kriminal genial - Leseoffensive Steiermark
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z | Elisa Muhr | Marlene Fraß | Luca Struggel | Johanna Fabsitz | Elisa Muhr | Marlene Fraß | Luca kobLena Marterer | Manuel Kulmer | |Julian Güsser | Thomas Berghofer | Jakob Marterer | Manuel Kulmer Julian Hofer | Jakob Strempfl | Philipp Marterer | Klara Schwarzenberger | p Marterer | Grabner Klara Schwarzenberger Helena Nagl | Selina | Silke Ferstl | Anke Huber | Alexandra | Dunst | Katharina Fleck | Karin Herbst | Klara Wagner | Lisa Gollner | Silke Ferstl Anke Huber | Alexandra Kerstin Reisinger | | Christina Kohlweg | Lena Kulmer Herbst | Klara Wagner | Lisa Gollner | hlweg | LenacKulmer helsdorf: 3c/2 HS Pis Lena Struggel | Johanna Fabsitz | Eli Güsser | Thomas Berghofer | Jakob M Hofer | Jakob Strempfl | Philipp Mart Schuljahr 2011/2012 Helena |„Krimi Selina Im RahmenNagl des Projekts macht Grabner | Silke F Schule“ der Leseoffensive Steiermark Dunst | Katharina Fleck | Karin Herbst David – wer zu viel weiß, muss leiden! ��������������������������������� Seite 3 Karin Herbst Klara Wagner Klara Schwarzenberger Helena Nagl widespread deaths ��������������������������������������������������������������� Seite 17 Julian Hofer Jakob Strempfl Philipp Marterer Die Sternenmörderin ����������������������������������������������������������� Seite 29 Selina Grabner Silke Ferstl Anke Huber Alexandra Dunst Falsches Spiel ����������������������������������������������������������������������� Seite 45 Katharina Fleck 4 minus 1 ����������������������������������������������������������������������������� Seite 55 Luca Güsser Thomas Berghofer Jakob Marterer Manuel Kulmer Entführt. ������������������������������������������������������������������������������� Seite 67 Lena Struggel Johanna Fabsitz Elisa Muhr Marlene Fraß Late Revenge ����������������������������������������������������������������������� Seite 81 Lisa Gollner Kerstin Reisinger Christina Kohlweg Lena Kulmer -2- Karin Herbst • Klara Wagner • Klara Schwarzenberger • Helena Nagl David Wer zu viel weiß, muss leiden! -3- Prolog Tipp, Tapp, Tipp, Tapp … Leise Schritte hörte ich auf mich zukommen. Angst kam in mir hoch. Noch bevor ich mich umdrehen konnte, spürte ich eine Hand auf meiner Schulter. Nochmals versuchte ich mich umzudrehen und mich zur Wehr zu setzten, doch als ich in das Gesicht des Unbekannten sah, war ich wie gelähmt. Ich wurde in das Jungs-Klo gezerrt … Blitzschnell sah ich eine Hand auf mich zukommen. Ich spürte ein kurzes Brennen, fasste auf meine Lippe, sah auf meine Hand … da waren Blutspuren! Noch bevor ich mir dessen bewusst wurde, spürte ich schon, wie ein weiterer Schlag mir das Bewusstsein nahm … Kapitel 1 „Ich könnte schwören, dass Frau Weizenberger heute in Sport einen fahren gelassen hat …“ Amelie grinste hämisch, als sie zusammen mit ihren Freundinnen in einer Ecke der Klasse stand und ihr Pausenbrot aß. Alle lachten über die ihre Bemerkung. „Mann, Mann, Mann ich check diese bekloppten Binomischen-Formeln nicht“, jammerte Bella. „Ich auch nicht …“, setzten Mary und Anna hinzu. Da stürmte Tom, der sonst so ruhige Schulkamerad der vier, in die Klasse und schrie: „David liegt zusammengeschlagen auf dem Klo!“ Geschockt blickten alle zu ihm und rannten dann wie auf ein Kommando zur Jungen- Toilette. Einer ihrer Mitschüler brüllte: „Ruft einen Krankenwagen. Schnell!“ Plötzlich drängte sich Herr Berger zwischen den Schülern hindurch, sah nach David und warf die Schüler aus der Toilette. Sie sahen gerade noch, wie David von den Sanitätern in den Krankenwagen gebracht wurde, bevor er die Klassentür schloss. Später wurde ihnen ausdrücklich verboten, mit jemanden über den Vorfall zu reden. „David zuliebe“, hatte Herr Berger eindringlich zu ihnen gesagt. Doch natürlich verbreitete sich das Ereignis wie ein Lauffeuer. Im Nu wusste es die ganze Schule. Am darauffolgenden Tag kam David nicht zur Schule. Bella, Amelie, Mary und Anna missachteten die Verwarnung von Frau Blau und fragten die anderen Mitschüler, ob sie etwas von Davids plötzlichem Verschwinden wussten. Doch nicht mal sein bester Freund Tom konnte ihnen Auskunft geben. „Mich lässt diese Sache nicht in Ruhe! Wisst ihr zufällig, wo er wohnt?“ Anna nagte an ihrem Daumennagel. Die Sorge um David stand ihr ins Gesicht geschrieben. „Nein, sorry, sollten wir denn?!“ Mary grinste anzüglich. Die anderen kicherten leise. Doch Bella sagte: ,,Hey, ich hab mal gehört, dass er in der Blumenstraße wohnt. Wollen wir ihn besuchen?“ Als die vier Freunde am Nachmittag an Davids Haustür klingelten, öffnete ihnen seine Mutter die, wie es den Anschein hatte, stark betrunken war. Eine Zigarette hing ihr aus dem Mundwinkel. Als sie die Freunde sah, nuschelte sie: „Was wollt ihr Kröten denn hier? Haut ab! Sofort!“ Anna fasste sich ein Herz und sagte so freundlich wie möglich: „Schönen guten Tag! Wir möchten gerne David besuchen. Er war heute nicht in der Schule, also wollten wir mal nach ihm sehen. Ist er denn da?“ Die Frau schloss für einen Moment die Augen und rieb sich über die Stirn, als hätte sie -4- Kopfschmerzen. „Neee … Der Rotzjunge is nicht da, und ich weiß, dass er heute nicht in der Schule war, Prinzesschen.“ Sie stieß mit einem Schnauben den Atem aus. „Kein Wunder, dass er nicht da ist. Bei so einer Mutter wäre ich auch lieber nicht zu Hause“, dachte Bella. Vorsichtshalber machte sie einen Schritt zurück, weil ihr eine grässliche Alkoholfahne entgegenschlug. Doch da erblickte Anna David, der an einem Türstock lehnte. Während seine Mutter lamentierte, dass ihr Sohn ein hoffnungsloser Fall sei, schob sie sich an ihr vorbei und hielt dabei den Atem an, um der schrecklichen Mischung aus Rauch und Alkoholdunst zu entkommen. Sie schlich zu David. Als sie das geschwollene Auge von David sah, saugte sie erschrocken die Luft ein. „David! Was ist mit dir passiert?“ Sie wollte nicht so schreien, aber eine plötzliche Panik hatte sie ergriffen. „Ist das von deinem gestrigen Unfall? Wir haben davon gehört … Ist mit dir alles in Ordnung?“ Doch weiter kam sie nicht. David drehte sich um und lief davon. Inzwischen waren auch die anderen auf Anna und David aufmerksam geworden. Gemeinsam liefen sie David hinterher – gefolgt von seiner brüllenden Mutter. Die Tür, hinter der David verschwunden war, war abgesperrt. Bevor sie sich noch umsehen konnten, packte sie schon eine grobe Hand und schleifte sie zurück an die Haustür. Ein violetter Armreifen klimperte an ihrem Handgelenk, als Davids Mutter mit einem Ruck die Türschnalle hinunter drückte und die Freunde ins Freie beförderte. Mit einem lauten Knall fiel die Tür hinter ihnen ins Schloss. Die vier Freundinnen zuckten zusammen. „Armer David, was da wohl gelaufen ist?“ Bella starrte immer noch auf Davids Haus. Die anderen guckten sie fragend an. „Na, das blaue Auge meine ich.“ „Du glaubst doch nicht im Ernst, dass das da drinnen ein Unfall war oder?“ Anna tippte sich an die Stirn. „Was glaubst du, was da passiert ist? Vielleicht, dass seine Mutter ihn mit einem Pudding beworfen hat?“ Sie lachte höhnisch auf. „Also echt, manchmal glaube ich, du bist vom Mars. Schalt mal dein Hirn ein, das würde zu Abwechslung nicht schaden.“ Bella war wütend. Dabei war ihr nicht klar, ob ihr Zorn nicht besser Davids Mutter gegolten hätte. Anna antwortete auf die Beleidigung nicht. Sie war es von ihrer Freundin gewohnt, dass sie heftig reagieren konnte. Den Unfall wollte sie aber trotzdem nicht wahr haben: „Es kann genauso gut ein Lehrer gewesen sein!“, mutmaßte sie. „Ja klar! Als ob ein Lehrer etwas davon hätte!“ „Da muss ich Bella zustimmen“, fiel Mary ein, „Ich meine, kein Lehrer macht so einen Scheiß … Aber könnte es nicht die Trulle da drinnen gewesen sein?“ „Ja, das habe ich auch gedacht!“, stimmte Amelie ihr zu. „Aber sicher! Erst war es ein Lehrer, und jetzt sind es die Eltern. Wer könnte es sonst noch gewesen sein? Der Hund da drüben vielleicht? Mhh?“, meinte Bella sarkastisch. Langsam wurde es Anna doch zu viel. „Weißt du was? Du kannst mich mal! Ich lass mich hier nicht dauernd blöd anmachen!“ Sie machte auf dem Absatz kehrt und stürmte davon. „Ja geh doch! Wir brauchen so eine wie dich sowieso nicht!“, schrie Bella ihr hinterher. Auch sie rannte jetzt weg, sie wollte nur noch nach Hause. Amelie und Mary blieben sprachlos zurück. Kopfschüttelnd sahen sie einander an. Was war das denn? Normalerweise hielten die vier immer zusammen - und jetzt? Was war in die beiden nur gefahren? Wegen so einer Kleinigkeit zerstritt man sich doch nicht gleich so! Nachdenklich machten sie sich auf den Heimweg. „Ob uns eine Freundschaftspause gut tun würde?“, überlegte Amelie laut, doch Mary zuckte nur mit den Schultern. „Ach, lass sie. Wirst sehen, es wird sich schon wieder alles legen. Du kennst Bella doch. Morgen kommt sie wieder zur Schule und tut so, als wäre nie etwas gewesen.“ Die beiden grinsten einander an und gingen nach Hause. -5- Kapitel 2 Bella und Anna hatten sich noch immer nicht wieder versöhnt, als die Klasse endlich in den Schikurs fahren durfte. Trotzdem mussten sie zusammen sitzen. Mißmutig quetschten sie sich im Bus hinter Frau Blau und Herrn Berger auf die geplosterte Sitzbank. Doch als sie während der Fahrt immer wieder Gesprächsfetzen aufnahmen, wie „David dieser Rotzjunge“ oder „Dem werde ich schon zeigen, wo der Hammer hängt“, war sich Bella mit ihrer Theorie nicht mehr so sicher. Als der Bus mit den Schülern nach eineinhalb Stunden angekommen war, suchte Bella mit Mary und Amelie das Gespräch und erzählte ihnen, was sie gehört hatte. Jetzt waren sich auch Mary und Amelie nicht mehr so sicher, richtig zu liegen und schließlich entschuldigten sie sich bei Anna. Besonders Bella, der der Streit mit ihrer besten Freundin sehr nah ging und die nun kurz davor stand, in Tränen auszubrechen, war froh, dass Anna ohne lange Rede nickte und ihre Entschuldigung annahm. Nun blieb nur noch eine Frage offen: Wer von den Lehrern hatte das David angetan? Und warum? Doch trotz heftiger Diskussionen während der langen Busfahrt kamen sie zu keinem Ergebnis. Am Gipfel angekommen erwartete sie der Wirt mit den Zimmerschlüsseln und der Anmerkung, sie sollten sich ruhig verhalten und später zum Essen kommen. Als sie durch die Tür stürmten, war ihnen die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben. Das Zimmer war nicht nur klein, sondern auch dreckig und stank fürchterlich. Das war absolut nicht das, was sich die Freunde von ihrer Unterkunft erwartet hatten. Als Herr Berger sie gleich darauf zum Essen rief, meinte Mary: „Hoffentlich schmeckt das Essen besser, als das Zimmer aussieht!“ und ihre Freunde stimmten ihr nickend zu. Kapitel 3 „Mann, Mann, Mann, das Essen war mal wieder ein Gaumenschmaus. Was Mädchen?“, meinte Bella mit einem theatralischen Seufzen. Grinsend stimmten ihr Anna, Mary und Amelie zu. Sie liebten ihre sarkastische Seite zwar nicht immer, weil es schwer war, auseinander zu halten, ob sie es ernst meinte, oder nur einen Witz machte, doch in diesem Fall war es klar. Das Essen war so eklig, dass sie sich nur darüber lustig machen konnten. Als sie die Treppe Richtung Zimmer gehen wollten, um dort ihre Pause zu verbringen, hörten sie leises Wimmern aus der Toilette der Jungs. Sofort stürzten sie zur Tür und drückten ihre Ohren an das Holz. Wer weinte da drinnen? Doch es war nicht Eindeutiges zu erkennen. Das konnte jeder sein. „Anna, geh du da rein. Irgendjemand muss den Typen da drinnen ja trösten.“ Amelie schob die Freundin zur Klinke. Anna stemmte sich dagegen. „Mann, immer ich! Ich bin immer an allem Schuld und darf mich nie beschweren und die Drecksarbeit darf ich auch noch machen! Kannst du vergessen!“ Bella schüttelte den Kopf: „Tu doch nicht so, du weißt, dass du endlich auch mal deinen Mund aufmachen und deine Meinung sagen sollst.“ „Passt auf, ich geh da jetzt rein, okay?“ Mary musste breit grinsen, weil die anderen sie so verwirrt anstarrten. „Was soll mir da drin schon groß passieren? Da weint jemand! Ich denke nicht, dass der im nächsten Moment eine Pistole zieht und mich abknallt.“ Sie zuckte mit den Schultern und holte noch einmal tief Luft. Auf einer Herrentoilette musste sie mit dem entsprechenden mordsmäßigen „Toilettengeruch“ rechnen. Sie ließ ihre Blicke durch das -6- versiffte Klo gleiten und verzog angeekelt das Gesicht. Es war schlimmer, als sie befürchtete hatte. Doch dann fiel ihr Blick auf die zusammen gekauerte Gestalt in einer Ecke. „David!“ Ohne Zweifel. Sie erkannte seinen blonden Schopf. Wie ein Häuflein Elend hockte er im Finstern, sein Gesicht hatte er in die, auf die Knie gestützten Hände vergraben und weinte. Mary hockte sich zu ihm und legte vorsichtig eine Hand auf seine Schulter. „Mein Gott, David! Bist du verletzt? Ist dir was passiert?“ Doch zum Glück konnte sie keine Verletzungen erkennen. Stockend begann David zu erzählen: „Sie haben mich ins Klo gezerrt und mich geschlagen, bis ich bewusstlos wurde. Meine Mutter … sie haben mir gedroht, ich darf es nicht erzählen … Meine Mutter …“ Mary verstand nur Bahnhof. Wenn sie sich nicht beeilte, würde sie wegen diesem schrecklichen Geruch gleich in Ohnmacht fallen, also fragte sie: „Wer ist Sie, David? Womit haben sie dir gedroht? Was ist mit deiner Mutter?“ Doch David sagte nur: „Nichts … ich habe schon zu viel gesagt … du musst jetzt gehen. Wenn sie uns hier sehen ...“ Er versuchte, sie von sich wegzuschieben. Mary hielt ihn an den Oberarmen fest. „David, erzähl mir, was passiert ist!“ Doch David schrie sie an. „Geh jetzt! Auf der Stelle!“ Er schob sie aus der Toilette und schloss hinter ihr die Tür ab. Mary rüttelte noch ein paar Mal an der Schnalle, ging dann aber nachdenklich in ihr Quartier zurück. Kaum hatte sie die Tür zum Zimmer geöffnet, stürzten sich ihre Freundinnen auf sie. „Wer war es? War es David? Was hat er gesagt? Worauf wartest du? Sag schon!“, riefen sie durcheinander. Mary versuchte ihre Freunde zu beruhigen: „Seid mal leise! Sonst kann ich euch gar nichts erzählen.“ Als sie sich beruhigt hatten, erzählte Mary ihnen alles ganz ausführlich, was sie von David erfahren hatte. Doch das brachte die vier „Privatdetektive“ leider auch nicht viel weiter. „Dass Jungs auch immer so einen Quatsch quasseln müssen, den kein Mensch auf Erden versteht!“, seufzte Bella und die anderen mussten ihr Recht geben. Kapitel 4 „Hey, ab auf die Piste!“ Bella rannte aufgekratzt zum Fenster und deutete nach draußen auf die weiße Pracht. „Das wird sicher wieder voll witzig.“ Die Freundinnen hatten schon gefrühstückt und ihre Schiklamotten angezogen. Sie sollten jetzt runter gehen, ihre Schi holen und vor das Haus gehen, um auf die Schilehrer zu warten. Kichernd gingen sie los, vor der Haustüre schnallten sie ihre Schi an. Da kam auch schon Frau Blau und sagte: „Guten Morgen, sind alle da? Gut dann fahren wir jetzt los.“ Sie drehte sich um, holte Schwung und sauste den Hügel hinunter. Die vier Freundinnen fuhren als letzte los. Nach ein paar Schwüngen blieb Amelie plötzlich stehen. „Bist du total bescheuert!“ Mary setzte die Kanten ein, dass es staubte. Fast wäre sie in Amelie hineingefahren. „Hey was ist denn los?“ Bella und Anna hatten gemerkt, dass Mary und Amelie nicht mehr hinter ihnen waren. Amelie antwortete flüsternd: ,,Schaut doch mal da!“ Sie zeigte in Richtung Unterkunft. „Oh, mein Gott!“ schrie Anna. Im Schnee sahen sie Blutspuren die bis zu Davids Zimmer führten. Während sie noch überlegten, ob sie David suchen gehen sollten, kam Herr Lammbauer -7- angefahren und schrie: „Was macht ihr denn da? Wo ist eure Gruppe? Was für Blutspuren? Kümmert euch doch einfach um euren eigenen Kram. Und bevor ich es vergesse: ZweiSeiten-Aufsatz für jeden, wie man sich bei einem Schikurs zu verhalten hat. Bis morgen!