Prof. Dr. Thomas Ruster
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Prof. Dr. Thomas Ruster Sommersemester 2001 Universität Dortmund Skript zur Vorlesung Mariologie Einführung in Grundfragen Inhaltsverzeichnis 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. Keine Frau wurde mehr geliebt, mehr verehrt In Freuden und in Schmerzen... Lebensstationen Marias Maria zwischen... 3 4 4 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6 3.7 3.8 3.9 5 5 5 6 6 7 7 7 8 Maria, vernetzt in biblische Erinnerungen und Erwartungen 8 4.1 4.2 4.3 4.4 8 9 10 11 9. 10. Vorbemerkung zum Verstehen der Bibel Im Kampf Die Erfüllung der Zeit Das Magnificat Lk 1,46-55 Die jungfräuliche Empfängnis 12 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5 5.6 5.7 12 13 13 13 14 15 16 In den Texten des Neuen Testaments Diskussionslage im 2. Jahrhundert Religionsgeschichtliche Parallelen Alttestamentliche Vorbilder? Ausgewählte Deutungen der Jungfräulichkeit Mariens Ein Lösungsvorschlag Motive für die weitere Entwicklung Maria in der feministischen Theologie 16 6.1 Typen feministischer Mariologie 6.2 Die Position von Kari Elisabeth Børresen 6.3 Lesefrüchte aus der Schlangenbrut 16 17 18 Maria in der kirchlichen Theologie und Frömmigkeit/die marianischen Dogmen 18 7.1 7.2 7.3 7.4 8. Liebe und Hass der Verehrung von Männern und Frauen Judentum und Christentum biblisch-historischer Fremdheit und Inkulturation geschichtlicher Gestalt und Mythos bzw. Christentum und Heidentum kirchlicher Theologie und Volksfrömmigkeit Theologie und Kunst binnenkirchlichem Konsens und Widerstand gegen den Zeitgeist Submission und Subversion Frühe Christenheit und Kirchenväter Mittelalter Neuzeit Das 20. Jahrhundert 18 19 20 21 Maria - Sophia. Orthodoxe und anthroposophische Mariologie 22 8.1 Maria, die Geistträgerin (Pneumatophora) – der Heilige Geist und die Weisheit 8.2 Ein anthroposophischer Ansatz: Aszendenz-Mariologie 23 24 Die katholische Marienfrömmigkeit – marianische Codierung der Welt 25 9.1 9.2 9.3 9.4 9.5 26 26 27 27 28 Die „Madonna im Ährenkleid“ als Modell marianischer Frömmigkeit Codierung von Zeit, Raum, Bewegung und sinnlicher Wahrnehmung Der Rosenkranz Marienwallfahrten Marienerscheinungen Einige abschließende Überlegungen 30 10.1 Theologie des Volkes/Theologie von unten 10.2 Maria: Vermittlung zwischen Religion und Bibel 10.3 Maria: Vermittlung zwischen Israel und Kirche 10.4 Maria: Das Zeichen der Frau 10.5 Maria: Advent und Eschatologie 11. Literaturverzeichnis 30 30 31 31 32 33 2 Grundlegende Literatur: • Handbuch der Marienkunde, hrsg. von Wolfgang Beinert und Heinrich Petri, 2 Bde., Regensburg: Pustet 1996/1997 • Mariologie. Texte zur Theologie D 6, bearbeitet von Franz Courth, Graz-Wien-Köln: Styria 1991 (=tzt) • Herbert Haag, Joe H. Kirchschläger, Dorothee Sölle, Caroline H. Ebertshäuser: Maria. Kunst, Brauchtum und Religion in Bild und Text, Freiburg-Basel-Wien: Herder 1997 MARIA IN DEN NAMEN: Mirjam Maria /Kombinationen: Annemarie Marianne Marlene (Maria und Magdalena) Marlies (Maria und Elisabeth) /Häufige Zusammenstellungen Marie-Sophie Maria-Theresia Marie-Luise MarieAntoinette Marie-Christine /Kurz- und Nebenformen: Mia Mieze Mizzi Mimi Marei Mareile Maja Mieke Mirl Marieke Ria... /frz. Marie Marion Marian Manon /engl. Mary Marilyn /irisch: Maire Maura Maureen /holl. Marijke Maaike Marieke Maryse /dän. Maren Mie /schwed. Marika /ungarisch Mari Maris Marika Mariska Marka /ital. Marielle Marietta Marita Maris Marisa Madrisa /span. Marita Marica Marihuela Mercedes (Maria de los Mercedes) /russ. Marija Marja Maika Marika Meri Mara Mascha Manja Marula Maruschka Marianka. /Nachname Mariette Marini Maritain Marinetti /männl. Vorname z.B. Carl Maria von Weber Rainer Maria Rilke /Ortsnamen /Österreich Maria Gall Maria Rojach Maria Elend Maria Saal Maria Wörth Maria Rain Maria Feicht Mariazell Maria Dreieichen Maria Enzerdorf Maria Taferl Maria Anzbach Maria Plain Maria Neustift Maria Trost Mariahilf.../Deutschland Maria Beinberg Maria Limbach Mariaeck Maria Steinbach Maria Burghausen Marienburg Marienplatz (München) Maria Laach Maria Rosenberg Bad Marienberg Marienthal Marialinden Maria Veen Marienfeld Marienmünster Mariagrube Marienwald Marienweiler... /Frankreich Ste. Marie de Campan Ste. Marie du Lac Ste. Marie du Mont Ste. Marie-sur-Mer Ste. Marie-La-Blanche... /USA Marion (Ohio) Marion (Indiana) Maryknoll (New York) Maryville (Tennessee) Santa Maria (Kalifornien) Maryland /Botanik Mariendistel Mariengras Marienblatt Marienglockenblume Marientränen Marienbalsam Marienrose / Marienkäfer / Mariengulden / Mariengroschen / Marionette (=Mariechen) (nach: Maria. Kunst aaO. 212f) 1. Keine Frau wurde mehr geliebt, mehr verehrt Maria, das jüdische Mädchen: Keine Frau wurde häufiger gemalt, besungen, gepriesen. Die zartfühlendste und innigste Dichtung aus zwei Jahrtausenden ist ihr gewidmet, Hymnen und Gebete wurden an sie gerichtet, auf Altäre wurde sie gestellt, Kirchen und Kathedralen ihr zu Ehren gebaut. Der Tag wurde mit ihr begonnen und beendet (Angelus), das Jahr nach ihren Festen eingeteilt, eine nicht endende Kette von Mariengebeten geht durch die Zeit. Sie erhielt die größte Verehrung, die je einer irdischen Frau zuteil wurde. Von ihrer unbeschreiblichen Schönheit sprachen Männer und Frauen zu aller Zeit, Gefühle von Liebe, Lust und Wonne hat sie erweckt. Um Schutz und Hilfe wurde sie angefleht. Sie war für alle da und jederzeit nah: die Jungfrau, die Magd, die Mutter, die Königin, die göttliche Frau. "Unter deinen Schutz und Schirm fliehen wir, heilige Gottesmutter. Verschmähe nicht unser Gebet in unseren Nöten, sondern errette uns jederzeit aus allen Gefahren, o du glorwürdige und gebenedeite Jungfrau, unsere liebe Frau, unsere Mittlerin, unsere Fürsprecherin. Führe uns zu deinem Sohne, empfiehl uns vor deinem Sohne, stelle uns vor deinem Sohne" ('Sub tuum praesidium', eines der ältesten bekannten lat. Mariengebete, 3./4. Jhd.) "Ich sehe dich in tausend Bildern, / Maria, lieblich ausgedrückt. / Doch keins von allen kann dich schildern, / Wie meine Seele dich erblickt. Ich weiß nur, dass der Welt Getümmel / Seitdem mir wie ein Traum verweht / Und ein unnennbar süßer Himmel / Mir ewig im Gemüte steht" (Novalis) "Ach neige / Du Schmerzensreiche, / Dein Antlitz gnädig meiner Not! / Das Schwert im Herzen / Mit tausend Schmerzen / Blickst auf zu deines Sohnes Tod. /Zum Vater blickst du, / und Seufzer schickst du / Hinauf um sein und deine Not... / Hilf! rette mich von Schmach und Tod! / Ach neige, / Du Schmerzensreiche, /Dein Antlitz gnädig meiner Not!" (Goethe, Gebet Gretchens aus Faust) "Sag an, wer ist doch diese, die auf am Himmel geht? / Die überm Paradiese als Morgenröte steht? / Sie kommt hervor von ferne, geziert mit Mond und Sternen, /im Sonnenglanz erhöht. Sie ist die edle Rose, ganz schön und auserwählt, /die Magd, die makellose, die sich der Herr vermählt. / O eilet sie zu schauen, die Schönste aller Frauen, die Freude aller Welt." (Marienlied 17. Jhd. von Joh. Khuen) Geistliche Marienmusik: Immer wieder vertont wurden die vier marianischen Antiphonen (Wechselgesänge, die im Stundengebet vor oder nach den Psalmen gesungen werden): Salve Regina (1218), vertont von Dufay, Palestrina, Orlando di Lasso, Vivaldi, Pergolesi, Haydn, Mozart, Schubert, Bruckner...; Regina coeli (10. Jhd.) – Palestrina, Mozart, Mascagni...; Ave Regina Coelorum (10. Jhd.) – Dufay, Orlando, De Vittoria, Gesualdo...; Alma Redemptoris Mater (11. Jhd.) – Dufay, Josquin de Prez, Palestrina, Mozart... 3 Das Magnificat (Lk 1,46-55) – über 1000 Vertonungen bekannt, von Orlando, Monteverdi, Schütz, Vivaldi, Joh. Seb. Bach (zweimal), Mozart, Schubert, Mendelssohn-Bartholdy, Bruckner, Penderecki, Pärt...; Stabat mater dolorosa (13. Jhd.), - Orlando, Pergolesi, A. u. D. Scarlatti, Vivaldi, Boccherini, Haydn, Mozart, Rossini, Liszt, Schubert, Verdi, Gounod, Dvorak, Penderecki, Kodaly, Poulenc...; Ave Maria (9. Jhd.) – von Orlando bis Schubert, Brahms, Verdi, Saint-Saëns. Auch in der profanen Musik wird immer wieder auf Maria Bezug genommen, so in Opern von Wagner (Tannhäuser), Verdi (Die Macht des Schicksals, Othello), Massenet, Puccini, d'Albert, Honegger u.a. Den größen musikalischen Widerhall hat Maria in den Volksliedern gefunden, und da vor allem in den Weihnachtsliedern. Maria durch ein' Dornwald ging ... der hat in sieben Jahrn kein Laub getragen! ... ein kleines Kindlein ohne Schmerzen, das trug Maria unter ihrem Herzen ... Als das Kindlein durch den Wald getragen, da haben die Dornen Rosen getragen... (Volkslied, bekannt seit 1608) (Nach: MARIA. KUNST aaO., 146-161. Vgl. auch HANDBUCH DER MARIENKUNDE Bd. II aaO, 173-214 (F.Fleckenstein, aaO.); 215-269 (K. J. Kuschel, aaO.); 270-320 (R. Zwick, aaO.); ALIDA BREMER, A.A.O., 94-106. Zu Maria in der bildenden Kunst hier nur der Hinweis auf JUTTA STRÖTER-BENDER, A.A.O. 2. In Freuden und Schmerzen... Lebensstationen Marias Vergegenwärtigen wir uns zu Beginn die existentiellen Dimensionen der Lebensstationen Marias, wie sie biblisch überliefert werden: Verkündigung durch den Engel: Welt und Himmel kreisen um ein einfaches (aber nachdenkliches) Mädchen, von ihrer Antwort hängt das Heil der Welt ab. Ihr Heldentum ist allein der Glaube. Jungfräulichkeit/Schwangerschaft/Reinheit: Wunderbarer, hoffnungsvoller Beginn eines neuen Lebens; in ihr erfüllen sich alte Erwartungen (Simeon, Hanna); männliche Großzügigkeit (Josefs); gibt es ein wahres Leben im falschen? Besuch bei Elisabeth: Frauenfreundschaft und –solidarität; Freude über das neue Leben; vielleicht auch Flucht vor übler Nachrede in Nazareth. Herbergssuche: Staatlicher Zwang, Heimatlosigkeit, Ablehnung durch eine gnadenlose Welt, Armut. Niederkunft im Stall, Besuch der Hirten und der Könige: Armseligkeit und Größtes liegen beieinander; jede Geburt ist ein Wunder, über das die Engel jubeln; das Kind ist etwas unendlich Kostbares. Kindermord in Betlehem, Flucht nach Ägypten: Gewalt und Krieg greifen in das Leben ein, auf der Flucht, wunderbare Errettung, alte Verheißungen werden wahr. Zwölfjähriger Jesus im Tempel: Unverständnis, Abschied von der Kindheit, Entfremdung. Mutter eines erwachsenen Mannes: Unverständnis, Konfrontation von Mutter und Sohn, Einsamkeit der Mutter Unter dem Kreuz: Schmerz, Beistand in der dunkelsten Stunde; es gibt ein Leben nach dem Schmerz (Maria und Johannes). Maria unter den Aposteln im Pfingstsaal: Das Ende von Furcht und Angst, neue Verbundenheit mit dem Sohn. In wenigen Strichen zeichnet die Bibel ein Frauenleben, in dem sich Menschen aller Zeiten – Frauen vor allem, aber nicht nur sie – wiederfinden konnten und können. Freude und Schmerzen, alles ist darin enthalten. Welch eine Literatur ist doch die Bibel! Wie oft ist das alles gemalt und literarisch verarbeitet worden! Das Grundmotiv in diesem Leben hat Maria im Magnificat zum Ausdruck gebracht: "Er hat niedergeschaut auf die Niedrigkeit seiner Magd. Denn siehe, von nun an werden mich selig preisen alle Geschlechter" (Lk 1,48). Marias Leben ist eine Bibel im Kleinen und zugleich ein Spiegel des Lebens der kleinen Leute. 3. Maria zwischen... Die Gestalt Mariens ist immer an Grenzen angesiedelt. Nie kann sie eindeutig erfasst werden, keiner spricht das letzte Wort über sie. Sie trennt, aber sie fügt auch Getrenntes zusammen. 4 3.1 ...Liebe und Hass Unendlich viel Liebe tritt einem in der Marienverehrung entgegen, aber auch Ablehnung, ja Hass. Vielen Frauen gilt sie heute als Inbegriff und Symbol der Männerherrschaft und der Verdrängung bzw. Verteufelung der Sexualität. So CHRISTEL BEILMANN (geb. 1921 in Bochum, Mitbegründerin des BDKJ, kath. Aktivistin) A.A.O.: "'Ich bin die Magd des Herrn' – ein schlimmes Wort für die Erdenfrau ... [es] wurde von Millionen christlicher Frauen über die Jahrhunderte hinweg ein folgenschwerer Satz, nach dem Frauen 'geprägt' wurden ... Das 'Fiat', das Ja-Wort Mariens ist für die Frauen kaum heilbringend, eher verhängnisvoll geworden ... Es hat die die zweitrangige 'Frau der Kirche', die Frauen des katholischen Milieus hervorgebracht ... Wunschdenken der Hierarchien: brauchbare Frauen!" (68-72). Zur Jungfräulichkeit: "Ist die Geburt des Gotteskindes aus Maria, der Jungfrau, nicht auch ein Versuch, die Menschwerdung an der Realität Frau vorbei zu erklären, als die Urscheu vor dem geschlechtlichen Akt, der in die Sünde verbannt wurde" (76). In ganz anderer Intention bekämpft GERD LÜDEMANN, AAO. die marianische Tradition. Sein Anliegen als "kritischaufgeklärter" Theologe ist es, dem Christentum seine mythologischen Reste auszutreiben, um es auf den Stand der Neuzeit zu bringen. 1994 hat er bereits erwiesen, dass die Auferstehung nicht stattgefunden hat. Nun will er die Geburt Jesu aus der Jungfrau Maria als Fiktion entlarven, weil sie "der Grundpfeiler für die Annahme ist, Jesus sei der Sohn Gottes gewesen" (10). L. will die "Entzauberung der Glaubensgrundlagen beharrlich fortsetzen" (11) und beweist, dass die neutestamentlichen Angaben über Maria alle bloß erfunden und also nicht wahr sind. – Maria brüskiert das neuzeitlich-wissenschaftliche Wirklichkeitsverständnis; das ruft L.s hasserfüllte Polemik hervor. 3.2 ...der Verehrung von Männern und Frauen Männer und Frauen haben Maria gleichermaßen verehrt, aber wohl nicht auf die gleiche Weise. D. SÖLLE (in: Maria. Kunst aaO. 132) schreibt: "Die von Männern geprägte christliche Theologie hat die Virginität oft zur Hauptsache gemacht, als sei sie die alleinige Bedingung für Marias In-Gott-Sein. Sie hat Maria von den anderen Frauen, auch von ihren Vormüttern in der Bibel, getrennt und versucht, alles Irdisch-Realistische auszuschließen. [Sie hat] zugleich ein Frauenbild – und eine Anthropologie – aufgebaut, die die Rollen der Geschlechter festschreibt und polarisiert: aktives Handeln gegen passives Geschehenlassen, Macht gegen Güte [...] Aber Gott sei Dank wurde die Theologie im Abendland nicht nur von den Theologen gemacht [...] Das Volk hat sich in seiner Liebe zu Maria nicht an die Regeln gehalten, die männlich-hierarchischer Wille zu Macht setze, es hat sie ständig durchbrochen, umspielt und verändert." Noch viel krasser sieht KERSTI GEISELER, MARIA DIE IRDISCHE FRAU A.A.O. überall in der christlichen Geschichte lebensfeindliche männliche Asketen am Werk, die "lehrten, dass Maria ganz ohne sexuelle Begierde und Sinnlichkeit gelebt habe. [Ihre Lehre] wurde von den Bischöfen durchgesetzt, zum Teil mit Gewalt [Die, die daran nicht glaubten], wurden auf grausame Weise gequält und getötet. [...] Je mehr die Asketen Maria entmenschlicht haben, gaben sie ihr himmlische Titel und Ehren. Nun sind viele Generationen von Männern und Frauen durch dieses lebensfeindliche Marienbild geprägt worden. Auch ihnen wurde Sinnlichkeit und Sexualität abgewertet, es wurden starke Sündenängste verbreitet. Maria wurde zur Abschreckung von der sinnlichen Lust missbraucht" (37 – und so geht es im ganzen Buch weiter). 3.3 ...Judentum und Christentum Maria, die christliche Heilige par excellence, die erste Heilige überhaupt, die Mutter des Gottessohnes Jesu Christi, die erste Erlöste, das Urbild der Kirche: und doch war sie eine jüdische Frau. Die Geschichten über sie zu verstehen bedeutet, sich tief in ihre jüdische Welt zu versenken. Sie handelt, sie spricht wie eine Jüdin ihrer Zeit, tief verbunden mit der Tradition ihres Volkes, der Hebräischen Bibel. – Die Entdeckung der jüdischen Maria ist das Verdienst von SCHALOM BEN-CHORIN, AAO. Er schreibt: Jahrhunderte lang wurde das Bild Mariens als jüdische Mutter, die sie war, verdrängt und vergessen" (7). Sie ist unter dem siebenfachen Schleier von Tradition, Dogma, Liturgie, Legende, Kunst, Dichtung und Musik verhüllt; "der Versuch einer Entschleierung wird nötig sein, um das jüdische Antlitz einer jungen Mutter aus Galiläa wieder deutlich zu machen" (11). BenChorin führt Marienerscheinungen in Betlehem (1983) und im Südlibanon (1983) sowie die Seligsprechung der arabischen Ordensschwester Mirjam (1846-1878) im Jahre 1983 an, um zu belegen: "Mutter Mirjam kehrt heim" (8). – Bei der historischen Rekonstruktion der Gestalt Marien werde ich oft auf Ben-Chorin zurückkommen. Mit Recht weist der darauf hin: Die Frau der hebräischen Antike weist allgemein wenig individuelle Züge auf, der Individualität wird kaum Spielraum gelassen. Sie ist "weitgehend von allgemeinen Vorstellungen, gesellschaftlichen Regeln, kultischen Gesetzen und biblischen Leitbildern bestimmt" (19), wie auch noch heute die Frauen im orthodoxen Judentum und im Islam. Die Individualität Mariens muss vor diesem allgemeinen Hintergrund erschlossen werden und sticht daraus hervor. Maria zwischen Judentum und Christentum: An ihr lässt sich zum einen die christliche Vereinnahmung des Judentums ablesen, zum anderen bietet aber gerade sie die Chance, das Jüdische im Christentum zu entdecken. Über Maria mit ihren vielen alttestamentlichen (Be-)Zügen erschließt sich der Zusammenhang der ganzen Heiligen Schrift. Wichtig dazu: KARL-HEINZ MENKE, AAO. 5 3.4 ...biblisch-historischer Fremdheit und Inkulturation Maria, die aus der fremden und historisch begrenzten Welt Galiläas kommt, hat doch leichter als die anderen biblischen Figuren (auch Jesus ?!) Eingang in andere Kulturen finden können. 1531 erschien sie dem armen Indio Diego in Guadelupe, sprach ihn auf indianisch an, nannte ihn "meinen lieben Sohn" (vgl., auch zum folgenden, KATJA HEIDEMANNS, AAO.). Damit erst kam die Christianisierung Lateinamerikas – in ihrem charakteristischen Synkretismus – zum Erfolg. – In Indien besteht schon seit dem 16. Jhd. das Heiligtum "Unserer lieben Frau von der immerwährenden Hilfe" in Mahim/Bombay; zehntausende Menschen, vor allem Frauen, wallfahrten seitdem wöchentlich dorthin und bitten um Beistand, Kindersegen (männl. Nachkommen!), Gesundheit. – In Malawi tanzen Frauen den Hymnus an "Unsere liebe Frau von Afrika" in traditionellen Bewegungen und Rhythmen zur Arbeit mit Stößel und Mörser: "...wollen wir dich freudig preisen, wir, deine afrikanischen Kinder. Schwarz bist du, doch schön [vgl. Hld 1,5!] ... Wir lieben dich mehr als die Musik der Trommeln am Abend ... Mehr als unser Singen und Tanzen lässt du uns jubeln ... Das ganze Afrika kniet vor dir, du Königin aller Königinnen..." (ebd. 128). In allen Erdteilen ist Maria präsent, sowohl in der Phase der Missionierung/Koloniesierung wie auch neuerdings in befreiungstheologischen Kreisen. – Heidemanns behauptet am Beispiel Indiens: Maria deckt offenbar das Bedürfnis nach einer weiblichen Gottheit ab. Wo sie aber einfach den hinduistischen Göttinnen gleichgestaltet wird, verliert sie jede kritische Kraft, fordert sie zu Duldsamkeit und Schicksalergebenheit auf. Es ist "nicht möglich, die Orientierung an den biblischen Aussagen gänzlich aufzugeben und allein nach der Bedeutung des Symbols 'Maria' zu fragen. Die Erfahrungen asiatischer Frauen zeigen, daß die Aneignung Marias als befreiendes Symbol den Weg über die biblisch bezeugte Frau aus Nazaret voraussetzt" (137f). – Maria 'fängt' die Menschen/Frauen der fernen Erdteile 'ein', erscheint ihnen vertraut (anthropologisch und religiös). Wird sie aber als biblische Figur festgehalten, führt sie zur Teilhabe an den biblischen Erinnerungen und Hoffnungen, dann vermittelt sie etwas Fremdes und Befreiendes, gerade in Bezug auf das Frauenbild. 