger weit oben in der Luft enden. Daraus fließt das Regenwasser eben einfach in die Gasse und der Kanal leitet es ab. Du bist ja jetzt in der Trockenzeit zu uns gekommen. Aber in der Regenzeit, da plätschert, oder besser gesagt, gießt es manchmal ganz schön heftig. Dann können solche Kanäle die Wassermassen gar nicht so schnell ableiten und auch solche Gassen stehen manchmal unter Wasser, obwohl sie weit weg von irgendwelchen Flüssen oder Kanälen sind. Aber meistens ist das nach kurzer Zeit wieder vorüber«. Diese Worte sind für Eli Anlass, auch ab und zu einmal den Blick nach oben zu richten. Ohje, ohje, was er da erblickt, lässt ihn erschaudern. Wüste Kabelstränge 60 ziehen sich da von Mast zu Mast. Manche Kabel hängen gefährlich weit nach unten, einige sind an freier Luft einfach aneinander geklemmt. »Ja, das ist wirklich nicht in Ordnung«, bestätigt Linh Elis besorgten Blick. »Ein ausländischer Bekannter hat mir einmal erzählt, dass er mit dem Moped auf dem Weg zu seinem Haus in einer Seiten-Seiten-Gasse fast an einem solchen Kabel hängengeblieben war. Die Bauarbeiter hatten es zu ihrem Feierabend einfach so tief hängen lassen. Aber die Behörden haben uns versprochen, dass all diese Kabelverbindungen bald geordnet und zum Teil in die Erde verlegt werden sollen.« Doch mit einem resignierenden Seufzer fügt sie hinzu: »Bis dahin wird wohl noch einige Zeit vergehen. Es ist schon ein Wunder, dass bei diesem Kabelsalat nicht viel öfter Kurzschlüsse und Stromausfälle passieren.« An einem der Maste hängen viele graue Kästen mit einer kleinen Glasfläche. Eli erscheint es fast so, als würden ihn viele einäugige Monster anstarren. »Das sind die Stromzähler«, erklärt die sachkundige Linh. »Einmal im Monat klettern Mitarbeiter der Stromversorgungsgesellschaft mit Leitern nach oben, um die Zählerstände abzulesen. Erstaunlich, wie sie diese dann auch den richtigen Haushalten zuordnen können. Denn viele der Leute wissen selbst gar nicht, wo sich ihr Stromzähler befindet. Mein ausländischer Bekannter hat sich vor einiger Zeit gewundert, dass seine Stromrechnung so hoch ausgefallen war. Er musste dann feststellen, dass irgendjemand an seinem Zähler Kabel angeschlossen und sich so auf seine Kosten mit Strom versorgt hatte.« Mit diesen Worten sind die beiden wieder etwas weiter gewandert. Eli erfreut sich an den Blumen, die in der hellen Sonne von den Balkonen der Häuser zu ihm herunter grüßen. Nun wird es aber etwas dunkler. Fast erscheint es ihm, als liefen sie in einen Tunnel hinein. Tatsächlich sind auf einer Strecke von fast vierzig Metern die Häuserfronten ab der ersten Etage etwas vorgebaut. »Da kann man ja fast von einem Haus über die Gasse in das gegenüberliegende Haus klettern«, belustigt sich der Kleine. Und ebenso bemerkenswert findet er, dass auch hier, so wie an vielen anderen Häusern, rote Fahnen mit einem gelben Stern hängen. »Unsere Nationalflagge«, bemerkt Linh, nicht ohne einen gewissen Anflug von Stolz in ihrer Stimme. Ob aber hier in dieser engen Gasse besonders viele Patrioten wohnen, das kann Linh auch nicht erklären. Auch in diesem Tunnel pulsiert das Leben. In einer Nische sitzt eine ältere Frau und bietet allerlei Papiere und Räucherstäbchen für die Ahnenverehrung an. Mit schlohweißen Haaren und ganz heller Haut muss sie wohl die Sonne besonders meiden und hat deshalb hier ihren Standort gewählt. 61 Zahnbehandlung Coram publico Nach all diesen Beobachtungen sind Eli und Linh wieder in die Vong Thi zurückgekehrt. Ein vermeintliches Geschäft erweckt Elis besonderes Interesse. Die vor dem ungefähr fünf Meter breiten Gebäude geparkten Mopeds lassen erwarten, dass mehrere Menschen hineingegangen sind. Und tatsächlich, durch die Glasfront über die gesamte Gebäudebreite sehen die Beobachter mehrere Frauen mit Kindern und auch einen Mann sitzen. Eigentümlich ist nur, dass sie alle ihre Schuhe oder Flip-Flops außen vor der Glastür abgestellt haben. Und beim näheren Hinschauen will Eli seinen Augen nicht trauen - er schaut in eine Zahnarztpraxis. Wie in einem Friseursalon sitzen hier Wartende und Patient in engster Nachbarschaft. Auf dem Behandlungsstuhl sitzt ein Kind, über das sich der Arzt im grünen Kittel beugt. Drum herum stehen drei