“ Genervt fuhren die vier die Piste hinunter auf der Suche nach ihrer Gruppe. Erst waren sie erleichtert, als sie den neongelben Anorak von Frau Blau auf der Piste erkannten. Doch ihre Freude legte sich sofort, als ihre Lehrerin in Hörweite gekommen war. „Sagt mal, spinnt ihr?“, pfauchte sie. „Ich hab euch doch verboten, abseits der Piste zu fahren! Was glaubt ihr eigentlich, wofür es Regeln gibt?“ Sie war außer sich. Ein giftiger Blick durchbohrte die Mädchen. Trotzdem traute sich Amelie leise zu flüstern: „Regeln sind da, um gebrochen zu werden!“ Leider hörte es Frau Blau. Wütend schrie sie: „Jetzt reicht es endgültig! Das ist deine letzte Verwarnung … Noch ein so ein dummes Wort und du kannst diesen Schikurs verlassen.“ Amelie rieb sich erschrocken über die Oberarme. Sie hatte plötzlich eine Gänsehaut. „Wenn Blicke töten könnten …“, wisperte sie und beeilte sich, den anderen auf die Piste zu folgen. Nach dem Mittagessen wollten die vier Freunde nach David sehen. Sie beschlossen, bei ihm im Zimmer vorbeizuschauen, aber das hatten sie sich leichter vorgestellt … Bella meinte, sie würde ihnen schon beweisen, wie gut sie Jungs um den Finger wickeln konnte. Anna, Mary und Amelie gönnten ihr die Freude und ließen sie anklopfen. Doch diesmal versuchte Bella es umsonst. Christoph öffnete ihnen mit der Begrüßung: „Was wollt ihr Schlampen denn hier zum Teufel? Haut ab! Sonst muss ich noch an eurer Hässlichkeit sterben!“ Bella erwiderte: „Halt mal die Luft an! Erstens: wir sind keine Schlampen.“ Sie stemmte empört die Fäuste in die Hüften. „Und wenn du schon sterben willst, dann mit Sicherheit wegen unserer umwerfenden Schönheit.“ Mit Hässlichkeit durfte man ihr nicht kommen, da war sie empfindlich. „Und Zweitens: Du bist gar nicht gefragt.“ Sie deutete mit dem Daumen hinter sich, wo die anderen gespannt ihre Diskussion mit Christoph verfolgten. „Wir möchten mit David sprechen.“ Sie grinste den Jungen an, der ihr immer noch den Weg versperrte. „Der schläft.“ Christoph machte sich breit und versuchte, ihr den Blick zu verstellen, doch Bella hatte sich geschickt an ihm vorbeigeschoben und blieb mit offenem Mund im Zimmer stehen. Was sie da sah, konnte sie nicht glauben. War das Blut? Davids Blut? Doch sie wurden schon gepackt und durch die Tür gestoßen. „Ich hab gesagt, er schläft!“ Mit einem lauten Knall schmiss Christoph die Tür zu. Die Freundinnen standen vor einem Rätsel. Kapitel 5 Der nächste Morgen empfing sie mit einer dicken Nebelsuppe, als die Mädchen zum Schifahren aufbrachen. „Mann, ist mir schlecht. Dieses Essen bringt mich zum Kotzen!“, jammerte Amelie, als sie im Schilift saßen. Mary blickt sich um. „He, seht ihr das? Die Lehrer sitzen hinter uns. Aber wieso ist David bei Ihnen? Keiner fährt freiwillig mit den Lehrern am Lift …“ Amelie unterbrach sie. „Ich habe gesehen, wie die Lehrer einen Kreis um David gebildet und irgendetwas besprochen haben. Danach ist er zu ihnen in den …“ Ein grässlicher Schrei ließ Amelie mitten im Satz stocken. Blitzschnell drehten sich die Mädchen um. Ein Körper lag tief unter ihnen im Schnee. War das ... David? Wieso war er aus dem Lift gefallen? Stille herrschte. Die Mädchen bekamen Tränen in die Augen … Nach einer Schrecksekunde riefen alle durcheinander. -8- „Was ist denn passiert?“ „Haltet den verdammten Lift an!“ „David ist in die Tiefe gestürzt!“ „Ist er auf den Kopf gefallen?“ „Holt denn keiner die Rettung?“ „Hilfe! Hilfe! Irgendwer muss David doch helfen!“ Eine furchtbare Frage beschäftigte alle: War David tot? Kapitel 6 Im Zimmer der Mädchen herrschte trübe Stimmung. Tränen zierten die Gesichter von Amelie und Mary und auch Bella und Anna kämpften mit ihren Emotionen. Amelie schluchzte: „Was ... was ist, wenn …“ Immer wieder stotterte sie. Schließlich platze es aus ihr heraus: „Was ist, wenn er stirbt?“ Amelie war kurz davor, hysterisch zu werden. Mary kannte ihre beste Freundin sehr gut. Um sie zu beruhigen, musste sie ihr eine Aufgabe geben. Irgendetwas, was Amelie vom furchtbaren Gedanken, dass David sterben könnte, ablenken würde. Es fiel ihr aber nicht gleich etwas Passendes es. So setzte sie sich nur neben Amelie ans Bett und legte einen Arm tröstend um sie. Inzwischen spann Bella Annas Gedanken weiter. „Vielleicht hatte Anna doch Recht … Ich meine, das war kein Unfall, sondern … sondern …“ Die Worte kamen ihr nur schwer über die Lippen. „Vielleicht waren es ja doch die Lehrer!“ Anna starrte sie erschrocken an. „Du meinst ... ein Mordversuch?“ Mary saugte die Luft ein. Sie konnte sich das einfach nicht vorstellen. „Meint ihr wirklich? Die würden doch lebenslang in den Knast wandern!“ Doch als sie in die überzeugten Augen ihrer Freundinnen blickte, kamen ihr selbst Zweifel an der Ehrlichkeit der Lehrer. Amelie brach als Erste das Schweigen. „Erinnert euch an das Gespräch der Lehrer im Bus!“ „Das würde unsere Vermutung bestätigen, aber meinst du wirklich … dass die Lehrer …“ Anna konnte diese Ungeheuerlichkeit immer noch nicht glauben. Bella bestätigte: „Amelie hat Recht, es führt alles zu den Leh…“ Plötzlich stand Frau Lutz im Zimmer. Die Mädchen starrten sie erschrocken an. „Was ... wie ... was wollen Sie hier?“, zischte Bella ihr entgegen. „Schhhh … seid leise, die anderen dürfen nicht wissen, dass ich hier bin …“ Frau Lutz beugte sich ganz nah zu ihnen hinüber. „Ich habe euer Gespräch belauscht und ich möchte mit euch darüber reden“, flüsterte sie. „Wie? Die anderen dürfen es nicht wissen? Und wer sind die anderen? Und was genau haben sie gehört?“, fragte Mary mit aufgerissenen Augen. Wenn die Lehrerin gehört hatte, welchen Verdacht sie hatten, konnte das nichts Gutes bedeuten! Frau Lutz rückte unruhig an einem Sessel. Ihr war anzumerken, dass es ihr nicht leicht fiel, mit den Mädchen zu sprechen. „Ich habe so ziemlich alles gehört“, gestand sie und senkte den Blick. „Und ich bin nicht wie die anderen Lehrer.“ Geschockt schauten sich die vier Freundinnen in die Augen. Amelie brach das Schweigen: „Dann stimmt unsere Vermutung also doch! Oder, Frau Lutz?“ „Das kann und darf ich euch nicht sagen ...“ Sie senkte ihre Stimme noch mehr. Bitte, versteht mich! Wenn die anderen erfahren, dass ich mit euch geredet habe, dann …“ Sie sprach den Satz nicht zu Ende. Bevor die Freundinnen noch etwas sagen konnten, brach Frau Lutz das Gespräch ab. „Entschuldigt mich, ich muss jetzt weg. Sonst merken die anderen noch was.“ Sie drehte sich um und verschwand im dunklen Flur. Bella, Amelie, Anna und Mary konnten nicht schlafen. Die ganze Nacht berieten sie sich, -9- was der Besuch von Frau Lutz zu bedeuten haben könnte. Schließlich entschlossen sie sich, ihr zu glauben. Trotzdem wollten sie ihr nicht alles sagen, was sie wussten. Auch am nächsten Tag kreisten die Gedanken der Freundinnen immer wieder um David und um Frau Lutz. Sie konnten nichts unternehmen, ohne beobachtet zu werden. Auch wenn sie Frau Lutz vertrauten, waren sie sich immer noch unsicher, ob die Lehrerin ihnen wirklich helfen wollte. Lustlos kauten die Mädchen an ihrer Pizza herum, als plötzlich Frau Lutz bei ihnen am Tisch auftauchte. Die Mädchen blickten erstaunt auf, als die Lehrerin flüsterte: „Wir treffen uns nachher draußen bei den Gondeln, okay?“ Anna, Bella und die anderen nickten stumm, während sich Frau Lutz wieder vom Tisch entfernte und zum Lehrertisch zurückkehrte. Schnell aßen die Freundinnen fertig und gingen so unauffällig wie möglich zur Tür, um draußen gespannt zu warten, was die Lehrerin ihnen zu sagen hatte, als sie wenig später zu ihnen stieß. „Ich möchte zu David ins Krankenhaus fahren und ich dachte, ihr wollt vielleicht mitkommen.“ Die Überraschung war den Mädchen ins Gesicht geschrieben. Damit hatten sie nicht gerechnet. „Aber geht das so einfach? Ich meine, können Sie einfach mit uns dorthin fahren?“, fragte Amelie verdutzt. In Frau Lutz Stimme schwang Abenteuerlust mit. “Naja, ganz so einfach ist es tatsächlich nicht. Wir müssten uns ungesehen aus dem Haus schleichen.“ Für einen Moment waren die Mädchen sprachlos. „Waaaasss?“, schrie Anna Und ihre Stimme schwankte. Nach kurzer Überlegung aber nickten die Freundinnen. „Wir sollten es tun, oder was meint ihr?“ Frau Lutz nickte ihnen aufmunternd zu. „Eine andere Möglichkeit haben wir nicht. Packt eure Sachen Mädels, wir fahren ins Krankenhaus.“ Schon beim Betreten schlug ihnen der spezielle Krankenhausgeruch entgegen. Eine Mischung aus Desinfektionsmitteln, Metall und medizinischen Produkten. „Da wird mir ja schon beim Gedanken an die Spritzen schlecht“, jammerte Mary und hielt sich die Nase zu. „Stell dich doch nicht so an. Wir sind ja nicht deinetwegen hier.“ Anna schaute sie streng an. Darauf gingen sie stumm zur Auskunft. Eine freundliche Empfangsdame wies ihnen den Weg zum Zimmer 105. Als Frau Lutz die Tür öffnen wollte, kam ihnen ein Arzt entgegen. Frau Lutz fragte: „Wie geht es ihm?“ Der Arzt machte eine ernste Miene. „Er liegt noch im Koma.“ Erschrocken fragte die Lehrerin: „Können wir zu ihm?“ Nach einem Zögern erlaubte es der Arzt und sie betraten auf Zehenspitzen das Zimmer. Auf einem Krankenbett, an unzähligen Geräten angeschlossen, lag David. In einem Kreis standen sie um den reglos Daliegenden. „Also ich weiß nicht, wie ihr das seht, aber mittlerweile vertraue ich Frau Lutz“, flüsterte Amelie den anderen zu. Mary, Bella und Anna nickten. Danach herrschte wieder tiefes Schweigen. Alles war leise, man hörte nur das regelmäßige Piepen und das nervige Surren der Maschinen, die David am Leben hielten. Der Arzt hatte den Mädchen und Frau Lutz mitgeteilt, dass David eine Gehirnblutung habe, er aber zuversichtlich sei, dass David bald wieder aufwachen würde. Die Freundinnen hatten jedes Zeitgefühl verloren. Lange Zeit waren sie vor Davids Bett gestanden und hatten ihn einfach nur angestarrt. Irgendwann war dann eine Krankenschwester ins Zimmer gekommen, hatte ihnen freundlich zugenickt und ihnen gesagt, dass sie - 10 - ruhig mit David reden könnten. „Viele Komapatienten wissen, nachdem sie aufgewacht sind, alles, was um sie passiert ist, wer sie besucht hat und was diese geredet haben“, meinte sie. Dann kontrollierte sie, ob mit David und den Maschinen alles in Ordnung war und verschwand wieder aus dem Zimmer. „Wie kann man bei so einem deprimierenden Job immer noch so freundlich sein“, flüsterte Mary, während sie zur Tür schaute, durch die die Schwester verschwunden war. „Ich hätte bestimmt schon durchgedreht.“ Jeder, der Freundinnen hing seinen eigenen Gedanken nach. Einmal hatte Frau Lutz ihnen einen Kakao aus dem Automaten im Gang besorgt, den sie schweigend tranken. „Was ist, wenn er nicht mehr aufwacht“, meinte Bella plötzlich. Doch die Lehrerin versuchte sie zu beruhigen: „Denk gar nicht mal dran! Schau, alle Ärzte und Schwestern sind so zuversichtlich, dass er wieder aufwachen wird. Und die müssen es doch wissen!“ Amelie schnappte sich einen Stuhl und setzte sich. Plötzlich hörten sie ein leises Husten. Alle schauten zu David und Frau Lutz meinte hektisch: „Schnell, holt jemanden!“ Sofort stürzten Amelie, Bella, Anna und Mary zur Tür und schrien in den Gang hinaus: „Schnell, einen Arzt! Wir brauchen Hilfe.“ Natürlich eilten sofort ein Arzt und ein paar Schwestern in den Raum. Doch diese mussten nicht mehr helfen ... David war aufgewacht! „Oh mein Gott …“ Annas Stimme war nur ein Flüstern. Bella und Mary kamen die Tränen. Der Mordversuch war nicht geglückt! Eine Stunde später saßen die Freundinnen und die Lehrerin immer noch im Gang des Krankenhauses. Der Arzt machte mit David noch ein paar Tests. Trotz der großen Freude, dass David wieder aufgewacht war, war die Stimmung getrübt. David hatte Amnesie. Er erinnerte sich an nichts mehr. Wie lange dieser Zustand anhalten würde, konnte keiner sagen. Kapitel 7 Schon am nächsten Tag war David von der Intensivstation entlassen und in ein normales Krankenzimmer verlegt worden. Sobald es ihnen möglich war, kamen die Freundinnen mit Hilfe von Frau Lutz wieder zu ihm. Sie waren nervös, als sie durch die Tür des Zimmers traten. Ob David sich wieder erinnern konnte, was passiert war? Gespannt starrten sie auf sein Bett. „Hallo David, weißt du, wer ich bin oder weißt du, wer die anderen sind?“, fragte Bella aufgeregt. Doch Davids Gesichtsausdruck sah nicht so vielversprechend aus. „Wer, wer bist du und wo bin ich…?“, antwortete David verwirrt. Geschockt schauten sich die Freundinnen und Frau Lutz in die Augen. Frau Lutz ging zum Bett von David. Sie nahm Davids Hand: „Weißt du, wie du heißt?“ Frau Lutz schaute David tief in die Augen. „Ich … ich weiß nicht.“ Er schaute verloren in der Gegend herum. Darauf erklärte Frau Lutz: „Oh, Ok. Dein Name ist David und du bist im Krankenhaus, weil du aus dem Sessellift … gestürzt … bist.“ Sie machte eine Pause, in der sich die Mädchen verschwörerisch anschauten. „Ich bin Frau Lutz, deine Lehrerin und das sind …“ Fast wie einstudiert sagten die Mädchen: „Bella, Anna, Mary und Amelie.“ David setzte sich mit Mühe auf. Plötzlich ging ein Leuchten über sein Gesicht und sagte freudig: „Wartet mal … ich glaube, ich erinnere mich wieder!“ Gespannt waren alle Augen auf David gerichtet. - 11 - „Wir waren auf Schikurs, und dann waren wir beim Sessellift und dann wurde ich …“ „Ja? Was war dann?“ Anna starrte ihn an, als wollte sie ihn hypnotisieren. Davids Augen zuckten. Mit unsicherer Stimme brachte er stockend hervor: „Ich … ähhm … ich glaub, ich bin aus dem Lift gefallen.“ Ungläubig sahen Amelie, Bella, Mary und Anna David an. Da rief Frau Lutz: „Oh! Schon so spät! Wir müssen los, sonst merken die anderen noch was.“ „Tschüss, David und gute Besserung“, sagten alle fast im Chor. Mit etwas Verspätung kamen sie im Speisesaal an. „Mann, ich hatte gehofft, wir könnten diesem ekligen Abendessen entgehen“, jammerte Bella leise, sodass es nur ihre Freundinnen hören konnten. Die Mädchen setzten sich an einen Tisch neben die Lehrer. Sie erhofften sich, so die Gespräche ihrer Hauptverdächtigen belauschen zu können. Sie vertrauten Frau Lutz zwar, die ganze Wahrheit über den Vorfall hatte sie ihnen aber bestimmt nicht erzählt. Irgendetwas musste sie davon abhalten, doch die Mädchen wussten nicht, was es war. Leider flüsterten die Lehrer nur und Bella, Anna und die anderen verstanden kein Wort. „Wir müssen wissen, was die reden“, meinte Mary, „unbedingt!“ Amelie antwortete: „Du hast recht und ich hab auch schon eine Idee. Jemand tut so, als würde ihm die Gabel runterfallen und klettert unter den Tisch. Dann krabbelt er vorsichtig zu den Lehrern und versucht, sie zu belauschen!“ „Nicht mal so schlecht, nur wer ist dieser jemand?“ fragte Anna. Bella meinte lachend: „Immer der, der fragt!“ „Mann kommt schon, das ist gemein“, jammerte Anna, doch schließlich gab sie sich geschlagen und rutschte unter den Tisch. Vorsichtig und immer darauf bedacht, gegen keinen Fuß der Lehrer zu stoßen krabbelte sie weiter, bis sie etwas hören konnte. „Und was ist, wenn diese blöden Gören doch darauf kommen, dass wir David aus dem Lift gestoßen haben?“, meinte Frau Blau und Anna sog erschrocken Luft ein. Jetzt hatten sie Gewissheit, dass die Lehrer David tatsächlich umbringen wollten! Die Stimme von Herrn Berger klang schockiert. „Wie wir? Das warst du doch ganz allein! Wir anderen wollten das nicht!“ Frau Blau lachte gekünstelt: „Aber selbst wenn die Bullen uns erwischen, ihr werdet kein Wort sagen … denn sonst werde ich euer kleines Geheimnis ausplaudern und ihr werdet für längere Zeit in den Knast wandern. Und euren Job könntet ihr euch auch abschminken!