3.5 ...geschichtlicher Gestalt und Mythos bzw. Christentum und Heidentum Diese Beobachtungen lassen sich verallgemeinern: Maria, die biblisch-geschichtliche Gestalt, hat zu allen Zeiten heidnische (=aus nicht biblischen Religionen) Vorstellungen und die entsprechende Verehrung auf sich gezogen. Seit ihrer dogmatischen Erhebung zur "Gottesmutter" (Konzil von Ephesus, 431) wurden viele ihrer Kirchen auf den Resten von Göttinnen-Tempeln gebaut: Maria sopra Minerva (Rom)... Aber was heißt hier sopra? Lebte der alte Göttinenkult einfach in ihr weiter, oder hat sie ihn aufgenommen und verwandelt? Lässt sich das überhaupt verbinden: die demütige Magd und die Göttin? – K. GEISELER (aaO.), eine moderne Feministin, sieht Maria ganz und gar als Erbe der Göttinnen. "Wenn wir den Titel 'Gottesmutter' voll ernst nehmen, dann ist Maria ganz in die göttliche Dimension hineingenommen. Sie ist eine göttliche Mutter, die einen göttlichen Sohn geboren hat. ... In ihr leuchtet die weibliche und mütterliche Seite der Gottheit" (43). Maria gehört in die Trinität, ist sie doch "ungleich beliebter als Vater, Sohn und Geist" (45). Nur mit Maria ist die göttliche Liebe heterosexuell. – "So beerbte Maria die griechischen 'Gottesmütter': Da war zunächst Koronis, eine Königstochter aus Thessalien. Sie paarte sich mit dem Lichtgott Apollo und wurde schwanger. Doch sie verbrannte auf dem Scheiterhaufen. Aus ihrem sterbenden Körper gebar sie den Asklepios, den Gott der Heilkunst. Dieser brachte den Menschen Erlösung von vielen Leiden, denn er war ein Gott-Mensch. Dann beerbte Maria die Gottesmutter Semele. Auch sie war eine Königstochter und paarte sich mit Zeus. Als sie schwanger wurde, traf sie der göttliche Blitz. Aus ihrem sterbenden Körper wurde der Gottmensch Dionysos geboren. Er schenkte den Menschen den Wein und die sinnliche Ekstase. Weiter beerbte Maria die Gottesmutter Alkmene, die Mutter des Helden und Erlösers Herakles. Sie paarte sich mit dem Himmelsgott Zeus und gebar ihren Sohn. Der wurde von der Göttin Hera verfolgt. Er musste für die Menschen zwölf erlösende Taten vollbringen, bis sie versöhnt war. Dann starb er als Gottmensch auf dem Scheiterhaufen, er opferte sich selbst. Seine letzten Worte waren: 'Es ist vollbracht'. Das waren auch die letzten Worte Jesu. [...] Wie Jesus die griechischen Gottmenschen beerbte, so trat Maria das Erbe der Gottesmütter an" (44). Und so hat Maria, wie Geiseler behauptet, noch viele Fruchtbarkeits-, Liebesund Schutzgöttinnen beerbt. – Wie weit tragen solche Analogien?? Bemerkenswert bei Geiseler ist die Entjudaisierung Marias. Beim Magnifikat lässt sie die Verse Lk 1,54f weg ("er nimmt sich seines Knechts Israel an..."). Maria kommt ganz auf die heidnische Seite und wird zum Symbol für die Lebenskraft des Weiblichen, für autonome Sexualität, Liebesfähigkeit und lustvolle Erotik. Die Männer- und Priesterkaste habe diesen Aspekt der Marienverehrung immer unterdrückt. "Erst die moderne Psychologie und Naturwissenschaften haben den Frauen ihr positives Selbstbild wiedergegeben" (56). Wozu dann noch Maria? Die Tendenz zur Verwechselbarkeit und Entgeschichtlichung Mariens ist allerdings in der kirchlichen Tradition angelegt! Die Dogmen von der jungfräulichen Gottesmutterschaft, der leiblichen Aufnahme in den Himmel und die Rede von der 'Himmelskönigin' lassen sich nur schwer biblisch verifizieren (dazu unten 7.) und bieten Anknüpfungspunkte für eine Aufladung der Marienfrömmigkeit mit außerbiblischen Elementen. Dazu hat auch die Identifikation Marias mit der alttestamentlichen Weisheit (Sophia) beigetragen (dazu unten 8.). Wie soll man dies theologisch bewerten? Was ist die eigentliche Substanz der Marienverehrung: Das Erbe des Heidentums oder das biblische Zeugnis? Oder was geschieht, wenn sich beide vermengen? Das ist die leitende Frage dieser Vorlesung. Der Dichter KURT MARTI meint dazu: 6 "Und viel später / blickte maria / ratlos von den altären / auf die sie / gestellt worden war / und sie glaubte / an eine verwechslung / als sie / – die vielfache mutter – / zur jungfrau / hochgelobt wurde und sie bangte / um ihren verstand / als immer mehr leute / auf die knie fielen / vor ihr und angst zerpreßte ihr herz / je inniger sie / – die machtlose frau – / angefleht wurde / um hilfe um wunder am tiefsten / verstörte sie aber / der blasphemische kniefall / von potentaten und schergen / gegen die sie doch einst / gesungen hatte voll hoffnung" ('und maria sang ihrem ungeborenen Sohne') 3.6 ...kirchlicher Theologie und Volksfrömmigkeit Die Beziehung zwischen beiden ist – wie auch sonst in der Kirche – nicht restlos klar. Zweifellos wird die Marien-Frömmigkeit (Gebete, Lieder, Bilder, Statuen, Gnadenbilder, Marienweihe, Wallfahrten mit ihren Riten, Wallfahrtsorte, Erscheinungen, marianische Gemeinschaften...) von der offiziellen Theologie inspiriert, aber nicht gebändigt. Maria hat für die Gläubigen aller Zeiten offenbar eine größere Bedeutung gehabt als sie eigentlich hätte haben dürfen. Die Frömmigkeit schießt über das offizielle Maß hinaus. Woher kommt der Überschuss? Ist er nur die Verlängerung der Dogmatik ins Volkstümliche hinein? Synkretistische Vermischung mit anderen Kulten? Das heidnische Erbe? Oder auch Kritik an der kirchlichen Theologie? Deren Weiterführung oder Überwindung durch den Glaubenssinn der Gläubigen (sensus fidelium)? Und wo ist die Theologie ihrerseits durch die Frömmigkeit inspiriert, ja genötigt worden? Sind die Dogmen der Immaculata, der Assumpta nicht nur Reflexe auf die Volksfrömmigkeit? Hat vielleicht schon das Konzil von Ephesus nur dem Druck der Volksmassen nachgegeben, die sein Ergebnis dann ja auch bejubelt haben? – Allgemeiner: Wie verhält sich die Praxis des Glaubens in der Geschichte zu seinem biblischen Ursprung? Das Problem von Schrift und Tradition! 3.7 ...Theologie und Kunst Die Tradition der Marienkunst (in allen Gattungen) ist breit und tief. Ganz selbstverständlich greift die Kunst über die Dogmatik hinaus, bezieht z.B. auch die außerkanonischen Marienerzählungen (Das Protoevangelium des Jakobus vor allem, das von der Kindheit Mariens berichtet) mit ein (Motive daraus: An der Goldenen Pforte=Begegnung zwischen Anna und Joachim nach der Ankündigung der Geburt Marias; Mariä Geburt; Mariä Tempelgang; Am Brunnen des Lebens; Jungfrau mit der Spindel, den Tempelvorhang webend; Maria mit dem Buch in der Hand, Anna selbdritt etc.). Außerkanonisch sind auch die Bildmotive Pietà und Himmelfahrt Mariens; vgl. dazu STRÖTER-BENDER aaO., 41ff. Die Kunst weiß also mehr über Maria zu sagen als die Bibel – kann man das theologisch gelten lassen? Welches gläubige Bedürfnis äußert sich darin? Offensichtlich arbeitet die Kunst auch allgemein-religiöse Motive in die Marienbilder mit ein: Farben-, Licht-, Mond-, Sternen- und Sonnensymbolik; Schmuck und Edelsteine; die Schutzmantelmadonna etc. Die Mariensymbolik lässt sich oft als eine Verbindung biblischer und heidnischer Motive lesen. Vgl. z.B. ANDREA TAFFERNER, aaO.: Ort der Geburt ist Betlehem = das "Haus des Brotes"; dort kommt zur Welt, der von sich sagt: Ich bin das Brot des Lebens, geboren von Maria; heidnisch ist Demeter, die blondgelockte, Göttin des Korns. Beides verbindet sich im Motiv Maria im Ährenkleid (z. B. in 'Maria zur Wiese' in Soest). Hier leistet die Kunst doch eigenständig theologische Arbeit! Es wäre zu untersuchen, warum bestimmte Motive in bestimmten Zeiten neu oder verstärkt auftreten (z. B. Anna selbdritt im Spätmittelalter). – In der Orthodoxie ist die Marienverehrung mehr als im Westen von den Bildern gesteuert, den Ikonen, die nicht nur Abbildungen sind, sondern Begegnungen, Gnadenbilder (die erste Marienikone soll der Evangelist Lukas gemalt haben). Die kirchliche Lehre blieb dahinter zurück. Was bedeutet dieser Bilderglaube angesichts des biblischen Bilderverbots (dazu unten 8.)? Äußert sich im Marienglauben eine andere, bilderfreundliche Religion – was bedeutsam ist, wenn man den Sinn des Bilderverbots in der Unterscheidung Gottes von den Götzen sieht. Auch im Westen gibt es die Tradition der Gnadenbilder. 3.8 ...binnenkirchlichem Konsens und Widerstand gegen den Zeitgeist Mir fällt auf, dass seit dem Beginn der Neuzeit, also der Zeit der wachsenden Entfremdung zwischen Kirche und Gesellschaft, die marianischen Bekundungen der katholischen Kirche in einen wachsenden Gegensatz zu ihrer Zeit hineinwachsen. Dabei finden wir gerade im Marianischen das Zentrum der katholischen Identität und Kultur. Je mehr sich die Kirche ihrer Zeit widersetzt, desto marianischer wird sie. (Vgl. zum folgenden unten 7.) • Die Gegenreformation setzte auf Maria im Gegenzug zur protestantischen Nüchternheit und Christuszentriertheit. • Der kath. Barock teilte zwar die Ästhetik seiner Zeit, überwand aber die Reservierung der Kultur für die Fürsten (Absolutismus), indem – im Gegensatz zu den Schlössern – die barocke Schönheit der Kirchen allen zugänglich war, auch den Bauern in den verarmten Dörfern. Der Barock war ein sehr marianisches Zeitalter, man liebte es, Maria eine Königin zu nennen (darin liegt Übernahme und Kritik des Absolutismus). • Der Rationalismus der Aufklärung widersprach der marianischen Frömmigkeit auf der ganzen Linie; er bekämpfte sie. Versuche, die blühende Marienverehrung vernünftig zu mäßigen, wurden sowohl vom Lehramt wie dem Volk entschieden abgelehnt. • 19. Jahrhundert: Das vom Kirchenvolk mit großer Freude aufgenommene Immaculata-Dogma (1854) verkündete die Sündlosigkeit eines Menschen in einer Zeit, in der die Grundlagen der kapitalistischen Sünde nachhaltig gelegt wurden (Schwerindustrie, Eisenbahnbau, allg. Mobilisierung, Verarmung der Arbeiterschaft). Das Dogma widersprach auch dem Grundsatz der égalité. – Die sich häufenden Marienerscheinungen (Lourdes: 1858) waren ein Schlag ins Gesicht des wissenschaftlich-technischen Zeitalters. Die Heilungswunder überführten die Medizin und Wissenschaft ihrer Grenzen. – Die kath. 7 • Marienwallfahrten, regelrechte Massenbewegungen, reklamierten das Recht der einfachen Leute auf Urlaub und selbstbestimmte Zeit. Sie widersprachen der totalen Nutzung der Arbeitskraft für die Fabrik. Die Wallfahrten waren zudem ein politischer Protest gegen den alles reglementierenden Staat (von der Polizei wurden sie kritisch beäugt und nicht selten aufgelöst). – Im kath. Rheinland und im Münsterland bedeutete die Marienverehrung auch Widerstand gegen das protestantische Preußen. – Die bunte und naturalistische, z.T. sentimentale Marien-Kunst der Praeraffaeliten (engl.) und Nazarener (österr., dt.) kann man als Protest gegen die bürgerliche Entsinnlichung und den industriellen Utilitarismus verstehen. 20. Jahrhundert: In den 20er Jahren findet man sehr häufig das Motiv aus Offb 12 (Die Frau und der Drache): apokalyptische Warnung vor dem Kommenden in einer ideologisch verblendeten Zeit? – Fünf Jahre nach dem Krieg (1950) verkündete Papst Pius XII. das Dogma von der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel: Hoffnungszeichen angesichts der Greuel des Jahrhunderts, angesichts Millionen von Menschen auf der Flucht oder in Gefangenschaft, angesichts des Kalten Krieges? Zugleich auch noch einmal ein Widerspruch gegen das blinde Wüten der kapitalistischen Maschine im Verbund mit Technik und Wissenschaft. – Erst die Anpassung der Kirche an den Zeitgeist hat die Marienfrömmigkeit zurückgehen lassen... 3.9 ...Submission und Subversion SÖLLE, MARIA IST EINE SYMPATHISANTIN, a.a.O.: Das "Gipswesen aus der Grotte von Lourdes" – "Entsexualisierung plus Demut, das weibliche Ideal. Ein Symbol, geschaffen, den Unterdrückten die Selbstunterdrückung beizubringen." Aber es gibt auch die Maria des Magnificat, die 'Madonna der Spitzbuben', sie schützte nicht nur vor der Natur, sondern auch "vor der gewalttätigen Gesellschaft". "Es fällt mir schwer, die Millionen Frauen vor mir, die Maria geliebt haben, für nur blind oder betrogen zu halten. Da muß auch Widerstand gewesen sein, Widerstand, aus dem wir lernen können." Sölle will Maria nicht der Wegwerfgesellschaft anheim geben. "Wo früher die unbefleckte Madonne in der Nische stand, macht sich jetzt Frau Saubermann breit." Ein erstes Fazit: Die riesige Lücke zwischen Marias biblischer Dürftigkeit und dem semantischen Reichtum der marianischen Tradition ist mit verschiedenem Material gefüllt worden. Dass das möglich war, sagt selbst schon etwas über sie. So wie sie eine Brücke zwischen altem und neuen Bund war, so ist sie auch eine Brücke zwischen der Bibel und den Völkern (Sie ist ja die Mutter des von Israel erwarteten Messias aller Menschen!). Einiges von diesem Material hat ihre biblische Gestalt in helleres Licht gerückt, anderes hat sie verdunkelt. Aber das Material kommt immer nur in Mischungen vor! Das macht die theologische Aufgabe (der wir uns in dieser Vorlesung unterziehen) so schwierig: das biblische Zeugnis von Maria freizulegen (und dazu gehören auch die in der Tradition gewachsenen Einsichten!) und es neu in unsere Zeit zu vermitteln. Das Ziel ist nicht die Herstellung eines biblisch reinen Marienbildes (das wäre nur historisch möglich), sondern wiederum Begegnung mit ihr zu ermöglichen, so wie sie es immer ermöglicht hat (das ist die Lehre der Geschichte über sie). In welcher "Mischung", in welchem "Zwischen" kann Maria heute für uns dasein? 4. 4.1 Maria, vernetzt in biblische Erinnerungen und Erwartungen Vorbemerkung zum Verstehen der Bibel Um die Geschichte, unser Leben und uns selbst zu verstehen, sind wir auf Geschichten angewiesen. Menschliches Leben legt sich in Geschichten aus. – Die Bibel ordnet ihren LeserInnen Geschichten zu, die nicht deren eigene sind, nicht aus ihrer Erfahrung stammen, nämlich Geschichten aus der Geschichte Gottes mit seinem Volk Israel. Darin liegt ihre befreiende Wirkung, denn die nichtbiblischen Lebensgeschichten sind alle ausweglos. Sie laufen auf den Tod zu. Die Bibel als Ganze ist ein Buch von der Auferstehung, von dem am Ende erfolgreichen Kampf Gottes gegen den Tod. Gottes Geschichte steckt voller Verheißungen. Dieses Verknüpfen von Lebensgeschichten mit Geschichten aus Israel geschieht auch innerbiblisch. Was immer dort berichtet wird, wird daraufhin geprüft, ob sich etwas aus der bekannten Geschichte Gottes darin wiederholt und damit die Verheißung erweckt, die darin enthalten ist (Jesus sagt es so: "Was wir wissen, reden wir, und was wir gesehen haben, bezeugen wir", Joh 3,11). Damit kommen wir zum biblischen Verständnis von Wirklichkeit bzw. von historischen Tatsachen. Es ist klar: Wenn man das kleine Volk Israel für den Mittelpunkt der Weltgeschichte hält oder glaubt, dass in der Krippe von Betlehem der entscheidende Wendepunkt der Weltgeschichte liegt, dann kommt man mit dem gewöhnlichen Verständnis von historischen Tatsachen nicht mehr hin. Für die Bibel gilt vielmehr das als tatsächlich, was sich in die Koordinaten der bekannten Geschichte Gottes eintragen lässt, was "gemäß den Schriften" ist (1 Kor 15,3f; vgl. Mt 2,15 u.ö.: "So sollte das Wort in Erfüllung gehen...". Sehr deutlich die Emmauserzählung: Der Begleiter der Jünger wusste nichts von den Ereignissen, aber als er davon hörte, wusste er sofort, dass es geschehen war. "O ihr Unverständigen, wie träge ist euer Herz, an all das zu glauben, was die 8 Propheten gesprochen haben! Musste nicht der Messias dieses leiden und so in seine Herrlichkeit eingehen? Und er begann mit Mose und allen Propheten und legte ihnen in allen Schriften aus, was sich auf ihn bezieht", Lk 24,25-27). – Nur in diesem Wirklichkeitsverständnis kommt das Verheißungsvolle der Ereignisse heraus, während unser Verständnis von Tatsachen diese in die abgeschlossene Vergangenheit verweist. Das Tatsächliche, das die Bibel berichtet (z.B.: "Mit der Geburt Jesu Christi aber verhielt es sich so...", Mt 1,18) ist also das Wiederaufleben des Verheißungsvollen in einem neuen Geschehen. Dass die Verheißung wieder auflebt, ist die Tatsache. Um diese angemessen zu beschreiben, spielt die Bibel in das gegenwärtige Geschehen die Geschichten ein, von denen die Verheißung herkommt (Betlehem enthält die Verheißung von Mich 5,1, Flucht nach und Rückkehr aus Ägypten die der Moses- und Exodusgeschichte. Unbedingt lesen: Mt 1 u. 2!!!). Was hier berichtet wird, ist also wirklich geschehen, denn diese Verheißungen sind wirklich wieder erweckt worden – auch wenn dabei manches berichtet wird, was nicht passiert ist. Die Geschichten um Maria sind randvoll von Verheißungen! Der Messias ist endlich gekommen, um über Israel und die Völker zu herrschen! Das Gewebe verheißungsvoller Geschichten ist deshalb hier besonders dicht, denn anders kann man diese Tatsache nicht beschreiben. – Zum Verhältnis von frühen und späten Texten. Gemeinhin meinen wir, dass frühe Texte besonders nah an den Ereignissen sind, dass sie historisch zuverlässiger sind, während wir spätere Texte für Ausgestaltungen halten. Aber das muss biblisch nicht so sein. Oft wird das Verheißungsvolle eines Geschehens erst später erkannt. Späte Texte sind darum oft näher an den Tatsachen, biblisch verstanden. – Deshalb gehe ich in der folgenden Lektüre marianischer Texte nicht den sonst in der Exegese beschrittenen Weg. Lit.: KARIN ULRICH-ESCHEMANN, AAO. [sehr aktuell auch für Religionsunterricht]; F.-W. MARQUARDT, AAO., 146-171 [diesen Text lesen, wenn man mit dem oben Gesagten Schwierigkeiten hat!]; TH. RUSTER, AAO. 4.2 Im Kampf Ein später Text über Maria ist Offb 12 "Vision von der Frau und dem Drachen". (Ihr Name wird nicht genannt, aber die Tradition hat den Text immer auf Maria ausgelegt – der Überschuss der Tradition und Frömmigkeit, vgl. oben 3.6! – ; dazu O.KNOCH, AAO., 82-84. Der Text bündelt rückblickend und zugleich vorausblickend das Zeugnis der Schrift über Maria. Anhaltspunkt ist 12,5: "Sie gebar einen Sohn, ..., der 'die Völker mit eisernem Zepter weiden soll'" = Ps 2,8f: der Messias). Die Frau bringt den Messias zur Welt – sie steht für Israel (zwischen Sonne, Mond und Sternen: durch Israel wirkt Gott in der Welt, es ist das "Zeichen am Himmel"), denn der Messias kommt aus Israel – und das ist nicht idyllisch, sondern Höhepunkt eines furchtbaren Kampfes, der im Himmel und auf der Erde gekämpft wird. Der Kampf geht um die Kleinen, Schutzlosen; der Drache will das Kind verschlingen. Er wird auch im Volk Israel selber gekämpft: "sie ist schwanger und schreit in Geburtsqualen" – kann der Messias aus diesem Volk kommen, nach allem, was geschehen ist? – Aber viele "warteten auf die Erlösung Jerusalems", bezeugt die steinalte Prophetin Hanna, Lk 2,38 Auch der alte Simeon weiß von dem Kampf in Israel: "Dieser ist dazu bestimmt, dass in Israel viele durch ihn zu Fall kommen und viele aufgerichtet werden, und er wird ein Zeichen sein, dem widersprochen wird. Dadurch sollen die Gedanken vieler Menschen offenbar werden". Der Sohn Marias ist der Stein des Anstosses, das Gericht an Israel, vgl. Joh 3,18; 12,48 u.ö. Und zu Maria: "Dir selbst aber wird ein Schwert durch die Seele dringen", Lk 2,34f. – Das Schwert durch ihr Herz: Lk 2,41-52 "Kind wie konntest du uns das antun... Warum habt ihr mich gesucht? Wusstet ihr nicht... Doch sie verstanden nicht, was er damit sagen wollte" Mk 3,31-35 "Wer sind meine Mutter und meine Brüder?" Joh 2,1-12 "Weib, was habe ich mit dir zu schaffen?" Joh 19,25-27 "Bei dem Kreuz standen seine Mutter...". Maria versteht ihren Sohn nicht, sie ist für alle Gläubigen Zeugin dieses Nichtverstehens. Jesus ist kein Freund familiärer Bindungen. Nicht als Mutter, nur als eine, die den Willen Gottes tut, kann sie mit ihm Gemeinschaft haben. Aber das tut sie ja, Lk 1,38: "Mir geschehe, wie du gesagt hast". Ein Kampf himmlischer und irdischer Mächte. Offb 12 erzählt: Michael und seine Engel kämpfen gegen den Drachen und seine Engel. Der Drache kann im Himmel nicht standhalten, er wird auf die Erde gestürzt und kämpft dort mit um so mehr Wut gegen die Frau und ihre Nachkommenschaft, gegen die, "die die Gebote Gottes beobachten und am Zeugnis Jesu festhalten", 12,17, also Israel/Kirche. An und um Jesus entbrennt der Kampf der Mächte und Gewalten. Mk 1,12f "Vierzig Tage lang war er in der Wüste und wurde vom Satan versucht ... Und die Engel dienten ihm". Die Dämonen kennen ihn, lassen sich durch ihn herausfordern. Denn Jesus weiß schon vom Sturz des Drachen, Lk 10,19: "Ich sah den Satan wie einen Blitz vom Himmel fallen". Um so heftiger aber der Kampf auf Erden, durch Jesus ausgelöst. 1 Petr 5,8f "Euer Widersacher, der Teufel, geht umher wie ein brüllender Löwe und sucht, wen er verschlinge". Eph 6,11f "Denn unser Ringkampf geht nicht wider Fleisch und Blut, sondern wider die Beherrscher dieser Finsternis". Offb 12 erzählt also richtig. – Irdische Mächte nehmen an diesem Kampf teil. Sie wollen ihre Macht bewahren. Mt 2,16-18 "Herodes geriet in heftigen Zorn, sandte hin und ließ in Betlehem und in der ganzen Umgebung alle Knaben im Alter von zwei Jahren und darunter töten ... Da wurde das Wort des Jeremia erfüllt: ... Rahel weint um ihre Kinder und will sich nicht trösten lassen". Jesus geht es wie Moses und den Erstgeborenen Israel in Ex 1, und es geht ihm wie David unter Saul 1 Sam 19ff. Maria und Josef aber müssen fliehen! "Und als der Drache sah, dass er auf die Erde geworfen war, verfolgte er die Frau, die den Knaben geboren hatte", Offb 12,13. 9 Die Frau aber wird bewahrt. "Die Frau aber floh in die Wüste, wo sie eine von Gott bereitete Stätte hatte", Offb 12,6; "Da wurden der Frau die zwei Flügel des großen Adlers [=Ex 19,4: "Ihr habt gesehen, was ich den Ägypter angetan, wie ich euch auf Adlerflügeln getragen und euch zu mir hierher gebracht habe"] gegeben, damit sie in die Wüste flöge an ihre Stätte ... die Erde kam der Frau zu Hilfe", Offb 12,14.16. Das kann man auf die Kirche auslegen, denn die Nachkommen der Frau sind die, die am "Zeugnis Jesu festhalten" (12,17); s. Mt 16,18 "...meine Kirche, und die Pforten der Hölle werden sie nicht überwältigen". Aber auch auf Maria selbst. Sie ist die Gesegnete, Begnadete. Lk 1,28-30 "Sei gegrüßt, du Begnadete, der Herr ist mit dir ... du hast bei Gott Gnade gefunden", sagt ihr der Engel, dessen Kommen selbst Zeichen der Gnade ist. Die Engel kämpfen ja für das Weib. – In Elisabet hat Maria eine verläßliche Freundin, diese sagt: "Gesegnet bist du mehr als alle anderen Frauen", Lk 1,42; vgl. Jdt 13,18f! Gottes Segen überwindet auch die Macht des Todes, er ist schöpferisch, schafft die Gemeinschaft der Kreaturen. Jesus am Kreuz zu Maria: "Siehe dein Sohn"; zu dem Jünger, den er liebte: "Siehe, deine Mutter. Und von jener Stunde an nahm sie der Jünger zu sich", Joh 19,26f. Am Ende ist sie in der Gemeinschaft der Jünger, bereit zum Empfang des Heiligen Geistes. "Da kehrten sie nach Jerusalem zurück ... und stiegen in das Obergemach hinauf ... und verharrten einmütig im Gebet mit den Frauen und Maria, der Mutter Jesu, und mit seinen Brüdern", Apg 1,12-14. 4.3 Die Erfüllung der Zeit "Als aber die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau und unter das Gesetz getan...", Gal 4,4. "Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt, und wir haben seine Herrlichkeit geschaut", Joh 1,14. Als die Zeit erfüllt war: Erfüllung der Zeit, der Sendung Israels. Gen 12,3: "Durch dich [Abraham] sollen gesegnet sein alle Geschlechter der Erde". Joh 1,12: "Allen aber, die ihn aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden". Die Gotteskindschaft, Gottes Gabe an sein Volk Israel, kommt zu allen Menschen. Johannes der Täufer nahm es negativ: Sie gehört nicht mehr nur Israel. Mt 3,9: "Aus diesen Steinen da kann Gott dem Abraham Kinder erwecken". Jesus, Jünger des Johannes, nahm es positiv: "Jeder, der den Willen meines Vaters tut, wird in das Himmelreich eingehen", Mt 7,21; vgl. Mk 3,35. – Lk entfaltet in der Kindheitsgeschichte die Parallele Johannes-Jesus. 