Assistentinnen in weißen Kitteln und die besorgt-aufgeregte Mutter in normaler Straßenkleidung. Außer einem von der Decke hängenden Spiegel und einem Ventilator kann Eli keine weitere Gerätschaft entdecken. Nur ein paar Glasschränke füllten die gegenüberliegende Seite des Raumes. Die wartenden Patienten nehmen von dem ganzen Geschehen wenig Kenntnis, sondern schauen auf einen großen Flachbildschirm-TV - da wird aber nicht die Zahnbehandlung live übertragen, sondern es läuft ein Movie - oder blättern gelangweilt in irgendwelchen Zeitschriften. An der Rückseite des Raumes prangen, ebenfalls an einer Wand aus Milchglas, die großen Buchstaben VIP. Ob dahinter in einem separaten Raum die besser zahlenden Patienten behandelt werden? Das alte Haus »Komm, jetzt zeige ich dir etwas, was du in Hanoi nur ganz selten zu sehen bekommst.« Mit diesen fast verschwörerisch klingenden Worten öffnet Linh eine unscheinbare Pforte in der Gasse 45 A. Zuvor waren sie einige Schritte an einer schon etwas verwitterten Mauer entlang gelaufen. Über der Pforte sind noch alte Schriftzeichen zu erkennen, die Eli doch sehr dem Chinesischen ähnlich vorkommen. Sie betreten einen Hof, ungefähr fünfzehn mal zwanzig Meter groß. Linh verständigt sich kurz mit einer jungen Frau, die in einer Ecke des Hofes 62 Wäsche aufhängt. »Sie hat nichts dagegen, wenn wir uns hier etwas umsehen.« Die Rückfront des Grundstückes wird von einem einstöckigen Haus eingenommen. Das Zentrum bildet ein fast fünf Meter breiter Raum. Er ist über die ganze Breite von Holztüren verschließbar. Einige stehen offen. Und so erblickt Eli in der Mitte des Raumes einen Altar, das Heiligtum der Familie. Hier sind Bilder der Vorfahren, Lampen und Räucherstäbchen und die obligatorischen Opfergaben angeordnet. Vor dem Altar steht ein halbhoher Tisch, der rechts und links von Sitzbänken mit Lehnen flankiert wird. An den Wänden erkennt Eli noch ein paar kleine Schränkchen und Regale. Aber den, für die meisten der vorher betrachteten Häuser, selbstverständlichen Fernseher kann er nicht entdecken. Gern hätte der Erkunder noch ein paar Blicke in die rechts und links angrenzenden Räume geworfen. Aber er will ja nicht zu neugierig und aufdringlich sein. So lässt er seinen Blick weiter im Grundstück kreisen. An der gegenüberliegenden Seite, also an der Straßenfront, steht noch ein Gebäude. Hier verraten Zahnputzbecher über einem Waschbecken mit Spiegel an einer halbhoch gefliesten Wand, dass es sich wohl um den Sanitärtrakt handeln muss. Im Grundstück stehen noch einige Bäume und Beete mit Blumen und etwas Gemüse. Ein paar Hühner scharren im Boden. Diese Beobachtungen ergänzt Linh noch mit einer umfangreichen Erklärung. »Dieses Haus hier ist ein sogenanntes historisches Haus. Es stammt in seiner Urform noch aus der Zeit, als die Chinesen über Tausend Jahre unser Land besetzt hatten. Über die vielen Jahre hinweg haben sich die Häuser sicherlich in vielen Details verändert, aber der prinzipielle Aufbau der Häuser ist erhalten geblieben. In der Stadt wurden die meisten dieser historischen Häuser durch die typischen vietnamesischen Häuser mit kleiner Grundfläche und vielen Stockwerken verdrängt. Dieses Haus hier habe ich mit meiner Freundin Hong entdeckt. Sie arbeitet in einem Immobilienbüro und hatte die Information über das Haus von Maik erhalten, der in diesem Terrain wohnt. Das Haus ist mit seinem Grundstück leider nicht sehr gepflegt. Aber Hong hatte mich zu ihrer Hochzeit in ihr Dorf, ungefähr fünfzig Kilometer von Hanoi entfernt, eingeladen. Dort konnte ich noch mehrere dieser Häuser betrachten. Sie waren größer und gut erhalten und gepflegt und hatten noch mehrere Nebengelasse. Aber der prinzipielle Aufbau des Haupthauses war nicht zu übersehen. Und noch eine Besonderheit konnte ich dort bestaunen: Das Dach ist eigentlich der wichtigste und schönste Teil des Hauses. Je nach Geschick und Geldbeutel der Hausherren werden die Dächer von innen und von 63 außen kunstvoll gestaltet. Und in Hongs Dorf gibt es offensichtlich einige geschickte Handwerker und dicke Geldbeutel.