“ Anna merkte, wie die anderen Lehrer erschraken und schweigend weiter aßen. Anna wusste, dass sie nichts Interessantes mehr erfahren würde. Also krabbelte sie vorsichtig auf ihren Platz zurück. Was war dieses Geheimnis? Erzählte ihnen deswegen Frau Lutz nicht alles? Und war wirklich Frau Blau die einzige Täterin? Nach der Aktion beim Essen, die einem Geheimagenten alle Ehre gemacht hätte, gingen Anna, Amelie, Mary und Bella aufs Zimmer. Kaum hatten sie die Tür hinter sich zugezogen, bestürmten sie Anna mit ihren Fragen. „Also sag, haben sie sich verraten? Hast du was Verdächtiges gehört? Raus mit der Sprache, Anna mach es nicht so spannend!“ Anna blieb hinter der Tür stehen und zog die anderen zur Seite. Als der letzte Lehrer im Gang verschwunden war, begann Anna flüsternd: „Sie redeten über den Unfall und ich bin mir jetzt sicher, das, es die Lehrer waren, die David etwas antun wollten. Doch es war nur einer und der hat die anderen erpresst. Dieser Lehrer ist …“ „Tok, tok, tok…“ klang es von der Stiege. Anna hörte erschrocken zu reden auf. Gebannt schauten alle Vier zur Treppe hinüber. Eine Person mit einem dicken Kopfverband stand etwas verlassen da, neben sich einen schwarzer Koffer mit Rollen. Sein Gesicht war nahezu vollständig verhüllt und voller Kratzer. Die Mädchen konnten nicht erkennen, wer unter den Bandagen steckte. - 12 - „David, bist du das?“, fragte Amelie vorsichtig. Tatsächlich antwortet der Junge mit brüchiger Stimme: „Ja, ich bin’s. Und ich kann mich jetzt wieder an alles erinnern ...“ Anna versuchte es vorsichtig zu formulieren. „David, wir wissen über alles Bescheid. Du musst es der Polizei melden!“ Darauf reagierte David bestürzt: „Du weißt über gar nichts Bescheid, ihr alle wisst nicht, wie man sich fühlt, wenn man die ganze Zeit etwas für sich behalten muss, was man gar nicht wissen will!“ Geschockt schauten die vier Mädchen einander an. In den Augen von Anna und Mary standen schon wieder Tränen. Es herrschte Schweigen im Raum, als Amelie das Schweigen brach. Auch ihr waren Angst und Schock in den Augen anzusehen. „Wirst du dich wenigstens noch von allen verabschieden?“ David nickte. Er ließ den schwarzen Koffer im Flur stehen und ging in den Speisesaal. Mary und Amelie folgten ihm. Bella blieb mit Anna zurück und hielt sie am Arm fest: „Wer war es? Es war doch nicht Frau Lutz oder?“ Bella sah sie verzweifelt an, doch Anna antwortete: „Ich sag es dir später, doch jetzt müssen wir in den Speisesaal. Komm!“ Kapitel 8 Zielstrebig durchquerte David den Speisesaal und blieb vor Frau Blau stehen, die ihn gebannt anstarrte. „Sie war´s!“ Anklagend richtete sich sein gestreckter Zeigefinger auf die Lehrerin. Die Schüler sprangen erschrocken von den Sitzen hoch. David trat einen Schritt zurück. Er war den Tränen nahe. Es musste ihm schwer gefallen sein, nun allen zu sagen, wer ihm das Schreckliche angetan hatte. Wahrscheinlich hatte er gehofft, dass der Albtraum damit ein Ende haben würde. Doch es war erst der Anfang ... Frau Blau, die auch aufgesprungen war, zückte plötzlich eine Pistole. Die Schüler schrien auf, doch Frau Blau lachte nur: „Er hat recht. Ich wollte ihn umbringen, denn er kennt mein Geheimnis - und das der anderen Lehrer! Nicht wahr!?“ Sie schaute zu David, dem stumm die Tränen über die Wangen liefen. Trotzdem nickte er nur ergeben. „Sie sind doch vollkommen krank“, schrie ein Schüler. Herr Lammbauer versuchte, Frau Blau zu überreden, die Waffe wegzulegen. „Machen Sie sich nicht unglücklich! Hören Sie auf, noch ist nichts passiert! Wenn Sie jetzt schießen, kommen Sie lebenslang in den Knast. Legen Sie die Waffe weg! Sofort!“ Doch Frau Blau dachte nicht daran. „Ich hab in meinem Leben schon so viel Scheiße gebaut“, schnaubte sie, „Wenn ich ihn jetzt umbringe, würde das auch nichts ändern.“ Amelie schrie: „Was gibt es denn so Schreckliches, was einen Mord rechtfertigen könnte?“ Doch Frau Blau antwortete nicht. Sie war offenbar fest entschlossen, David umzubringen und auch jeden anderen, der sich ihr in den Weg stellen würde oder etwas ausplaudern könnte. Zur Überraschung aller brach sie aber plötzlich ihr Schweigen und die Geständnisse ihres Lebens sprudelten aus ihr heraus. „Es fing an, als ich Siebzehn war und noch in Deutschland lebte. Damals hieß ich auch noch nicht Blau … Ich war übermütig und stahl mit meinen Freundinnen ein paar Klamotten. Ich trank und rauchte, und probierte schließlich auch noch Drogen. Es war ein Teufelskreis! Ich musste immer mehr stehlen … da war dieser Nervenkitzel, wenn ich etwas in der Hand hatte, das mir nicht gehörte … es an mich zu nehmen, machte süchtig.“ Sie unterbrach sich selbst, als sie sah, dass ein paar Schüler versuchten, sich davonzustehlen. „Stopp, stopp, stopp!“ , schrie sie, „ihr bleibt schön hier und hört mir zu!“ Sie konnte es noch nie ausstehen, wenn man sie ignorierte. „Oder soll ich schießen?“ Sie drohte mit der Waffe und die - 13 - Schüler wichen verängstigt auf ihre Plätze zurück. Geschockt standen die Kinder zusammengedrängt an der Wand. Auch die anderen Lehrer verharrten sichtlich schockiert in einer Ecke des Speisesaals. Frau Blau aber fuhr so ungerührt fort, als würde sie kleinen Kindern eine Gute-Nacht-Geschichte vorlesen. „Ich stahl also immer mehr und wagte mich auch an größere Sachen ran. Eines Tages, ich war gerade dabei in das Haus eines reichen Ehepaares einzubrechen, erwischte mich das Hausmädchen und wollte die Polizei rufen! Im Effekt stieß ich sie um. Sie fiel mit dem Kopf so unglücklich auf die Stiegenkante, dass sie reglos liegen blieb. Ich war geschockt und haute ab. Am nächsten Tag erfuhr ich aus der Zeitung, dass im Haus reicher Leute eingebrochen und das Hausmädchen tot aufgefunden worden war. Da drehte ich durch! Ich war zu einer Mörderin geworden. Das hatte ich nicht beabsichtigt. Der Polizei wollte ich mich nicht stellen, also musste ich untertauchen, bevor sie mich irgendwann gefunden hätten. Ich besorgte mir einen falschen Pass und flog nach Amerika. Ich hatte kein Geld, deswegen musste ich wieder stehlen. Ich musste immer daran denken, dass ich einen unschuldigen Menschen umgebracht hatte, bis ich merkte, dass in Amerika auch viel passierte.“ Aus ihren Augen sprach Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. „Außerdem sterben Menschen sowieso irgendwann, ob früher oder später ist doch egal.“ Sie zuckte nur mit den Schultern, als ginge es nicht um Mord, sondern um eine harmlose Nachlässigkeit. „Nach einem Jahr Abenteuerleben in den USA beschloss ich, zurückzufliegen. Von den Drogen war ich immer noch nicht weg, aber ich wollte wieder arbeiten. Nach Deutschland zurückzukehren war mir noch zu riskant, deswegen flog ich nach Österreich. Ich beschloss, als Lehrerin zu arbeiten, weil das immer mein Kindheitstraum gewesen war.“ Jetzt trat ein neuer Glanz in ihre Augen. „Mit abermals gefälschten Papieren und Ausweisen gelang es mir nun, an eurer Schule zu unterrichten.“ Sie kicherte irre. „Obwohl ich gar nicht mit Kindern umgehen kann!“ Dem wollte niemand widersprechen, selbst wenn es jemand gewagt hätte. Die Schüler starrten sie ungläubig an. Was für eine schreckliche Geschichte! „Und was hat es mit dem Geheimnis der anderen Lehrer auf sich?“,fragte Bella, die sich als erstes wieder gefasst hatte. „Ach das …“ Frau Blau wedelte mit der Pistole in Richtung der Lehrer, die sich ebenso wie die Schüler nicht zu rühren wagten. „Einmal auf einer Schulparty erwischten mich einige der Kollegen, wie ich ein paar Pillen schluckte. Ich brachte sie mit meinem Charme dazu, auch welche zu probieren!“ Sie grinste diabolisch und fixierte einen der Lehrer so lange, bis dieser seine Augen niederschlug. „Wenn das jemand rausfindet, könnt ihr alle euren Beruf an den Nagel hängen. Welche Schule nimmt schon das Risiko auf sich, einen drogensüchtigen Lehrer auf Schulkinder loszulassen?“ Sie wirkte äußerst zufrieden. Wir … wir wollten diese Pillen wirklich nicht schlucken“, beteuerte Frau Lutz und die vier Freundinnen glaubten ihr sofort. Und auch Herr Berger meinte: „Wir haben es sofort bereut, wir lieben es, zu unterrichten!“ Doch bevor sich die Lehrer weiter entschuldigen konnten, unterbrach sie Frau ,,Blau“ und meinte: „Genug geredet! Jetzt ist David an der Reihe!“ Sie drehte sich zu dem Jungen um, der weiß wie die Wand war und zitternd vor ihr stand wie das Kaninchen vor der Schlange. „Pech für dich, dass du von dem Geheimnis erfahren hast.“ Sie machte einen Schritt auf ihn zu und zuckte mit den Schultern. „Es tut mir echt leid, dass du jetzt sterben musst!“ Sie richtete die Waffe auf David, der vor Angst zitterte und neben Mary immer kleiner wurde. „Verabschiede dich von deinem Leben“, sagte sie noch und drückte ab … Davids Schrei, als er zu Boden fiel, schallte durch den Raum. Die Schüler und Lehrer schrien erschrocken auf. Viele brachen in Tränen aus, als sie David blutend auf dem Boden liegen sahen. - 14 - Dass er noch lebte, merkte Frau Blau zu seinem Glück nicht. Hysterisch schrie sie: „Ich werde euch alle töten!“ Sie richtete die Waffe auf die Schüler und schoss und schoss und schoss … bis das Magazin leer war. In Panik versuchten die Kinder, sich in Sicherheit zu bringen. Anna sprintete in Richtung Tür. Als sie zurück sah, merkte sie, dass mehrere Mitschüler schon auf dem Boden lagen. Sie sah nur rot. Überall war Blut. Sie merkte erschrocken, dass auch Amelie niedergefallen war und ihr Fuß voll Blut war. Auch Bella und Mary versuchten zu flüchten. Zusammen liefen sie zur Tür, als Bella plötzlich nebe sich einen schrecklichen Schmerzensschrei hörte! Frau Blau hatte Mary getroffen und diese sank zu Boden. Wie in Trance lief Bella weiter, bis sie Anna erreichte. Zusammen mit ein paar Mitschülern, Frau Lutz und Herrn Lammbauer stürmten sie durch die Tür nach draußen. Frau Lutz hatte ihr Handy dabei und rief die Polizei, während sie alle die Pisten hinunterliefen. „Nur weg, weg, weg“, war der Gedanke aller. Trotzdem dachten Bella und Anna immer daran, dass Mary, Amelie und andere Mitschüler vielleicht tot waren … Polizei und Rettung waren nur fünfzehn Minuten später da. Sie brachten die unverletzten, aber geschockten Schüler und Lehrer ins Tal. Bella und Anna saßen im Gang des Krankenhauses. Seit mehr als zwei Stunden warteten sie auf Neuigkeiten von Amelie, Mary, David und den anderen Verletzten. Die Polizei hatte Frau Blau im angrenzenden Wald der Unterkunft festnehmen können, als sie flüchten wollte. Sie würde nie wieder aus dem Gefängnis freikommen. Ein Arzt kam aus einem Krankenzimmer und trat zu den Mädchen und der Lehrerin. „Was ist mit unseren Freundinnen Amelie und Mary und den anderen?“, bestürmten sie ihn, denn das war das Einzige, das sie derzeit interessierte! Der Arzt schwieg zuerst, doch dann sagte er: „Amelie wurde am Fuß getroffen und ist schon wieder bei Bewusstsein. Ihr könnt sie gleich besuchen, wenn ihr wollt. Mary hat einen Streifschuss am Bauch. Sie wurde schon operiert und schläft noch. Die beiden liegen im gleichen Zimmer. Herr Berger wird bald entlassen werden. Ihm wurde nur die Hand angeschossen. Aber es gibt auch schlechte Nachrichten. Für fünf eurer Mitschüler kam leider jede Hilfe zu spät.“ „Und David?“ Anna hatte die ganze Zeit darauf gewartet, dass der Arzt auch seinen Namen nennen würde. Sie hatte Angst vor dem, was nun kommen würde. Der Arzt schaute sie ernst an. „Ob David überleben wird, ist offen. Die Kugel hat seinen Lungenflügel zerfetzt. Noch kämpfen die Ärzte um sein Leben.“ Anna presste die Hand auf ihren Mund und spürte, dass Tränen in ihre Augen schossen. Sie hatte David immer besonders gern gemocht. Wenig später saßen Bella und Anna an den Betten von Amelie und Mary. Den beiden ging es zum Glück schon besser. Die Freundinnen waren traurig, dass nicht alle überlebt hatten und doch froh, dass für sie und der Großteil der Klasse der Albtraum noch halbwegs glimpflich vorbei gegangen war. Das schreckliche Erlebnis würden sie aber bestimmt nie in ihrem Leben vergessen. Frau Blau wurde zu lebenslanger Haft verurteilt, und die anderen Lehrer durften wieder unterrichten. Nur auf eine Frage wusste niemand für eine sehr lange Zeit eine Antwort: Würde David sterben? Oder hatte er noch einmal Glück? Anna beschloss, ihn jeden Tag zu besuchen ... bis er die Augen wieder aufschlug. Sie wollte die erste sein, die er sehen würde, wenn er diesen letzten Mordversuch doch überleben sollte ... - 15 - - 16 - Julian Hofer • Jakob Strempfl • Philipp Marterer widespread deaths - 17 - Prolog „Cornelius!“ „Was ist Papa?“ „Hast du die Ratte wieder eingefangen?“ „Nein, aber ich hab sie gleich …“ Cornelius kroch auf den Knien unter den metallisch glänzenden Tisch. „Komm her, du …“, er warf sich nach ihr. „Du kleines Biest!“ Seine Stimme zitterte vor Wut. „Hast du sie bald, oder muss ich wieder …“, rief sein Vater in eiskaltem Ton. „Nein, bitte nicht.“ Doch das Gesicht seines Vaters tauchte schon neben ihm auf. „… so, ab mit dir, du bist doch zu nichts nutz.“ Cornelius wollte weglaufen, doch vor Angst konnte er keinen Muskel mehr bewegen. Jeglicher Fluchtversuch schlug fehl. Sein Vater griff mit seiner eisernen Hand nach ihm. „Du kommst jetzt mit!“, brüllte er. Nein, nein, nein!, dachte Cornelius. Er wehrte sich so heftig er konnte, doch da hatten sie schon den Tisch erreicht. Cornelius‘ Vater band seinen Arm an ein Tischbein. Über ihm war ein Laser. „Wann kapierst du es? Du musst auf meine Versuchskaninchen aufpassen. Dummer Junge. Wenn du nicht hören kannst, dann musst du fühlen. 300° Grad für 5 Sekunden.“ „Bitte …! Nicht!“ Der Laser fuhr hoch, es dauerte immer einige Zeit. „Nein, nein! Stopp es bitte!“ Eins. Cornelius begann zu schreien so laut er konnte. Zwei. Er spürte, wie sein Blut köchelte. Rasender Schmerz raubte ihm den Verstand. Drei. Er betete. Er hoffte, dass es bald aufhören würde. Vier. Der Schmerz brannte sich in seine Haut ein. Fünf. Endlich war es vorbei. Die Kuppel öffnete sich. Sein Vater trat herein und band ihn los. „Fünfzehn und noch immer so dumm.“ Mehr sagte er nicht. Er schaute seinen Sohn nicht einmal an. Cornelius taumelte. Irgendwie kam er wieder in die Welt zurück, die real war. 1. Kapitel Dr. Cornelius fuhr mit seinem Auto ins Stadtzentrum von New York zu seinem Bürogebäude. Er war ein kräftiger junger Mann, hatte braunes lockiges Haar und ewig schlechte Laune. An seinem Gesicht erkannte man immer, ob er glücklich war oder nicht. So waren seine Lügen jedes Mal sehr unglaubwürdig. Er stieg aus dem Auto und ging zur Eingangstür, wo sein Assistent auf ihn wartete. Der Assistent war ein muskelbepackter Mann, der eine Waffe bei sich trug. Er hatte schwarzes Haar und ein „Pokerface“. Er war der perfekte Lügner und Betrüger. Er machte gutes Geld mit seinem Job. Sie nahmen den Aufzug ins oberste Stockwerk. Cornelius betrat den Saal. Links neben dem Eingang befand sich das Labor, auf der gegenüberliegenden Seite standen ein paar Schreibtische und die Hochleistungsrechner. Die beiden Teile wurden durch einen Paravent getrennt. Das Labor war sehr schmutzig, es hatte viele braune Flecken, an manchen Stellen bröckelte der Putz ab. Die Ratten im Käfig waren aufgeregt. Sein Assistent holte für ihn eines dieser zarten Tierchen heraus. Cornelius übernahm das Tier. Vorsichtig fuhr er mit seinem schweißnassen Finger über das weiche Fell der Ratte, bevor er das Tier in einen - 18 - Glasbehälter setzte. In das Gefäß führten mehrere Rohre. Als er einen Schalter betätigte, füllten sich die Rohre mit blauen Dämpfen. „Und jetzt?“, fragte Cornelius‘ Assistent. „Warten wir bis zum nächsten Morgen“, antwortete Cornelius. Er drehte sich zu seinem Assistenten um. „Mark, hol mir einen Kaffee“, befahl der Doktor. „Ich bin nicht dein Haussklave!