1,5-23: Verkündigung der Geburt des Täufers – 1,26-38: Verkündigung der Geburt Jesus – 1,57f: Geburt des Täufers – 2,1-1-20: Geburt Jesu – 1,59-66: Beschneidung des Täufers – 2,2132: Beschneidung Jesu – 1,80: Das verborgene Leben des Täufers – 1,39f; 51f: Das verborgene Leben Jesu. Aber darin liegt keine Überbietung Israels, sondern ein neuer Schritt Gottes in der Heilsgeschichte, in dem Israel verherrlicht wird, also zur Erfüllung seiner Sendung kommt: "ein Licht zur Offenbarung für die Heiden und zur Verherrlichung seines Volkes Israel", Lk 2,32 – so stellt er alte Simeon richtig fest. "Unter den vom Weibe Geborenen ist kein Größerer aufgestanden als Johannes der Täufer [denn er hat die Sendung Israels zu den Völkern bereits realisiert] Der Kleinste aber im Himmelreich in größer als er [denn an ihm ist die Sendung in Erfüllung gegangen]", Mt 11,11. Geboren von einer Frau: Bei Paulus ist dies vielleicht nur ein Hinweis auf die Menschlichkeit Jesu, bei Mt aber flammt hier eine prophetische Erwartung auf. "Dies alles aber [sie wird einen Sohn gebären etc.] ist geschehen, damit das Wort des Herrn in Erfüllung gehe ... "Siehe, die Jungfrau wird empfangen und einen Sohn gebären, und man wird ihm den Namen Immanuel geben", das heißt übersetzt: Gott mit uns", Mt 1,22f →Jes 7,14. Jes 7,1-25 ist verheißen: Noch in der Kindheit des Knaben, der von der jungen Frau des künftigen Königs Hiskija geboren werden wird, wird es geschehen, dass Israel vor seinen Feinden bewahrt wird, aber nur unter entsetzlichen Verwüstungen. Die Übriggebliebenen werden zum Hirtendasein zurückkehren, von Milch und Honig leben wie der Knabe selbst. Darin liegt auch eine Kritik am Königtum, dessen Machtkämpfe es zu diesen Kriegen gebracht haben. – Damit nimmt Mt mit Jes 7,14 das ganze Schicksal Jesu vorweg: Gott ist mit uns in den Kämpfen, die vor uns liegen, wir werden bewahrt werden, aber die Machtinstitutionen werden zugrunde gehen (Hinweis auf Zerstörung des Tempels?). Bei Mt folgt die Intrige des Herodes und die Flucht nach Ägypten... Die Bewahrung wird an Maria und Jesus selbst anschaulich! – Die Stelle ist nicht primär auf die Parthenogenese zu beziehen. Jes 7,14 hat hebr. alma=junge Frau; allerdings übersetzt schon die (jüdische) LXX parthenos=Jungfrau; Mt folgt dem - um das Wunderbare und Verheißungsvolle zu betonen? BEN-CHORIN aaO., 42-44, hört hier das hebr. alma noch durchklingen. Es kommt in der Bibel selten vor (sonst immer bethula, Jungfrau), u. a. in Bezug auf Miriam, als sie ihren Bruder Mose rettete, Ex 2,8: Maria, die neue Miriam, die den Retter vor den Machthabern rettet. – Die damit angedeutete herrschafts- und königskritische Tradition liegt auch in der Erwähnung von Betlehem (Mt 2,6f [Befragung der Gelehrten]; 2,17f [Kindermord]; Lk 2,1-5 [wegen des kaiserlichen Erlasses muss die Schwangere nach Betlehem]. Mi 5,1 ist im Zusammenhang von Mi 4 u. 5 eindeutig königskritisch. Aus Betlehem, der Stadt Davids, soll der Herrscher hervorgehen, dessen "Ursprung zurückgeht bis in die Vorzeit, bis in längst entschwundene Tage" (gegen den Militarismus der aktuell Herrschenden gesprochen, vgl. Mi 4,11ff). Mi 5,2 heißt es dann: Wenn die Gebärende geboren hat, wird der Rest seiner Brüder zurückkehren zu den Söhnen Israels. – Jes 7,14 und die Betlehem-Stellen weisen in einen politischen, herrschaftskritischen Erwartungshorizont. Mit gedacht ist auch die Wiederherstellung der Einheit Israels. Dabei ist immer von der Geburt aus der jungen Frau/Jungfrau die Rede: Militarismus und pol. Machterhaltung sind nun einmal Veranstaltungen von Männern; bei den Frauen mag sich dagegen Widerstand erhalten haben. Bereits Rahel, die Stammmutter Israels, hatte um ihre Kinder geweint, die in den Kämpfen der 10 Mächtigen ums Leben gekommen waren, Jer 31,15. Mt 2,18 erinnert das beim Kindermord in Betlehem. Jer 31,1-22 ist ein Trost- und Verheißungstext ganz für die Frauen [unbedingt lesen, wunderbarer Text!]. Den um ihre Nachkommenschaft betrogenen Frauen verspricht Gott Rettung: "...da freut sich die Jungfrau wiederum am Tanz", 31,13. Israel insgesamt wird hier als Jungfrau angesprochen! Auch das nimmt Mt 1,23 auf. Die Tradition hat verstanden: Maria ist die Jungfrau Israel, die von Gewalt bedrohte und von Gott getröstete und gerettete, vgl. BEN-CHORIN aaO. 64. unter das Gesetz getan: Paulus hebt das hervor: Jesus war Jude, Sohn einer jüdischen Mutter. Lk gibt die Einzelheiten: Beschneidung 2,21; Reinigung Marias und Darstellung Jesu im Tempel 2,22-32; Wallfahrt zum Tempel 2,41-50. Zu den Ritualen vgl. BEN-CHORIN aaO. 66-72. Beschneidung ist Aufnahme in den Abrahamsbund, Gen 17,9-14; vgl. auch Ex 4,24-26 [Blutbräutigam]; Jos 5,2-9. Darstellung/Auslösung der Erstgeburt bei Vieh und Mensch ist Zeichen des Eigentumsrechts Gottes an der Schöpfung und Hinweis auf die Verschonung beim Exodus (die Erstgeburt Ägyptens wird geschlagen), Num 18,15. Lk sagt "Darstellung" und nicht "Auslösung", da Jesus nicht verschont wird! Auslösung ist nicht nötig bei Nachkommen der Priester, deshalb wird sie bei Johannes d. T. nicht vorgenommen. Reinigung der Wöchnerin hat vermutlich hygienische Gründe, Lev 12,6-8. Arme Leute brauchten dafür statt des Lammes nur zwei Tauben darzubringen; Jesu Familie war arm. Die Wallfahrt nach Jerusalem war dreimal im Jahr vorgeschrieben; entfernt wohnende Familien machten sie weniger häufig; dazu BEN-CHORIN aaO. 86-90. Fand dort Jesu Bar-Mitzwa statt (Feier der Übernahme der Gesetzesmündigkeit, bei Knaben sonst im 13. Lebensjahr)? Jesus zeigt sich als sehr gelehrt und diskussionsfreudig, Lk 2,46f, aber deswegen ist er noch nicht 'göttlich'. (Im 2. Jhd. galt im Judentum: ein 5jähriger zum Lernen der Bibel, ein 10-jähriger zur Mischna, ein 13-jähriger zu den Geboten, ein 15-jähriger zum Talmud, ein 18-jähriger unter den Trauhimmel, ein 20-jähriger zum Erwerb, vgl Pirke Awot 5,25). Jesus ist ein Schriftgelehrter! Ben-Chorin schließt daraus auf die Bildung seiner Familie, vor allem seiner Mutter, vgl. ebd. 81-86. Zwei ihrer Söhne, Judas und Jakobus, treten später als Verfasser von Briefen im NT hervor. S. auch das "Sie bewahrte alle diese Worte in ihrem Herzen", Lk 2,19; 2,51: Maria war eine Lernende. – Lk akzentuiert die Gesetzesfrömmigkeit der Familie Jesu sehr stark (vor seinen heidenchristlichen Lesern!). Jesus selber sagt später: "Ich bin nicht gekommen, das Gesetz aufzulösen, sondern zu erfüllen", Mt 5,17; "Leichter ist es, dass Himmel und Erde vergehen, als dass vom Gesetz ein einziges Häkchen [Jota] falle", Lk 16,17. Das Wort ist Fleisch geworden. Das Wort Gottes wird Fleisch, wenn es unter uns wohnt und wir seine Herrlichkeit sehen: wenn es gehört, gelernt und getan wird. Daran ist nichts Mythologisches! Christen haben Jesus in diesem Sinne als das fleischgewordene Wort Gottes erkannt. "Meine Speise ist es, den Willen dessen zu tun, der mich gesandt hat", Joh 14,34: das sagt gerade der joh. Jesus sehr oft (vgl. 5,30; 6,38; 12,27; 14,31; 15,10!). Weil das seine Speise ist, kann er das Brot der Welt sein: in der Gemeinschaft mit ihm kommt man mit dem Willen des Vaters überein und damit in die Erfüllung seines Willens. – An dieser Fleischwerdung hat Maria maßgeblichen Anteil. Nicht allein durch ihre biologische Mutterschaft (das bliebe äußerlich), sondern durch ihr "Mir geschehe nach deinem Wort", Lk 1,38. Das ist der Glaube Abrahams, mit dem Gottes Handeln in der Geschichte einsetzt (Gen 15,6: "Er glaubte JHWH, und der rechnete es ihm zur Gerechtigkeit an"), der Glaube, in dem Menschen die Rechtfertigung empfangen und durch den die Gerechtigkeit kommt, Röm 4; Gal 3,6f. Maria hat den Glauben der Gerechten, den Glauben des Alten Bundes, und wird so zur Mutter Jesu. Sie verbindet Israel und Kirche. "Selig bist du, die du geglaubt hast, denn es wird Vollendung finden, was dir vom Herrn gesagt wurde", Lk 1,45. 4.4 Das Magnificat Lk 1,46-55 Lk lässt Maria selber zu Wort kommen. Ihr Magnificat, gesprochen bei der Begegnung mit Elisabet, ist so voller biblischer Bezüge, dass sie hier nicht alle dargestellt werden können eine (eine Übersicht bei MENKE aaO. [wie oben S. 4] 39f). Diesen Text versteht man am besten, wenn man ihn auswendig/inwendig lernt und dann in allen bibl. Texten/Gebeten wiederfindet. Die nächste Parallele ist Hannas Lobgesang 1 Sam 2,1-10 (Das Proto-Ev. Jak. hat Marias Mutter nicht ohne Grund Hanna genannt). Mit Hanna sind alle Frauen des AT, die durch Gott unerwartete Fruchtbarkeit erhielten, in dem Text präsent: Sara (Gen 16,2), Rebecca (Gen 25,21), Rahel (Gen 29,31), die Mutter Simsons (Ri 13,2), Elisabet (Lk 1,7). Marias Loblied ist zugleich erinnernd und prophetisch (dazu F. MUßNER in: Hdb der Marienkunde I, 96f). Die Aoriste (gr. Zeitform) können präsentisch oder futurisch übersetzt werden: Er stürzt die Mächtigen/wird sie stürzen... "Meine Seele preist die Größe des Herrn Eigentlich: sie macht den Herrn groß. Gott muss man und mein Geist jubelt über Gott meinen Retter groß machen durch das Lob; das Loben zeugt für sein Gottsein, er ist darauf angewiesen; vgl. Ex 15,2; Dtn 32,2; Jes 43,12! Denn auf die Niedrigkeit seiner Magd hat er geschaut Marias Erfahrung – die Grunderfahrung Israels – das Siehe von nun an preisen mich selig alle Geschlechter Wesen der Tora. Weil sich Gott an ihr wieder als dieser Gott erweist, wird sie selig gepriesen werden. Denn der Mächtige hat Großes an mir getan Dass der Mächtige auf das Niedrige schaut, ist seine und sein Name ist heilig Größe, darin zeigt sich die Heiligkeit seines Namens, denn das kommt sonst in der Welt nicht vor. 11 Er erbarmt sich von Geschlecht zu Geschlecht Jetzt sieht sie die Einheit der Gottesgeschichte, in der über alle, die ihn fürchten Gott auf die Menschen angewiesen bleibt Er vollbringt mit seinem Arm machtvolle Taten Die Macht, auf Niedrigkeit zu schauen – Hochmut hat Er zerstreut, die im Herzen voll Hochmut sind hier keinen Bestand Er stürzt die Mächtigen vom Thron Erfahrung Israels: Die Mächtigen gehen unter! Von und erhöht die Niedrigen dem Gott, der auf Niedrige schaut, geht Revolution aus Die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben Umverteilung zugunsten der Armen, das Programm der und lässt die Reichen leer ausgehen Tora. Aber das ist ein Konfliktprogramm. Er nimmt sich seines Knechts Israel an und denkt an All das ist nicht selbstverständlich. Es kommt aus der sein Erbarmen, Selbstverpflichtung Gottes im konkreten Bund mit das er unseren Vätern verheißen hat, Israel. Weil Gott sich treu bleibt, liegt darin Abraham und seinen Nachkommen auf ewig." Verheißung für alle, die Kinder Abrahams sein wollen. Das Magnificat aktualisiert die Grunderfahrung des Alten Bundes so, dass sie zur Grundlage Neuen Bundes werden kann, der in Jesus Gestalt annimmt. Denn dieses Programm wird an ihm konkret. Maria verbindet den Alten Bund mit dem Neuen. Sie repräsentiert zugleich Israel und die Kirche, ist die Einheit in der Differenz. 5. Die jungfräuliche Empfängnis 5.1 In den Texten des Neuen Testaments (zum folgenden Lüdemann aaO. zu den Stellen) Nur in den Kindheitsgeschichten von Mt und Lk ist von der jungfräulichen Empfängnis Jesu die Rede. Im Rest ihrer Evangelien bzw. der Apg wird darauf keinen Bezug mehr genommen, auch die anderen Evangelisten wissen nichts davon, ebensowenig die gesamte Briefliteratur. Daraus muss man schließen, dass die Jungfräulichkeit Mariens in der Urkirche keine große Bedeutung hatte. Bei Mt 1,18-25 wird eher beiläufig erwähnt: "Als seine Mutter Maria mit Josef verlobt war [d.h., wie damals üblich, verheiratet, aber noch im Hause ihrer Eltern lebend; sie wird da 12-14 Jahre alt gewesen sein], fand sich, bevor sie zusammengekommen waren, dass sie schwanger war aus heiligen Geist." Josef "gedachte sie heimlich zu entlassen"; bei Ehebruch sah das Gesetz auch schlimmere Strafen vor (vgl. Num 5,11-31; Dtn 22,2327). Der Engel sagt ihm jedoch im Traum: "'Josef, Sohn Davids, fürchte dich nicht, Maria, deine Frau, zu dir zu nehmen, denn das in ihr Gezeugte ist aus heiligem Geist'. Sie wird aber einen Sohn gebären, und du sollst ihm den Namen Jesus geben, denn er wird sein Volk von ihren Sünden retten [Jetzt folgt der Verweis auf Jes 7.14] Josef aber, aus dem Schlaf erwacht, tat, wie der Engel des Herrn ihm befohlen hatte, und nahm seine Frau zu sich. Und er erkannte sie nicht, bis sie einen Sohn geboren hatte, und er gab ihm den Namen Jesus." Die Anrede des Engels an Josef als 'Sohn Davids' – nur an dieser Stelle im NT wird jemand anderes als Jesus so benannt – deutet darauf hin, dass Mt die davidische Abstammung Jesu hervorheben möchte. Auch sein Stammbaum Mt 1,1-17, der mit Abraham beginnt und über David läuft, endet: "Jakob zeugte Josef, den Mann der Maria, aus der gezeugt wurde Jesus, der da heißt Christus." Mt lässt die Spannung zwischen Davidssohnschaft und Empfängnis ohne Zutun Josefs stehen. Lk 1,26-38 erzählt ausführlicher: "(26) Im sechsten Monat [der Schwangerschaft Elisabets] aber wurde der Engel Gabriel [=Gott ist dein Mann] von Gott in eine Stadt Galiläas mit Namen Nazaret gesandt,(27) zu einer Jungfrau, die mit einem Mann mit Namen Josef verlobt war, und der Name der Jungfrau war Maria.(28) Und nachdem er zu ihr eingetreten war, sprach er zu ihr: Sei gegrüßt, Begnadete, der Herr ist mit dir. (29) Sie aber war über das Wort bestürzt, und sie überlegte, was dieser Gruß wohl bedeute. (30) Und der Engel sprach zu ihr: Fürchte dich nicht, Maria, denn du hast Gnade gefunden bei Gott. (31) Und siehe, du wirst schwanger werden und einen Sohn gebären, und du sollst ihm den Namen Jesus geben. (32) Dieser wird groß sein und Sohn des Höchsten genannt werden, und Gott, der Herr, wird ihm den Thron seines Vaters David geben,(33) und er wird über das Haus Jakobs König sein in Ewigkeit, und seiner Königsherrschaft wird kein Ende sein. (34) Maria aber sprach zum Engel: Wie kann dies geschehen, da ich keinen Mann kenne? (35) Und der Engel antwortete und sprach zu ihr: Heiliger Geist wird über dich kommen, und Kraft des Höchsten wird dich überschatten, deshalb wird das erzeugte Heilige Sohn Gottes genannt werden. (36) Und siehe, Elisabet, deine Verwandte, auch sie wurde mit einem Sohn schwanger in ihrem Alter, und dies ist der sechste Monat für sie, die unfruchtbar genannt wird. (37) Denn vor Gott ist kein Ding [REMA= WORT, EREIGNIS, DING] unmöglich.(38) Maria aber sprach: Siehe, ich bin die Magd des Herrn. Mir geschehe nach deinem Worte [=REMA]. Und der Engel ging weg von ihr." Ich halte hier nur fest: – Die Frage Marias in V. 34 ist als Frage einer Jungverheirateten unmotiviert, selbst wenn sie mit Josef noch nicht zusammen war. Ist vielleicht die Erwähnung Josefs in V. 27 später eingefügt, weil Jesus als Sohn Josefs galt und wegen der Davidssohnschaft? Jedenfalls leistet sich auch Lk diese Spannung. Auch der Stammbaum des Lk läuft auf Josef zu, Lk 3,23: "Jesus ... wie man meinte, ein Sohn von Josef, der von Eli..." – Die Antwort des Engels auf Marias Frage ist zweigeteilt. Zunächst antwortet er auf die Frage, warum das Kind 'Sohn des Höchsten' genannt werden wird: "die Kraft des Höchsten wird dich überschatten, deshalb..." (V.35). Für die wunderbare Empfängnis verweist er nur auf das Beispiel Elisabets und spielt zugleich auf die Verheißung der wunderbaren Geburt Isaaks bei der Erscheinung in Mamre an, Gen 18,14: "Ist denn für Jahwe 12 etwas zu wunderbar? Ich werde im nächsten Jahr um diese Zeit wieder zu dir kommen, dann hat Sara einen Sohn." Von einer Empfängnis durch den Heiligen Geist ist nicht die Rede! Jesus wird im NT stets als Sohn Josefs/Sohn des Zimmermanns bezeichnet (Mt 13,55; Lk 3,23; Lk 4,22; Joh 1,45; Joh 6,42). Mit nur einer Ausnahme: Mk 6,3. Die Leute in Nararet nehmen dort Anstoß an ihm: "Woher hat er das? Und was ist das für eine Weisheit, die dem gegeben wurde? ... Ist das nicht der Zimmermann, der Sohn der Maria und ein Bruder des Jakobus, Joses, Judas und Simon? Und sind nicht seine Schwestern hier bei uns?". Im Judentum wurden die Kinder in der Regel nach dem Vater benannt wurden, außer wenn ein Mann Kinder von mehreren Frauen hatte (z.B. Gen 21,9: Sohn der Hagar), und bei nichtehelichen Kindern (Ri 11,1: Jefta, Sohn einer Hure). Ist die polemische Frage der Nazarener, die die Familie Jesu ja gut kennen, ein Hinweis auf die außereheliche Geburt Jesu? – In diese Richtung könnte auch die Erwähnung der vier Frauen im Stammbaum des Mt 1,1-17deuten. Thamar, Rahab, Ruth und Batseba, die Frau des Uria waren nicht nur alle Heidinnen (bzw., wie Batseba, mit einem Heiden verheiratet), sie waren auch alle etwas anrüchig. Will Mt sagen: Obwohl sie einen Makel hatten, stehen sie in der messianischen Genealogie – wie Maria (die Mt als fünfte Frau im Stammbaum erwähnt)? – Passt auch Joh 8,41 hierhin, wo Juden gegen Jesus sagen: "Wir sind nicht aus Unzucht geboren, wir haben einen Vater: Gott." [Zur Frage der Brüder und Schwestern Jesu vgl. J. BLINZLER, AAO.; L. OBERLINNER, AAO.; BEN-CHORIN, AAO. 96-113. Fazit: Es können auch Vettern und Cousinen gemeint sein, oder Kinder aus einer ersten Ehe Josefs.] 5.2 Diskussionslage im 2. Jahrhundert (zum Folgenden Lüdemann aaO. 62-66; 127-131 Vermutlich ausgelöst durch antichristliche Polemik von Juden und Heiden, finden wir im 2. Jhd. eine Diskussion um die Jungfräulichkeit Marias: diese wird zu einem eigenen Thema. Origenes (185-254) fasst in seiner Schrift Contra Celsum dessen Darstellung zusammen (von ca. 178 n. Chr.). Celsus will von einem Juden gehört haben: Maria habe sich mit einem römischen Soldaten namens Panthera eingelassen und sei von ihm geschwängert worden. Von ihrem Ehemann verstoßen, habe sie Jesus irgendwo in der Wildnis geboren. Dieser sei dann nach Ägypten gegangen, habe dort Zauberkünste gelernt und sich nach seiner Rückkehr als Sohn Gottes ausgegeben. [Kenntnis des Mt ist vorauszusetzen; Panthera könnte Verdrehung von Parthenos=Jungfrau sein.]. Solche Gerüchte liefen offenbar um. Im gnostischen Thomas-Evangelium (2. Jhd.) heißt es: "Jesus sagte: Wer Vater und Mutter kennt, man wird ihn 'Sohn der Hure' nennen'" (ThEv 105 – vielleicht zu verstehen wie: Man wird den bösartig Sohn der Hure nennen, der doch seinen Vater und seine Mutter kennt). Das außerkanonische Protoevangelium des Jakobus (ca. Ende des 2. Jhds.) reagiert wohl auf solche Gerüchte, wenn es erzählt: Maria bringt Jesus in einer Höhle zur Welt. Die Hebamme berichtet einer Freundin Salome von dem Wunder der jungfräulichen Geburt. Diese will es nicht glauben, da erlaubt ihr Maria, ihr unversehrtes Jungfernhäutchen zu berühren. Salomes Hand wird zur Strafe für ihren Unglauben von Feuer verzehrt, dann aber von einem Engel wieder geheilt (Protoev 19,3-20,3). 5.3 Religionsgeschichtliche Parallelen? Die in diesem Jahrhundert oft herangezogene Parallele zu den wunderbar gezeugten Göttersöhnen oder zu jungfräulichen Göttinnen überzeugt nicht. Bspw. feierte man in Ägypten zur Wintersonnenwende das Fest des Gottes Aion (=neues Zeitalter), der von der Jungfrau Kore (Fruchtbarkeitsgöttin) jedes Jahr neu geboren wurde; vgl. zum religionsgeschichtlichen Material E. NORDEN, AAO. Aber bei solchen Analogien stimmt vieles nicht: Gott tritt nicht als Ersatzbegatter auf (von einer Begattung durch den Geist ist ja nicht die Rede); Maria ist keine Göttin; es geht nicht um die Vergöttlichung eines Menschen, sondern um die Menschwerdung Gottes; es handelt sich nicht um ein zyklisch wiederkehrendes Geschehen, vgl. MENKE AAO., 83-94. F. MUSSNER, IN: HDB. DER MARIENKUNDE ,AAO., 97: "Die Wortfelder der Verkündigungsperikope bewegen sich exklusiv innerhalb eines semantischen Universums, das durch den überdeutlichen 'Israelhorizont' in ihr bestimmt ist. ... Was in der Jungfrau Maria geschieht, ist nach der Verkündigungsperikope ausschließlich das Schöpfungswerk Gottes, und zwar des Gottes Israels." Das schließt nicht aus, dass gewisse tiefenpsychologische Archetypen (Einheit von Jungfrau und Mutter...) auch im Hintergrund der biblischen Texte stehen. 5.4 Alttestamentliche Vorbilder? Gen 6,1-4 ist von der Paarung der Göttersöhne/Engel mit den Menschentöchtern die Rede, "so daß wir nicht weit zu suchen brauchen, wenn wir in Gabriel selbst die zeugende Gotteskraft erkennen" (BEN-CHORIN ,AAO, 48) [tritt aber denn Gabriel als der Zeugende auf?]. Jungfräulichkeit ist im AT kein Wert und kein Ideal, im Gegenteil: kinderlos zu bleiben bedeutet, sich nicht als Frau zu realisieren. Alle Menschen stehen unter dem Gebot der Fruchtbarkeit. Wenn von der Jungfrau Israel oder der Jungfrau Babylon gesprochen wird, dann stets im negativen Sinn: Unfruchtbarkeit, Ausgeliefertsein an die Männer wie Israel an die Feinde, vgl. Jes 47,1-4; Jer 1,15; 2,13; 18,13; 31,21; Am 5,1; Joel 1,8; dazu MENKE, AAO., 27f; BOFF, AAO., 149). Die typologischen Vorbilder für Maria liegen in den unfruchtbaren Frauen, s.o. 4.4, die durch Gott auf wunderbare Weise zu Nachkommenschaft kommen. Darin liegt: Gott durchbricht den Bann der Natur und schenkt gegen alle Erwartung Leben und Fruchtbarkeit. In Israel war dies durch die Erzmütter, die Mutter 13 Samuels und die Mutter Simsons zu einem Kardinalthema geworden. Der Segen und das Rettende kommen nicht aus der Natur. 5.5 Ausgewählte Deutungen der Jungfräulichkeit Mariens Gerd Lüdemann: Er weist zu Recht darauf hin, dass heute die meisten Theologen um das Thema herum reden und sich auf symbolisch-metaphorische Deutungen zurückziehen (15-17: Beispiele). Man nehme das Dogma, an dem doch offiziell festzuhalten ist, nicht mehr beim Wort (man nehme nur noch die Dogmen beim Wort, mit denen sich moderne Menschen identifizieren können). Er selbst glaubt, dass Maria vergewaltigt worden ist – ein sexuelles Abenteuer hält er bei der 12-14jährigen nicht für wahrscheinlich. Die Christen seien dann den Gerüchten über die Herkunft Jesu mit der Behauptung von der jungfräulichen Empfängnis entgegengetreten, die im übrigen gut zu hellenistisch-heidnischen Vorstellungen passte, vgl. 76-81; 129f. Aus der feministischen Theologie: Kersti Geiseler glaubt an Panthera und eine uneheliche Geburt. Darin sieht sie eine Heilsaussage: "...auch in einer unehelichen Geburt ist Gott am Werke. Was bei vielen Menschen als Schande gilt, ist göttliche Heilstat. Dies ist die Botschaft" (38). [Dann lasset uns viele Heilstaten vollbringen!?]