« Bei diesen letzten Worten muss Eli wieder an die Erzählung Vinhs denken. »Offensichtlich ist in Hanoi die Dicke des Geldbeutels sehr ungleich verteilt«, sinniert er. Doch Linh erzählt fröhlich weiter von ihren Erkundungen in Hongs Heimatdorf. »Und noch etwas fand ich bemerkenswert: Auch einige junge Leute bewahren die Tradition dieser alten Häuser. Hong hat mit ihrem Ehemann das Dach für ein historisches Haus von einer anderen Familie gekauft und sich selbst ein solches Haus errichtet, wo sie nun schon als richtige Familie mit einem kleinen Jungen wohnt.« Eli, der Weltenwandler, ist der guten Seele Linh richtig dankbar, dass sie ihm eine solche Rarität in Hanoi gezeigt und erklärt hat. Aber eine Frage kann die sonst fast beinahe allwissend erscheinende Linh auch nicht klären. Eli hatte ja schon darüber gehört, dass die Preise und Steuern für ein Grundstück nach der Länge der Straßenfront berechnet werden. Deshalb sind ja die meisten vietnamesischen Häuser so schmal, aber oft sehr lang und hoch. Aber dieses Haus in der Ngo 45A hat doch eine sehr lange Straßenfront. Müssen die Besitzer oder Bewohner dieses Hauses so viel Steuern bezahlen oder gelten für diese historischen Häuser andere Maßstäbe? Nach diesem aufregenden und äußerst informativem Spaziergang kommt es Eli so vor, als präsentiere sich hier in der Vong Thi und ihren angrenzenden Gassen das einfache Leben der Vietnamesen wie auf einer großen Bühne, nur dass es eben das wirkliche Leben ist und keine arrangierte Vorstellung für Touristen und Zuschauer. 64 Abschied Es waren nicht viele Tage, die der Weltenwanderer in Hanoi verbrachte. Aber sie kommen ihm wie eine Ewigkeit vor. Solch eine Fülle von Eindrücken war noch nie auf seinen bisherigen Reisen auf ihn hereingebrochen. So verspürt er immer stärker, wie eine gewisse Müdigkeit sich in ihm breit macht. Und ein Gefühl der Sehnsucht. Sehnsucht nach seiner eigenen Welt, in die er sich zurückziehen kann. Es ist also Zeit für die Abreise. Als er Linh, seiner Freundin, die ihn so fürsorglich in Hanoi begleitet hat, erklärt, wie ihm zumute ist, scheint sie zu verstehen. Aber sie schaut ihn mit ihren großen dunklen Augen traurig an. »Du wirst mir fehlen, kleiner Freund!« Das sind seine letzten Eindrücke von Hanoi, als er entschwindet. Einfach so, wie er auch einfach so erschienen war. Linh reibt sich verwundert die Augen. Ist da eine kleine Träne? Ob sie den Kleinen noch einmal wiedersehen wird? Es gäbe ja noch so vieles zu zeigen und zu erzählen über ihr Land. Oder ob sie das alles nur geträumt hat? 65 Epilog Der Weltenwanderer Eli hat schon längst Hanoi verlassen und ist wieder in andere Welten eingetaucht. Das Leben in Hanoi ist weitergegangen. Sicherlich hat sich seit dem Besuch Elis einiges in Hanoi verändert. Viele neue moderne Gebäude, Geschäfte und Einrichtungen werden entstanden sein. An einigen, damals neuen Gebäuden und Straßenzügen wird auch schon wieder der Zahn der Zeit genagt haben, weil die Bauausführung oft nicht genügend sorgsam und tiefgründig erfolgte und weil das Klima auch sein Übriges dazu beigetragen hat. Vielleicht haben es die Ordnungshüter geschafft, das tägliche Chaos auf den Straßen wenigstens etwas in den Griff zu bekommen. Vielleicht ist es aber auch noch schlimmer geworden, denn die Verkehrsdichte insgesamt und besonders die Anzahl der PKW ist sicherlich noch weiter angestiegen und hat das Fassungsvermögen der meisten Straßen in Hanoi weit übertroffen. Ein jeder Besucher, egal ob er das erste Mal seine Schritte durch Hanoi lenkt oder ob er zum wiederholten Mal diese Stadt aufsucht, wird also immer wieder ein neues Bild von Hanoi wahrnehmen. Was sich aber mit größerer Wahrscheinlichkeit nicht so schnell geändert haben wird, das sind die Menschen mit ihrer Betriebsamkeit und ihren Eigenarten, von denen Eli einige kennengelernt und beschrieben hat. Man kann sie lieben oder hassen, diese Stadt und die Menschen. Aber besuchenswert sind sie allemal! 66 Anmerkungen [1] 100.000 VND (Vietnamesische Dong) entsprechen ungefähr 3,80 Euro [2] Ein gutes Beispiel dafür ist der »Tempel des Himmelskönigs von Phu Dong« http://cathrinka.blog.de/2011/05/14/himmelskoenig-phu-272-7893-ng-1115148 1/ [3] die Übersetzung »Turban« ist da wohl etwas irreführend [4] http://cathrinka.blog.de/2012/04/23/alltag-strassenhaendlerin-13564025 [5] http://maivietnam.myblog.de/maivietnam/art/7249809 67