“, regte Mark sich auf, ging aber dann doch und füllte etwas von der braunen Brühe in einen abgeschlagenen Becher. Der Doktor nahm seinen Stift, Papier und alles andere, was er zum Berechnen brauchte. Er kritzelte etwas auf das Blatt. Schweiß rann ihm von der Stirn und tropfte auf das Papier. Bei jeder Zahl, die er niederschrieb, hörte er das Ticken seiner Taschenuhr, Buchstabe für Buchstabe verfolgte ihn das Quietschen der Mäuse. Der Stressfaktor in ihm stieg extrem an. Er wollte die Arbeit heute fertig bringen. Bei seinen Mäusen hatte er es so oft getestet, doch nun dauerte es ihm schon zu lang. Zu lang, um nicht bei der Polizei Verdacht zu erregen. 2. Kapitel Ein ganz normaler Tag. Montag. Jessica stand noch halb verschlafen auf. Ihre langen schwarzen Haare klebten ihr im Gesicht. Der Wecker klingelte schrill. Sie hasste die alte Schrottlaube! Müde trottete sie durch ihre alte Bruchbude in die Küche und machte sich einen Kaffee. John, ihr Freund, war schon längst in die Bar aufgebrochen. Dabei war er gestern erst um drei Uhr früh heim gekommen. Jess schaute auf die Uhr. Halb neun! Schon so spät! Sie hastete ins Schlafzimmer, zog ihre Arbeitskleidung an und lief die Treppe hinunter. Schnell ins Auto und Vollgas in die Fabrik, dacht sie. Plötzlich klingelte das Telefon. „Hallo, haben Sie Zeit? Heute Nachmittag so gegen vier? Sie bekommen eine hohe Geldsumme“, fragte ein Mann mit tiefer Stimme. Wie lange sie schon auf diesen Anruf gewartet hatte! Sie musste sich anstrengen, damit ihre Stimme nicht zitterte. „Wie viel bekomme ich?“ „1 Million Dollar“, sagte der Mann. Jessica saugte die Luft ein. „Wow, das ist viel Geld!“ Was sie wohl dafür tun musste? War sie dafür bereit? Sie dachte an ihre winzige, schäbige Wohnung. „Wo soll ich hin?“ „Time Square, altes Bürohaus, oberster Stock. Seien sie pünktlich!“ Damit legte der Mann auf. Total verwirrt stieg Jess in ihr Auto und fuhr in die Fabrik. Auf der Fahrt dachte sie noch nach, ob sie das wirklich machen sollte, aber eine Million Dollar waren zu verlockend. Also stieg sie aus und ging in die Fabrik zu ihrem Arbeitsplatz. Sie hatte sich entschieden. In der Mittagspause wollte sie zu dem alten Bürogebäude gehen. Sie ging die glitschigen Stufen hinunter vom vierten Stock, wo sie arbeitete, bis in das Erdgeschoß, und ging hinaus. Dort wartete sie auf ein Taxi, das sie zu der angegebenen Adresse führen sollte. Jess fuhr zum alten Bürogebäude. Als sie angekommen war, nahm sie ihre Tasche heraus. Sie war ein wenig abgelenkt von dem Gedanken, was sie da drinnen erwarten könnte. War es vielleicht eine heimliche Quizshow oder ein Glücksrad? Der Taxifahrer rief: „18 Dollar, bitte.“ „Was?“ Jess runzelte die Stirn. Wovon sprach der Mann? - 19 - „18 Dollar. Für die Fahrt hierher.“ Der Taxilenker musterte sie, als wäre sie ein Alien. „Hier, bitte.“ Jess fummelte schnell einen zerknitterten Schein aus ihrer Geldbörse und ging vom Taxi zum Gebäude. Sie fuhr mit dem Lift in den 9 Stock, denn dort war Endstation. Dort musste sie weitere 9 Stockwerke über die Treppe zu Fuß. Die Treppe war nicht im besten Zustand. Sie war dreckig und nass. Sie wurde schon erwartet. Ein maskierter Mann überreichte ihr ein Bündel Geldscheine. Hastig zählte Jess nach. Die Summe stimmte. Ihre Finger zitterten vor Aufregung. So viel Geld auf einmal hatte sie noch nie in Händen gehalten. Dabei waren die 250 Tausend Dollar erst ein Viertel des vereinbarten Betrages! Was sie wohl dafür tun musste? Der Fremde führte sie in einen Raum, der blau beleuchtet war. Sie schaute sich um, aber der Mann mit der Maske war schon verschwunden. Ein anderer Maskierter führte sie in den Keller. Im Gegensatz zu ihrer Wohnung hatte der Keller hier eine Kunststoffversiegelung. In der Mitte war ein Glaskobel aufgestellt. Aus Lautsprechern kam der Befehl, dass sie in die Glaskammer steigen sollte. Mit klopfendem Herzen befolgte sie die Anordnung. Was würde mit ihr geschehen? Ihr Magen verkrampfte sich. Ängstlich drückte sie sich gegen die kalte Scheibe. Minuten vergingen. Jess kam es vor, als wären es Stunden. Je länger sie wartete, desto größer wurde ihre Angst. Doch … es passierte nichts. Nach einer Ewigkeit ertönte aus dem Lautsprecher der Befehl, dass sie wieder nach draußen kommen könne. Kaum hatte sie den Raum verlassen, bekam sie von dem Mann, der sie abgeholt hatte, ein Kuvert mit dem restlichen Teil des versprochenen Geldes. Jess kaute nervös an ihrer Lippe. Sie verstand nicht, wofür ihr Der Fremde so viel Geld gegeben hatte. Sie war doch nur in einem Glasbehälter herumgestanden. Dann aber zuckte sie mit den Schultern. Sollte ihr Recht sein! Wozu sollte sie sich so viele Gedanken darüber machen. Das Geld konnten sie und ihr Freund gut gebrauchen. Sie fuhr wieder mit dem Lift hinunter. Auf der Straße war ein riesiger Stau und sie beschloss, ihren Freund John Erikson in der Bar Apple zu überraschen. Obwohl sie sehr lange brauchte, weil die Bar am anderen Ende der Stadt lag, genoss sie den Spaziergang durch die belebten Straßen. In Gedanken schmiedete sie schon Pläne, wofür sie und John ihr Geld verwenden wollten. Endlich war sie in der Bar Apple angekommen. John war noch nicht fertig, deshalb bestellte sie einen Martini. Sie konnte es kaum erwarten, bis John endlich Feierabend hatte und sie ihm bei einem Spaziergang die tollen Neuigkeiten erzählen konnte. Wieder dachte Jessica über die Nachwirkungen des Versuches nach. Aber auch John fand keine Erklärung, wofür das hätte gut sein sollen. Schließlich beschlossen sie, sich nicht länger den Kopf darüber zu zerbrechen. „Es gibt so viele Verrückte auf der Welt! Warum sollten wir nicht einmal Glück haben!“ John zwinkerte Jess zu und hängte sich bei ihr ein. Dann schlenderten sie weiter die Straße entlang. Sie gingen in den Park, dort setzten sie sich auf eine Parkbank und warfen den Vögeln kleine Brotkrümel zu. Dann gingen sie weiter, den Broadway entlang. Bei einem Reisebüro hielt Jess John fest. „Schau mal! Ein Angebot für eine Kreuzfahrt! Das wollte ich immer schon einmal machen!“ Sie schaute John mit großen Augen an. Er strahlte sie an und nahm sie bei der Hand. „Dann gehen wir doch einmal hinein“, sagte er und stieß die Tür auf. „Ich will unbedingt nach Lissabon und wieder über die Ostküste zurück“, sagte er, „Ich geh noch schnell zur Bank und mache einen Kredit.“ Jessica hielt ihn am Arm zurück. „Den brauchst du nicht“, lachte sie und holte das Kuvert mit dem Geld hervor. „Diese Kreuzfahrt übernehme ich.“ Nur wenige Tage später traten sie die große Fahrt nach Lissabon an. - 20 - 3. Kapitel Die Drohung „Cornelius, wir müssen gehen.“ „Aber warum? Ich hab jetzt endlich ein paar Freunde.“ Cornelius protestierte heftig. Er war gerade Sechzehn geworden. Er wollte endlich einmal so leben, wie er sich vorstellte und nicht, wie es ihm sein Vater vorschrieb. „Wir müssen gehen habe ich gesagt!“ Cornelius wusste, dass sein Vater dabei war, wütend zu werden. Aber er hatte genug davon. „Nein! Ich bin nicht länger dein Kind.“ „Na gut, dann muss ich das eben nochmal machen, was vor einem Jahr geschah.“ „Nein! Diesmal nicht. Nie wieder.“ „Oh doch“, meinte sein Vater mit tiefer Stimme. „Wenn du das tust, werde ich dich töten.“ Cornelius meinte dies mit vollem Ernst. Sein Vater starrte ihn mit versteinerter Miene an. „Du mich oder ich dich.“ Es herrschte eine kurze Schweigeminute zwischen ihnen. Cornelius kam es so vor, als wäre es eine Ewigkeit. Sein Vater wirkte wie ein Gepard, der in dem hohen Gras lauerte, als wartete er auf einen Fehler des Beutetiers. Schließlich brach er das Schweigen. „Komm jetzt, steig ein“, sagte er. Diesmal gehorchte Cornelius. Es war Nacht, sein Vater schlief im Zimmer neben ihm. Sie hatten eine Nacht im Motel auf der Autobahn gebucht. Jetzt war seine Chance auszubrechen. Doch bevor er flüchtete, musste er ihm noch eine Nachricht schreiben. „Ich werde dich töten. Egal wie.“ Cornelius nahm den Zettel und legte ihn neben sein Bett. Dann öffnete er das Fenster und stieg vorsichtig hinaus. Er rannte so schnell er konnte. Den Herzschlag konnte in jedem Teil seines Körpers spüren. Er schlug den Weg in Richtung zur Autobahn ein. Die ganze Zeit hielt er seinen Daumen hoch und schließlich hielt ein LKW-Fahrer in die Straße vor dem Hotel an. „Kann ich mitfahren? Ist egal wo’s hingeht.“ Als der Fahrer ihm die Tür aufhielt, nickte er und kletterte zu ihm in die Fahrerkabine. An all das erinnerte sich Cornelius, während er seinen Rücken gegen die kalte Wand in seinem Labor drückte. Genau deswegen hatte er die Bombe gebaut. Er wollte sie alle töten. Er wollte sich rächen. An seinem Vater und an all den anderen, die ihm so weh getan hatten. Cornelius befahl seinem Assistenten, die Kamera anzumachen. Es war eine billige Ausführung mit einer 240p Auflösung. Sein Assistent Mark fragte: „Wie macht man das Ding an?“ „Das ist jetzt nicht dein Ernst. Du weißt nicht …“ „Boss?“ „… wie man eine verdammte Kamera anmacht!!!“, schrie ihn der Professor an. „Drück den größten Knopf auf der Kamera. Du haben verstanden mich jetzt großes Dumbo?“ „Ähh, Boss, wieso reden Sie mit mir, als wär ich ein Idiot?“ „Na, weil du einer bist! Jetzt drück den verdammten Knopf!“, brüllte ihm der Professor ins Ohr. „Jaja … “ Mark drückte den Knopf und die Kamera gab einen Piepton von sich. „Liebe Welt, ich, Professor Cornelius, habe eine Bombe. Sie ist gefüllt mit Gift. Dieses Gift wirkt schneller, als ihr denkt. Ich habe es schon an einem von euch getestet. Doch ihr wisst nicht, wer das ist. Ich werde mich noch gedulden. Wenn ihr wissen wollt, was ihr tun könnt, - 21 - dann gebt mir eine Milliarde Dollar und lasst mich gehen. Ihr habt bis 21.12.2012 Zeit. Danach macht es Boom.“ Ohne weitere Worte drehte Mark die Kamera ab und gab dem Professor sein Notebook. Über WLAN stieg er in das Computerzentrum von New York ein, lud das Video hoch und wartete. Als es oben war, schaltete er die Werbung im gesamten Bundesgebiet ab. Auf jeder Fernsehstation der Vereinigten Staaten ging nun stattdessen sein Video on air. 4. Kapitel 15.12.2012 „Sir! Sir! Eben bekamen wir die Meldung, dass in ganz New York die Werbung ausgefallen ist“, schrie Sam aufgeregt. Seit einem Jahr war er nun schon Polizist. Aber so etwas Irres war ihm noch nie untergekommen. „Na und?“ Sein Chef schien seine Aufregung nicht zu teilen. „Na und! Das ist nicht ,na und!‘ Ein Verrückter hat vor, uns in die Luft zu sprengen!“ „Ja, ein Verrückter. Es ist nur ein Verrückter. Die können ja nichts als drohen. Und nachher passiert doch nichts.“ „Aber …“ Sam wurde von einem plötzlichen Flackern abgelenkt. Der Bildschirm fiel aus. Genauso wie alle anderen Computer auf der Polizeistation. „Was ist denn nun schon wieder?“, maulte der Chef. Doch dann gingen auch noch plötzlich alle Lichter aus. Angst breitete sich aus. Jeder auf der Station dachte sofort an die Warnung von vorhin. Plötzlich kam es ihnen nicht mehr so unrealistisch vor. Sie hatten Angst vor einem gut geplanten Überfall. Als sie Schritte hörten, zog der Chef vor lauter Angst seine Pistole. Schritt für Schritt kam etwas immer näher. Dem Chef selbst stand die Angst ins Gesicht geschrieben. Einer der Polizisten rollte sich vor lauter Angst am Boden zusammen. Plötzlich fing der Computer des Chefs zu flackern an. Langsam wurde das Bild klarer. Man hörte eine verzerrte Stimme: „Kann ein Verrückter etwa das?“ Gleich danach war wieder der blaue Desktop des Computers zu sehen. Die Lichter gingen wieder an und die Männer auf der Polizeistation entspannten sich. Der Chefinspektor kratzte sich am Kinn: „Ich fürchte, wir müssen etwas tun. Der Kerl ist ein echtes Problem.“ Marshall kam nach Hause und warf sich auf die Couch. Er war todmüde. Mit einer Hand versuchte er, die Fernbedienung zu erreichen. Doch sie lag auf dem Fernsehtischchen. Und das war einfach zu weit weg. Stöhnend stand auf, griff nach dem Gerät und schaltete den Fernseher ein. Als erstes sah er die Warnung. Irgendwas sagte ihm, dass er Angst haben sollte. Als er umschaltete, sah er den gleichen Typen auf dem Empire State Building stehen. Der Mann schrie: „Ich werde die Bombe explodieren lassen. Ich habe zwei Gegenmittel eines für mich, das zweite für die Wissenschaft.“ Gleich darauf verschwand er im Empire State Building und kam kurz danach mit einem Ding auf einem Rollwagen wieder heraus, das so groß war, wie zwei Menschen. Marshall ließ zischend die Luft aus den Lungen entweichen. Das war eindeutig eine Bombe! Zum ersten Mal in seinem Leben wusste er nicht, was er tun sollte. Es kam ihm vor, als würde er alles in Zeitlupe sehen. Mit einem Satz sprintete er zum Esstisch, warf sich unter ihn und hielt die Hände vor sein Gesicht. Er hörte einen großen Knall und wusste nicht, ob es aus dem Fernseher oder von draußen - 22 - kam. Vor dem Fenster verdunkelte sich der Himmel. Dies war das Ende der Welt. Die Bombe explodierte. Am Anfang war nichts zu sehen. Aber nach etwa zehn Minuten entwickelte sich auf einmal ein blaugrüner Schleier. Er legte sich über ganz New York. Alle Menschen gerieten in Panik und liefen umher. Die Geschäfte wurden geplündert und alles sah fürchterlich aus. Man hörte Sirenen heulen und alle Kirchenglocken bimmelten. Zur gleichen Zeit lag John auf der Couch und sah Fluch der Karibik 4 an. Bei der Hälfte fiel der Strom aus. Nun wusste er, dass Cornelius‘ Drohung Wirklichkeit wurde. Der Reihe nach wurden die amerikanischen Städte verseucht. Als nächstes zog die Wolke über Washington. Dann kam Boston dran. Die ganze Ostküste Amerikas war innerhalb von einer Stunde nicht mehr bewohnbar. Das Ökosystem brach in allen Landesteilen Amerikas zusammen. Die Strahlen verbreiteten sich sehr schnell und erzeugten ein Tiefdruckgebiet, in dem sie sich mit den Regenwolken vermischten und als Regentropfen ins Meer gelangten. Die Gamma-Strahlen vergifteten Fische und alle Meeresbewohner starben aus. Die Fischer und mit ihnen die meisten Menschen an der Ostküste fanden einen qualvollen Tod. Die Wolke breitete sich weiter aus. Wie der unsichtbare Tod wanderte sie nach Westen. Die Menschen rannten verzweifelt in ihre Keller. Der Präsident und alle, die genug Geld hatten, um sich einen Platz zu erkaufen, wurden in Atombunker gebracht. Man musste Nahrungsmittel heranschaffen, denn die Lebensmittel in den Vereinigten Staaten waren inzwischen alle vergiftet. Die meisten Lebensmittel wurden aus Kanada importiert. Es stand sehr schlecht um die USA. 5. Kapitel Massenpanik Es herrschte Panik in der City Hall. Der Bürgermeister rang verzweifelt neben der tobenden Menge um Aufmerksamkeit. „Ruhe! Ruhe bitte!“, rief er immer wieder, doch niemand hörte ihm zu. „Was sollen wir nur tun? Wir haben nichts mehr zu essen!“, schrie eine wütende Stimme mitten aus der Menge. „Wenn wir nichts tun, dann müssen wir sterben!“ „Das müsst ihr sowieso!“ Der große Bildschirm über dem Pult hatte sich eingeschaltet und das Gesicht von Cornelius war zu sehen. Es wurde ganz still in der großen Halle. Hätte man eine Stecknadel fallen gelassen, hätte man es gehört. „Ich warte immer noch auf das Geld. Seht, was ich in der Hand halte! Das könnte euch gehören, wenn ihr mir das Geld geben würdet.“ Die Kamera zoomte auf eine Flasche mit einer grünlichen Flüssigkeit. „Der Inhalt dieser Flasche könnte euer Leben retten …“ Das Licht fing an zu flackern. Cornelius lachte teuflisch. „Überlegt es euch noch mal.“ Damit schaltete sich der große Bildschirm aus. Es wurde wieder ohrenbetäubend laut. Der Bürgermeister ergriff das Wort: „Wir müssen mit Kanada verhandeln, ob sie uns weitere Hilfsgüter exportieren. Der Wind über dem Atlantik hat die Wolke in Richtung Europa getragen, also ist Kanada nicht so kontaminiert wie wir. Es sind harte Zeiten, aber wir sind Amerikaner und wir haben mehr Rückgrat als alle anderen!