. Als Symbol steht Jungfräulichkeit für sexuelle Autonomie, befreite Sinnlichkeit und Erotik. "Maria ist eine autonome Frau und Mutter, die sich keinen Männern unterwirft" (67). "Als junges Mädchen hat sie schrittweise ihren weiblichen Körper entdeckt, die Lust der Berührung und die sinnliche Erregung. ... Vor allem hat sie im Erleben ihrer Sexualität intensive Lust und tiefe Befriedigung erlebt" (97). In diesem Sinne auch bereits CHR. MULACK, AAO. – Klara Butting und Phyllis Trible deuten die Jungfräulichkeit innerbiblisch als neuen Exodus aus patriarchalen Verhältnissen. Es geht wie bei Sulammit im Hohenlied um Befreiung von Vaterhaus und Vorurteilen, um freies Zusammensein von Mann und Frau in einer befreiten Welt, dazu LYDIA BENDEL-MAIDL, AAO., 54-56. – Dagegen sieht Mary Daly die Verkündigung an Maria als eine Art übernatürlicher Vergewaltigung, der Maria auch noch zustimmt: 'Mir geschehe nach deinem Worte' – eine Männerphantasie; dazu REGINA RADLBECK-OSSMANN, AAO., 438-441. – Die brasilianischen Theologinnen Ivone Gebara und Maria Clara Lucchetti-Bingemer sehen die Ursache der Erbsünde wirklich in der Körperlichkeit der Frau und interpretieren Junfräulichkeit, Immaculata und Ascensio als Befreiung der Frau vom Makel/Zwang ihrer Körperlichkeit [! – eine brasilianische Perspektive!], vgl. RADLBECK-OSSMANN, aaO., 449-451. Der Anthroposoph Michael Debus gibt folgende Deutung: Maria war eine junge, unschuldige Seele (im Sinne der Reinkarnation). Sie erlebte die Empfängnis wie Fort-pflanzung, nicht wie Fort-tierung. D.h. die Sexualität (die Lust bzw. der Egoismus der Sexualität) spielte dabei keine Rolle, deshalb gab sie auch die "Sündenkrankheit" nicht an Jesus weiter. Vgl. M. DEBUS, AAO. Leonardo Boff versteht die Empfängnis durch den Geist als Vergöttlichung des Weiblichen [!]. "Die Jungfrau Maria ... realisiert auf absolute und eschatologische Weise das Weibliche, weil der Heilige Geist sie sich zum Tempel, zum Heiligtum und zum Tabernakel gemacht hat, und zwar auf eine so reale und wahre Weise, daß sie als hypostatisch mit der dritten Person der Dreifaltigkeit verbunden gelten muß" (106) – so wie Jesus mit der zweiten Person. So gäbe es also zwei Inkarnationen: des göttlichen Sohnes in Jesus und des heiligen Geistes in Maria; die erste vergöttlicht das Männliche, die zweite das Weibliche. Maria offenbart das Weibliche Gottes. "Der Geist, der das ewig Weibliche ist, verbindet sich mit dem geschaffenen Weiblichen" (115) [Ich halte dies für Phantasien eines Ordensmanns, dem des beschieden ist, unter den reizenden Töchtern Brasiliens zu leben. Dagegen steht Lk 1,35: "Daher wird auch das Kind heilig und Sohn Gottes genannt werden" – nicht die Mutter.] Vgl. L. BOFF, AAO., 103-117. Karl Barth steht zum Glauben an die jungfräuliche Empfängnis! Sie ist ein Wunder, das sich vom Wunder der Auferstehung her erschließt. Nur das Wunder begründet das Wunder. Er argumentiert: Mit der Sache der Offenbarung (Gott wird Mensch) ist uns auch die Form gegeben; es steht nicht in unserer Verfügung, die Form von der Sache zu trennen. Es verhält sich wie Mk 2,10f (Heilung des Gelähmten): "Damit ihr aber wisst, dass der Menschensohn die Macht hat, Sünden zu vergeben – sprach er zu dem Gelähmten: Steh auf, nimm dein Bett und geh": das Sichtbare verweist auf das Unsichtbare. Für Barth ist der Glaube an die Jungfräulichkeit das Leichtere im Verhältnis zum Glauben an die Menschwerdung Gottes. Er hebt hervor: Die Empfängnis Jesu geschieht als freie Schöpfungstat Gottes ohne menschliche Mitwirkung. Jesus kommt aus der Freiheit Gottes; creatio ex nihilo und natus ex Maria virgine entsprechen sich. Jesus hat keinen Vater, Gott vertritt nicht die menschliche Vaterrolle. Aber er hat eine Mutter, denn Gott will sich einen menschlichen Ursprung geben. – "Katholisch" ist es, wenn man das 'Fiat' Mariens als Mitwirkung zum Heile ausgibt. Dann gelangt man direkt zur Unfehlbarkeit des Papstes... Vgl. K. BARTH, AAO., 124-132. Karl Rahner hält es grundsätzlich für möglich, dass Josef der menschliche Vater Jesu gewesen sein könnte. Das würde dem Glauben an die Inkarnation keinen Abbruch tun. Nur das Zeugnis der Schrift und die Tradition der Kirche stehen für die Jungfräulichkeit. Er gibt aber zu bedenken: Wenn Jesus ganz Mensch ist und doch anders Mensch ist als alle anderen, dann muss er auch anders geworden sein, denn das Werden und das Gewordene entsprechen einander. Jesu Werden bedeutet einen schöpferischen Neuanfang in der Geschichte, und darauf verweist symbolisch die Jungfrauengeburt. Rahner hat aber an der faktischen Jungfräulichkeit expressis verbis immer festgehalten. Vgl. K. RAHNER, DOGMATISCHE BEMERKUNGEN ZUR JUNGFRAUENGEBURT, IN: K. S. FRANK (HG.), ZUM THEMA JUNGFRAUENGEBURT,AAO., 122-158. Der Bonner Dogmatiker Karl-Heinz Menke hat die jüngste kath. Arbeit zum Thema vorgelegt. Für ihn ist die Parthenogenese unausweichliche Konsequenz des Glaubens an die Menschwerdung Gottes. Gottes Sohn 14 wird Mensch=die innertrinitarische Relation des Sohnes zum Vater wird zum Konstitutivum einer menschlichen Person. Hier wird ein (Gott-) Mensch neu geschaffen, es wird nicht nur eine schon bestehende menschliche Person zum Sohn Gottes adoptiert. Gottes "Selbst-Mitteilung erfolgt nicht an einem schon bestehenden Menschen, nein, diese seine Selbst-Mitteilung ist Konstitutivum der Menschwerdung als solcher. Anders gesagt: Die Parthenogenesis ist der biologische Ausdruck der nicht nur indirekten (instrumentellen), sondern direkten Fleischwerdung" (69). [Denkt Menke, dass die göttliche Vaterschaft in Konkurrenz zur menschlichen Vaterschaft steht? Wenn Gott sich in einer Frau inkarnieren konnte, warum dann nicht auch durch Mann und Frau?] Menke unterscheidet Sach- und Erkenntnisgrund: Sachgrund des Glaubens an die Parthenogenese ist die Inkarnation. Dies wurde aber erst später erkannt, deshalb wissen die frühen Schriften des NT nichts von ihr. Vgl. MENKE, A.A.O, 64-69; 95-105. 5.6 Ein Lösungsvorschlag Historische Rekonstruktion: Jesu Herkunft war unklar, man wusste nicht, wer sein Vater war. In Nazaret wusste man wohl genau, dass der nicht der leibliche Sohn Josefs war; vgl. oben zu Mk 6,3. So gab es nur drei Möglichkeiten: außereheliches Verhältnis – Vergewaltigung – wunderbare Empfängnis ohne Zutun eines Mannes. Die Christen/Evangelisten entschieden sich für Letzteres, nicht nur, um den bösen Gerüchten entgegenzutreten, sondern weil ihnen dies in ihrem biblischen Wirklichkeitsverständnis am plausibelsten erschien [mir auch!]. Sie wussten ja von Sara, Rebecca, Rahel usw. her: "Bei Gott ist kein Ding unmöglich", Lk 1,36. Wenn Maria keine Jungfrau war, dann war Sara auch nicht unfruchtbar! Dann wäre es überhaupt nichts mit der Kraft der Verheißung, die über die Natur triumphiert, dann hätte Abraham nur aufgrund eines Irrtums geglaubt, und Gott hätte ihm das zur Gerechtigkeit angerechnet, vgl Gen 15,6?! Theologische Bedeutung: Lk 1,26-38 trennt wie gesagt deutlich zwischen dem Wirken des Geistes an Maria und der jungfräulichen Empfängnis. Der Geist bewirkt, dass "das erzeugte Heilige Sohn Gottes genannt werden wird". Bei Mt 1,20-23 bewirkt der Geist, dass das Kind die Verheißung von Jes 7,14 wahr werden lässt: Immanuel/Gott mit uns, das wird wahr; das Kind wird sein Volk von den Sünden erlösen. Für das Wunder der Empfängnis aber wird der Geist nicht herangezogen, sondern nur das Beispiel der Elisabet und die darin enthaltene allgemein biblische Einsicht, dass bei Gott kein Ding unmöglich ist. Von einer Empfängnis durch den Heiligen Geist ist also gar nicht die Rede (Man beachte Mt 1,18 u. 20: ek pnéumatos hagíou=aus heiligem Geist – nicht durch). Daraus folgt: Die jungfräuliche Empfängnis hat nichts mit der Inkarnation zu tun! Inkarnation kann man auch ohne Jungfräulichkeit denken – aber die Frage der Herkunft Jesu kann man ohne sie schwer erklären. Auch bei der wunderbaren Empfängnis der unfruchtbaren Elisabet wirkt der Geist nicht mit; sie geschieht genau wie bei Maria nur auf das Wort des Engels hin, vgl. Lk 1,18-25. Die Jungfräulichkeit Mariens ist nicht wunderbarer als die Geburten von Sara und den anderen. Wenn diese Überlegungen richtig sind, dann sind die meisten der genannten theologischen Deutungsversuche hinfällig. Weder steht, wie Lüdemann meint, das Bekenntnis zur Jungfräulichkeit im Zentrum des Glaubens an den Gottessohn Christus, noch schließt, wie Menke meint, der Glaube an die Inkarnation den Glauben an die Jungfräulichkeit notwendig ein. Boffs Erklärung ist ohnehin Unfug, denn die jungfräuliche Empfängnis macht Maria nicht göttlich. Auch Barth verknüpft die Menschwerdung Gottes unlöslich mit der Jungfräulichkeit, deswegen muss er den Wundercharakter sehr hoch veranschlagen ("creatio ex nihilo"). Das ist m.E. gar nicht notwendig. Andernfalls müsste man auch jede wunderbare Geburt im AT in diese Kategorie einordnen (auch der Mutter Simsons usw.); auf diese Idee ist aber noch niemand gekommen. Rahner hat m.E. richtig gesehen, dass die Inkarnation nicht an der Parthenogenese hängt, doch würde ich die Jungfräulichkeit anders als er weniger auf den Neuanfang – dafür steht das Wirken des Geistes, der den Sohn Gottes hervorbringt – als vielmehr auf die Kontinuität zu den Müttern Israels hin auslegen. – Die feministischen Deutungen sind von diesen Überlegungen nicht betroffen. Indem die Evangelisten im Streit im Jesu Herkunft für die Erklärung 'jungfräuliche Empfängnis' plädierten, konnten sie zugleich die Kontinuität des Geschehens an Maria mit der Erzmütter-Tradition zum Ausdruck bringen. Maria ist die neue Sara, Rebecca, Rahel... Daran erkennt man in Israel Gottes verheißungsvolles Tun, dass er Frauen, die biologisch keine Kinder bekommen können, zu Nachkommenschaft verhilft. Gott schafft Leben auch über die Möglichkeiten der Natur hinaus, daran erkennt man ihn immer wieder. 15 Nicht ausschließen will ich, dass sich an diesen Erinnerungen eine spezifische Frauen-Spiritualität in Israel festgemacht hat, die Gottes Handeln dem Tun der Männer und ihrer Herrschaft über die Frauen entgegengesetzt hat. Vgl. Joh 1,12f: "...die nicht aus dem Willen des Fleisches noch aus dem Willen des Mannes, sondern aus Gott geboren sind." Und darin liegt ja auch eine Umwertung der Sexualität. Vielleicht waren es wirklich Frauen, die die Überlieferung von der jungfräulichen Empfängnis in den Gemeinden befördert haben, weil sie darin etwas von der befreienden Kraft des Glaubens aussagen konnten (Auch die Geschichte vom Besuch Marias bei Elisabet Lk 1,39-45 zeigt ja die Spuren fraulicher Überlieferung). Die feministischen Deutungen sehen hier womöglich etwas Richtiges; s. o. zu Butting/Trible/Gebara/Lucchetti-Bingemer. 5.7 Motive für die weitere Entwicklung Das Thema Jungfrauengeburt wurde schon bald in der Kirche sehr wichtig. Bereits frühe Glaubensbekenntnisse betonen den biologischen Sinn: Jesus wurde "ohne männlichen Samen" (sine semine virili) gezeugt, vgl. DH 62; DH 63, DH 189; DH 572 usw. Das "geboren aus der Jungfrau Maria" findet sich in allen Glaubensbekenntnissen (vgl., auch zum folgenden, MENKE, AAO., 72-82). Die Karriere des Themas ist erstaunlich. Als Gründe lassen sich erkennen: • der antidoketische Sinn: Jesus wurde wirklich von einer Frau geboren, es hat reale Fleischwerdung stattgefunden. (Eine normale Geburt kam im gnostisch-doketischen Umkreis für eine göttlichen Heilsbringer nicht in Frage). • die Verbindung mit dem asketischen Virginitätsideal, das vor allem vom (weiblichen und männlichen) Mönchtum in der Alten Kirche gefördert wurde. (Aber darin liegt noch keine Leibfeindlichkeit, denn Jungfräulichkeit hatte bei den frühen Mönchen einen gesellschaftskritischen, politischen Sinn: Protest gegen die Verzweckung des Körpers zur Fortpflanzung – um dem Reich Soldaten bzw. der bösen Welt Menschenmaterial zu liefern – und die darin liegende Unfreiheit. Vgl. zu diesem wichtigen Komplex P. BROWN, DIE KEUSCHHEIT DER ENGEL, AAO. – ein spannendes und lesenswertes Buch, das viele Vorurteile beseitigt!) • die Verbindung mit der platonisch-gnostischen Leibfeindlichkeit: Sexualität als Befleckung und als Raum materieller, tierischer Gelüste, davon war Maria frei. (Dieses Motiv war mit dem letztgenannten immer verflochten, bekam aber spätestens seit Augustinus die Oberhand. Vgl. auch dazu BROWN, AAO.) • die Verbindung mit dem Dogma von der Gottessohnschaft Jesu Christi. In den dogmatischen Kämpfen von Nizäa (325: Jesus ist eines Wesens mit dem Vater) bis Ephesus (431: Maria ist Gottesgebärerin) wurde die Parthenogenese immer stärker als Beleg dafür herangezogen, dass Gott der Vater Jesu ist. Zugleich damit kam es zu einer Aufwertung Marias als Gottesmutter (vgl. unten 7.). • die Verbindung mit dem Erbsündendogma. Wenn, wie Augustinus lehrte, die Erbsünde durch die sexuelle Vereinigung von Mann und Frau übertragen wird, dann konnte Jesus nicht auf diese Weise gezeugt worden sein, denn er ist ohne Sünde. Durch die Kombination dieser Motive bekam die Jungfräulichkeit Mariens in der Kirche eine Bedeutung, die sie biblisch gar nicht hat. Das Mittelalter hat dann über die Jungfräulichkeit Marias "vor, während und nach der Geburt" (ante partem, in partu, post partem) spekuliert. Der asketisch-leibfeindliche Sinn hat sich mehr und mehr nach vorne gedrängt. Merke aber: Dass Maria sexuell unberührt war und dass darin ein besonderer Wert liegen soll, ist nicht Gegenstand des Glaubens. Das biblische Zeugnis von der jungfräulichen Empfängnis Jesu soll uns helfen, Person und Werk Jesu besser zu verstehen. Nur in dieser Funktion kommt es in den Glaubensbekenntnisses vor. Wo die überlieferte Gestalt dieses Glaubenssatzes den Glauben an Jesus schwieriger macht, ist er neu und anders zu deuten (Das habe ich in diesem Abschnitt versucht). 6. Maria in der feministischen Theologie In der feministischen Theologie findet man heute das intensivste Nachdenken über Maria. Der Abschnitt erscheint hier in der Vorlesung, weil er gut an 5. anschließt und aktuelle Fragestellungen vorführt, von denen aus wir die Tradition (7.) besichtigen können. Einen guten Überblick zur fem. Theol. bietet: L. SCHOTTROFF/SILVIA SCHROER/MARIE-THERES WACKER, AAO. 6.1 Typen feministischer Mariologie REGINA RADLBECK-OSSMANN , AAO., 438-465) unterscheidet vier Typen, die in etwa auch eine chronologische Abfolge ergeben: 1. Maria als von der Männerkirche entworfenes, unterdrückerisches Idealbild der Frau. – Maria, eine kraftlose, unselbständige Frau, an der ihr Gehorsam gerühmt wird. Darin ist sie Gegenbild zur ungehorsamen Eva – und dann auch, erblickt man in Eva die sexuelle Verführerin, in ihrer Enthaltsamkeit. So werden Frauen ihrem eigenen Körper entfremdet. – Das "Mir geschehe nach deinem Worte" ist generell Codewort zur Unterordnung der Frauen unter männliche Herrschaft; hier hat sich das Patriarchat eine Idealfigur der Frau geschaffen. (Rosemary Radford Ruether, Catherina Halkes) 2. Maria, der Mythos vom weiblichen Göttlichen/Maria, die geheime Göttin im Christentum – Maria hat die alten heidnischen Mutter- und Jungfrauengöttinnen auf sich gezogen. Sie repräsentiert die Wahrheit der alten matriarchalen Religionen gegenüber dem jüdisch-christlichen Patriarchat (Achtung: das ist immer auch antijüdisch. Dann wird der christliche Liebesgott dem jüdischen Rachegott bzw. Jesu Frauenfreundlichkeit 16 3. 4. 6.2 der jüdischen Frauenverachtung seiner Zeit entgegengesetzt. Dazu LEONORE SIEGELE-WENSCHKEWITZ: AAO.; darin besonders die Beiträge von SUSANNAH HESCHEL und MARIE-THERES WACKER; ELISABETH SCHÜSSLER FIORENZA: AAO.). Häufig Rekurs auf C. G. Jung: Es braucht eine weibliche Repräsentation im Gottesbild. (Christa Mulack/Maria Kassel/Marina Warner/Elga Sorge/Ursa Krattinger/ s.o. 3.5 zu Kersti Geiseler) Maria als Symbol der Befreiung – Ansatz beim Magnifikat. Rosemary Radford Ruether: Maria nicht Symbol des Weiblichen, sondern des vollkommenen, nicht von der Sünde zerstörten Menschen, Vorbild für Mann und Frau. Jungfräulichkeit als Überwindung des Sexismus. Catherina Halkes: auch sie insistiert nicht auf der Weiblichkeit oder auf den biologischen Dimensionen von Jungfräulichkeit und Mutterschaft. Maria ist ein ganzer Mensch, der eigenständig liebte und anderen Eigenständigkeit ermöglichte. Zu Ivone Gebara und Maria Clara Lucchetti-Bingemer s.o. 5.5; zu Dorothee Sölle s.o. 3.9. – Zu ergänzen ist noch der Standpunkt von Kersti Geiseler: Die Vorzüglichkeit Marias liegt allgemein im "weiblichen Brutpflegeverhalten" begründet. Biologisch (vergleichende Verhaltensforschung) gilt ja: Männer neigen zu Aggression und Gewalt, Frauen zu Liebe und Zärtlichkeit. Daraus folgt: "Frauen und nicht Männer sind die 'Erlöserinnen' aus der Welt des Bösen, der Zerstörung, des Hasses, der Rache und des Krieges" (39). Frauen haben die Liebesfähigkeit in die Kultur gebracht [die biologische Lösung eines theologischen Problems]. Speziell für Maria gilt: "Wenn Jesus von Nazareth ein besonders liebesfähiger Mann war [...], dann hat er seine Liebesfähigkeit von seiner Mutter bekommen. [...] Insofern ist Maria Erlöserin und Miterlöserin ihres Sohnes. Sie hat vor ihrem Sohn geliebt und ihm 'Brutpflege' angedeihen lassen." (40). Maria ist eine korporative Person, "die für alle liebesfähigen Frauen in der menschlichen Kulturgeschichte steht; für eine Entwicklungszeit von ca. 3,5 Millionen Jahren. Dies gibt der Marienverehrung unserer Kultur eine ganz neuen Sinn". (ebd.) Maria – Schwester im Glauben – Maria, befreit von dogmatischen und frömmigkeitsgeschichtlichen Übermalungen, wieder als die schlichte Frau des Neuen Testaments kennenlernen, in ihren Stärken und Schwächen. Nicht Vorbild für Frauen, sondern Schwester, zusammen mit den anderen Frauengestalten in der Bibel, die von Maria nicht überstrahlt werden dürfen. So die Mehrheit der heutigen feministischen Theologinnen (z.B. Elisabeth Moltmann-Wendel/Marianne Dirks/Elisabeth Gössmann/Anne E.Carr/Maria de Groot/Annemarie Ohler) Die Position von Kari Elisabeth Børresen: struktureller Androzentrismus Zum Folgenden: K. E. BØRRESEN, AAO. Auf diesen älteren Artikel wird immer wieder verwiesen, und auch ich halte ihn für die gehaltvollste Darstellung aus Sicht einer Frau, die ich kenne. Die norwegische katholische Theologin, geb. 1932, argumentiert in solider Kenntnis der theologischen Tradition: Den theologischen Aussagen über Maria liegt ein struktureller Androzentrismus zugrunde, der sie für heute weitgehend unbrauchbar macht. Sie zeigt das an den zentralen Themen der Lehre über Maria: • als Gottesgebärerin (Theotókos/Dei genitrix/Deipara/mater Dei) ist Maria als nur physisches Werkzeug für die menschliche Natur Jesu gedacht. Die Person des Gottessohnes kommt allein von Gott. Dies spiegelt die frühere Überzeugung, dass ein Mensch allein aus dem Samen des Mannes hervorgeht, der in der Frau aufwächst. Würde man aber das moderne Wissen zugrunde legen (ein Mensch entsteht aus Eizelle und Samen) und zugleich an dem Titel Gottesgebärerin festhalten, würde Maria auch zur Mutter des Göttlichen in Jesus, und damit selbst vergöttlicht. Diese "Heilsgynäkologie" führt aber auf Abwege (wie sie im 19. Jhd., unter Einflluss der neuen naturwissenschaftlichen Erkenntnisse, schon begangen worden sind. Da wurde Maria zur Miterlöserin und Mittlerin). Also ist mit dem Titel Gottesgebärerin nichts mehr anzufangen. • Die traditionelle Typologie Adam – Christus/Eva – Maria bzw. Kirche lässt für die menschliche Seite nur die untergeordnete, passive Rolle übrig. Wenn Christus der neue Adam ist, der die Erlösung bringt, dann ist Maria bzw. die Kirche (diese Ineinssetzung findet sich schon ab dem 2. Jhd.) nur seine Gehilfin, wie es Eva für Adam war. In dieser traditionellen Typologie, die Grundlage der marianischen Ekklesiologie ist, schlägt noch einmal das androzentrische Verständnis durch: der Mann als der aktive Teil, die Frau als passiver, helfender Teil. Die Analogie ist die Unterordnung der Frau, die durch die Theologie dann wieder gestützt wird. Børresen deshalb: "Das Thema von der neuen Eva ist als geschichtsgebundene menschliche Wortgestalt fortan überholt. Seine anachronistische Verwendung ist sogar schädlich, und dies in dem Maße, wie sie dazu dient, die kirchliche Androzentrik am Leben zu erhalten" (635). • Das Dogma von der unbefleckten Empfängnis (von 1854, das Thema ist aber seit Augustinus präsent) beruht auf der Annahme, die Übertragung des Erbgutes incl. der Erbsünde geschehe allein durch den männlichen Samen. Das Dogma von der leiblichen Aufnahme in den Himmel (1950) beruht auf der platonischen Idee der Unsterblichkeit der Seele (gemäßdem Dogma ist Marias Leib gleich nach ihrem Tod wieder mit der Seele vereinigt worden, um den Zerfall zu verhindern), die heute nicht mehr zu halten ist. Børresen: "Die beiden dogmatischen Formulierungen gründen ebenfalls auf fortan hinfälligen anthropologischen Voraussetzungen. Ich vertrete die These, daß diese Formulierungen ihren Sinn verlieren und buchstäblich unverständlich werden, sobald ihre Aprioris nicht mehr festgehalten werden" (637). Dies betrifft zwar nicht den Androzentrismus, aber doch die 'maximalistische Mariologie' (=Maria hat ganz besondere Privilegien vor den anderen Christen), die sich in diesen Dogmen manifestiert. Sie muss heute aufgegeben werden. 17 Børresen registriert zustimmend, dass das Vatikanum II die Mariologie auf ein minimalistisches Maß zurückgefahren hat, wenn auch nicht ganz konsequent. In der Zeit nach dem Konzil sieht sie hingegen ein Wiederaufleben der maximalistischen Mariologie in manchen päpstlichen Äußerungen. Neubelebungen der Mariologie steht sie kritisch gegenüber: Maria als Gestalt der Befreiung (in der Befreiungstheologie) verdeckt, dass "Christus der Befreier ist und nicht Maria" (638); Maria als Vorbild der Frauenbewegung bleibt ambivalent, da dieser Ansatz die androzentrischen Widersprüche (= das geschlechtsspezifische Denken der Tradition) entweder nicht wahrhaben will oder dazu in negativer Abhängigkeit verbleibt; Maria als weibliche Dimension Gottes bzw. als Göttin nimmt problematische Züge der Volksfrömmigkeit auf und "entfernt sich von der gesunden Lehre", wenn es auch richtig ist, dass "Gott auch weibliche Züge tragen" kann und man "in der Theologie als menschlicher Aussageform sowohl männliche als auch weibliche Aussagen über Gott machen" sollte (638). Børresen plädiert für eine Rückführung der Mariologie auf die Christologie. Aber ihre Kritik an der traditionellen Theologie ist sehr grundlegend: "Die androzentrischen Voraussetzungen der großen ökumenischen Konzilien sind unbrauchbar geworden, um unseren Glauben an die Dreifaltigkeit und die Menschwerdung des Sohnes Gottes ins Wort zu bringen" [das bedeutet die Revision der grundlegenden altkirchlichen Dogmen!]. Das Göttliche sollte überhaupt nicht mehr in männlichen Metaphern zum Ausdruck gebracht werden. "Der Zusammenbruch der Vaterherrschaft bedeutet für die grundlegende Androzentrik der katholischen Lehre eine Herausforderung; wir brauchen eine neue Theologie" (639). [Mir gefällt an Børresens Kritik, dass sie radikal innertheologisch und gerade deswegen radikal ist. In der Tat müssen wir Theologen dem Verdacht nachgehen, dass sich alle Aussagen der Theologie aus der Analogie zu gesellschaftlich-politischen Machtverhältnissen speisen, und das heißt immer auch: zu androzentrischen. Mein Buch über den verwechselbaren Gott ist nur auf diesen Verdacht hin entstanden und hat ihn bestätigt gefunden. Was heißt das für heute? Nicht nur unsere Ahnen waren vielleicht verblendet. Mit welchen Analogien sprechen wir über Gott, Jesus und Maria? Feministische Theologinnen (wie K. Geiseler), die einfach gängige Ideale von Weiblichkeit und Erotik auf Maria projizieren, machen den gleichen Fehler, den Børresen den Früheren mit Recht vorhält.] 6.3 Lesefrüchte aus der "Schlangenbrut" Beim Durchsehen der Jahrgänge der "Schlangenbrut. Zeitschrift für feministisch und religiös interessierte frauen" ab 1993 stelle ich fest, dass es kaum etwas zu Maria gibt. Ist Maria in der Szene nicht präsent? Zwei Ausnahmen: ANNE-CLAIRE MULDER (NIJMEGEN):AAO.: Joh spricht von Fleischwerdung, ohne die Mutter zu erwähnen. Das Wort wird Fleisch allein durch die göttliche/männliche Macht. Damit erweist sich der Johannes-Prolog als ein "patriarchalischer, phallozentrischer Mythos", der die Mutter auslöscht und im Dienste der Überwindung des Matriarchats durch das Patriarchat steht. UTE KIRSCHBAUER: AAO.: Maria bezeichnet sich als "Sklavin" (Lk 1,38) und gebraucht damit den Ausdruck (hebr. Schipcha=die Ausgeschüttende oder die Ausgeschüttete) für die tiefste Stufe, die eine Frau in der hebräischen Gesellschaft annehmen konnte. Sie stand sogar noch unter der Verfügungsgewalt anderer, ebenfalls abhängiger Frauen (wie Hagar zu Sara). Die Begegnung mit Elisabet bricht dieses Schema auf; Elisabet behandelt Maria nicht so wie Sara Hagar behandelt hat. Und mit Blick auf Apg 2,18 ("...und auf meine Sklavinnen werde ich in jenen Tagen meine Geist ausschütten") wird klar: "Der Geist Gottes wird ausgeschüttet über die Ausschüttenden, und die Niedrigkeit der Sklavin korrespondiert mit der Erniedrigung Gottes. [...] Die patriarchale Unterordnung wird aufgehoben in eine gegenseitige Abhängigkeit des wertschaffenden Anvertrauens und bewegt sich hin zur Verbindung göttlichen und weiblichen Handelns in der Tätigkeit des Ausschüttens. Jetzt kann das patriarchale Denken durchbrochen werden: Die Festschreibung des Gegeneinanders von Frauen, die schütten und geschüttet werden [die Autorin bringt weitere Beispiele dazu aus der Bibel], ihre Über- und Unterordnung wird aufgehoben durch die Vision eines geistvollen Miteinanders derer, über die der Geist Gottes ausgeschüttet wird." [Das sind sehr feine Beobachtungen aus dem Geist des literary criticism.] 7. Maria in der kirchlichen Theologie und Frömmigkeit. Die marianischen Dogmen Hier nicht mehr als ein kurzer Überblick, der zeigen soll, in welcher Vielgestaltigkeit sich die Verehrung Mariens und das theologische Denken über sie gestaltete. Lit.: STEFANO DE FIORES: AAO., 99-266; WOLFGANG BEINERT: AAO.; ferner die Texte in TZT. 7.1 Frühe Christenheit und Kirchenväter Zu Anfang zwei Typen der Mariologie: 1. judenchristlich – die Geschichte Marias wird midraschartig weitererzählt (Protoevangelium des Jakobus, vgl. oben 5.2; Apokryphen über Geburt und Entschlafung/Übergang Marias). Themen: Maria, die Jungfrau und Mutter, die Ersterlöste und in Ewigkeit Gesegnete. Diese Literatur lässt auf wachsende Marienverehrung schließen. 2. hellenistisch-gnostischweisheitlich – vom Erlösungsdenken geprägt, reflektiert auf die Stellung Marias im Heilsplan: Maria, die neue Eva und die heilige Gottesgebärerin, verehrt und im Gebet angerufen. Irenäus (+202), Adversus haereses III;24,4: "So fand auch der Knoten des Ungehorsams Evas seine Auflösung durch den Gehorsam Marias. Denn was die Jungfrau Eva durch ihren Unglauben gebunden hat, das hat die Jungfrau Maria durch ihren Glauben 18 gelöst." [Ein Bewusstsein von der systemischen Verflechtung des Bösen! Maria löst durch ihren Tora-Gehorsam den Knoten wieder auf. Daraus das spätere Bildmotiv der Knotenlöserin, vgl. BENEDIKTA HINTERSBERGER, AAO. – Die Gefahr dieses Bildes: Maria habe durch ihre Keuschheit die Sünde Evas besiegt, s.o. 6.1.,1.]. Wichtig auch: Maria als Gefäß der Inkarnation. Das ist antidoketisch gemeint (s.o. 5.7) und auch kenotisch (=Selbstentäußerung Gottes in der Menschwerdung). So Ephräm der Syrer (+373), Hymnen über die Menschwerdung 11,7: "Die Ordnungen verkehrte der Schoß deiner Mutter. Der Schöpfer des Alls trat als Reicher ein und kam hervor als Bettler. Der Hohe trat ein und kam hervor als Niedriger." Das Dogma des Konzils von Ephesus (431). Das Konzil vermittelte in einem heftigen Streit zwischen der antiochenischen und der alexandrinischen Schule in der Christologie (s. dazu Skript Christologie, WS 98/99). Wenn Christus eines Wesens mit dem Vater ist (Nizäa!), dann muss seine menschliche Natur in Einheit mit der göttlichen gedacht werden, dann ist Maria Theotokos/Gottesgebärerin – so Cyrill von Alexandrien (+444), der Vertreter der Alexandriner. Der Antiochener Nestorius (+451) hielt diesen Titel im heidnischen Kontext für zweideutig. Er dachte sich die Gemeinschaft der Naturen als gegenseitige Durchdringung unter Wahrung ihrer Eigenständigkeit (die göttliche Natur bleibt z.B. nicht-leidensfähig, leidensfähig ist nur die Natur des Leibes). Nach turbulentem Verlauf (Cyrill eröffnete das Konzil vor Eintreffen der syrisch-antiochenischen Bischöfe) dogmatisierte das Konzil folgenden Ausschnitt aus einem Brief des Cyrill: "Denn es ist nicht so, dass zuerst ein gewöhnlicher Mensch aus der heiligen Jungfrau geboren wurde und erst dann das Wort auf ihn herabstieg; vielmehr wird von ihm gesagt, dass es schon vom Mutterschoß her die fleischliche Geburt auf sich genommen hat, da es sich die Geburt seiner eigenen Fleisches zu eigen machte. [...] Und so haben sie [die Väter] es getrost unternommen, die heilige Jungfrau Gottesgebärerin zu nennen, nicht etwa weil die Natur des Wortes bzw. seine Gottheit den Anfang des Seins aus der heiligen Jungfrau genommen hätte, sondern weil der vernünftig beseelte Leib aus ihr geboren wurde; mit ihm hat sich das Wort der Hypostase [=Person] nach geeint, und deshalb wurde von ihm gesagt, es sei dem Fleische nach geboren worden" (DH 250) [Der Titel Theotokos ergab sich als eine Art Nebenprodukt zwangsläufig aus der christologischen Frage, die in dem Dualismus der Begriffe Logos-Sarx (Wort Gottes-Fleisch) behandelt wurde. Sachlich geht es um die Gottheit des Menschen Jesus.] Der Beschluss des Konzils wurde von der Bevölkerung, den Frauen vor allem, stürmisch gefeiert. Nestorius wurde verurteilt und zusammen mit vielen seiner Bischofskollegen abgesetzt. Über dem Tempel der Fruchtbarkeitsgöttin Artemis in Ephesus (vgl. Apg 19,23-40) wurde eine Marienbasilika errichtet... [Frage seitdem, ob der Marienkult eine Übernahme oder eine Unterwanderung/Ersetzung des Göttinnenkults ist. ] Im 4. Jhd. gab es Gruppen, die Maria als Göttin verehrten (Markioniten, Kollyridianer (Kollyra hieß ein Kuchen, den Frauen Maria darbrachten)), sie wurden von den Vätern heftig bekämpft. Maria sei wie alle Menschen geboren worden; sie war rein im Gegensatz zu den in Lust und Liebschaften verwickelten Göttinnen. [Diese Polemik wurde erst wegen der Verwechselbarkeit der Theotokos notwendig]. Das Dogma von der Jungfräulichkeit Mariens wurde auf keinem Konzil ausdrücklich definiert, es fand jedoch seit früher Zeit und besonders seit dem 4. Jhd. Eingang in viele Glaubensbekenntnisse (s. o. 5.7). Das Thema wird zunehmend mit asketischer Bedeutung aufgeladen. Ambrosius von Mailand (+397) betont die Jungfräulichkeit als Ideal der Mädchenerziehung: In der Jungfräulichkeit "leuchten wie in einem Spiegel die Schönheit ihrer [Marias] Keuschheit und ihre beispiellose Tugend auf" (De virginibus 2,6). Ab dem 5. Jhd. wird über die immerwährende Jungfräulichkeit Mariens diskutiert. Marianische Frömmigkeit, Wallfahrten nach Nazaret, Gebete zu Maria (s. o. 1 "Sub tuum praesidium"), liturgische Verehrung Marias (vor allem an Weihnachten und Epiphanie) lassen sich ab dem 3. Jhd. nachweisen. Berühmt wurde der byzantinische Hymnus Akathistos (=im Stehen zu Singen; aus dem 5. Jhd.), der die Marianfrömmigkeit auch des Westens stark prägte (Text in tzt 129-139). Marienverehrung entsprach einem Bedürfnis des Volkes; die Frömmigkeit ging der Theologie zumeist voran und wurde von dieser begrenzt. Maria gewann im Bilderstreit der Orthodoxie (727-843) noch einmal große dogmatische Bedeutung. Gegen die Ikonoklasten (=Bilderstürmer), die sagten, dass die Gottheit Christi nicht in Bildern dargestellt werden könne, beriefen sich die Verteidiger der Bilder (vor allem Johannes von Damaskus, +749) auf die Inkarnation und gerade das "geboren aus einer Frau". Wer die Bilder verwerfe, verwerfe auch die Inkarnation. Maria galt als Garantin der rechten Lehre über die Inkarnation. Der 2.Konzil von Nizäa (787) entschied für die Bilder: sie dürfen "in Ehrerbietung" verehrt werden, aber nicht in "wahrer Anbetung" wie Gott; "Die Ehre des Bildes geht auf die Ehre des Urbildes (Prototyp) zurück" (Horos des 2.Konzil von Nizäa, vgl. tzt Nr. 79). 7.2 Mittelalter Einen ganz neuen Akzent brachte der große Marienverehrer, Gründer des Zisterzienserordens, Kreuzzugsprediger und feinsinnige Kommentator des Hohenlieds Bernhard von Clairvaux (+1153) in die Mariologie: Maria als die "Herrin" der Kirche, der der Dienst der Gläubigen entspricht, und zugleich als die "Mittlerin" zwischen den Gläubigen und Christus. Sie leistet die Versöhnung zwischen den zerstrittenen Parteien [das ist hierarchisch-feudalistisch und juridisch gedacht]. Als die im Streit versöhnende Mittlerin oder Schlichterin fleht Bernhard sie an: "Sprich, Jungfrau, jenes Wort, das die Erde, die Unterwelt und sogar die Himmel erwarten. Auch der Herr und König von allen, der so von deiner Schönheit angezogen wurde, erwünscht jetzt seinerseits deine zustimmende Antwort, mit der er sich vorgenommen hat, die Welt zu retten" (4. Homilie, 19 8). Maria als Mittlerin zu Christus ist "der Weg, auf welchem der Erlöser zu uns gekommen ist. Versuchen auch wir, durch sie zu ihm emporzusteigen, der durch sie zu uns hinabstieg" [das Motto: per Mariam ad Jesum]. [Ich deute das so: In Maria spiegelt sich das wahre Israel so, dass sich die Völker darin erkennen können. Sie ist die Mittlerin zwischen Israel und den Völkern und somit zugleich die (jüdische) Mutter des Erlösers und die Mutter der Kirche. Sie gibt uns Anteil am biblischen Wirklichkeitsverständnis.] In diesem Sinne lässt sich auch Rupert von Deutz (+1129/30) verstehen: "Maria, Braut Gottes, des Vaters, war der erhabenste Teil der ersten Kirche [der Synagoge], um dann zum Modell der jungen Kirche zu werden, als Braut des Sohnes Gottes, ihres Sohnes" (De operibus Spiritus Sancti 1,8). Maria als Mittlerin zwischen Israel und der Kirche, vgl. oben 3.3! Ab dem 9. Jhd. wird eine auf Gregor von Tours (+594) zurückgeführte Legende überliefert: Ein jüdisches Kind wurde durch den Schleier der Gottesmutter vor dem Feuer (das Christen gelegt hatten?) gerettet. – Zur gleichen Zeit werden auch viele andere Wunder Marias berichtet: Sie rettet einen Geistlichen, der einen Pakt mit dem Teufel geschlossen hat, indem sie dem Teufel den Vertrag entreißt, usw. – Vom 10. bis zum 12. Jhd. entstehen auch die marianischen Antiphone, s. o. 1. – Die scholastischen Theologen kommentieren alle die zehn marianischen Quaestionen des Petrus Lombardus (+1160). Thomas von Aquin (+1274) konzentriert sich in Summa Theologiae III, q 27-27 auf die christologische Perspektive in der Inkarnation, bemüht, die Würde Marias dort zu begrenzen, wo sie die Stellung Christi gefährdet. Die persönliche Beziehung zu Maria wird nicht thematisiert, wohl hebt er hervor: Gott hat von einer Frau Fleisch angenommen, um das weibliche Geschlecht zu adeln. – Das Spätmittelalter bringt eine Zunahme der Reliquien- und Wundergläubigkeit. Maria wird mehr Gegenstand des Gebets und der mystischen Betrachtung (so in den Visionen der hl. Brigitta, +1373) als Vorbild im Glauben. Goldene Marienstatuetten sind in Umlauf, die, wenn man sie öffnet, die Darstellung der Dreieinigkeit zeigen: als wenn diese von Maria geboren worden wäre. Ein großer Theologe wie Johannes Gerson (+1429), wendet sich dagegen und verfasst 23 Leitlinien einer (minimalistischen) Mariologie: Maria war eine Frau aus Fleisch und Blut, empfand Schmerzen und Tröstungen, war wie alle Menschen auf die Erlösung angewiesen; Christus hat ihr nicht alle Gnaden gewährt, die er hätte gewähren können. [Das Spätmittelalter, Zeit der Kirchen- und Gesellschaftskrise: Maria als Krisenindikator] 7.3 Neuzeit In Humanismus und Renaissance steht der Mensch im Mittelpunkt. Maria steigt von den Altären herab und wird zur schönen Dame (bei L. da Vinci, Giotto, S. Botticelli u.a.; s. die Bilder in GEISELER). – Martin Luther (+1546) hält in der Mariologie an den katholischen Vorgaben fest (Jungfräulichkeit, Sündlosigkeit), wendet sich nur gegen Anbetung und Miterlöserschaft Mariens. Seine Auslegung des Magnificat (1521 – mitten in den Wirren der Reformation!) interpretiert die Niedrigkeit Mariens in Sinne der Kreuzestheologie. – Der Barock (ca. 16501750) bringt eine triumphalistische Ausweitung der Marienverehrung. Maria werden "Privilegien" zugesprochen: Sie ist würdiger als alle Geschöpfe, Miterlöserin (durch ihr Fiat!), Austeilerin derGnaden, hat teil an der hypostatischen Union. Ein überreicher marianischer Symbolismus bildet sich aus: Maria als Palme, Ozean, Erde, Zweig, Taube, Mond, Sonne... Marienbruderschaften und –kongregationen entstehen, es gibt die 'Marienweihe', 'Marienknechtschaft' etc. Die kath. Frömmigkeit ist insgesamt stark marianisch, darin antiprotestantisch geprägt; aber dies ist nicht nur Folge doktrinärer Propaganda, sondern ganz Ausdruck des Zeitgefühls. Motto dieser Zeit: De Maria numquam satis (Über Maria niemals genug) – In der Aufklärung (18. Jhd.) wehrt sich die Marienfrömmigkeit erfolgreich gegen Versuche rationaler Mäßigung. Ludwig Maria Grignion de Montfort (+1716) und Alfons Maria de Liguori (+1787) nehmen die Volksfrömmigkeit auf und richten sie mäßigend auf eine christozentrische Perspektive: vollständigste Hingabe (dévotion) an die Heiligste Jungfrau, um durch sie ganz Christus zu gehören. –Perspektive insgesamt wie im Barock stark individualistisch: Maria, die Königin des Herzens. Noch ganz im Zeichen des Privilegiendenkens steht auch die Mariologie des 19.Jhds. Neu ist allerdings, dass die Kirche Maria in eine zeitkritische, widerständige Perspektive rückt (seit der französischen Revolution steht die kath. Kirche den Zeitströmungen überwiegend ablehnend gegenüber bzw. wird selbst vom Zeitgeist abgelehnt). Das Dogma von der unbefleckten Empfängnis Mariens (1854) ist u.a. daraus zu verstehen. Papst Pius IX. verkündete es in der Bulle (=Enzyklika, päpstliches Lehrschreiben von verbindlichem Rang) Ineffabilis Deus (Unfasslicher Gott) nach vorheriger Befragung der Bischöfe (546 von 603 stimmen zu). Definiert wird, "daß die Lehre, welche festhält, daß die seligste Jungfrau Maria im ersten Augenblick ihrer Empfängnis [ihrer, nicht Jesu!] durch die einzigartige Gnade und Bevorzugung Gottes im Hinblick auf die Verdienste Christi Jesu, des Erlösers des Menschengeschlechts, von jeglichem Makel der Urschuld unversehrt bewahrt wurde, von Gott geoffenbart und deshalb von allen Gläubigen fest und beständig zu glauben ist." DH 2803. Dies ist das erste rein marianische Dogma (die anderen waren christologisch). Definiert wird die Vor-Erlösung Marias (prae-redemptio), denn nach Christus werden alle Getauften von dem Makel der Urschuld befreit. Maria ist die erste Erlöste, als solche auch das Urbild aller Erlösten. Die Vor- und Ersterlösung geschieht nicht um ihrer Verdienste willen, sondern allein aus der Gnade Gottes im Hinblick auf Verdienste Christi. Besonderes Gewicht bekommt Marias Befreiung von der Erbschuld dadurch, dass sie nach allgemeiner Überzeugung der Kirche seit der Patristik ihre Unschuld in Heiligkeit und Sündlosigkeit bewahrte. Biblische Grundlage? Ist explizit nicht vorhanden, hier tritt das Glaubenszeugnis der Kirche ein. Will sagen: der Glaubenssinn (sensus fidelium) entdeckt in der Schrift Wahrheiten, die darin nicht dem Wortsinn nach enthalten 20 sind (Protestanten können das niemals akzeptieren, aber es kommt dem jüdischen Verständnis der 'mündlichen Tora' sehr nahe!). Der Begründungszusammenhang ergibt sich aus der Erbsündenlehre. Wird diese in Röm 5 als geoffenbart gesehen und so verstanden, dass die Erbsünde durch Empfängnis und Zeugung weitergegeben wird, dann kann man folgern, dass Maria als die Urheberin der menschlichen Natur Jesu von der Erbsünde frei gewesen sein muss, also die Kette der Weitergabe der Erbsünde bei ihrer Empfängnis von Gott unterbrochen worden ist. Es ist nicht notwendig, so zu denken (Gott hätte es auch anders machen können), aber angemessen... Bedeutung für heute? Ich verstehe es so (und bin auch durch die Literatur: Fiores/Beinert nicht eines Besseren belehrt worden: 1. Eine aus Israel war schon aus der Erbsünde ausgenommen. Befreiung vom allgemeinen Schuldzusammenhang war schon in Israel möglich. Oder noch mehr: Freiheit von der Erbschuld kommt uns Christen von Israel her zu. 2. Das wird gesagt in der Mitte des 19. Jhds., in einer Zeit, in der sich der Schuldzusammenhang der Erbschuld bedrohlich verdichtete: Zerstörung von Menschen und Natur durch Industrialismus (Kinderarbeit, Verelendung der Arbeiterschaft!); Herausbildung des autonomen Systemzwangs der Geldwirtschaft, der es in der Folge zu Kolonialismus, Imperialismus, Nationalismus und zu zwei Weltkriegen bringen sollte (dazu ROBERT KURZ: AAO., 101FF). Das Dogma sagt: Dieser Zwang ist nicht unentrinnbar, eine ist ihm schon entkommen. FIORES, 210-215, hebt hervor: Das Dogma bedeutet einen Protest gegen den Grundsatz der egalité, es ist restaurativ. Aber man kann auch verstehen: es bestreitet die egalité der Menschen vor der kapitalistischen Maschine. Bemerkenswert: Die katholische Bevölkerung, die in dieser Zeit zum ärmeren, unterentwickelten Teil des Volkes gehörte, stimmte dem Dogma begeistert zu, wie die Quellen bezeugen. Warum, wenn es nur um ein Privileg Mariens ging? Die Romantik betreibt gefühlsbetonte, innige Marienverehrung, die ins Erotische abgleiten kann (s.o. 1 zu Novalis, aber auch das Folgende von F. Amoretti von 1886: "Oh mein höchstes Gut, oh meine Freude, oh süßester Ort aller Vergnügungen meiner Seele, und einzige Trösterin meiner Tränen, oh liebe Gefährtin meiner Liebe wie meines Schmerzes..." (nach Fiores 217). Wichtiger ist: Zahlreiche Marianische Institute, Kongregationen, Institute etc. verbinden im 19. Jhd. Marienfrömmigkeit aufs Engste mit karitativer Tätigkeit (es gab Hunderte, z.B. 'Kongregation der Heiligsten Herzen Jesu und Mariens', 'Schwestern Unserer Lieben Frau', 'Maristenschulbrüder', 'Töchter der allerseligsten Jungfrau Maria von der Unbefleckten Empfängnis', eine annähernde Aufstellung bei H.M.KÖSTER, AAO., 575-580). Ein Inspirator ist Don Bosco (+1888), der sich verwahrloster Straßenkinder in Turin annahm und die Salesianer gründete. Entsprechende Kleinschriften erreichten im kath. Raum Millionen-Auflagen! [Hier wird, wie schon beim Immaculata-Dogma und bei den Wallfahrten und Marienerscheinungen (dazu unter 9.) dieses Jahrhunderts, der Charakter des stillen katholischen Protestes gegen die technisch-industrielle Zivilisation deutlich.] 7.5 Das 20. Jahrhundert Die Mariologie wird in den neuscholastischen Handbüchern erstmals ein integrierter Bestandteil der dogmatischen Theologie. Noch ganz im Bann der Privilegien-Mariologie steht eine Bewegung (ausgehend von Kardinal Mercier in Belgien), die ab 1913 eine dogmatische Definition der Mittlerschaft Mariens betreibt. Nach anfänglichen Erfolgen scheitert sie, weil die päpstliche Kommission erkennt, dass dies nicht mit der einzigen Heilsmittlerschaft Christi zu vereinbaren ist. Erfolgreich ist dagegen eine Bewegung für das Dogma von der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel (1950). Papst Pius XII. definierte es in der Apostolischen Konstitution Munificentissimus Deus (=der überaus freigebige Gott) auf zahlreiche Bitten von Bischöfen und nach einer weltweiten Befragung des Episkopats. Die entscheidende Passage ist: "Wir verkünden, erklären und definieren: Es ist eine von Gott geoffenbarte Wahrheit, daß die unbefleckte, immer jungfräuliche Gottesmutter Maria nach Vollendung ihres irdischen Lebenslaufes mit Leib und Seele zur himmlischen Herrlichkeit aufgenommen wurde." DH 3903 Die Idee von der sofortigen Aufnahme Marias in den Himmel ist in der Kirche seit den frühesten transitusLegenden des 2. Jhds. präsent und immer wieder erneuert worden. Der Grundgedanke ist einfach: Wenn Maria eine Erlöste ist und ohne Sünde, warum sollte Gott mit ihr warten? So sagt das Dogma nur, dass Maria schon gleich nach ihrem Tode geschehen ist, was allen Erlösten einst geschehen wird. Darin liegt nichts Spektakuläres. Es liegt die Vorstellung zugrunde, der sterbliche Leib und die unsterbliche Seele würden beim Tod getrennt und später wieder vereinigt. Problematisch ist nur der Gedanke, dass es eine Erlösung mit Leib und Seele vor dem Ende der Geschichte geben kann – was bleibt dann noch für den Jüngsten Tag? Aber das ist ein altes Dilemma der katholischen Eschatologie (s. dazu Skript Eschatologie und Apokalyptik WS 97/98 Kap. II). Das Dogma deutet an, dass Marias Leib nicht der Verwesung anheimgegeben wurde: "Da unser Erlöser der Sohn Mariens ist, konnte er in der Tat, als vollkommenster Beobachter der göttlichen Gesetzes, außer dem ewigen Vater auch seine geliebteste Mutter keinesfalls nicht ehren. Da er sie nun aber mit so großer Ehre auszeichnen konnte, sie vor der Verwesung des Grabes unversehrt zu bewahren, muß man glauben, daß er dies wirklich tat." (DH 3900) Dieses Dogma macht mancherlei Probleme. Biblische Grundlage? Theologische Bedeutung (es wird eine Aussage über Gottes Handeln in der Zeit nach Marias Tod gemacht!)