“ Laute Zustimmung erfüllte den Raum und die Stimmung schlug wieder in Optimismus um. - 23 - Marshall rannte zu seinem Bruder John. John hatte herausgefunden, wo Cornelius sich aufhielt. „Er ist beim alten Bürogebäude!“, rief er seinem Bruder entgegen, als dieser bei ihm ankam. Sie fuhren so schnell sie konnten zu dem alten Haus. In der Mauer klaffte ein riesiges Loch. Alles war dunkel und verlassen. ,,Schnell! Hier entlang, Marschall.“ Sie rannten ins Innere. Vor ihnen tat sich ein Tunnel auf. Die Wände waren mit Schlamm bedeckt. Von oben tropfte Wasser auf sie herunter, Wurzeln hingen vor ihren Augen. „Diese Bäume sind bestimmt schon mehrere Jahrzehnte alt“, stellte Marshall fest. Das einzige, woran sie sich orientieren konnten, war ein schwaches Licht, das in den Tunnel hineinschien. Der Weg kam ihnen länger vor, als er tatsächlich war. Marshall stolperte über die Überreste der Ziegel, die herausgesprengt worden waren. Endlich erblickten sie ein Licht. John rannte voraus, so schnell er konnte. Marschall schrie: ,, Warte, es könnte...“ Aus dem Raum kam ein schmerzvoller Schrei. Marschall spürte förmlich, wie sich die Zeit verlangsamte. Jeder Schritt, den er tun würde, musste nun genau geplant sein. Er rannte so schnell er konnte in den Raum. Auf der gegenüberliegenden Seite bemerkte Marshall eine verschlossene Stahltür. Der Raum war vollgeräumt mit Tischen, auf denen Reagenzgläser und Destillierkolben standen. Auf dem Boden lag John mit einer Spritze im Arm. Über ihn gebeugt stand Cornelius. „Hau ab, Marschall, oder mit dir passiert das Gleiche“, warnte ihn Cornelius. Marschall suchte nach etwas, um den Doktor zu überwältigen. Er rannte zum Tisch und warf in blinder Wut mit den Gläsern nach ihm. Doch er traf niemanden. Der Doktor rannte über die Glasscherben zu der Stahltür, schlüpfte in einen anderen Raum und schloss hinter sich ab. John krümmte sich vor Schmerz auf dem Boden. ,,Es wird alles wieder gut, John, ich bring dich ins Krankenhaus“, flüsterte Marshall und streichelte hilflos die Hand seines Bruders. Doch er wusste, dass er nicht mehr rechtzeitig Hilfe bekommen würde. Trotzdem packte er seinen Bruder unter den Achseln und hievte ihn zum Stehen hoch. Johns Beine knickten weg. Marshall musste ihn aus dem Bunker tragen. Es war ein glitschiger Weg nach draußen. Die Betonmauern waren über und über mit Algen bedeckt. Als er endlich an der freien Luft war, schnaufte er schwer. Er brauchte eine Pause! Aber er hatte keine Zeit. Er schleppte sich weiter bis zu seinem Auto und bettete John auf die Rückbank. Nach kurzem Überlegen entschied er sich für das Mount Sinai Krankenhaus, denn es war am nächsten. Das Problem war der Mega-Stau. Alle wollten die Stadt verlassen. Er musste die Bundesstraße nehmen. Die wenigen Ampeln, die noch funktionierten, blinkten wirr. Der Verkehr war fast völlig zusammen gebrochen. Fluchend drückte Marshall auf die Hupe. Als er einsah, dass nichts mehr ging, riss er die Wagentür auf und lud sich John auf die Schultern. Keuchend rannte er mit dem schweren Gewicht weiter, bis er das Krankenhaus endlich vor sich auftauchen sah. Marshall trug seinen inzwischen bewusstlosen Bruder in die Eingangshalle und übergab ihn den Ärzten. Er wollte John nicht alleine lassen. Doch die Ärzte schickten ihn in den Warteraum, bevor sie John einer großen Anzahl von Tests unterzogen. Marshall ahnte, dass sein Bruder nicht mehr zu retten sein würde. Er würde sterben. Weil er nichts ausrichten konnte und das Warten ihn verrückt machte, beschloss Marshall, wieder zum geheimen Labor zurück zu kehren. Er konnte sich noch genau erinnern, wo Cornelius hingelaufen war. Das Bürogebäude war nach Norden ausgerichtet, der Tunnel war in einer 180°-Kurve angelegt. Also verlief er nach Süden. Das nächste Gebäude im Süden, das einen Bunker hatte, war das Rathaus. Aber der Irre konnte sich doch unmöglich im Rathaus verstecken! Wie konnte das nicht auffallen? Das FBI hätte doch längst das Signal geortet. Außer … Marshall dachte fieberhaft nach. Es gab noch einen zweiten Bunker. Von diesem - 24 - Bunker wussten nicht viele. Es war ein Bombenbunker aus dem zweiten Weltkrieg. Damals hatte man einen Weg dorthin durch das Bürogebäude angelegt. Marshall rannte im Regen zur nächsten Polizeistation. Er hatte zum Laufen nicht die richtigen Schuhe an, trotzdem rannte er weiter. Ein mächtiger Blitz fuhr nieder und traf das Haus neben ihm. Felsbrocken prasselten auf ihn herunter. Marshall beschleunigte noch einmal. Er wollte John unbedingt retten. Ihm begegnete eine alte Frau. ,,Marshall?!“ Er hielt an und starrte die Fremde irritiert an. Woher wusste sie seinen Namen? ,,Ich bin es, Jessica, deine Nachbarin. Ich bin doch Johns Freundin! Erinnerst du dich nicht mehr an mich?“ Marshall blieb stehen, als hätte ihn der Blitz getroffen. ,,Jess!! Was ist mit dir passiert?“ ,,Cornelius‘ Gift - es lässt die Menschen schnell altern.“ ,,Aber, aber … wie?“ ,,Es ist schon egal, ich hab nur noch eine Stunde zu leben. Was ist mit John?“ Marshall schüttelte nur den Kopf. Jess starrte ihn kurz an und zuckte dann mit den Schultern. Sie drehte sich ohne ein weiteres Wort um und verschwand in dem zerstörten Haus. Marshall rannte ihr nach, doch sie war wie vom Erdboden verschluckt. Marshall spürte, wie eine Träne über sein Gesicht floss. Dafür würde Cornelius sterben! Er ging in die Wache und wandte sich dem nächsten Polizisten zu. Rasch erzählte er, was passiert war. Der Polizist meinte: „Ich werde ihnen einen Einsatztrupp für diese Mission mitgeben und werde das FBI verständigen.“ In der halben Stunde hatte Marshall sehr viel Zeit zum Nachdenken. Er dachte über seine Kindheit nach und ihm kam eine Erinnerung. „Hey Marshall fang!“, rief sein Bruder. Es war einer dieser bunten Gummibälle. Marshall konnte sich noch an die Farben erinnern. Er war rot-blau gestreift. „Komm Marshall wir gehen rein!“, rief John. In der Küche fand er seine Mutter vor. Sie kochte gerade sein Lieblingsessen: Spaghetti Bolognese. Plötzlich ertönte von draußen ein Schrei. Marshall rannte nach draußen und sah nach, wer geschrien hatte. Es war ein Jäger. Er wurde von einem Bären angegriffen. Das Tier schleifte den blassen Körper den Schotterweg entlang. Überall war Blut. In diesem Moment gab der Jäger direkt vor Marshalls Augen auf. Seit diesem Erlebnis hatte Marshall geschworen, nie wieder jemanden sterben zu lassen. Inzwischen hatten er und die Helfer den Tunnel erreicht. Durch das Licht auf den Gewehren sah der Tunnel noch viel grusliger aus. Als sie im Bunker ankamen, war er leer. Aber Marshall zeigte ihnen die Tür. Das FBI schoss das Schloss auf. Sie stürmten hindurch und stießen auf eine Mauer aus Erde. „Aber… aber wie ist das möglich? Das war ein langer Tunnel! Ich habe ihn vorhin erst selbst gesehen!“ Marshall drehte sich einmal im Kreis herum. Er verstand nichts mehr. Der FBITrupp schaltete die Lampen aus, die Männer sicherten die Gewehre und verzogen sich. 6. Kapitel Die Rückkehr der Wolke In einer New Yorker Wetterstation schaute ein Meteorologe auf den Bildschirm. Als ihm klar wurde, was er sah, war ihm das Entsetzen ins Gesicht geschrieben. Sein Mund stand offen, als wollte er damit Fliegen fangen. Auf dem Bildschirm bewegte sich eine große, schwarz dargestellte Wolke auf die USA zu. Der Mann presste die Hände vors Gesicht und rieb sich den Schweiß weg. Dann schüttelte er sich. Mechanisch hob er einen Hörer ab, wählte eine - 25 - Nummer und wartete. Nach einer kurzen Zeit meldete sich der Vorsitzende des Pentagons. „Hallo, was gibt es?“ „Sie kommt zurück! Die Wolke!“ Der Mann am andren Ende der Leitung reagierte sofort. „Wir müssen alles evakuieren! Ich informiere das Weiße Haus. Präsident Obama muss sofort in Sicherheit gebracht werden!“ Er legte auf. Der Meteorologe ging aus dem Raum. Er zittert am ganzen Körper. „Heute wird es kein schöner Wetterbericht“, dachte er und kicherte, als wäre er plötzlich verrückt geworden. Die Wolke war inzwischen über den ganzen Erdball geflogen und hatte überall die hochgiftigen Delta-Strahlen ausgesendet. Ihre Wirkung war fünfhunderttausend Mal stärker als die Atombombe, die damals über Hiroshima niedergegangen war. Jedoch entstand dabei keine Druckwelle. Die Menschen atmeten die hochgiftigen Strahlen ein und nahmen sie über die verdorbene Nahrung zu sich. Dabei sahen die Lebensmittel von außen gesund aus. Doch sie waren für jedes Lebewesen tödlich. Der Reihe nach fielen die Menschen ohne Anzeichen und Reaktion einfach um. Die Glücklichen starben in der Nacht und die Unglücklichsten überlebten. Denn das Leben wurde härter und schwerer. Die Leute brachten sich in Massen um, zuerst starben die größeren Städte der Ostküste Amerikas aus, ausgenommen Washington, Boston und New York. Großbritanniens Städte wurden so groß wie Eisenstadt und noch kleiner. Europa war zunächst am wenigsten betroffen, aber Asien starb völlig aus. Dort überlebten nur die Superreichen, die einen eigenen Atombunker hatten. Afrika sah auch nicht gut aus und in Australien lebte kein Mensch mehr. Jetzt lebten nur noch wenige Menschen auf dem Erdball. Das Leben trotzte der Strahlung und versuchte, zu überleben, aber niemand hatte lange eine Chance gegen das Strahlengift. Marshall war der einzige aus seiner Familie, der noch lebte. Marshall schleppte sich die Treppen des Empire State Buildings hinauf, weil die Lifte außer Betrieb waren. Ein paar andere Passanten folgen ihm. Sie waren in der 98. Etage. „Nur noch vier Etagen“, dachte Marshall und nahm noch einmal seine letzten Kräfte zusammen. Mit jeder Stufe wurde er schwächer. Dann hatte er endlich die Wendeltreppe erreicht. Er verschnaufte kurz. „Warum habe ich nich‘ das Chrysler Building genommen. Aber is‘ ja egal. Ich sterbe so oder so.“ Seine verschrumpelten Füße ließen sich nur noch schwer bewegen. Er hörte einen dumpfen Schrei, der immer näher kam. Durchs Fenster sah er, wie sich ein Mann in die Tiefe stürzte. Marshall schüttelte den Kopf und ging weiter. Wenige Sekunden später hörte er den dumpfen Aufschlag des Körpers auf dem Asphalt. Jetzt wusste er, was ihn erwartete ... 7. Kapitel Der gemeinsame Sprung Furchtbar sah es auf den Straßen von New York aus. Überall lagen künstlich gealterte Leichen herum. Cornelius fühlte sich wie in einem Wüstendorf, in dem nur wenige Häuser standen. Aber tatsächlich war er in der größten Stadt der Welt – nur dass jetzt alle Häuser leer standen. In nur noch wenigen Stadtwohnungen brannte Licht. Diejenigen, die nicht gleich an der Giftwolke gestorben waren, gingen am verdorbenen Essen zugrunde, am schmutzigen Wasser oder an Krebs, den die Strahlen verursachten. In den anderen Städten war es nicht viel anders. Aber am schlimmsten war es auf dem Land. So gut wie niemand hatte den Giftangriff überlebt. Stille lag über dem Land. Cornelius ging beschwingt aus dem Haus und schlenderte den Broadway hinauf. Er hatte - 26 - sein Ziel erreicht. Sein Gegenmittel funktionierte. Jetzt wusste er, dass er nicht sterben würde. Aber alleine auf einen lebensfeindlichen Planeten zu sein, wollte er auch nicht. „AAAAAAAAAAAAAAA!!!!!!!!!!!!“ Cornelius hörte einen Schrei über sich, und auf einmal fiel kurz darauf ein Körper vom nächsten Hochhaus. Er schrak zurück. Blut spritzte ihm ins Gesicht, nur einen halben Meter von ihm entfernt lag ein junger Mann. Sein zerschmetterter Körper sah furchterregend aus. Cornelius blickte schnell weg und rannte in die andere Richtung davon. Er ging Richtung Wohnung, um zu schlafen, denn am nächsten Morgen wollte er sein Werk vollenden. Er setzte sich auf seine Couch und schaltete den Fernseher an. „Nichts. Keine Sendungen. Die Leute vom Fernsehen sind wohl auch alle gestorben“, dachte er und schaltete seinen DVD Player an. Bis spät in die Nacht zog er sich eine DVD nach der anderen rein. Erst so gegen ein Uhr ging er ins Bett und hörte das erste Mal in seinem Leben eine Gutenachtgeschichte an. Am nächsten Tag ging er den Broadway hinunter. „Ho, hoffentlich fällt mir diesmal keiner vor die Füße“, dachte er, als er bei einem Hochhaus vorbei kam. Cornelius suchte seinen Vater – und fand ihn in der Fulton Street. Der einstmals kräftige Mann wirkte wie ein Greis. Er kauerte in der Ecke eines halb zerstörten Gebäudes und starrte seinen Sohn aus leeren Augen an. Als er ihn erkannte, streckte er ihm seine dürren Hände entgegen. Cornelius blieb vor ihm stehen. Regungslos starrte er auf den zittrigen Mann hinunter. Schließlich ging er vor ihm in die Hocke. „Na, alter Mann? Lust auf ein Experiment?“ Ein kaltes Lächeln spielte um seine Lippen. Sein Vater versuchte etwas zu sagen, doch es kam nur ein Röcheln aus seinem Mund. Cornelius griff in seine Jackentasche und holte eine Flasche mit einem dickflüssigen grünen Inhalt heraus. „Das Gegengift“, sagte er ruhig und hielt es seinem Vater vor die Nase. Wieder stöhnte der andere und versuchte, die Glasröhre zu erreichen. Cornelius legte den Kopf schief und betrachtete seinen Vater aus zusammen gekniffenen Augen. „Ich habe mir überlegt, dich doch leben zu lassen.“ Er leckte sich über die Lippen, bevor er weiter sprach. „Denn was mach ich auf einer Welt, in der es außer mir niemanden mehr gibt?“ Mit bedächtigen Bewegungen steckte er eine dünne Nadel auf den Spritzenkolben. Sein Vater verdrehte die Augen. Hoffnung glomm in seinem Blick. Cornelius zog die Flüssigkeit auf. Ein Geräusch ganz in der Nähe ließ ihn in der Bewegung innehalten. Ein Schatten fiel auf ihn und als er aufsah, blickte er in zwei blaue Augen, die in tiefen Höhlen steckten. Aschblonde Locken umrahmten ein Gesicht, das früher einmal sehr hübsch gewesen sein musste. Er erinnerte sich an die junge Frau. Sie war seine erste Versuchsperson gewesen. „Jessica, richtig?“ Er streckte der zarten Frau einen Arm entgegen. Wie ein zittriges Vögelchen fühlte sich ihr Herzschlag an, als er sie an sich zog. Ohne das Gegenmittel würde sie nicht mehr lange zu leben haben. Eine plötzliche Idee schoss ihm durch den Kopf und ein Lächeln legte sich auf sein Gesicht. „Eigentlich habe ich meine Rache schon gehabt“, sagte er leise. Mit dem Fuß schob er den schlaffen Körper seines Vaters beiseite, der erfolglos versuchte, sich an seinen Beinen festzuklammern. Jessicas leichter Körper lag wie eine Puppe in seinen Armen. Rasch schlang er ein Band um ihren Oberarm und suchte nach einer Vene. Sie zuckte kaum, als die Nadel ihre dünne Haut durchstach. Langsam strömte die grüne Flüssigkeit in ihren Blutkreislauf. Gebannt beobachtete Cornelius, wie immer mehr Farbe in ihr Gesicht zurückkehrte. Nach wenigen Minuten war sie in der Lage, wieder alleine auf ihren Beinen zu stehen. Erstaunen machte sich auf ihrem Gesicht breit. Cornelius lächelte sie an. Er hatte sich noch nie in seinem Leben so glücklich gefühlt. - 27 - Jessicas Augen lagen forschend auf seinem Gesicht. Er versuchte, in ihrem Blick zu lesen. Schließlich nahm sie ihn bei der Hand. Neugierig ließ er sich von ihr durch die verlassenen Straßen New Yorks führen. Als sie ihn mit einem Ausdruck in den Augen anlächelte, den er nicht deuten konnte, meinte er, im Himmel zu sein. An ihrer Hand folgte er ihr zum Empire State Building. Nur kurz stutzte er, als sie ihn in die leere Eingangshalle zog. Doch als sie ihm aufmunternd zunickte, trabte er hinter ihr die Stufen hinauf. Er keuchte, als sie endlich die Plattform erreicht hatten. Doch die atemberaubende Aussicht über das Häusermeer entschädigte ihn für die Anstrengung. Jessicas frisch erblühter Körper lehnte sich verführerisch gegen seine Brust. Er legte seine Arme um sie und zog sie noch fester an sich. Gerade beugte er sich über sie, um sie zu küssen, als sie ein heiseres Lachen ausstieß. „Für John und Marshall, die beiden Menschen, die ich geliebt habe!