? Hängt es nicht völlig an heute unvollziehbaren, unbiblischen Voraussetzungen (Trennung von Leib und Seele)? Und warum ein solches Dogma in der Mitte des 20. Jhds.? Ich meine: Entweder entscheidet man sich, es als einen unzeitigen Nachklang der alten Privilegien-Mariologie bzw., was auf dasselbe hinausläuft, als ein Zugeständnis an die Volksfrömmigkeit zu betrachten. Auch dann hätte es noch einiges Recht, aber der Rang eines Dogmas wäre ihm kaum 21 zuzuerkennen. Oder man sieht es kontrafaktische Heilsverkündigung inmitten der Gräuel dieses Jahrhunderts an: ein sinnloser Krieg hat die Welt verheert, Millionen sind ermordet worden oder umgekommen, Millionen sind auf der Flucht, Sünde und Tod scheinen die Welt endgültig zu beherrschen – da sagt die Kirche, dass durch Gottes überreiche Gnade nicht nur die Seele, sondern auch der Leib Vollendung erfahren werden, dass diese Welt noch zu retten ist. Und dass das keine bloße vage Zukunftshoffnung ist, sondern an einem Menschen schon geschehen ist. Maria als das Unterpfand der Hoffnung auf Vollendung, eine Hoffnung wider alle Hoffnung in diesem Jahrhundert. – Für das, was da gesagt wurde und gesagt werden musste, lag zu der Zeit in der Kirche kein anderes dogmatisches Material bereit. Die Mariologie des II. Vaticanums (1962-1965) Auf dem Konzil prallen zwei mariologische Konzeptionen heftig zusammen: die neuscholastische Privilegien-Mariologie und eine neue, aus biblischen und patristischen Quellen gespeiste, heilsgeschichtlich und ekklesiologisch ausgerichtete Mariologie. Mit nur 1097 gegen 1074 Stimmen der Konzilsväter setzt sich bei einer Abstimmung am 29.10.1963 die zweite Richtung gegen die erste durch! Ein Jahr später findet dann das neue Schema De Beata Maria Virgine Deipara in Mysterio Christi et Ecclesiae (Die selige Jungfrau und Gottesgebärerin Maria im Geheimnis Christi und der Kirche) breite Zustimmung; es wird in die Dogmatische Konstitution über die Kirche Lumen Gentium (das Licht der Völker) eingefügt (LG 52-69=DH 4172-4179). Titel und Einführung sind bereits Programm: Maria wird nur vom Geheimnis Christi aus gedeutet und auf seine Heilsgeschichte vom Alten Testament an bezogen ("die hervorragende Tochter Zion", LG 55). Als Jungfrau und Mutter ist sie Ur- und Vorbild der Kirche ("ecclesiae typus", LG 63): Jungfrau im Glauben und Gehorchen, Mutter, insofern sie im Glauben Kinder hervorbringt (also als Empfangende und als Gebende). Vorbild ist sie, indem die Kirche ihr in ihrer Sündlosigkeit nacheifert. In Maria betrachtet die Kirche "Bild und Anfang" ihrer eigenen Zukunft (LG 69). Maria ist der Spiegel aller Heilsgeheimnisse, ihre Verehrung führt zum rechten Gottesdienst: "Denn Maria, die, weil sie zuinnerst in die Heilsgeschichte eingegangen ist, die bedeutendsten Lehrsätze des Glaubens gewissermaßen auf sich vereint und widerstrahlt, ruft, wenn sie verkündet und verehrt wird, die Glaubenden hin zu ihrem Sohn und zu Seinem Opfer sowie zur Liebe des Vaters." (LG 65). Die neuere Mariologie wandelt überwiegend auf diesen Spuren. Stefano de Fiores nennt Maria treffend eine Mikro-Heilsgeschichte ("microstoria della salvezza"): "...da in ihr die Weisen des göttlichen Handelns zusammentreffen und ineinander verflochten sind und sich in ihr zugleich die exemplarische Antwort auf das Eingreifen Gottes in der Heilsgeschichte findet" (Fiores 246). H.U. von Balthasar gilt Maria als der Prototyp dessen, was Gott aus dem menschlichen Stoff zu gestalten vermag, und zugleich als das Bild, das Gott sich von der Kirche macht (vgl. MARIA IN DER KIRCHLICHEN LEHRE UND FRÖMMIGKEIT, IN: MARIA.KIRCHE IM URSPRUNG, AAO.). R. Guardini hat in eindrücklichen Meditationen die biblische Maria ins Licht gerückt: die Größe ihres Glaubens an das Unfassbare, ihr fremd Bleibende des Sohnes, ihre Nähe und Distanz zu Jesus (vgl. DIE MUTTER DES HERRN, WÜRZBURG 1955). K. Rahner feiert in Maria "ein christliches Daseinsverständnis vom Menschen überhaupt. Wir feiern und verkünden die christliche Idee vom Menschen", nämlich in der vollkommenen Entgegennahme des in Jesus Christus erschienenen Heils in ihrem Fiat (DIE MUTTER DES HERRN, AAO., 25). Inkulturation: In Lateinamerika, Afrika und Asien hatte und hat Maria die große Bedeutung für die Inkulturation des Christentums, besonders bei den Armen und den Frauen. Seit der Marienerscheinung in Guadelupe 1531 ist es "unbestreitbare Tatsache, daß die Marienverehrung das populärste, dauerhafteste und eigentümlichste Merkmal der lateinamerkikanischen Christenheit ist" (VIRGIL ELIZONDO:AAO. – ein sehr guter Aufsatz!). Maria hat hier wie andernorts die Religion der Eroberer zu der der Einheimischen gemacht. In Guadelupe sprach sie den Indio Diego in der Nahuatl-Sprache an, ihre Botschaft knüpfte an die alte NahuatlReligion an. Synkretismus? "Besser ein christlicher Synkretismus als ein reines Heidentum" (Fiores,aaO., 258). In der Befreiungstheologie, aber auch im interreligiösen Dialog ist Maria eine wichtige Gestalt. – Maria ist an allen Lebensorten der Kirche gegenwärtig; jeder Zeit zeigt sie ein anderes Gesicht. 8. Maria – Sophia. Orthodoxe und anthroposophische Mariologie Die (griechische und russisiche) orthodoxe Theologie ist anders als die westliche nicht begrifflich und rational strukturiert. Ihr Ziel ist weniger diskursive Gottes-Rede als mystische Gottes-Schau, genährt aus der Liturgie, den liturgischen Hymnen und Gebeten, der offenbarenden Kraft der heiligen Bilder. Gottesdienst wird dabei weniger als Feier der Gläubigen denn als Teilnahme an der himmlischen, englischen Liturgie verstanden. Durch sie vollzieht sich das Eingehen in das Geheimnis Gottes, das Einswerden mit seiner Herrlichkeit, soweit sie auf Erden schon offenbar werden kann. Die Bibel wird dabei niemals historisch aufgefasst, sondern als Kundgabe der zeitlosen Fülle der Offenbarung, die in den Bildern und im mystisch-gottesdienstlichen Vollzug immer neu gegenwärtig wird. Die Wahrnehmung der Gegenwart des Heils erhebt über das Irdische und Geschichtliche und verbindet diese Art der Theologie mit dem Idealismus der platonischen Tradition, der sie im übrigen stark geprägt hat. Insoweit scheint es mir, dass die Grenze biblisch/philosophisch in dieser Theologie nicht so streng gezogen wird: Die Weisheit der Welt kann sich mit der biblischen Weisheit verbinden. Dem entspricht das stark weisheitliche (sophiologische) Denken der Orthodoxie. – Man kann sich merken: Die Orthodoxie ist jenem Strang der katholischen Tradition sehr nahe, der der protestantischen Tradition am fernsten steht. Die auf Rudolf Steiner (1861-1925) zurückgehende Anthroposophie [=Weisheit des Menschlichen] hat Berührungspunkte mit der Orthodoxie. Dies einmal in Bezug auf die spirituelle Schriftauslegung, zum anderen 22 durch das weisheitliche Denken. Wie die Orthodoxie steht die Anthroposophie dem modernen westlichwissenschaftlichen Denken fremd gegenüber. In der Anthroposophie wird diese Fremdheit bewusst reflektiert. Sie möchte jene Art von "Geisteswissenschaft" (=Wissenschaft des Geistes) sein, die im materialistischen Empirismus zu kurz gekommen ist. – Wenn wir heute auch im Westen darangehen, das Erbe des Rationalismus kritisch zu revidieren, werden uns manche Impulse aus der Orthodoxie und der Anthroposophie zu Hilfe kommen können. Die Unterscheidung von rational/esoterisch greift zu kurz; zu fragen ist vielmehr: Welche Art von Rationalität zeigt sich in dem, was wir bisher als esoterisch abgetan haben? Ich meine, dies gilt auch für die Mariologie! LIT.: STFANO DE FIORES ,AAO., 233-238; ANASTASIOS KALLIS: AAO., 364-381; MICHAEL DEBUS: AAO., 90-117 8.1 Maria, die Geistträgerin (Pneumatophora) – der Heilige Geist und die Weisheit Der Zugang zur sophiologischen Mariologie erschließt sich biblisch ungezwungen: "Heiliger Geist wird über dich kommen, und Kraft des Höchsten wird dich überschatten", sagt ihr der Engel (Lk 1,35); der Heilige Geist ist aber der Geist Gottes, der Geist der Wahrheit (Joh 14,17 15,26; 16,13), oder auch, wie es die alttestamentliche Weisheitsliteratur nahelegt, die Weisheit (hokmah/sophia) Gottes. Maria voll des Geistes = voll der Weisheit – davon ausgehend kann man Mariologie im Horizont der Weisheitsliteratur (vor allem: Ijob – Kohelet (Prediger) – Buch der Sprüche – Jesus Sirach – Buch der Weisheit – Baruch) betreiben. Einige russische Religionsphilosophen haben das getan: WLADIMIR SOLOWJEW (1853-1900), PAVEL FLORENSKIJ (1882-1937), SERGEJ BULGAKOW (1871-1944). [Ich referiere im folgenden nach Debus, 90-131, wobei ich nicht ganz sicher sein kann, inwieweit seine Darstellung schon anthroposophisch geprägt ist. Seine Darstellung der katholischen Positionen ist jedoch zuverlässig.] Von den Weisheitsbüchern her lassen sich einige Erkenntnisse über die Weisheit gewinnen, die dann auf Maria bezogen werden. a) Sie ist die Weisheit der Schöpfung Sir 1,1-9: "Alle Weisheit stammt vom Herrn, und ewig ist sie bei ihm. .... Früher als sie alle [alle Werke der Schöpfung] ist die Weisheit erschaffen, von Ewigkeit her die verständige Einsicht. ... Er hat sie geschaffen, geschaut und gezählt, sie ausgegossen über alle seine Werke." Spr 8,22-31: "Der Herr hat mich [die Weisheit] geschaffen als Anfang seiner Wege, vor seinen Werken in der Urzeit ... als er die Fundamente der Erde abmaß, da war ich als Geliebte bei ihm. Ich war seine Freude Tag für Tag und spielte vor ihm alle Zeit. Ich spielte auf seinem Erdenrund, und meine Freude war es, bei den Menschen zu sein." SOLOWJEW erfährt in einer Marienvision die Einheit der All-Schöpfung, das innere Eins-sein alles Geschaffenen: "Blau schimmern unter mir des Meeres Weiten, die weißen Bergeshöhn, der ferne Wald. Ich sah das All, und alles war nur Eines, war meiner ew'gen Freundin [Maria-Sophia] holdes Bild, und von dem Glanze dieses Himmelsschreines war alles um mich her und war mein Herz erfüllt" (nach DEBUS, 100). FLORENSKIJ erblickt in der Sophia die schöpferische Spannung zwischen Einheit und Vielheit, ein viel-einiges Sein, bei dem die Einheit der Vielheit nichts nimmt, sondern diese erst ermöglicht [im Unterschied zu irdischen Einheitskonzepten – FLORENSKIJ hat hier genau die Signatur des biblischen Bundes-Geistes getroffen: Gemeinschaft in bleibender Verschiedenheit, die deshalb differenzsensibel (M. Welker) ist für die Bedürfnisse der einzelnen. Das aber verweist schon auf unten b)]. BULGAKOW deutete deshalb die Sophia als die ousia (Wesen/Substanz) der Trinität: die Einheit in der Dreiheit der Personen, eine Einheit, die in der Vielheit lebt. Die Sophia in der Trinität hält er für das weibliche Prinzip (nach Spr 8,22) gegenüber den drei 'männlichen Personen' Vater, Sohn und Geist... b) Die Weisheit ist identisch mit der Tora Sir 24,3-8: Nach ihrer Erschaffung geht die Weisheit über die Erde und sucht eine Wohnstatt. "Da gab der Schöpfer des Alls mir den Befehl; er, der mich schuf, wusste für mein Zelt eine Ruhestätte. Er sprach: in Jakob sollst du wohnen, in Israel sollst du deinen Erbbesitz haben." Bar 4,1-4: Die Weisheit "ist das Buch der Gebote Gottes, das Gesetz, das ewig besteht. Alle, die an ihm festhalten, finden das Leben, doch alle, die es verlassen, finden den Tod." Vgl. auch Sir 24,32-35. c) Die Weisheit nimmt Wohnung in den einzelnen Menschen Weish 7,27f: "Von Geschlecht zu Geschlecht geht sie (die Weisheit) in heilige Seelen ein und schafft so Freunde Gottes und Propheten. Gott liebt keinen, der nicht mit der Weisheit verbunden ist." Bar 3,29-38: Keiner kann die Weisheit von sich aus finden und erwerben, aber Gott "hat den Weg der Weisheit ganz erkundet und sie Jakob, seinem Diener, verliehen, Israel, seinem Liebling. Dann erschien sie auf der Erde und hielt sich unter den Menschen auf." Das sind für das Judentum ganz zentrale Gedanken. Die Tora ist die Gabe der Weisheit, die Gott Israel verliehen hat. Jeder Jude und jede Jüdin ist gehalten, die Tora zu studieren und zu halten, damit ihre Segnungen in die Welt kommen. FLORENSKIJ legt das christlich konsequent auf die Kirche aus: Sie ist die Gemeinschaft, in der das Gesetz der Erlösten gilt, in ihr ist die Kraft der Weisheit inkarniert, die gegenüber dem Gesetz der Welt neu, d.h. jungfräulich ist (Kirche als Leib Christi!). "Und diejenige, die diese jungfräuliche Kraft par excellence in sich trägt, ist Maria. Sie ist deshalb die Erscheinung der Sophia, d.h. Mensch gewordene Sophia" (nach DEBUS, 103). [Ist das Spekulation? Nein, Maria war eine Jüdin, die sagte: Mir geschehe nach deinem Worte, auf ihre toragemäße Antwort hin vollzieht sich die Neuschöpfung (in der Geburt Jesu), die aus der Tora kommt, und so entsteht die Kirche als die Bundesgemeinschaft unter den Völkern.] 23 d) Die Weisheit als Spiegel Weish 7,25f: "Sie ist ein Hauch der Kraft Gottes und reiner Ausfluss der Herrlichkeit des Allherrschers; darum fällt kein Schatten auf sie. Sie ist der Widerschein des ewigen Lichts, der ungetrübte Spiegel von Gottes Kraft, das Bild seiner Vollkommenheit." Gott hat sich, so folgert SOLOWJEW mit dem protestantischen Mystiker JAKOB BÖHME (1575-1624), vor der Erschaffung der Welt von allen Dingen eine Idee, eine Vorstellung gebildet, die er dann in der Schöpfung umgesetzt hat. In dieser Vorstellung schaut er sich selbst wie in einem Spiegel, d.h. er schaut sich selbst als der, der die Welt erschafft (Selbsterkenntnis im Tun eines Werkes). [Er objektiviert sie gleichsam, setzt sie aus sich heraus – darin zeigt sich das Wesen seines Schöpfertums als ein über sich hinaus Gehen – Debus weist auf die Parallele bei der Erschaffung der Eva hin! Dieses im-anderen-seiner-selbst-sich-selbst-Erkennen, und zwar als schöpferisch, ist das Wesen des Weiblichen]. Die Idee von der Welt ist die ungeschaffene Weisheit. Maria ist dann der Spiegel, in dem Gott die Welt so sieht, wie er sie uranfänglich gesehen hat und sehen will. (Ein Deckengemälde des barocken Malers C.D. Asam zeigt es so: Gott betrachtet sich in einem Spiegel, den ein Engel so hält, dass ein Strahl davon auf Maria fällt.) Insgesamt geht es in diesem russischen Denken darum, das Geschöpf Maria als den Spiegel der ungeschaffenen Weisheit zu verstehen! In ihr erblickt Gott die Welt in reinem, schattenlosen Zustand (vgl. a), in ihr ist das Gesetz der Welt so angenommen worden, wie er es seit Ewigkeit geplant hatte (vgl. b und c). Maria ist die ideale Bundespartnerin Gottes, das vollkommene Israel oder die Kirche. In Maria kommt also die ungeschaffene Weisheit mit der geschaffenen überein! Dies gibt dann Gelegenheit, über die Zusammenführung von irdischer (philosophischer) und göttlicher Weisheit nachzudenken. Maria ist auch hier die Brücke, die Einheit in der Verschiedenheit zwischen Philosophie und Theologie (Darum hält sich dieses sophiologische Denken so gerne an Ps.-Dionysius Areopagita, weil keiner so intensiv wie dieser den Platonismus mit dem Christentum zusammengedacht hat.) – Bringt man nun noch dieses Aus-sich-Heraustreten-um-sich-im-anderenzu-erkennen mit der Erschaffung Evas aus dem Adam in Zusammenhang, dann wird auch die Weiblichkeit Marias zu einem Sachverhalt des Heils. Dann kann man mit Goethe sagen: "Das Ewig-Weibliche zieht uns hinan" (letzter Satz aus Faust II; Goethe stand diesen mystischen Gedanken sehr nahe, er kannte Jakob Böhme). Das Weibliche meint dabei das Mütterliche (Prinzip der uranfänglichen Weisheit, von der wir kommen) und das Jungfräuliche (zu dem wir unterwegs sind, das Ziel der Sehnsucht); Maria ist Mutter und Jungfrau. Wobei hier unter dem Weiblichen nicht nur die Frauen, sondern das Weibliche in jedem Menschen gemeint ist. Jeder Mensch soll sich mit der Maria-Sophia vereinigen, d.h. im über-sich-selbst-Hinausgehen, im schöpferischen Tun (des Gesetzes, das muss man hier hinzufügen!) ein Spiegel der ewigen Weisheit werden. 8.2 Ein anthroposophischer Ansatz: Aszendenz-Mariologie [Ich gebe im folgenden in sehr groben Zügen das Buch von MICHAEL DEBUS, MARIA-SOPHIA (=D.) wieder. Man nehme es als Spinnerei oder als Anregung oder als ein Zeugnis des Geistes, ganz nach dem theologischen Urteil. Jedenfalls wäre es nicht recht, eine so intensive mariologische Reflexion in der Vorlesung zu verschweigen. Mein Urteil darüber ist: Debus bzw. Rudolf Steiner nehmen in vorbildlicher Weise Biblisches wahr, und sie haben die richtigen Fragen. Sie führen uns auf die Spur einer verschütteten marianischen Tradition. Durch die Vermengung mit außerbiblischer Offenbarung bekommt die Sache aber etwas unnötig Abstruses. Mit biblischen und theologischen Mitteln können wir diese Tradition wieder erwecken.] D. fasst die kirchliche Lehrentwicklung völlig richtig zusammen: Die Umstände der Alten Kirche brachten eine Christologie von oben hervor, die Christus sehr eng an Gott heranrückte. Maria wurde so in eine Mittlerstellung gedrängt – das ist "Deszendenz-Mariologie" (Maria steigt vermittelnd von oben, von Gott her, herab). Das war legitim, wenn auch mit der Gefahr der Identifizierung von Maria und Kirche, die erheblich zur Machtförmigkeit der Kirche beitrug. – In der Neuzeit, unter reifen, aufgeklärten Menschen, reicht aber diese DeszendenzMariologie nicht mehr aus. Es braucht eine Aszendenz-Mariologie, die den eigenen Beitrag der Menschen auf ihrem Weg zu Gott berücksichtigt. Die kath. Mariologie hat die Menschen künstlich unselbständig gehalten. Auf die Bibel bezogen bedeutet das: Was geschah in der Kindheit und Jugend Jesu bis zu seiner Taufe? Wie 'wurde' er der Gottessohn [solche Fragen stellt sich auch H.U. von Balthasar!]? Das "fünfte (nicht geschriebene) Evangelium", entdeckt von R. Steiner, enthält die Aszendenz Jesu zum Gottessohn. [Achtung, hier ist noch nicht von Selbsterlösung die Rede, wohl aber vielleicht von einem in der kirchlichen Lehre vernachlässigten Moment des Aufstiegs]. – Die zwei Jesusknaben: Jesus ist Repräsentant der Menschheit, insofern er unschuldig (Immaculata!) und gereift (Assumpta!) ist. Es gab zwei Jesusknaben, den lk (unschuldig; eine junge Seele) und den mt (eine gereifte Seele) und so auch zwei Marien. (D. vergleicht die beiden Kindheitsgeschichten – in der Tat, das lässt sich kaum vereinbaren). Die beiden Knaben vereinigen sich beim 12jährigen Jesus im Tempel, dabei stirbt der mt-Jesus. Deshalb war Jesus danach so verändert. Die mt-Maria, deren Josef auch gestorben war, heiratet den lk-Josef und nimmt sich ihres Stiefsohns (lk-)Jesus an, dessen einer Wesenskern der ihres Sohnes war. Mit seiner Mutter führt Jesus viele Gespräche (ein Gespräch führen heißt: aufnehmen, reifen lassen, noch ohne zu verstehen=Jungfrau, vgl. Lk 2,19.51); so wird die Mutter zur Jungfrau (=objektiver Erkenntnisspiegel). Der Sohn erkennt sich selbst als Christus, sie erkennt in ihm ihren Sohn. So kann er zur Taufe gehen (und hört dann: du bist mein geliebter Sohn...). – Das Heil ist die Wiederherstellung des Paradieses. Dort gab es bereits vor Eva eine geheimnisvolle, feine Jungfrau bei Adam (vgl. die Sage von Lilith), die Gott wieder weggenommen 24 hat. Deren jungfräuliche, reine Seele hatte sich in der lk Maria und dem lk Jesus inkarniert. Erlösung heißt, sich mit dieser reinen Seele zu verbinden. Das geschieht biblisch zeichenhaft bei der Hochzeit zu Kana (=die Mutter als Jungfrau) und endgültig unter dem Kreuz, wo auch Johannes die so mit Jesus vereinigte Maria in sein Eigenes aufnimmt und so der erste neue Mensch wird. Der "Jünger, den Jesus liebte" (Joh 19,26) ist aber kein anderer als Lazarus, denn er hatte bereits die Todesmysterien durchgemacht. Er hatte die Mysterien der Verwandlung in seinem eigenen Leib erlebt und wurde so der erste Mensch des neuen Zeitalters. (d.h. er gewinnt ein neues, auferstehungsfähiges Verhältnis zu seinem Leib: wie der Gelähmte in Joh 5,1-16 trägt die Bahre nicht mehr ihn, er trägt die Bahre!). Er vereinigt sich mit Maria-Sophia unter dem Kreuz, darin Repräsentant aller Jünger und Menschen, denn in ihm ist der Geist Johannes des Täufers präsent (vgl. Mk 6,16: Joh, den ich enthaupten ließ, ist auferstanden). – Aus dem neuen Menschen erwächst stufenförmig die neue Gesellschaft und die neue Schöpfung/Natur (wie bei den Anna-Selbdritt-Darstellungen: im Hintergrund der Anna der Paradiesbaum). Die neue Gesellschaft an Pfingsten: Gemeinschaft aus dem Geist, der die Interessen der einzelnen nicht aufopfert; auch hier steht Maria im Mittelpunkt (wie es viele alte Bilder zeigen, nach Apg 1,14). Die neue Schöpfung nach Röm 8,19-22 (die Schöpfung seufzt in der Erwartung des Geistes) geschieht durch die Taten der Apostel; die Natur wird in einen Garten verwandelt. Die Sophia hat sich mit dem Geist verbunden [das ist gut biblisch, vgl. Jes 11, 6-8 "da wird der Wolf beim Lamme" und insgesamt WELKER, GOTTES GEIST 153-173]. Vgl. die Bilder 'Maria im Paradiesgärtlein'. D. fasst zusammen: Die Frage ist: Wo begegnen wir heute der Seele der lukanischen Maria-Sophia? Nach ihrer Vereinigung mit Johannes (deren Ausdruck bis zum Ende des Mittelalters die Marienminne war: Maria wurde noch als deszendent verehrt, in einer persönlichen Beziehung) muss sie uns heute wieder gegenübertreten als Spiegel, in dem wir unser geistiges Wesen und Zukunft erkennen. Sie ist ja durch das Wesen des Menschen hindurchgegangen, aber zugleich ist sie ihm als das Weibliche auch stets entzogen: in ihr blicken wir wie in einem Spiegel auf unser höheres, schöpferisches Wesen. Das heißt: Maria begegnet uns heute als Anthroposophia! Indem wir sie aufnehmen wie Johannes unter dem Kreuz, werden wir ihr Sohn und wird sie unsere Mutter, zugleich werden wir gleich mit Christus, gelangen in die Nachfolge Christi. Das Sohn-Marienssein weist ein in die Nachfolge Jesu und umgekehrt. – Steiner betont stark die in der Neuzeit nötige AszendenzBewegung: "Entwickle dich, um dich zu schauen" – "Nun aber soll das Ich die Frage in sich tragen". MarienVerehrung gebührt ihr nicht mehr, sondern sie regt einen Prozess an, der unser eigener Prozess sein muss. Unser eigenes Bild ist schon erschienen, jetzt muss es unser Bild werden. Ein Kommentar: 1. Das mit den zwei Jesus-Knaben etc. kann man getrost vergessen. Steiner hat hier in neuzeitlicher Manier ein geistiges Geschehen vergegenständlicht. 2. Von der spirituellen Bibellektüre kann man viel lernen. Steiner hat sich hier überwiegend an die Bilder der mittelalterlichen Frömmigkeit gehalten, in denen zweifellos tiefe Einsichten verborgen sind. Nach dem Ende des Mittelalters war dies in keiner Rationalität mehr aussagbar, es musste deshalb in unverständliche Dogmatik (katholisch: Immaculata, Assumpta) oder in Esoterik absinken. Die alte Rationalität verdient aber heute unbedingt wiederentdeckt zu werden. 3. Der AszendenzGedanke ist ganz wichtig; seine Vernachlässigung hat den katholischen Glauben, den Marienglauben zumal, verkindlicht und für erwachsene Menschen unannehmbar gemacht. Was Steiner sagen will, lässt sich aber in einer biblischen Tora-Theologie besser und verständiger ausdrücken: In Jesus wird das Wort Fleisch, weil er die Tora tut; das gilt auch für Maria. In diesem Tun verbinden sich Weisheit, Gesetz und Geist zur neuen Schöpfung. Durch Maria, die Jüdin, die das Gesetz tat, zu Jesus, dem Bild Gottes und des wahren Menschen, vgl. Kol 1,16. Maria ist wirklich der Spiegel, in dem wir sehen können, wie wir ein neues Geschöpf in Christus (2 Kor 5,17) werden können. Und dann erkennen wir mit Weisheit, dass dies das uranfängliche Geschöpf Gottes ist. 9. Die katholische Marienfrömmigkeit – marianische Codierung der Welt These: Die marianische Frömmigkeit, wie sie sich über die Jahrhunderte hinweg ausgebildet und im 'marianischen Zeitalter' (1850-1950) ihre intensivste Form gefunden hat, stellt den erfolgreichen Versuch dar, Raum und Zeit und die Gedankenwelt der Menschen (also die ganze Welt) mit einer marianischen Zweitcodierung zu versehen: Alles, was es gibt und was sich ereignet, hat zugleich eine Beziehung zu Maria. Die marianische Codierung funktioniert so, dass sie die allgemein-religiöse (heidnische) Bedeutung der Dinge (also heilige Orte und Zeiten usw.) aufgreift und verstärkt, diese mit Maria verbindet und sie somit biblisch anreichert bzw. umdeutet. Durch die marianische Frömmigkeit geschieht die ständige Umwandlung von Religion in biblisches Christentum. Maria ist das Bindeglied und der Übergang zwischen Religion und Christentum. Daraus könnte man folgern: Der Fortfall der Marienfrömmgkeit hat zum einen das Christentum als Religion geschwächt (die marianische Verstärkung des Religiösen findet kaum mehr statt), zum anderen aber das, was als Rest des Christentums übrigblieb, nicht mehr wirksam vor einer Verwechslung mit heidnischer Religion geschützt. So ist heute unübersehbar in den verbliebenen Bereichen des christlichen Glaubens eine Deutung des Christentums als allgemeine Religion im Vormarsch (vgl. nur bei Eugen Drewermann, Matthew Fox, Wolfgang Esser, Hubertus Halbfas). 25 Es muss aber auch die kritische Frage gestellt werden, ob nicht die Mittlerstellung Mariens zwischen Religion und Christentum immer schon in der Gefahr stand, zur allgemein-religiösen Seite abzurutschen. Ebenso wie Gott war auch Maria immer schon "verwechselbar" (z.B. mit der Göttin; die neoreligöse Renaissance setzt oft bei dieser Verwechselbarkeit Mariens an). Die Verwechselbarkeit Mariens ist offensichtlich mehr ein Problem der marianischen Frömmigkeit als der kirchlichen Lehre über Maria. Aber hier, in der Frömmigkeit, wurde auch mehr gewagt. 9.1 Die "Madonna im Ährenkleid" als Modell marianischer Frömmigkeit ANDREA TAFFERNER (AAO., 61): "...wie in einem Brennpunkt scheinen in Maria alle Kulturen des Vorderen Orients und des Abendlands zusammenzulaufen. Seien es die großen Mythen der Griechen und Römer, die ägyptischen oder germanischen Göttinnenkulte, oder die Traditionen des jüdischen Volkes und seiner Geschichte [...] oder das, was die junge christliche Gemeinde von der Mutter des Jesus von Nazaret zu überliefern wusste: In keiner Gestalt des Christentums scheint mir soviel an Schätzen unterschiedlicher Religionen und Kulturen, unterschiedlichen Volksglaubens und miteinander streitender Theologien vereint zu sein wie in Maria." Beleg am Bild der "Maria im Ährenkleid" (u.a. in St. Maria zur Wiese/ Soest, um 1473). Biblisch ist damit angespielt auf Betlehem (=Haus des Brotes), damit auf Rut – Hanna – Elisabet – Maria: Frauen kämpfen für Gerechtigkeit inmitten der Strukturen einer patriarchalischen Gesellschaft (beachte die Stellung des Buches Rut zwischen dem Richterbuch (königslose Zeit) und 1 Sam (Einführung der Monarchie gegen den Willen Gottes)). Höhepunkt dieser Tradition ist das Magnifikat. – Heidnisch ist angespielt auf die Erd- und Kornmutter Demeter (lat. Ceres), Göttin des Korns, die blondgelockte, das mythische Symbol für den Kreislauf des Lebens, für weibliche Fruchtbarkeit und die Einheit von Leben und Tod (vgl. Demeter-Kore-Mysterien). TAFFERNER meint: Hier werden biblisch-geschichtliches und zyklisches Denken versöhnt, denn beide sind wahr. Maria als die Prophetin, die um Gerechtigkeit kämpft, aber wir bleiben eingebunden in den Kreislauf der Natur. Unsere Schöpfung braucht beides... [vgl. oben 8. zur Weisheit: die Weisheit der Bibel will genau diese Versöhnung leisten; die Madonna im Ährenkeid ist also Maria-Sophia]. 9.2 • Codierung von Zeit, Raum, Bewegung und sinnlicher Wahrnehmung Codierung der Zeit: – des Tages: Angelus-Gebet (morgens/mittags/abends, dazu AngelusLäuten;endgültige Form seit dem 16. Jhd.), erinnert an Menschwerdung/Leiden/Auferstehung, jeweils mit drei Ave-Marias. Vgl. F. COURTH AAO., 548F). Magnificat fester Bestandteil der abendlichen Vesper. Eine marianische Antiphon (s.o. 1) beschließt jeweils die Complet. – des Jahres: Marienfeste, als da sind: 1. Jan. Hochfest der Gottesmutter (Thema: Gottesgebärerin); 2. Febr. Fest Darstellung des Herrn (vor 1969: Mariae Reinigung); 11. Febr. Gedenktag Unserer Lieben Frau von Lourdes (seit 1907); 25. März Hochfest Verkündigung des Herrn (neun Monate vor Weihnachten); Samstag nach dem 2. Sonntag nach Pfingsten Gedenktag unbeflecktes Herz Mariens (seit 1944); 2. Juli Fest Mariae Heimsuchung (Besuch bei Elisabet, Magnificat); 16. Juli Gedenktag Unserer Lieben Frau vom Berge Karmel (Verbindung mit Elia, Eremitentum); 15. August Hochfest Mariae Aufnahme in den Himmel; 22. August Gedenktag Mariae Königin (seit 1954); 8. Sept. Fest Mariae Geburt; 12. Sept. Gedenktag Mariae Namen (Erinnerung an den Sieg über die Türken bei Wien); 15. Sept. Gedenktag der sieben Schmerzen Mariens (1814 von Pius VII. als Dank für seine Rückkehr aus der Gefangenschaft Napoleons eingeführt); 7.Okt. Gedenktag Unserer Lieben Frau vom Rosenkranz (Dank für den Sieg über die Türken bei Lepanto 1571); 21. Nov. Gedenktag Unsere Liebe Frau in Jerusalem (Darstellung Marias im Tempel); 8. Dez. Hochfest der ohne Erbsünde empfangenen Jungfrau; (25. Dez. Hochfest der Geburt Jesu Christi). – Hinzu kommen der Marienmonat Mai und der Rosenkranzmonat Oktober. An den Hochfesten und Festen war im Mittelalter arbeitsfrei! – Zu Herkunft und den liturgischenVorschriften der Feste vgl. BRUNO KLEINHEYER, IN: HDB DER MARIENKUNDE, AAO., 478-503; zu neuen Möglichkeiten des Feierns C. M. SIEGERS, M. WILLEMSEN (HG.), AAO. Wodurch wird die Zeit heute codiert? • Codierung des Raumes: Das beginnt mit der Muttergottes-Statue in der Stube und den Marienbildern im Schlafzimmer und geht weiter über die Marienfiguren in den Nischen der Häuserfassaden und die Andachtshäuschen in Dorf und Feld, den Marienaltären und –bildern in allen Kirchen, den zahlreichen Marienkirchen und Kapellen selbst bis zu den großen Wallfahrtsorten wie Kevelaer oder Altötting. Vgl. dazu die marianischen Ortsnamen (wie 1.). Wohnumfeld und Landschaft waren mit einer marianischen Zeichensprache überzogen, im Namen Marias nahm der Raum eine geistliche Bedeutung an. Jede marianische Stätte war zugleich eine Stätte der biblischen Erinnerung und der Erinnerung an bestimmte lokale Ereignisse oder Personen, z.B. Stifter. (Im Schrifttum des schlesischen Heimatdichters und Theologen JOSEPH WITTIG (1879-1949) kann man das sehr gut sehen; vgl. vor allem sein Buch LEBEN JESU IN PALÄSTINA, SCHLESIEN UND ANDERSWO, MOERS 1991, z.B. 19-21) • Codierung der Bewegung: Zu bestimmten Marienfesten ging man Wege zu Kapellen oder anderen geistlichen Orten, etwa an Mariae Heimsuchung in Erinnerung an den Gang Marias zu Elisabet. Im Mai gab es Bittprozessionen in die Felder. Größere Entfernungen legten die meisten Leute nur bei Wallfahrten zurück, von denen die meisten zu Marienorten führten. Europa war von einem "Straßennetz" der großen Wodurch wird der Raum heute codiert? 26 Wallfahrtswege überzogen, die Orte an diesen Wegen blühten auf. Die Bewegungsart war: gemeinsam und langsam. Wodurch wird die Bewegung heute codiert? • Codierung der sinnlichen Wahrnehmung: Rosenkranzgebet – Marienbilder – Mariengebete – die zahlreichen, oft sehr einprägsamen und schönen Marienlieder – die häufige Erwähnung Marias in der Liturgie – die eigenen Marienliturgien, z.B. Marienvespern: das alles erfüllte die sinnliche Wahrnehmung. Novalis: Ich sehe dich in tausend Bildern... Wovon ist unsere Wahrnehmung heute erfüllt? Es war der katholischen Kirche gelungen, das Alltagsleben geistlich umzucodieren. Alles war nicht nur 'dieses'. sondern zugleich etwas 'anderes'. Das ganze Leben war in diesem Zeitalter mit einem marianischen Zeichensystem überzogen. Dieses entsprach zum einen den religiösen Bedürfnissen, zum anderen erinnerte es immer wieder an Biblisches. Durch Maria wurde so die Bibel jederzeit lebendig. – Nur mit einigen Formen der marianischen Frömmigkeit können wir uns im folgenden näher befassen: mit dem Rosenkranzgebet, den Wallfahrten und den Marienerscheinungen. 9.3 Der Rosenkranz Lit: STEFANIE AURELIA SPENDEL : AAO.; F. COURTH: DER ROSENKRANZ ALS MARIANISCHE CHRISTUSMEDITATION, AAO.; ROMANO GUARDINI: DER ROSENKRANZ UNSERER LIEBEN FRAU, AAO.; GISLIND M. RITZ: AAO. Meditatative, auf Wiederholung gründende Gebetsformen gibt es in allen Religionen, oft verbunden mit Gegenständen zur Abzählung. Mund und Hände sind mit der gleichen Sache beschäftigt, sie lenken nicht ab, der Geist kann sich frei dieser Sache zuwenden. Feste Struktur der Wiederholung dient der Konzentration und der Freiheit des Geistes. Vorläufer des Rosenkranzes: Der mittelalterliche Blumenkranz der ritterlichen Minne, der auch schon in der Marienverehrung verwendet wurde; die Gebets-Abzählinstrumente der Mönche; die Verbindung von Psalmengebet mit Christusmeditationen. Entwicklung des Rosenkranzes nach vielen Vorstufen durch den Dominikaner Dominikus von Preußen (13841460) in Trier. Das Rosenkranzgebet breitet sich sprunghaft ab der 2. Hälfte des 15. Jhds. aus, befördert durch Rosenkranzbruderschaften und Ablässe. Hintergrund: Aufschwung der Laienfrömmigkeit angesichts gravierender Missstände an der Spitze der Kirche (Papstschisma, Renaissancepäpste); Heilssuche in Krisenzeit. Gebetsform: Nach Glaubensbekenntnis und drei Vater-unser je zehn Ave-Maria und wieder ein Vater-unser, insgesamt 50 Ave-Maria. An je zehn wird ein "Gesätz" (nach dem Satz: "und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes Jesus, der...) angeknüpft, das sich auf Jesus und seine Geschichte bezieht: Freudenreicher, schmerzhafter, glorreicher Rosenkranz (Menschwerdung, Leiden, Auferstehung Jesu). Neue Gesätze, je nach Anlass und Betergruppe, sind möglich. Der Rosenkranz meditiert die ganze biblische Jesusgeschichte 'per Mariam ad Iesum'. Er ist eine biblia pauperum. Der Rosenkranz: Wirkungsvolle biblische Codierung eines urreligiösen Ritus; hier wird die Struktur der Marienfrömmigkeit ganz deutlich, s. o. 9.1. Maria leitet das Religiöse in biblische Bahnen. 9.4 Marienwallfahrten Lit: F. COURTH: WALLFAHRTEN ZU MARIA, AAO.; KLAUS GUTH, AAO.; KARL KOLB, AAO.. WALTER PÖTZL, AAO.; JOE H. KIRCHBERGER AAO.; MARIA, DIE KÖNIGIN DES FRIEDENS, AAO. Pilgerfahrten und Wallfahrten (Unterscheidung: Bei Letzteren ist bereits der Weg kultisch ritualisiert) gehören zum Grundbestand der Religionen: Bedürfnis nach Verehrung und Hilfe an der Stätte des Heiligen. Die Präsenz des Heiligen will ortsgebunden erfahren werden. Geschichte im Christentum: Ab der konstantinischen Wende Pilgerfahrten zu den Ursprungsstätten der biblischen Geschichte, später auch zu den Gräbern berühmter Heiliger (z.B. Santiago di Compostella). Ab Frühmittelalter Verbindung mit Buß- und Beichtpraxis (Ablass), ab Hochmittelalter auch mit Reliquienverehrung. Ab dem 13. Jhd. sind spontane Wallfahrten allein zu Marienorten bezeugt (Mariazell, Einsiedeln), später werden Wallfahrtsstätten auch von Adel oder Städten begründet (z.B. Regensburg, Altötting, Andechs); Wallfahrten waren einträglich. Aufschwung im Spätmittelalter, Entstehung von Gnadenorten mit Gnadenbildern (mit festen verschiedenen Typen: "Wegführerin", "Schöne Madonna", "Zärtliche Madonna", Schutzmantelmadonna, Pietà, Mater Dolorosa); diesen wurden verschiedene Gnadengaben und Wunder zugeschreiben; Gefahr des magischen Verständnisses. Förderung der Wallfahrten in der Gegenreformation. Im Barock Höhepunkt der Wallfahrtsbewegungen, sie sind jetzt Massen-Volksbewegungen. Im 19. Jhd. werden sie verstärkt pastorales Instrument der Hierarchie, aber auch befördert durch die Erscheinung in Lourdes 1858. – Eine Wallfahrt ist niemals vorgeschrieben, sie wird rein freiwillig gemacht. Gebräuche: Einige Wallfahrtsorte zeigen "schwarze Madonnen" (Altötting, Chartres, Le Puy, Tschenstochau, Loreto, St. Maria Maggiore in Rom u.a.): Folge des Kerzenrauches oder Hinweis auf heidnische Urbilder? An den Marienwallfahrtsorten findet sich der intensivste Niederschlag der Volksfrömmigkeit, den wir überhaupt im Christentum haben: die überreich geschmückten Gnadenbilder und Kirchen, die Ausschmückung der Kirchen, die zahllosen Kerzen (teilweise wurden zentnerschwere Kerzen den ganzen Weg getragen)... Die 27 Marienbilder entstammen zumeist einfacher Volkskunst. Die WallfahrerInnen nehmen große Mühen für die Pilgerreise auf sich, fallen auf die Knie, wenn sie das Ziel vor Augen haben, ziehen die Schuhe aus, rutschen auf den Knien zum Gnadenbild, bleiben Stunden oder ganze Nächte in der Kirche... Sie werden festlich, mit Geläut und Geleit, an den Orten empfangen. An manchen Wallfahrtsorten wurde das Gnadenbild nur alle paar Jahre gezeigt (es gab wegen der Konkurrenz Absprachen mit anderen Orten). Man brachte Geld oder Votiv- [Gelübde] und Weihegaben dar, Wertgegenstände wie Wachs, Tiere oder Kleidung, oder auch Nachbildungen von Körperteilen, für die man Heilung erflehte. Material (Erde, Staub, Wasser, Lampenöl) und Devotionalien wurden aus den Wallfahrtsorten mit nach Hause genommen, z.T. weiter verkauft. Auch die Rückkehr fand noch in geordneter Form statt. Die Wallfahrt endete mit festlichem Gottesdienst in der Heimatkirche, wo die Wallfahrer von den Daheimgebliebenen festliche empfangen wurden (vgl. zu diesen Gebräuchen PÖTZL aaO. 509-526). Aus dem Pilgerbuch für die Wallfahrt von Neuß nach Kevelaer von 1851: Der Verfasser der Einleitung verteidigt die Wallfahrten gegen Kritik. Man wirft den Wallfahrern vor: – öffentliches Zusammenrotten, politische Gefahr; man stellt sie unter Polizeikontrolle [der neue Staat möchte alles unter Kontrolle haben, vor allem die Gemeinschaftsbildung]; – dass sie nicht arbeiten, sondern Erholung suchen, und dass sie zuviel Geld dafür ausgeben [eine der Industriegesellschaft unerträgliche Sache]; – die Eintönigkeit und Gleichförmigkeit der Gebete [wird als Widerspruch zum Fortschritt und zur allgemeinen Mobilität aufgefasst]. Der Verfasser ist sich des modernitätskritischen Potenzials der Wallfahrten durchaus bewusst: "Die klangvollen Worte 'Fortschritt' und 'Aufklärung' bilden für sie [die Gegner] gleichsam den schützenden Schild, hinter der sich [...] die zerstörerischen Absichten der Religionsfeinde verbergen. [...] Der Fortschritt jedoch, der vor allem nötig und der allein zum Heile führt, bezieht sich auf das Wachstum der christlichen Gerechtigkeit, auf die Reinheit des Wandels, auf die Lauterkeit der Gesinnung, woran aber bei den großen Wortführern unserer Zeit wohl am wenigsten gedacht wird. [...] Hinter der glänzenden Außenseite [des technischen Fortschritts] aber gewahrt das scharfblickende Auge eine trostlose Oede und grausenhafte Verwilderung, eine geistige Erschlaffung und materialistische Versumpfung, eine sittliche Verwesung und religiöse Fäulnis, welche die ganze Gesellschaft von oben bis unten nach allen Seiten zu durchdringen sucht. Von den Altären der Sinnlichkeit, der Lüge und der Selbstvergötterung sehen wir aller Orten einen düsteren Qualm aufsteigen, so daß der Himmel sich zu verdunkeln scheint..." (S. X-XI). Und hat er nicht Recht? Die Wallfahrt dauerte vier Tage hin und vier Tage zurück. Die gesamte Zeit war mit persönlichen Gebeten und Besinnungen, Rosenkränzen, Litaneien, Anrufungen und Liedern gefüllt, jeweils aufgeteilt auf die Strecke. Der ganze Weg war geistlich vermessen. Der Tag begann um 4.45 Uhr mit Kommunionausteilung und Messe und endete abends mit dem sakramentalen Segen in der Kirche des Ortes, in dem übernachtet wurde. Die Gebete galten den Verstorbenen, den Armen und Bedürftigen, den Regierungen, den Kirchenoberen; mit all diesen war man geistlich verbunden. Viel Zeit war auch der persönlichen Besinnung, der Gewissenserforschung und Reue, dem Gedenken an den Tod, der Erinnerung und der Hoffnung überlassen. So war die Wallfahrt ein geistliches Exercitium in größter Intensität für den einzelnen, in Verbundenheit mit den anderen Pilgern und allen Lebenden und Verstorbenen. – Das ist Umcodierung von Zeit, Raum, Bewegung und sinnlicher Wahrnehmung. 9.5 Die Marienerscheinungen Lit.: HEINRICH PETRI, MARIENERSCHEINUNGEN, AAO.; J. H. KIRCHBERHGER, KULTSTÄTTEN, AAO.; A. M. WEIGL, MARIA, AAO. These: Marienerscheinungen erwachsen aus der marianischen Codierung der Welt. In einer marianisch codierten Welt sind sie zu erwarten bzw. selbstverständlich. Befremdlich werden sie erst dem, der die marianische Codierung der Welt zurückweist oder den Code nicht kennt. Berühmte Marienerscheinungen: • Bereits im Mittelalter wird vereinzelt davon berichtet • 1531 Guadelupe: Maria erscheint dem Indio Juan Diego • 1664 Laus/Frankreich: vor einer 17jährigen Schäferin • 19.Jhd.: Die Nonne Anna-Katharina Emmerich sieht visionär das Haus und das Grab Marias in Ephesus; Archäologen bestätigen ihre Darstellung; Clemens Brentano zeichnet das auf • 1830 Paris, Rue du Bac: Erscheinung von der 23jährigen Katharina Labouré, Aufforderung zur Prägung einer Medaille • 1846 La Salette vor Maximin Giraud (11) und Melanie Calvat (14), die weder lesen noch schreiben konnten • 1858 Lourdes: 18 Erscheinungen vor Bernadette Soubirous (14), Vorstellung als "Immaculata Conceptio" (vgl. den Roman von Franz Werfel) • 1879 Knock Muir/Irland: Dorfbewohner sehen sie an der Fassade ihrer Dorfkirche • 1917 Fatima/Portugal: 6 Erscheinungen vor drei Hirtenkindern (Lucia, 10, Francisco, 9, Jacinta, 7): Maria sagt den baldigen Tod der beiden Letzteren, das Ende des 1. Weltkriegs im Okt. 1917 und einen neuen Krieg in der Zeit Pius XI. voraus ("drittes Geheimnis": Attentat auf den Papst?!), sie erbittet die Weihe Russlands an ihr unfeflecktes Herz. 70000 Menschen sehen 13.Okt. 1917 die Sonne wie eine Scheibe sich drehen • 1984-87: mehrere Erscheinungen in Finca Betania/Venezuela • ab 1981 Erscheinungen in Kibebo/Ruanda vor sechs Mädchen • ab 1981: Erscheinungen vor Kindern und Jugendlichen in Medjugorja/ehem. Jugoslawien. – Nur wenige der Erscheinungen sind von der Amtskirche anerkannt worden. Botschaften Marias anlässlich von Erscheinungen: Sie fordert zum Bau von Kapellen etc. auf, zu religiösen Übungen (Gebet, Rosenkranz, Herz-Mariä-Verehrung, Sühnekommunion, Halten der Gebote etc.). Sie macht Aussagen über sich selbst (Immaculata, Mittlerin der Gnaden etc.). Sie mahnt: Wenn die Menschen sich 28 nicht bekehren, werde sie die strafende Hand ihres Sohnes nicht mehr aufhalten können. Sie habe sehr unter den Sünden der Menschen zu leiden. Oft sagt sie kommende Katastrophen, Kriege, Missernten voraus. Konkreter sind die Prophezeiungen von Fatima, die aber, bis auf den Tod der Kinder, nicht genau in Erfüllung gegangen sind. Ihr Ton ist fast immer apokalyptisch. Aus dem Buch von A. WEIGL über die Erscheinungen in Montichiari-Fontanelle (die von der Kirche nicht anerkannt sind): Der Autor hebt hervor: Sie sucht nicht ihre Ehre, sondern die ihres Sohnes. Er zitiert Papst Paul VI. vom 11. 