“, stieß sie hervor und umklammerte seinen Brustkorb. Cornelius zog verwirrt die Stirn in Falten. Bevor er begriff, was sie vor hatte, fühlte er, wie sie sich mit aller Kraft gegen ihn stemmte. Er spürte das Eisengeländer im Rücken, während ihre ineinander verkeilten Körper über den Rand glitten. Noch im Fallen fragte er sich, was das alles zu bedeuten hatte. Das Letzte, was er vor sich sah, waren ihre himmelblauen, weit aufgerissenen Augen. Er las in ihnen Ruhe und Genugtuung. Dann war es vorbei ... - 28 - - 29 - Prolog Töte den Stern, töte den Stern! Das Wispern in Sophies Kopf wurde mit jedem Tag lauter. Sophie saß am Straßenrand und bettelte. 20 Euro. Mehr hatte sie heute noch nicht zusammengebracht. Sie wusste nicht, was sie machen sollte. Seit Tagen ging es schon so. „Wenn das nicht aufhört, werde ich noch verrückt!“ Sie presste die Fäuste gegen ihre Ohren, versuchte, sie zu ignorieren, doch die Stimmen wurden immer lauter. Sie steckte eine Hand in die zerschlissene Jackentasche. Ihre Finger bekamen die Münzen zu fassen, die ihr die wenigen Menschen hingeworfen hatten, die nicht achtlos an ihr vorbeigelaufen waren. „Wenigstens ein Säckchen sollte sich ausgehen“, dachte sie und rappelte sich zum Stehen hoch. Sie war schon lange auf Drogen, doch seit die Stimmen wieder in ihrem Kopf aufgetaucht waren, war die Sucht stärker geworden. Sie wollte sich betäuben. Nichts mehr hören. Doch die Stimmen gaben einfach nicht auf. 1. Kapitel Sophie Eliston. Töte den Stern! Welchen Stern?, dachte Sophie, während sie sich die Weinflasche an ihre Lippen setzte. Langsam leerte sie die Flasche mit großen Zügen. Ihr Kopf hämmerte, als wollte er zerspringen. Die Stimme in ihrem Inneren machte sie langsam wahnsinnig. Fast so schlimm, wie der Hunger, der in ihren Eingeweiden rumorte und sie kaum noch schlafen ließ. Sophie torkelte Richtung Innere Stadt. Während sie durch die engen Gassen schwankte, dachte sie über ihre Vergangenheit nach: An ihren schrecklichen Adoptivvater und ihre immer schlechtgelaunte Adoptivmutter. Darüber, wie sie misshandelt worden war und wie sie nach dem Tod der beiden angefangen hatte, zu trinken und Drogen zu nehmen. Kurze Zeit ging es ihr besser. Sie hatte eine eigene Wohnung gefunden. Und einen ordentlich bezahlten Job in einem Supermarkt. Verdammt nochmal! Sophie stolperte über eine achtlos weggeworfene Cola-Dose und kickte sie mit einem kräftigen Tritt in den Rinnstein. Warum habe ich nur diese blöde Flasche Champagner mitgehen lassen? Dabei wäre das denen sowieso nicht aufgefallen. Wenn nur der neue Lehrling sie nicht verpetzt hätte. Aber die Personalchefin kannte kein Erbarmen. Nicht einmal eine zweite Chance hatte sie bekommen. Kündigung. Fristlos. So schnell hatte sie gar nicht schauen können, war sie aus der Wohnung geflogen. Kein Geld für Miete – kein Dach über dem Kopf. Seitdem lebte sie auf der Straße. Manchmal waren die Leute so hilfsbereit, dass sie auch schon mal einen Fünf-Euro-Schein hergaben. Doch meistens hockte sie nur am Straßenrand und tat einfach nichts. Sah in die Luft und dachte an ihre leiblichen Eltern: ob sie wohl noch lebten? Warum hatten sie Sophie weggegeben? Und kannten ihre Adoptiveltern ihre echten Eltern? Fragen über Fragen – auf die sie niemals eine Antwort bekommen würde. Sie verlangsamte ihre Schritte und schaute sich um. Sie war jetzt schon in der Kärntner Straße angekommen, und die Menschen, an denen sie vorbei schlenderte, waren ihr fremd. Wenigstens war der Rausch vom Alkohol so weit abgeklungen, dass sie wieder normal denken konnte. Da sah sie einen Mülleimer, wunderbar voll mit dem Rest von einem Hamburger, zwei angebissenen Schokoriegeln, fauligen Bananen, die schon eine schwarze Schale hatten, einem angebissenen Apfel und einer halbgefüllten Tüte mit Pommes frites. Was die - 30 - Leute so als Müll bezeichneten! Für Sophie war das ein Festmahl. Als sie ein welkes Salatblatt herausfischte und es gierig in den Mund stopfte, entdeckte sie einen zusammengefalteten Stadtplan, der sie magisch anzog. Ohne sich weiter Gedanken darüber zu machen, wozu sie ihn brauchen könnte, steckte sie ihn ein. Sie war zufrieden. Mit schleppenden Schritten schlurfte sie weiter durch die Straßen. Das ziellose Herumgehen hatte sie müde gemacht. Über den Dächern der Stadt wurde es schon dunkel, also setzte sie sich neben eine Hausmauer und beobachtete den Verkehr, der immer stärker wurde. Die Arbeiter fuhren nach Hause. Auch auf dem Gehsteig wurde sichtbar mehr gedrängelt. Alle hatten ein Ziel. Eine Familie. Ein Zuhause. Sophie presste die Lippen aufeinander. Sie wollte nicht darüber nachdenken, wo sie die heutige Nacht verbringen würde. Oder ob sie morgen wieder frieren müsste, weil ihr Unterschlupf bei der U-Bahn-Unterführung schon besetzt war. Ein junger Mann ging an ihr vorbei, blieb kurz stehen und legte einen Euro in ihre hohle Hand. Irgendetwas an ihm rief lang verdrängte Erinnerungen in ihr wach. Sophie holte tief Luft. Noch einmal stieg ihr dieser Duft in die Nase. Mit einem Schlag war alles wieder da. Große Wut breitete sich in ihr aus. Sie war wie elektrisiert. Magisch von dem Geruch angezogen, erhob sie sich und folgte dem Mann. 2. Kapitel Schon seit Stunden beobachtete sie ihn. Hannes. Hannes Müller. Rot-orange Locken umsäumten ein kindliches Gesicht mit Sommersprossen auf der Nase. Da bemerkte Sophie, dass ein Fenster im ersten Stock ein wenig offen stand. Mühsam zwängte sie ihre knochigen Finger in den Spalt und drückte es auf. Leise knarrte das Fenster, das in die Küche führte. Langsam schob sie ihren rechten Fuß in die Öffnung, und hievte sich geräuschlos hinein. Die Küche war modern und alles roch noch nach Putzmittel. Nimm das Messer und töte den Stern!!! Sophie presste kurz die Augen zusammen und versuchte die Stimmen zu ignorieren, doch sie gingen nicht weg. Die Stimmen waren in ihr. Die Stimmen waren zu einem Teil von ihr geworden. Sie sah sich in der Küche um. Auf der Theke stand ein großer Messerblock mit neun blank geschliffenen Messern. Sophie nahm sich das Größte und schlich leise in den Flur. Die Tür zum Bad stand offen und Sophie hörte das Wasser an die Wand der Duschkabine prasseln. Plötzlich stoppte das Geräusch und die Tür der Kabine ächzte. Sophie sah durch den Türschlitz, wie Hannes sich den Bademantel umband und schwerfällig aus dem Raum stapfte. Sophie trat aus dem Dunkel des Flurs und baute sich vor dem jungen Mann auf. Hannes starrte sie fassungslos an und brachte keinen Laut heraus. Sie handelte schnell und stach ihm mitten ins Herz. Stille. Nur Sophies Herz klopfte so laut, dass ihr Kopf dröhnte. Sie atmete tief ein und aus. Der Stern! Der Stern! Er soll weiterleben!!! Langsam begriff Sophie, was die Stimmen meinen könnten und ging in die Küche, um ein Tuch zu holen. Mit wackeligen Beinen ging sie zum Opfer zurück und tränkte das Tuch in seinem Blut. Ihr wachsamer Blick huschte durch den Raum und blieb an einem Bild hängen. Sie schlich zum „Sonnenaufgang mit Berg“ und nahm es vorsichtig ab. Mit zitternden Händen malte sie einen verzerrten Stern auf die Wand. Ruhe. Endlich Ruhe. - 31 - 3. Kapitel Marc Soon. „Warte kurz Tante Alice, es ist jemand in der anderen Leitung…“ Ich drückte auf die Rufumschaltung, um den anderen Anruf entgegen zu nehmen. Überrascht saugte ich die Lippen zwischen die Zähne. Was wollte mein Chef um diese Zeit von mir? Verdammte Sch… - ein Mord war nicht gerade der Auftrag, um den ich mich riss. Noch dazu, wo er so weit vom meinem Haus entfernt war, dachte ich, während ich eilig ein Butterbrot in meinen Mund stopfte und den Kaffee runter schüttete. Ein leiser Schrei entfuhr mir, als die heiße Brühe in meiner Speiseröhre hinunter rann. So schnell ich konnte lief ich zur Wohnungstür, schnappte mir den Autoschlüssel und sauste hinunter ins Parkhaus. Das Auto sperrte ich mittels Fernbedienung auf und stieg außer Atem ein. Während ich zum Tatort fuhr, schossen mir tausend Gedanken durch den Kopf. Wer war ermordet worden? Wer hatte das getan? Und wieso musste genau ich über diesen Mordfall berichten? Während ich im Stau stand, klingelt mein Telefon. Tante Alice schon wieder! Ich hatte nun wirklich keine Lust, länger mit dieser griesgrämigen alten Hexe zu reden. Ich schaltete das Telefon auf stumm und legte es zurück in meine Tasche. Das Haus zu finden, entpuppte sich gleich darauf als ziemlich einfach, da die Polizei noch vor der Haustür stand. In einer winzigen Parklücke stellte ich mein klitzekleines Automobil ab. Kaum war ich ausgestiegen, kam mir schon ein stämmiger Polizist entgegen. „Wohin des Weges?“, fragte er mit tiefer Stimme. „Nur in dieses Haus, ich muss über diesen Mordfall recherchieren“, antwortete ich ihm. „Das können sie sich abschminken! Da kommt jetzt keiner rein … und schon überhaupt nicht so ein dämlicher Journalist.“ Sein brummiger Gesichtsausdruck ließ meine Hoffnung sinken, aber nach zähen Verhandlungen einigten wir uns darauf, dass ich für ein paar Minuten einen Blick hineinwerfen durfte. „Aber nichts berühren, haben Sie verstanden?“, bellte der Polizist hinter mir her. „Klar! Ich kenne die Regeln!“ Ich hob beruhigend die Hand und lief über die Straße zur Eingangsstiege, vor der ein weiterer Polizist die Schaulustigen im Zaum hielt. Mit einer knappen Kopfbewegung bedeutete er mir, dass ich passieren durfte. In der Wohnung, in der der Mord passiert war, standen eine Menge Polizisten und Männer von der Spurensicherung herum. Ich ging hinein und sah mich zuerst mal um. Wow! So ein Haus hätte ich auch gerne mal. Die Einrichtung war geschmackvoll, teuer und modern … irgendwie wirklich männlich. Ich musste sehen, dass ich meine Fotos zusammen kriegte. Ich fotografierte die Bodenumrahmung der Leiche, das Haus und noch ein paar Küchenmesser, die ich vorher in Ketchup getunkt hatte. Als ich mich umdrehte, bemerkte ich ein kleines Bild, das meine Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Es hing etwas schief und ich wollte es gerade rücken. Während ich über den weiß-schwarz gestreiften Teppich ging, erfasste mich ein mulmiges Gefühl. Keine Ahnung wieso, aber ich konnte einfach nicht anders, als zu diesem Bild zu gehen. Etwas zog mich magisch an. Als ich knapp vor dem Bild stand, entdeckte ich einen kleinen roten Fleck unter dem Bilderrahmen. Sehr merkwürdig! Ich schob es ein wenig nach rechts - und als ich sah, was sich dahinter verbarg, blieb mein Herz fast stehen. Ein kleiner, mit roter Farbe gemalter, gut versteckter Stern. War das etwa Blut? Wie krank musste ein Mensch sein, der einen Stern mit Blut an die Wand malte? Mir wurde übel. Ich musste so schnell wie möglich aus diesem Haus raus! Tausend Gedanken wirbelten mir durch den Kopf. Dass es vielleicht wichtig sein könnte, die Spurensicherung von meiner Entdeckung zu informieren, war nicht darunter. In Panik - 32 - lief ich aus dem Wohnhaus, sperrte mein Auto auf und hüpfte schnell hinein. Immer noch total aufgewühlt fuhr ich in die Redaktion, um die Fotos auszuarbeiten. 4. Kapitel Sophie Eliston. Töte den Stern! Töte den Stern! In Sophies Kopf bildete sich ein Stimmengewirr, das nur diese drei Wörter sprach. Der Alkohol machte das Stimmengewirr etwas leiser. Doch der Rausch verschwand wieder. Der Kater und die Stimmen machten sich bemerkbar. Als würde jemand einen Presslufthammer in meinen Kopf schlagen, dachte Sophie. Mit der Landkarte in der Hand schlenderte sie an den teuren Boutiquen der Mariahilfer Straße vorbei und betrachtete sehnsüchtig die wertvollen Auslagen. Die Fußgängerzone war mit einer Art „Walk of Fame“ gepflastert, eine billige Nachahmung des echten in Hollywood. Die Rillen und Kanten der Sterne drückten unangenehm auf den Sohlen. Nach einer Weile sah sie eine Mac Donalds-Schachtel auf den Boden liegen, in der herrliche, knusprig goldbraune Pommes lagen. Mit ihren abgemagerten Fingern versuchte Sophie die Schachtel aufzuheben. Dabei überkam sie eine neue Welle des kaum verflogenen Rausches und der Presslufthammer in ihrem Kopf meldete sich wieder. Sie taumelte. Alles drehte sich um sie. Instinktiv streckte sie die Hände vor, um den Sturz abzufangen. Mit der Landkarte voraus, die sie ständig bei sich trug, stürzte sie auf einen der Sterne, die im Gehsteig eingelassen waren und auf denen Berühmtheiten ihre Hand- und Fußabdrücke hinterlassen hatten. Ein paar Passanten bleiben stehen. Eine Frau beugte sich zu Sophie herunter und fragte besorgt, ob sie sich verletzt hätte. Sophie schüttelte den Kopf. Nur nicht auffallen!, dachte sie und rappelte sich so schnell sie es schaffte wieder hoch. Ihr Blick fiel auf die völlig zerknitterte Landkarte. Seltsam. Der Stern, auf den sie gestürzt war, hatte einen Abdruck hinterlassen. Sophie betrachtete die Straßenzüge eingehend. Mit einem kleinen Buntstift, den sie am Boden fand, zeichnete sie gedankenverloren die durchgedrückten Stern-Konturen nach. Eine plötzliche Idee schoss ihr durch den Kopf. Je länger sie darüber nachdachte, desto sicherer war sie, dass ihr dieser Stern etwas sagen wollte. Sie hatte einen Auftrag, den sie dringend in die Tat umsetzen musste … Die gelbe Fassade des großen Hauses prangte Sophie schon vom weitem entgegen. Die Sonne spiegelte sich in den großen weiten Fenstern und reflektierte das Licht in ihr Gesicht. Schützend hob sie die linke Hand vor die Augen, doch ihr Gang wurde mit jedem Schritt zielstrebiger. Zielsicher ging sie auf den Eingang zu. Die Karte hatte sie gut in einem der stillgelegten Fahrhäuser versteckt, die am Rande der U-Bahn standen. Nur das Messer aus Hannes‘ Haus hatte sie fest an sich gepresst. Mit großen Schritten stieg sie die Treppe hinauf und kam schnaufend an einer modernen Glastür an. Sie suchte eine Klingel, fand aber nur eine Sprechanlage mit Kamera. Langsam drückte sie den Knopf des Gerätes. Ein schriller Ton kam ihr entgegen. Nach einigen Sekunden meldete sich die Stimme einer jungen Frau. Sophie zuckte zusammen. Sie hatte einen Mann erwartet. „Ja, bitte?“, fragte die Frau zögernd. Seit Tagen hatte Sophie ihr zweites Opfer schon beobachtet. Alexander Mörth. Auch den Satz, den sie jetzt sagte, hatte sie gut vorbereitet. „Ich bin eine Freundin von Alexander, könnten Sie mich bitte hineinlassen?“ Die Frau meldete sich wieder zu Wort. „Ja sicherlich, ich komme gleich. Ich putze nur schnell das Fenster fertig.“ - 33 - Ah! Alexander hatte also eine Putzfrau. Sophie dachte darüber nach, ob sie es wagen sollte, eine Zeugin am Leben zu lassen. Was, wenn sie sich an ihren Besuch erinnern würde? Doch der Stern hatte nichts von einer Frau gesagt … Sie war noch zu keinem Ergebnis gekommen, als sie bereits die Silhouette einer kleinen Frau hinter der Tür auftauchen sah. Langsam öffnete sich die schwere Glastür und Sophie trat ein. Eine zierliche Person mit dunkler Haut trat heraus. Sophie versuchte ein Lächeln, doch die Putzfrau sah Sophie nicht ins Gesicht. „Entschuldigung, aber ich muss schnell weiter zum nächsten Haus. Ich bin schon spät dran“, murmelte sie nur und drückte sich an ihr vorbei. Sophie atmete erleichtert auf. Nein, von der Putzfrau hatte sie nichts zu befürchten. Die würde nicht einmal wissen, was für Kleidung der fremde Besucher getragen hatte. Sophie war froh, dass sie die Frau nicht umbringen musste … 5. Kapitel Marc Soon. Geht ein Serienmörder um? Gestern wurde ein Mord an dem reichen Software-Entwickler Alexander M. (26) ausgeübt. Am frühen Morgen fand ihn der Postbote Matthias K. Die Polizei steht vor einem Rätsel, denn in der vergangenen Woche war ebenfalls ein Mord an dem jungen Hannes M. verübt worden. Beide Opfer waren auf die gleiche Weise getötet worden. Sie wurden mit einem Messer erstochen. Mitten ins Herz. Müssen wir mit weiteren Morden rechnen? Die Polizei erbittet sachdienliche Hinweise an jede Polizeidienststelle ... Begeistert lehnte ich mich in meinem Stuhl zurück. Der Bericht war mir gut gelungen! Ich druckte die Seite aus, klappte den Laptop zu und machte mich auf den Weg zum Chefredakteur. Doch der kam mir schon mit federnden Schritten entgegen. „Ola, Marc! Zu dir ich wollte gerade. Zeig mal her das gute Stück!