7.1972: "Die Erneuerung des christlichen Lebens, die Erneuerung der Gesellschaft wird von der überreichen Hilfe der Gottesmutter abhängen", und Konrad Adenauer. "Die verborgenen, aber wahren Hauptstädte der Welt sind die Wallfahrtsorte Mariens". – Maria erschien am 3. August 1947 der damals 36jährigen Krankenschwester Pierina Gilli als wunderschöne Frau im violetten Kleid mit weißem Schleier. Sie war sehr traurig, ihre Augen waren voller Tränen, die auf den Boden fielen. Ihre Brust war mit drei großen Schwertern durchbohrt. Sie sagte: "Gebet – Buße – Sühne". Bei einer zweiten Erscheinung sind die drei Schwerter durch drei Rosen ersetzt. Sie fordert zu einer neuen marianischen Andacht in den Orden und bei den Weltpriestern auf und sagt: "An diesem Tag werde ich auf jene religiösen Institute, Ordensgemeinschaftten und Weltpriester, die mich so geehrt haben, eine Überfülle von Gnaden und große Berufsheiligkeit heruntersenken." Sie verlangt die Feier eines Festes zu Ehren der "Rosa mystica" (als welche sie sich selbst vorstellt) am 13. Juli jeden Jahres. Auf die Frage, ob sie ein Wunder wirken würde, antwortet sie: "Das augenscheinlichste Wunder wird darin bestehen: Die gottgeweihten Seelen, die seit geraumer Zeit und besonders während der Kriegszeit in ihrem guten Geiste lau geworden sind, so daß sie ihrem Beruf untreu wurden und ihn sogar verrieten, diese Gottgeweihten, die durch große Verfehlungen Strafgerichte und Verfolgungen – wie es gegenwärtig gegen die Kirche der Fall ist – heraufbeschworen haben, werden aufhören, unseren Herrn schwer zu beleidigen. Sie werden den ursprünglichen Geist ihrer heiligen Ordensgründer neu aufleben lassen." Am 16.11.47 sagt sie bei einer Erscheinung: "Unser Herr, mein göttlicher Sohn Jesus, hat die vielen und schweren Beleidigungen der Menschen durch die Sünden gegen die heilige Reinheit satt. Er möchte eine Sintflut von Strafen senden. Ich habe Fürsprache eingelegt, damit er nochmals Erbarmen habe. Daher bitte ich um Gebet und Buße zur Sühne für die Sünden. Ich bitte ganz innig die Priester, daß sie mit aller Liebe die Menschen mahnen, diese Sünden nicht weiter zu begehen. Ich werde meine Gnade allen jenen schenken, die mithelfen, diese Sünden zu sühnen." – Nur die Pierina kann die Madonna sehen, andere Anwesende nicht. Spektakuläre Wunder geschehen nicht, aber doch einige erstaunliche Heilungen werden berichtet. Später erscheint Maria mehrmals bei einer Quelle in der Umgebung. Sie will, dass viele Menschen zu ihren Erscheinungen kommen und verlangt die Errichtung einer Gnadenkapelle und die Prägung einer Medaille mit der Aufschrift "Rosa mystica" als Zeichen für den Triumph der universalen Liebe. Der örtliche Klerus verweigert dies aber. Bei weiteren Erscheinungen wird ihre Botschaft immer finsterer, so am 17. Jan. 1971: "Bete, bete, Tochter, und lass beten! So viele meiner Kinder befinden sich in der Finsternis! Man will Gott nicht mehr! ... Oh, die Menschheit rennt, rennt ihrem großen Verderben entgegen. ... So viele Seelen gehen verloren. ... Oh, arme Kirche meines göttlichen Sohnes Jesus Christus! Betet, Kinder, tut Buße! ... Das ist der flehende Herzenruf der Mutter des Herrn!" [Literarisch ist das alles aus der Seele eines italienischen Bauernmädchens herausgesponnen.] Beobachtungen und Deutungen: 1. Nichts von dem, was Maria sagt oder tut, fällt aus dem Rahmen der jeweils zeitgenössischen katholischen Frömmigkeit und Verkündigung heraus. Auch die dogmatisch fragwürdigen Gedanken der Gnadenmittlerschaft und der Fürsprache gegenüber dem drohenden Gericht sind nicht originell. Anspruch auf neue Offenbarungen wird nicht erhoben. 2. Umstände und Bezeugung der Erscheinungen sind jeweils so, dass sie nicht unter die Kategorie historischer Tatsachen eingeordnet werden können. Es handelt sich immer um bloß subjektive Bezeugungen unzuverlässiger Zeugen über nicht nachprüfbare Dinge. Tatsächlichkeit wird gar nicht beansprucht. 3. Maria steht immer da wie auf Bildern gemalt, sie geht niemals umher oder Ähnliches. Das deutet darauf hin, dass der Ursprung der Erscheinungen in lebendiger Bildwahrnehmung liegt. Solche Lebendigkeit ist in der Tradition der Kult- und Andachtsbilder schon angelegt: Hier war ja immer schon mehr angezielt als bloßes Betrachten, nämlich Begegnung und Kommunikation mit der im Bild Dargestellten. Dieses Moment wird nun in den Erscheinungen aktualisiert! Vgl. einen Bericht der Karmelitin Teresa von Avila von 1572. "Im ersten Jahr meines Priorates im Kloster der Menschwerdung sah ich am Voraben des Festes des Hl. Sebastian, während man das 'Salve Regina' anstimmte, dass die Mutter Gottes, umgeben von einer großen Engelsschar, sich auf dem Betstuhl der Priorin, auf dem ihr Bild stand, niederließ und – wie es mir schien – sich daselbst setzte. Das Bild Mariens schien mir damals unsichtbar, an Stelle des Bildes gewahrte ich Unsere Liebe Frau" (nach JUTTA STRÖTER-BENDER, DIE MUTTERGOTTES, 29). Hier kann man sehen, wie sich die Marienerscheinung aus der marianischen 'Codierung' der Erlebniswelt unmittelbar und folgerichtig ergibt. Die Marienerscheiungen sind als wirklich passiert – für Menschen, die die marianische Codierung der Welt übernommen haben. In einem anderen Code – z.B. dem der historischen Wahrheit – kann über diese Wirklichkeit nichts ausgesagt werden (sowenig jemand einen Satz im Morsealphabet verstehen kann, der den Morse-Code nicht kennt). Dazu passt, dass die Erscheinungen im 'marianischen Jahrhundert' der Kirche deutlich zunehmen. 4. Es sind immer Kinder und einfache Frauen, niemals Männer, Mächtige oder Gebildete, denen die Erscheinungen zuteil werden. Es sind, in einem Wort, die Übergangenen und die Verlierer der modernen Gesellschaft, die die Welt im marianschen Code sehen. Dieser Code ist also im Kern ein biblischer: "Er stürzt die Mächtigen vom Throne und erhöht die Niedrigen" 29 (Magnificat). In den Marienerscheinungen wird das wahr, selbst wenn sie sich noch in Formen kirchenherrschaftlicher Frömmigkeit kleiden. 5. Die Botschaften der Erscheinungen in ihrem Zeitkontext lassen sich als eine Geschichtsschreibung und Zeitdeutung von unten verstehen. Kriege, Katastrophen, der fortschreitende Wahnsinn der Menschheit, das Elend Russlands nach der Revolution, das Versagen der Kirche im Faschismus (Montichiari) werden benannt. Das drohende Gericht wird gesehen. Die Beschwörung der Apokalyptik bestreitet angepasste kirchliche Religiosität und deren Verleugnung des Apokalyptischen in der Neuzeit (Viele der Erscheinungen erinnern an Offb 12!). Guadelupe ist Kritik am kirchlich-spanischen Kultur- und Religionsimperialismus. Die Krankenheilungen (vor allem Lourdes) begrenzen den Allmachtsanspruch der modernen Wissenschaft und Medizin. Man kann sagen: Maria leiht denen ihre Stimme, die sonst keine Stimme in der Öffentlichkeit haben. Die Erscheinungen sind die Publizität des schweigenden Volkes (vielleicht sogar der Opfer der Geschichte; man denke an das schwere Schicksal vieler Erscheinungszeugen oder deren frühen Tod). 10. Einige abschließende Überlegungen Wir haben gesehen: Über Maria zu reden bedeutet, irgendwie über das ganze Feld der Theologie und der Frömmigkeit zu reden. Eine konsitente, traktatmäßig abgeschlossene Mariologie kann ich auch in diesen Schlussbemerkungen nicht vorlegen. Lit.: JOSEPH CARDINAL RATZINGER/HANS URS VON BALTHASAR: MARIA, AAO. (Der Band versammelt mehrere kurze Aufsätze der beiden Autoren – man findet eine intensive mariologische Reflexion auf hohem Niveau; empfiehlt sich sehr zur Vertiefung dieser Vorlesung zu lesen) 10.1 Theologie des Volkes/Theologie von unten Marienfrömmigkeit in der Kirche ist mehr als jede andere Form kirchlichen Lebens eine Sache des Volkes, der einfachen Gläubigen gewesen. Diese Volksfrömmigkeit hat alle Gehalte des Glaubens im Marianischen gebündelt und sich dafür einen eigenen Ausdruck geschaffen. Sie lief der offziellen kirchlichen Lehre teils voraus, teils blieb sie dahinter zurück (und konnte als häretisch angesehen werden), teils, vor allem im 19./20.Jhd., kann sie als Kritik an der Haltung der Kirche verstanden werden (s.o. zu den Erscheinungen). Ich sehe in dieser Frömmigkeit auch ein Wirken des Geistes in der Kirche, das die Theologie sehr ernst zu nehmen hat. Theologie kommt eben nicht nur von oben. RATZINGER (aaO. 14-19) weist darauf hin: Im Vorfeld des II. Vatikanums stritten zwei Bewegungen in der Kirche um ihre Geltung: die marianische (gespeist aus den Marienerscheiungen etc., ihre Höhepunkte waren die beiden marianischen Dogmen) und eine liturgisch-heilsgeschichtlich denkende, die von der Liturgischen Bewegung herkam (ihre Protagonisten waren Mönche/Kleriker und, wie bei der Jugendbewegung, gebildete Laien). Die knappe Abstimmung auf dem Konzil (s. o. 7.5) zeigt den Konflikt an, der die Kirche zu spalten drohte. Die zweite Richtung hat sich durchgesetzt (Mariologie wurde der Ekklesiologie untergeordnet, damit eines Teils ihres Reichtums beraubt; sie erscheint in den Texten des Konzils eigenartig akademisch); letztendlich bedeutete das das Ende der Marienfrömmigkeit. Und damit überhaupt einer eigenständigen Volksfrömmigkeit in der Kirche! Seitdem wird die Frömmigkeit kirchenamtlich und fachtheologisch verwaltet (sehr gut zu sehen an der Liturgiereform). Das Volk hat sich aber von dieser aufgeklärten Frömmigkeit überwiegend abgewandt [Das ist eine Erklärungslinie, sicher nicht die einzige]. Die Enzyklika von Johannes Paul II. "Redemptoris Mater" von 1987, die noch einmal an die Linien der alten Marianfrömmigkeit anknüpfte, kam zu spät, um diesen Prozess noch aufzuhalten. Dass Marienfrömmigkeit vor allem die Sache der kleinen und einfachen Leute gewesen ist, ist selbst bereits biblisch induziert. Maria war eine einfache, "niedrige" Frau/Magd/Sklavin, und an ihr ist wahr geworden, was sie im Magnificat prophetisch sagt: "Auf die Niedrigkeit seiner Magd hat er geschaut. Siehe, von nun an preisen mich selig alle Geschlechter." Das möge auch für die Gegenwart wieder wahr werden! 10.2 Maria: Vermittlung zwischen Religion und Bibel Die marianische Codierung, die wir beobachtet haben, bewegt sich immer auf der Grenze zwischen allgemeiner Religiosität (=Religion als anthropologische und soziale Grundgegebenheit mit ihren entsprechenden Ritualen) und speziellen biblischen Gehalten. Maria nimmt das Bedürfnis nach Religion auf und deutet es biblisch um: Man möchte die göttliche Frau sehen und trifft auf das jüdische Mädchen aus Nazaret; man möchte meditative Gebetspraktiken üben und wird im Rosenkranz an die biblischen Heilsgeheimnisse gewiesen usw. Ja noch weiter: Maria ist der Spiegel menschlicher Grundsituationen (vgl. oben 2.), aber sie wirft das Gespiegelte in biblischen Bildern zurück. So hat Maria in allen Jahrhunderten die Menschen bei ihrer Religion und Befindlichkeit abgeholt und sie dann die Sprache der Bibel gelehrt. Insoweit kann man sie zu Recht als "Mittlerin" (Mediatrix) bezeichnen, ohne dass sie hierbei in Konkurrenz zu Jesus Christus träte. Die Vermittlung des Gottesverhältnisses Israels zu den Heiden ist allein Jesu Sache, aber Maria bereitet das vor, indem sie die Menschen in das biblische Wirklichkeitsverständnis einführt und beständig darin hält. Darin ist sie Mutter der Kirche. Die Marienfrömmigkeit ist die Vermittlung und Versöhnung von Religion und biblischem Glauben. Der Fortfall der marianischen Frömmigkeit hat uns der Welt der Bibel fremd werden lassen, denn Belehrung allein reicht nicht aus, um in der Welt der Bibel zu leben [Diese Fremdheit ist durch die historisch-kritische Methode der Bibelauslegung noch gesteigert worden]. Dementsprechend wuchert heute auch in der Kirche eine bibelferne, allgemeine Religiosität. – Die prekäre Grenzstellung zwischen Religion und Bibel hat es immer 30 wieder zu Abstürzen kommen lassen. Manche Formen der Marienfrömmigkeit waren nicht frei von heidnischem Aberglauben; die schwierige Balance wurde nicht immer gehalten. Soweit die Amtskirche und die Theologie sich um die Marienfrömmigkeit gekümmert haben, kann man sagen, dass sie solche Abstürze nach Kräften zu verhindern gesucht haben, vgl. oben 7. 10.3 Maria: Vermittlung zwischen Israel und Kirche Schauen wir nun näher auf die biblischen Gehalte, die mit Maria gegeben sind, dann entdecken wir: Sie steht genau auf der Grenze zwischen Israel und der Kirche aus Juden und Heiden. In ihrer Gestalt sind die Haupttraditionen der Geschichte des Volkes Israel mit Gott gebündelt. Sie steht für den Glauben an die Verheißung (wie Abraham und Sara), für die Treue Gottes zu seinen Verheißungen ("er nimmt sich seines Knechtes Israel an und denkt an sein Erbarmen...", Lk 1,54)), für die so wichtige Frauenlinie im Alten Testament, die die Linie des unwahrscheinlich gelingenden Lebens ist ("Wie kann das geschehen, da ich keinen Mann kenne", Lk 1,34), für das Leben aus Gottes Gebot (Toragehorsam: "Mir geschehe, wie du gesagt hast", Lk 1,38), für das immer-wieder-wahr-Werden von Gottes Wort in der Geschichte ("Dies alles aber ist geschehen, damit erfüllt würde, was der Herr durch die Propheten gesagt hat...", Mt 1,22). für den Segen, der aus der Erwählung durch Gott kommt ("Sei gegrüßt, du Begnadete, denn der Herr ist mit dir", Lk 1,28), für die Umkehrung der Machtverhältnisse, wenn Gottes erbarmende Macht in der Welt Platz gewinnt ("Er stürzt die Mächtigen vom Throne und erhöht die Niedrigen", Lk 1,52), für den Widerstand der Welt, der dagegen erwächst (Flucht nach Ägypten, Kindermord), für das Bewahrtwerden der Getreuen Gottes ("Und die Frau entfloh in die Wüste, wo sie einen Ort hatte, bereitet von Gott", Offb 12,6). Aber sie ist auch die Mutter des Messias, der die Erwählung Gottes zu den Menschen aller Völker bringt. So steht sie auch für das Neue, das mit Jesus beginnt. Sie hat eine schwierige, schmerzhafte Lektion zu lernen, wie es bereits Simeon voraussagt: "Durch deine Seele wird ein Schwert dringen", Lk 2,35. Sie hat zu lernen, dass es nicht mehr auf Abstammung und biologische Mutterschaft ankommt, sondern auf allein auf das Tun des Wortes Gottes: "Eine Frau aus der Menge rief ihm zu: 'Selig die Frau, deren Leib dich getragen und deren Brust dich genährt hat'. Er aber erwiderte: Selig sind vielmehr die, die das Wort Gottes hören und es befolgen", Lk 11,27f, vgl. Mk 3,31-35! Dies ist die Lektion für Israel, die Maria stellvertretend auf sich nimmt. Marias israelitischer Glaube ist bereits so, dass die Gerechtigkeit, die nur aus dem Glauben kommt (Paulus!), darin schon enthalten ist. Das sagt ihr Elisabet: "Selig ist die, die geglaubt hat, dass sich erfüllt, was der Herr ihr sagen ließ", Lk 1,45. In Marias Glauben ist der Überstieg von Israel zu den Heiden bereits vollzogen, darum ist sie der Typos Israels und der Typos der Kirche in einer Person – und darin Mutter der Kirche. Sie ist das Urbild des Glaubens (Israels) und zugleich die Mutter der Glaubenden (nämlich der Kirche). Die Szene unter dem Kreuz Joh 19,25-27 will das ausdrücken: Sie wird dem Jünger, dem Glaubenden, zur Mutter, und dieser nimmt sie, ihren Glauben, in sein Eigenes auf. Durch Maria ist die Kirche zugleich mit Israel unlöslich verbunden und als neues Gottesvolk grundgelegt. Apg 1,14, das Maria in der Pfingstversammlung zeigt, will genau das verdeutlichen. Auch in ihrer Stellung zwischen Israel und der Kirche ist Maria also Mittlerin (Mediatrix). Die letzten beiden Punkte können wir nun zusammenfassen: Maria vermittelt das Religöse so mit dem Biblischen, dass sie es hineinstellt in die biblisch verheißene Gemeinschaft zwischen Israel und den Völkern. Der Segen, der auf ihr ruht, ist genau der Segen von Gen 12,3: "In dir (Abraham) sollen gesegnet sein alle Völker". Weil sie das wahr macht, wird sie zu Recht die Mutter des Messias genannt (vgl. dazu BALTHASAR aaO. 87-111). 10.4 Maria: das Zeichen der Frau Von dem "Weiblichen", das Maria in der Kirche repräsentiert, verstehe ich zur Zeit so viel: • Als "Jungfrau" und überaus schöne Frau, als Gegenstand der Sehnsucht und der Liebe, ist sie zentral für die Vermittlung zwischen Religion und Bibel. Denn es gehört zum Grundvollzug aller Religionen, den niemals zur Ruhe kommenden Eros von seinen irdischen auf 'himmlische' Objekte umzuleiten. Die Liebe und das Begehren kommen nur im Göttlichen zur Ruhe. Maria zieht dieses Moment auf sich und codiert es biblisch um: statt bei der Göttin kommen wir bei den Frauen der Bibel an und letztlich bei dem Gott, der über das Begehren ("concupiscentia") zugleich richtet und es auf seine Weise erfüllt. Dass Maria bleibend "Jungfrau" ist, kann vielleicht so verstanden werden: Die Art von Liebe, die sie eingibt, passt nicht in die gewöhnliche Begierdestruktur. Es ist keine Begierde, die ihre eigene Erfüllung sucht und dabei sehr egoistisch sein kann. Die jungfräuliche Maria ist dem erotischen Zugriff entzogen, statt dessen lehrt sie eine Liebe, die nicht in der Logik des Begehrens liegt. Hier gilt analog "Rechtfertigung": Liebe ist kein Werk, sondern Gabe bzw. Gnade, die uns zu neuen Menschen macht. Verwechselt man hierbei Glaube und Gesetz (im paulinischlutherischen Sinn), dann wird allerdings dieses Ideal der Jungfräulichkeit repressiv und sexualfeindlich. [Dazu einmal das sog. Protoevangelium in Gen 3,15 lesen: "Feindschaft will ich setzen zwischen dir [der Schlange] und dem Weibe, zwischen deinem Sproß und ihrem Sproß. Er wird dir den Kopf zermalmen, und du wirst ihn an der Ferse treffen" – ist hier nicht, im Rückblick auf die Rolle der Schlange beim Sündenfall, von zwei Strukturen des Begehrens die Rede, die miteinander im Streit liegen werden? • Maria als Frau aus der Bibel führt uns zur biblischen Frauentradition. Diese war – man denke an Thamar, Rahel, Debora, die Tocher Jiphtachs, Ruth, Judith – immer auch subversiv: Die Ordnung der Frauen lässt sich mit der männlichen Gewalt- und Herrschaftsordnung nicht übereinbringen. Maria nimmt das im 31 • Magnificat auf: "Er erfüllt die Hungrigen mit seinen Gaben...". Tatsächlich hat die Marienfrömmigkeit in der Kirche immer auch als Kritik an der männlichen Machtordnung gewirkt, am deutlichsten gegenüber der kapitalistischen Industrialisierung im 19. und 20. Jahrhundert (vgl. 9.4 und 9.5). In Maria haben die Frauen eine Identifikationsgestalt und ein Sprachrohr für ihre Sicht der Welt gefunden. – Die biblische Codierung für das Weibliche bezieht sich auf eine andere, bessere Art von Gerechtigkeit, nicht auf die naturalen weiblichen Werte wie Fruchtbarkeit und Erotik. Ob man in Maria eine typisch weibliche Art des Lebens und Handelns erkennen kann – Priorität des Empfangens und Dankens vor dem eigenen Tun; eine Kooperation mit Gott, die nicht auf Konkurrenz hinausläuft – lasse ich mit BALTHASAR (aaO. 112-130) dahingestellt. Daran mag vieles sein, doch vermeidet es nicht immer die Gefahr von Geschlechterstereotypisierung. 10.5 Maria: Advent und Eschatologie Das Marianische enthält die Verheißung, dass Bibel und Religion, Israel und die Völker, Glaube und Vernunft, die Tora und das Gesetz der Welt, also alles in allem: Gott und die Welt miteinander versöhnt sein können. Diese Verheißung ist unerfüllt, und deshalb ist die marianische Frömmigkeit eine adventliche. In den Advent fällt das Hochfest der ohne Erbsünde empfangenen Jungfrau Maria (8. Dez.). So wie Maria das Kind in ihrem Leib austrägt und erwartet, so wartet die Welt auf den Frieden, der aus der Versöhnung der Menschen mit Gott und seinem Gesetz kommt. Aber das Fest am 8. Dez. kann gefeiert werden, weil die Versöhnung in der Welt schon stattgefunden hat. Eine war schon da, die war frei von der Erbsünde! Von der Versöhnung, die bereits stattgehabt hat, handelt die katholische Marienfrömmigkeit der Vergangenheit. Sie schwelgt in der Übereinstimmung von Religion und biblischen Glauben. Sie steht, ähnlich wie die Orthodoxie des Ostens, schon auf dem Standpunkt der Weisheit. Man wird der marianischen Epoche vielleicht vorwerfen können, dass sie zu sehr die vorweggenommene Erlösung gefeiert hat. Sie hat schon die Aufnahme Mariens in den Himmel proklamiert, während Maria und Jesus noch in den Kampf um die Welt und die Gerechtigkeit verwickelt sind – eine Fehler der Eschatologie! Hier zeigt sich auch der enge Zusammenhang von Kirchenverständnis und Marienglaube, der durchgängig festzustellen ist. Eine Kirche, die sich als Reich Gottes auf Erden begreift, bringt eine vorwegnehmende, triumphalistische Mariologie zustande. Das Adventliche der Marienfrömmigkeit wird hier zu sehr ins Präsentische aufgelöst, mit der Folge, dass die kritische Kraft des Marianischen darunter verlorengeht. Aber dennoch wird man sagen können: Die Durchsäuerung der Welt mit dem Sauerteig des Glaubens war schon einmal weiter vorangeschritten als heute! Die marianische Codierung kann als eine im Ganzen gelungene Form der Glaubensverkündigung gelten. Ich schaue mit Wehmut auf diese Zeit zurück. Die Mariologie ist heute, wo die Welt durchgehend anders codiert ist, ein eschatologisches Thema geworden. Das Adventliche daran ist uns ferngerückt. Wie wir die Eschatologie wieder präsentisch machen können: da können wir viel von der Vergangenheit lernen! 32 Literaturverzeichnis Balthasar, Hans-Urs von, Maria in der kirchlichen Lehre und Frömmigkeit, in: Maria. Kirche im Ursprung, Einsiedeln 41997 Barth, Karl, Dogmatik im Grundriß, Stuttgart 1947 Beilmann, Christel, Eva, Maria, Erdenfrau. Der Verrat an den Frauen druch Kirchen und Theologien, Wuppertal: Hammer 1999 Beinert, Wolfgang, Die Mariologischen Dogmen und ihre Entfaltung, in: Handbuch der Marienkunde Bd. I, hrsg. von Beinert, Wolfgang, Petri, Heinrich, Regensburg: Pustet 1996, 267-363 Ben-Chorin, Schalom, Maria in jüdischer Sicht, München: dtv 51987 Bendel-Maidl, Lydia, „Ich bin die Lilie des Scharon“. Liebende und Geliebte im Hohenlied, in: Spendel, St.A., Wagner, M. (Hg.), Maria zu lieben. Moderne Rede über eine biblische Frau, Regensburg: Pustet 1999, 39-60 Blinzler, J., Die Brüder und Schwestern Jesu, Stuttgart 1967 Boff, L., Das mütterliche Antlitz Gottes. 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