“ Ich mochte seinen südländischen Akzent. Obwohl er für sein aufbrausendes Temperament gefürchtet war, fühlte ich mich in seiner Nähe immer wie im Urlaub. Nach einigen Minuten schaute er vom Blatt auf und setzte ein zufriedenes Lächeln auf. „Marc du bist eine gute Mann, ich dich könnte glatt heiraten!“ Er drückte das Blatt an sich und verschwand in seinem Büro. Aus den Blicken meiner Kollegen, mit denen sie mich durchbohrten, sprach der pure Neid. So ein Lob hatte hier noch niemand bekommen. Nicht in den vergangenen drei Jahren, die Pedro Ramos schon der Chef unserer Abteilung war. Ich fühlte mich großartig. Sollten sie ruhig neidisch sein. Heute konnte mir nichts die gute Laune verderben. Wie von selbst dachte ich an Vanessa. Vor zwei Tagen hatte sie bei uns als Fotoredakteurin angefangen und ich hatte auf den ersten Blick ein gutes Gefühl bei ihr gehabt. Ich dachte an ihre schönen blauen Augen und ihr langes blondes Haar und ein wohliges Sehnen breitete sich in meinem Bauch aus. Was für ein glücklicher Zufall, dass sie auf dem Gang in mich hineingerannt war und sich unbedingt mit einem Kaffee revanchieren wollte. Bei unserem Date habe ich erfahren, dass wir sogar im selben Haus wohnten! Sie hatte die Wohnung mir gegenüber gemietet und ich konnte es kaum erwarten, sie wiederzusehen. Für heute um Sieben hatten wir uns zum Essen verabredet und ich war selbst überrascht, wie aufgeregt ich deswegen war. Schon gestern hatte ich meine schönsten Klamotten aus dem Schrank geholt, die Schuhe geputzt und mein blitzblaues Hemd gebügelt. Ich wollte unbedingt einen besonderen Eindruck auf sie machen! Doch dann ging einfach alles schief. Zahnpasta spritzte aufs Hemd, der Schuhriemen riss ab und meine Haare sahen aus, als - 34 - wäre ich eben erst aufgestanden. Als ich auf die Uhr sah, war es fünf Minuten vor Sieben. Entnervt schlüpfte ich in das alte orange T-Shirt, riss die nächstbesten Schuhe aus dem Schrank (natürlich hatte ich die ausgeleierten blauen Converse meiner Tante Alice erwischt) und fummelte gerade an den Bändern, als es auch schon an der Haustür klingelte. Halb angezogen stolperte ich zur Tür und riss sie auf. Vanessa stand in einem zerknitterten T-Shirt und Blue Jeans vor mir - und sah zum Anbeißen unwiderstehlich aus! Wenigstens passten wir kleidungstechnisch zusammen, dachte ich und brachte kein Wort heraus. Sie machte eine einladende Bewegung und ich folgte ihr zum Treppenhaus. „In welches Café magst du gehen?“, fragte ich zögernd. Sie lächelte mich von der Seite an. „Ich bin ja neu in der Stadt und kenne mich nicht so gut aus. Was hältst du von Charlies´ Café?“, fragte sie und ich nickte nur wie ein Schaf. Ich ärgerte mich über mich selbst. Wenn ich meine Aufregung nicht bald in den Griff bekam, konnte der Abend ja noch heiter werden. Ich war doch sonst nicht auf den Mund gefallen. Sie ignorierte aber meine aufsteigende Panik und hängte sich bei mir ein. Wir schlenderten in Richtung Café und ihr fröhliches Geplauder entspannte mich langsam. An der Tür angekommen, verhielt ich mich wie ein Gentleman und hielt Vanessa die Tür auf. Vielleicht konnte ich ja doch noch bei ihr punkten! Mit schnellem Blick durchsuchte ich das Café, ob ein Platz frei war, damit wir uns hinsetzten konnten. In der hintersten Ecke fand ich ein kleines, knallrotes Sofa, das mir auf Anhieb ins Auge stach. Auch Vanessa hatte das Sofa entdeckt und steuerte es zielsicher an. Als die Kellnerin kam bestellten wir Café Créma und dazu jeder ein Früchtetörtchen und begannen über unsere Berufe und Freizeit zu reden. „Also…“, begannen wir beide gleichzeitig und Vanessa kicherte. Ein fröhliches Lachen. Ich lächelte und ließ Vanessa den Vortritt. „Ok. Ich bin eine Krankenschwester auf der Babystation im Wiener LKH und spiele in meiner Freizeit gerne Volleyball. Ähm … aber auch als Babysitterin jobbe ich am Wochenende und sonst bin ich eigentlich immer zu Hause. Also wenn du willst, kannst zu mich einmal besuchen kommen.“ Ich war beeindruckt. „Wow. Auf der Babystation und dann auch noch Babysitten? Werden dir die kleinen Kinder denn nicht zu viel?“ Dass sie mich auch noch zu sich eingeladen hatte, beschleunigte meinen Herzschlag massiv. „Nein. Ich…“ Die Kellnerin unterbrach das Gespräch und stellte die Törtchen und die Getränke auf den kleinen Tisch. Ich nahm einen Schluck von meinem Cappuccino und sah Vanessa auffordernd an. „Ich liebe Kinder und möchte einmal selber welche haben.“ Sie lächelte vielsagend und ich spürte, wie mir das Blut in den Kopf schoss. „Jetzt hab ich aber genug von mir gequasselt. Erzähl du doch einmal etwas von dir.“ Ich war immer noch bei dem Kinder-Thema. Ob das eine Aufforderung war? Ich schob den aufregenden Gedanken beiseite und startete stattdessen mit meinen Informationen. Geschickt lenkte Vanessa das Gespräch und bald waren wir bei sehr persönlichen Themen angelangt. „Manchmal besuche ich meine Tante Alice, denn die hat auf mich aufgepasst als ich noch ein klein war.“ Ich konnte nicht fassen, dass ich plötzlich über meine nervige Verwandtschaft erzählte! „Und was ist mit deinen Eltern?“, fragte Vanessa. Sie schien ehrlich interessiert zu sein. „Meine Eltern sind bei einem Autounfall ums Leben gekommen.“ Ihr fröhlicher Gesichtsausdruck änderte sich schlagartig. „Oh, das tut mir leid. Wenn du irgendwen zum Reden brauchst, ich bin immer für dich da.“ Vanessa schlug die Augen nieder und zupfte an der Tischdecke. Schließlich stach sie ein Stück vom Törtchen ab und - 35 - schob es sich in den Mund. Ich nippte an meinem Cappuccino. Stille entstand zwischen uns. Doch sie war nicht peinlich. Ich sah Vanessa von der Seite an und eine wohlige Wärme stieg in mir auf. In meinen Gedanken spürte ich bereits ihre Lippen auf meinen. Sollte ich es wagen oder nicht? Ich kämpfte noch mit der Sorge, dass sie mich womöglich aufdringlich finden würde, als ich warme Luft auf meinem Hals spürte und Vanessa sich zu mir beugte. War das ein Traum oder wollte sie mich tatsächlich gerade küssen? „So da ist die Rechnung. Das macht 8.50€.“ Die Kellnerin platzte mitten in die romantische Atmosphäre. Ich hätte sie erwürgen können! Irritiert griff ich in meine Hosentasche und wollte die Geldtasche herausholen. Da bemerkte ich, dass ich sie in der Eile auf meinem Nachttisch hatte liegen lassen. Beschämt fragte ich Vanessa, ob sie die Rechnung bezahlen könnte. Vor Peinlichkeit wäre ich am liebsten im Boden versunken. Mit einem leisen Lachen bezahlte Vanessa die Rechnung und wir verließen gemeinsam das Café. Am Gehsteig blieb Vanessa plötzlich stehen und zog mich hinter eine Hecke. Was machte sie mit mir? Da spürte ich auch schon ihre Lippen auf meinen und ich schloss die Augen, um diesen Moment zu genießen. Vielleicht würde es der einzige Kuss von Vanessa bleiben. Bei dieser Frau wunderte ich mich über gar nichts mehr … Als ich meine Augen wieder aufmachte, sahen wir uns einer Meute kleiner Kinder gegenüber, die Fußball gespielt hatten und uns nun neugierig anstarrten. Du meine Güte! Wir waren in den Garten einer Familie geraten! So schnell wie möglich schauten wir dazu, aus dem Garten zu kommen. Als wir wieder auf dem Gehsteig standen, sahen wir uns in die Augen und brachen in Gelächter aus. Noch den ganzen Weg bis nach Hause mussten wir immer wieder über den Gesichtsausdruck der Kinder kichern, die uns beim Küssen erwischt hatten. Vor ihrer Wohnungstür verabschiedeten wir uns mit einem langen Kuss und gingen jeder in seine Wohnung. In meinem Bauch tanzten tausend Schmetterlinge. Vanessa hatte mich total verzaubert. Da läutete es an der Tür. Noch ganz in Gedanken ging ich zur Tür, fand aber nur eine Schachtel mit Milka-Pralinen und einen Brief, der auf dem Boden lag. In einer schon geschwungenen Handschrift stand „Für Marc“ auf dem Umschlag. Mit zitternden Fingern riss ich das Kuvert auf und entfaltete einen blassblauen Bogen Papier. „Lieber Marc! Ich möchte mich für diesen schönen Tag mit dir bedanken und möchte ihn gerne wiederholen. Also wenn du Lust hast… hier ist meine Nummer. 0664/4782341 Deine Vanessa.“ Atemlos ließ ich den Brief sinken. Was für ein Tag! Was für ein aufregendes Mädchen! Ich musste mir eingestehen, dass ich dabei war, mich Hals über Kopf in meine geheimnisvolle Nachbarin zu verlieben … 6. Kapitel 7:00 Uhr. Mit einem schrillen Läuten riss der Wecker Peter Köther aus dem Schlaf. „Schatz. Du musst aufstehen!“ Mit einem Gähnen rollte er sich zur Seite und küsste Lukas zärtlich auf die Wange. Sie waren erst vor ein paar Monaten nach Wien in die kleine Wohnung im vierten Bezirk gezogen. Peter konnte sein Glück noch gar nicht so recht fassen. Mit Lukas hatte er die Liebe seines Lebens gefunden, und dieser tolle Mann erwiderte seine Gefühle! Dabei war er in seinem bisherigen Leben noch nie vom Glück verfolgt gewesen. Seine Mitschüler hatten ihn gemobbt, weil schnell klar war, dass er nicht so tickte wie die anderen - 36 - Burschen in der Klasse. Seine halbherzigen Versuche, mit Mädchen etwas anzufangen, war en in einem Desaster geendet und er hatte lange gebraucht, bis er sich selbst eingestand, dass er sich zu Männern hingezogen fühlte. Erst als er Lukas auf einer Party begegnet war, schaffte er es, sich zu seiner Homosexualität zu bekennen. Lukas warf die Decke zurück und verschwand als Erster im Bad. Er hatte es in der Früh immer eilig. Peter war das gewohnt. Lukas verschwendete nie viel Zeit auf sein Styling. Er selbst legte hingegen großen Wert auf sein Aussehen. Manchmal verbrachte er mehrere Stunden vor dem Spiegel. Erst wenn er mit sich zufrieden war, ging er aus der Wohnung zur Arbeit. Er arbeitete als Schneider in einer Modefirma. Er hatte endlich gefunden, was er für sich selbst immer erträumt hatte: Einen festen Freund, der ihn liebte, einen Job, der ihm Spaß machte und eine Zukunft, die er sich nicht schöner ausmalen könnte. Sein Leben war mehr als nur passabel. Als er an diesem Abend von der Arbeit nach Hause kam, war Lukas noch nicht da. Peter setzte sich vor den Fernseher und zappte durch die Programme. Plötzlich hört er aus der Küche ein Rauschen und Klimpern. Irritiert drehte er den Ton vom Fernseher ab und drehte sich um. Das letzte, was er sah, war ein dürres Wesen, das sich mit verzerrtem Gesicht auf ihn stürzte … Als Lukas nach Hause kam, stand die Eingangstür sperrangelweit offen. „Hallo, ist jemand zuhause?“ Mit gerunzelter Stirn setzte er einen Fuß über die Schwelle. Niemand meldete sich. „Peter? Schatz? Bist du da?“ Er ging zum Wohnzimmer und prallte an der Tür zurück. Peter lag tot auf dem Boden. Lukas lief schnell zu ihm, aber er fühlte keinen Puls mehr. Mit zitternden Fingern wählte er die Nummer von Polizei und Rettung. Als die Männer endlich hereinstürmten, kam jede Hilfe zu spät. Weil keine Einbruchspuren zu finden waren, sprach die Polizei von Selbstmord. Aber das wollte Lukas nicht glauben. Peter hatte doch so eine schöne Zukunft vor sich. Ein Selbstmord war ausgeschlossen! Dazu gab es überhaupt keinen Grund! Nein, Peter war nicht der Typ, der sich ein Messer in den Bauch rammen würde. Er war zärtlich und sanft. Lukas wischte sich mit dem Handrücken die Tränen weg, die unaufhörlich über seine Wangen liefen. Niemals hätte sein Freund sich das Leben genommen! Lukas hielt es nicht länger in dem Raum aus, in dem ein Polizist gerade die Leiche in eine Zinkwanne legte. Als er ins Vorzimmer flüchtete, bemerkte er einige rote Spritzer auf dem Holzboden. Er ging der Blutspur nach. Mit klopfendem Herzen schob er die große Palme zur Seite – und starrte entsetzt auf die Zeichnung, die er hinter der Topfpflanze entdeckte: ein kleiner, mit dem Blut seines toten Freundes gemalter Stern … 7. Kapitel Marc Soon. Diese Mordberichte gehen mir schön langsam an die Nieren! Eben hatte mich mein Chef vom nächsten Mord informiert. Kurze Zeit später parkte ich meinen roten Mini Cooper direkt vor dem Haus ein. Der Tatort war nur einige Blöcke von mir entfernt. Doch ich war nicht der einzige. Ich sah viele Polizeiautos und einige Polizisten, die hektisch durch die Gegend rannten. Ich versuchte ins Haus zu kommen, doch bereits bei der Haustür wollten mich wieder einmal die Leute von der Spurensicherung abwimmeln. Sie wollten keine Journalisten rein lassen und wurden sogar unhöflich. Doch ich war zu müde, um mit den Idioten höflich zu reden, was zu einer wilde Diskussion führte, die - 37 - aber wenig zielführend war. Ich wollte schon die Hoffnung aufgeben, als eine sehr attraktiv aussehende junge Polizistin auf mich zukam. Offenbar hatte sie hier das Sagen, denn die beiden Männer, die eben noch alles daran setzten, mich nicht in die Wohnung zu lassen, gaben widerstrebend den Weg frei. Ich bedankte mich bei der Frau und konnte es mir nicht verkneifen, den Typen noch schadenfroh zuzuzwinkern, bevor ich im Haus verschwand. Meine ersten Schritte führten mich instinktiv in die Küche, die überaus renovierungsbedürftig aussah. Alles war schon sehr veraltet und einige Risse waren an den alten Mauern zu erkennen, obwohl das Haus von außen gar nicht so alt schien. In der Küche herrschte ein ziemliches Chaos. Ob es an den Bewohnern lag, oder das Durcheinander mit dem Mordfall zu tun hatte, konnte ich nicht auf den ersten Blick erkennen. Eigentlich hatte ich auch viel mehr das Bedürfnis, diesen Ort so schnell wie möglich wieder zu verlassen. Ich rümpfte die Nase und versuchte, nur flach zu atmen. Es roch äußerst streng nach totem Tier. Aber das hatte wohl mit der - zum Glück nicht mehr hier vorhandenen - Leiche zu tun. Dankbar stellte ich fest, dass nur noch die Bodenmarkierung zu erkennen war. Mir fiel wieder der Bericht ein, den ich morgen früh beim Chef abliefern musste. Schnell packte ich meine Kamera aus und schoss ein paar Fotos. Dabei fielen mir wieder diese großen Risse auf, die sich quer über das Mauerwerk zogen. Ich folgte ihrem Verlauf und sie führten mich an eine Stelle, die hinter einer riesigen Topfpflanze endete. Da sah ich ihn wieder: diesen Stern, der mir doch schon bei den früher en Fällen begegnet war! Auch auf dem Heimweg grübelte ich weiter darüber nach. Warum nur fand ich an jedem Tatort immer diesen Stern? Was hatte er zu bedeuten? Das konnte doch kein Zufall sein, oder? Und immer sah er frisch aufgemalt aus. Rot. Mit fünf zittrig gemalten Zacken. War das ein neuer Trend? Und war er wirklich mit einer normalen Farbe aufgemalt worden? Oder etwa …? Mir lief mir ein kalter Schauer über den Rücken. War die Farbe womöglich das Blut der Opfer gewesen? Was wäre, wenn hier ein Serienmörder sein Unwesen trieb und der Stern quasi sein Kennzeichen war? Ich musste darüber noch einmal schlafen. Aber wenn ich mit meiner Vermutung recht hatte, wäre das die Sensation, für die mich mein Boss wohl wirklich heiraten würde! Wobei er mich mit einer Gehaltserhöhung durchaus noch glücklicher machen könnte … 8. Kapitel Am nächsten Morgen setzte ich mich gleich in aller Früh an die Aufmacher-Story. Ich musste ganz sicher sein, bevor ich die Bombe platzen ließ. Wenn ich mit meinem Verdacht nicht recht hatte, könnte ich mit solchen Gerüchten eine Massenhysterie auslösen. Also holte ich nochmals alle Fotos von den Tatorten und legte sie nebeneinander auf dem Schreibtisch auf. Ich war nicht überzeugt, ob die Sterne nicht vielleicht doch nur ganz normale Wandverzierungen waren. Ich musste mich einfach noch einmal vor Ort davon überzeugen, aus welchem Stoff die Farbe bestand. Blut konnte mit Luminol nachgewiesen werden. Wenn das die Spurensicherung übersehen hatte, würde ich gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen! Ich hatte nicht vergessen, wie überheblich mich die Männer gestern behandelt hatten … und das nicht zum ersten Mal! Als ich beim Haus des letzten Opfers ankam, stand die Eingangstür sperrangelweit offen war. Mit anhaltendem Atem schlich ich hinein. Schlagartig bekam ich Gänsehaut. Ich hatte das Gefühl, nicht allein in dem Raum zu sein. In diesem Augenblick erspähte ich im Nebenzimmer eine Frau. Sie schien etwas zu suchen. Rasch duckte ich mich hinter ein wuchtiges - 38 - Sofa. Es roch nach Zigaretten und Staub. Mein Fuß begann einzuschlafen. Aber ich durfte mich nicht bewegen, um die Frau nicht auf mich aufmerksam zu machen. Was suchte sie hier? Gehörte sie vielleicht zur Familie? Und wie war sie hier hinein gekommen? Ich versuchte, nicht an das Kribbeln in meinem Fuß zu denken und hoffte, dass sie mich nicht entdecken würde. Sie kam mir bei ihrer Suche gefährlich nahe. Ob ich mich besser irgendwo anders verstecken sollte. Vorsichtig versuchte ich mich möglichst geräuschlos zu bewegen. Mein Fuß war inzwischen völlig gefühllos geworden. Ich verlor das Gleichgewicht und kippte zur Seite um. Etwas raschelte unter meiner Hand. In meinen angespannten Sinnen kam mir das Geräusch wie ein Donnerknall vor. Mein Herz klopfte wie verrückt. Tausend Sachen gingen mir durch den Kopf. Hatte sie mich bemerkt. Was soll ich tun? Tatsächlich, sie kam auf mich zu! In Panik suchte ich nach einem neuen Versteck. Mein hektischer Blick blieb an einer riesigen Grünpflanze hängen. Das konnte mein Lebensretter sein! Auf dem Bauch robbte ich hinter das dichte Gebüsch. Ich hielt die Luft an und betete, dass sie mich nicht entdecken würde. Zum Glück war es im Haus ziemlich düster, weil die Rollläden herunter gezogen waren. Die zierliche, kleine Frau blieb für einen Moment direkt vor mir stehen. Mit stockte der Atem. Hatte sie mich etwa entdeckt? Dann aber drehte sie sich weg und hastete hinaus. Ich wartete noch eine Weile, bis ich sicher war, dass sie nicht mehr zurückkommen würde. Offenbar hatte die Frau nicht gefunden, was sie suchte. Denn sie hatte nichts mitgenommen. Ich kämpfte mich zum Stehen hoch. Da fiel mein Blick auf die gekrakelte Zeichnung an der Wand. Der Stern! Dafür war ich ja eigentlich hergekommen! Schnell holte ich das Fläschchen Luminol aus der Hosentasche und dankte im Stillen meinem umsichtigen Boss, der uns Aufdecker-Journalisten mit so wichtigen Hilfsmitteln ausstattete. Schon nach wenigen Augenblicken leuchtete die Kontur im Dämmerlicht auf. Ich hatte also tatsächlich recht gehabt! Der Stern war mit Blut auf die Wand gemalt worden! Die Erkenntnis ließ meine Knie weich werden. Wenn sich herausstellte, dass auch die Sterne an den anderen Tatorten mit dem Blut der Opfer gezeichnet worden waren – und ich rechnete damit! – würde mein neuester Artikel eine Bombe hochgehen lassen! Erschöpft ließ ich mich auf die Couch sinken. Den Adrenalin-Kick musste ich erst einmal verdauen! Ich stampfte mit den Beinen auf den Boden, um meinen Blutkreislauf anzuregen. Da raschelte etwas unter meinen Füßen. Ich bückte mich und entdeckte die Landkarte, die mich vorhin beinahe verraten hatte. Neugierig breitete ich sie auseinander. Da hörte ich Schritte auf dem Gang. Erschrocken rappelte ich mich hoch, machte aber zuvor von meinem Fund noch schnell ein Foto. Unter keinen Umständen wollte ich hier angetroffen werden! Weder von der mysteriösen Fremden, noch von Leuten von der Polizei. Die würden noch früh genug von meiner Entdeckung aus der Zeitung erfahren! Ich konnte mir das Grinsen nicht verkneifen, als ich mir die Gesichter der Spurensicherer vorstellte, wenn sie lasen, wie sie ihren Job verbockt hatten. Ob ich Vanessa davon erzählen sollte? Es wäre eine einmalige Gelegenheit, Eindruck auf sie zu machen. Nach meinen vergangenen Pannen wünschte ich mir nichts mehr, als dass ich sie beim nächsten Treffen von meinen Qualitäten überzeugen konnte. Mit einem Lächeln auf den Lippen machte ich mich auf den Heimweg. Ich konnte es fast nicht mehr erwarten, meine Story gedruckt zu sehen. 9. Kapitel Die Verabredung mit Vanessa hätte nicht besser laufen können. Wir trafen uns wieder in Charlies Café und danach setzten wir uns in Vanessas Wohnung, um noch ein bisschen zu - 39 - tratschen. Ich hatte mich entschlossen, von meiner Entdeckung doch noch nichts zu verraten. Der Knalleffekt würde viel größer sein, wenn sie die Story in der Zeitung sehen würde. Noch am selben Abend machte ich mich an die Arbeit. Während ich meine Theorie über den Stern und den Serienmörder ausarbeitete, fiel mir die Landkarte wieder ein. Zum Glück hatte ich ein Foto gemacht! Ich verband das Handy mit dem Laptop und schaute mir die Standorte, die auf der Karte verzeichnet waren, in Google an. Zog man eine Linie zwischen den eingezeichneten Punkten, ergab sich ein eigenartiges Gebilde. Es erinnerte mich an einen fünfzackigen Stern … Schweiß brach mir aus allen Poren. Diese Landkarte war nicht zufällig in der Wohnung des letzten Opfers gelegen! Die Frau … die aufgemalten Sterne … und jetzt auch noch eine Karte mit Markierungen in Sternform … Atemlos überprüfte ich noch einmal alle eingezeichneten Standorte. Drei der Punkte lagen genau an den Stellen, an denen die ersten drei Morde passiert waren. Mein Finger fuhr zum vierten der fünf Kreise. An der nächsten Zacke wohnte mein bester Freund Patrick. Und die letzte Markierung lag genau … ich saugte die Luft ein und biss mir auf die Lippen. Nein! Das durfte einfach nicht wahr sein! Die Spitze zeigte genau auf das Hochhaus, in dem ich wohnte! Und Vanessa … Wenn das wirklich stimmte, was ich glaubte, musste ich uns in Sicherheit bringen! Ich musste Patrick warnen! Er würde mich für verrückt erklären. Aber das musste ich riskieren. Ich würde ihm die Fotos und das Bild von der Landkarte zeigen und ihm von meinen Vermutungen erzählen. Er musste mir einfach glauben! Zuerst aber musste ich meine Story abliefern. Aber was würde geschehen, wenn auch mein Chef mir diese abenteuerliche Geschichte nicht abnehmen würde? Nach langer Überlegung beschloss ich, die Sache über den Stern auf der Landkarte als Fantasystory zu schreiben. So konnte mich niemand für völlig übergeschnappt halten. Sollte es aber einen Serienmörder geben, würde der sich von der Geschichte wohl angesprochen fühlen. Und vielleicht würde er an die Tatorte zurückkehren, um die Landkarte wieder an sich zu nehmen. Oder vielleicht sogar, um seine Spuren zu verwischen … ich musste mich also dann nur noch auf die Lauer legen und den Täter auf frischer Tat ertappen! Ich war total stolz auf meinen Geistesblitz. Als ich die Geschichte fertig geschrieben hatte, brachte ich sie sofort in die Redaktion und konnte Pedro Ramos tatsächlich davon überzeugen, welcher Sensation ich auf der Spur war. Morgen würde es jeder lesen können. Hoffentlich auch der Täter … 10. Kapitel Sophie Elliston. Am Morgen sah Sophie die Story in der Zeitung und wurde stutzig. Sie musste den Autor ausfindig machen! Er hatte ihre Karte! In der Zeitung war ein Bild von ihm, neben den Artikel. Sie wusste, dass sie ihn schon einmal irgendwo gesehen hatte. Es hatte etwas mit der Karte zu tun gehabt. Ein Gefühl trieb sie zu den beiden letzten Adressen, an denen sie noch nicht den Auftrag des Sterns erfüllt hatte. Bei der zweiten hatte sie Glück. Sie erkannte ihn sofort. Er kam näher und sie versteckte sich hinter ein paar Büschen. Als er vorbei gegangen war, nahm sie die Verfolgung auf. Er näherte sich einem Haus, bei dem sie ebenfalls schon einmal gewesen war. Was er wohl dort zu suchen hatte? Er wirkte wütend, als er wenige Minuten später wieder aus der Haustür trat. Was hatte er mit ihrem nächsten Opfer zu besprechen gehabt? Hatte er ihm von seinem Fund erzählt? - 40 - Dieser Journalist und sein Freund wussten eindeutig schon viel zu viel. Sie musste rasch handeln. Schneller, als die Stimmen in ihrem Kopf es ihr aufgetragen hatten. Aber jetzt würde sie sie beide auslöschen. Niemand durfte sich ihrem Auftrag in den Weg stellen. Sonst würden die Stimmen niemals wieder schweigen! Das konnte sie nicht riskieren! Nachdem dieser unverschämte Journalist seine Autotür zugeknallt hatte und mit aufheulendem Motor weggebraust war, näherte sich Sophie mit vorsichtigen Schritten dem Haus. Sie ging einmal herum und sah, dass die Terrassentür offen stand. Leise schlüpfte sie hinein und versteckte sich hinter der Küchentür. Der Bewohner musste im Nebenraum sein. Laute Musik dröhnte von dort in ihr Versteck. Geräuschlos zog sie nacheinander ein paar Schubläden auf, bis sie diejenige gefunden hatte, in der Patrick die Messer aufbewahrte. Sie griff nach dem Größten, das sie finden konnte. Es hatte eine scharfe Klinge und einen Holzgriff, der gut in der Hand lag. Schnell huschte sie Richtung Schlafzimmer, wo sie den Mann auch schon sah. Er sortierte gerade seine Wäsche und sang fröhlich zur höllisch lauten Musik. Er wusste zu viel, sie musste es tun. Es gab keinen anderen Ausweg. Mit einem Ruck stach sie ihm in den Rücken. Er gab einen lauten Schrei von sich und fiel zu Boden. Sophie starrte den reglosen Körper mit zusammengeschobenen Brauen an. Es war Notwehr! Ihr Geheimnis durfte niemand erfahren! Sie musste doch die Stimmen in ihrem Kopf zum Schweigen bringen, bevor sie völlig verrückt davon wurde! Doch bevor ich verschwand, musste sie wieder einen Stern malen. Aber wohin? Sie sah sich hektisch im Zimmer um. Ihr Blick blieb auf dem Teppich hängen. Rasch beugte sie sich zu dem leblosen Körper hinunter, tauchte den Zeigefinger in die Blutlache, die sich langsam unter ihm ausbreitete und war mit wenigen Schritten vor dem Teppich angelangt. Zielsicher hob sie eine Ecke an und malte mit dem Finger die fünf Zacken auf den Parkettboden. Als Sophie den Teppich wieder über ihr Kunstwerk sinken ließ, spürte sie, dass sie von jemandem beobachtet wurde. Wie ein gehetztes Wild sprang sie hoch und hechtete zum Ausgang. Marc aber stellte sich ihr in den Weg. „Stehen bleiben!“, brüllte er und versuchte, sie an den Armen zu erwischen. Doch sie duckte sich wieselflink unter ihm durch und entwischte durch die offen stehende Balkontür. 11. Kapitel Marc Soon. Ich hatte sie nicht genau erkennen können, denn der Vorhang hatte mir die Sicht versperrt und während des Kampfes ging alles einfach viel zu schnell, um sich etwas einzuprägen. Ein paar Sekunden später war ich bei der Anlage und stellte die Musik ab. Der Lärm war nicht auszuhalten! Da konnte man ja keinen klaren Gedanken fassen! Im nächsten Moment hockte ich neben meinem, auf dem Boden liegenden Freund. Ich suchte nach seinem Puls. Er war noch ganz schwach zu spüren. Aufgeregt versuchte ich ihn anzusprechen: ,,Hallo Patrick, kannst du mich hören?“ Seine Augenlider zuckten. Er versuchte, etwas zu sagen. Ich beugte mich zu ihm hinunter, bis sein Mund beinahe mein Ohr berührte. Trotzdem war fast nicht zu verstehen, was er unter mühsamen Atemzügen hervor presste. „Es war … die Bettlerin … von der Straße!“, flüsterte er mit leiser Stimme. Noch einmal holte er rasselnd nach Luft. Dann fiel sein Kopf zur Seite. Es war zu spät. Ich hatte ihn nicht retten können! Dabei hatte ich ihn gewarnt. Aber er hatte nicht auf mich gehört. Ich war todtraurig. Er war nicht mehr unter uns. Ich konnte es nicht glauben. Er war tot. Ich musste die Polizei rufen. Diese Frau musste ich hinter Gitter bringen. Und wenn es das Letzte war, das ich tun würde. Das war ich meinem besten Kumpel schuldig. - 41 - Nachdem ich die Polizei verständigt und meine Zeugenaussage zu Protokoll gegeben hatte, durfte ich nach Hause fahren. Ein schrecklicher Gedanke begleitete mich und ließ mich das Gaspedal durchtreten. Diese Frau hatte all die unschuldigen Menschen umgebracht. Und als nächstes war jemand aus meinem eigenen Wohnhaus an der Reihe … Ob ich der Nächste auf ihrer Liste war? Oder womöglich Vanessa? 12.Kapitel Auch am nächsten Tag stand ich noch immer extrem unter Schock. Doch das war jetzt Nebensache, ich musste diese Mörderin der Polizei ausliefern. Ich muss sie finden und wenn es sein musste, auch allein. Denn die Polizei brauchte mir zu lange. Vanessa war in Gefahr! An etwas anderes konnte ich nicht mehr denken. Die Bettlerin … Welche Bettlerin? Wen hatte Patrick damit gemeint? Wir mussten ihr irgendwo begegnet sein. Woher hatte er gewusst, dass sie eine Bettlerin war? Wir mussten gemeinsam unterwegs gewesen sein … Ich zermarterte mir mein Hirn. Was hatten wir die letzten Tage miteinander unternommen? Dunkel erinnerte ich mich an ein Bild. Eine kleine Frau. Zerlumpt. Mit einem unruhigen Blick. Ein bisschen irre. Sie hatten ihr Geld gegeben. Wo war das nur gewesen? Ich erinnerte mich wieder! In der Innenstadt! Es musste auf der Kärntner Straße gewesen sein, als er und Patrick nach einer neuen Hose gesucht hatten. Sie war zusammengekauert an einer Straßenecke gesessen. Sofort machte ich mich auf den Weg dorthin, wo wir sie zuletzt gesehen hatten. Tatsächlich! Da war sie wieder! Ich stellte mich unauffällig in ihre Nähe vor ein Schaufenster und schaute über die Spiegelung zu ihr hinüber. Was machte sie da? Mir stockte der Atem. Die Landkarte aus der Wohnung! Sie holte sie eben aus ihrer Jackentasche! Beinahe hätte mich mein scharfes Keuchen verraten. Ich durfte jetzt keinen Fehler machen! Sie war wirklich die Täterin! ich setzte mich in Bewegung und ging langsam an ihr vorbei. Sicherheitshalber musterte ich aus dem Augenwinkel das zerknitterte Papier in ihren Händen. Es stimmte. Auf der nun aufgefalteten Karte waren die gleichen Punkte eingezeichnet, wie auf der Fotografie, die ich damals gemacht hatte. Und der Stern war auch zu sehen. Ein plötzlicher Windstoß riss ihr die Karte aus den Fingern. Das war meine Chance! Ich hastete dem Papier nach und erwischte es ein paar Meter weiter mit dem Fuß. Gespielt höflich brachte ich es ihr zurück und warf noch einen letzten Blick darauf. Jetzt war ich mir endgültig sicher, dass sie die Mörderin war, denn die eingezeichneten Punkte und der Stern waren deutlich sichtbar. Doch was sollte ich jetzt nur tun? Langsam setzte ich mich in Bewegung. Würde sie mir folgen? Als ich bei einem Rosenstand stehen blieb, sah ich, wie sie sich hinter einem der Müllsäcke versteckte, und so tat, als suchte sie etwas. „Die roten Rosen sind schön. Aber die weißen sind auch schön. Welche soll ich jetzt nehmen?“ Ich dachte an Vanessa. Ich wollte ihr eine Freude machen. Und einen Grund haben, um sie zu Hause zu besuchen. Irgendwie musste ich sie in Sicherheit bringen! „Ich könnte Ihnen einen Strauß mit weißen und roten Rosen machen.“ Ich nickte, bezahlte und machte mich mit dem Rosenstrauß auf den Weg nach Hause. Aus dem Augenwinkel versicherte ich mich, dass die Bettlerin mir tatsächlich folgte. - 42 - Vanessa war zu Hause. Gott sei Dank! Ihr war noch nichts passiert! Sie freute sich über mein Blumengeschenk und bat mich in ihre Wohnung. Ich wollte sie nicht beunruhigen. Ganz kurz war ich mir plötzlich nicht mehr sicher. War mir die ganze Sache zu Kopf gestiegen? Hatte ich mich selbst in die Geschichte hineingesteigert, weil ich von meiner eigenen Story so begeistert war? War diese Bettlerin einfach nur eine arme Frau ohne Zuhause und ohne Zukunft? Was wäre aber, wenn ich es mir nicht eingebildet hatte und die Mörderin schon auf dem Weg zu ihnen war? Entsetzt fiel mir ein, dass ich vergessen hatte, meine Wohnungstür abzuschließen. „Bleib bitte in deiner Wohnung und lass außer mir niemanden herein!“ Beruhigend legte ich eine Hand auf Vanessas Arm, weil sie aufgeschreckt war und mich mit fragendem Blick anschaute. „Ich komm gleich wieder …“ Dabei lächelte ich ihr zu, bevor ich nach draußen auf den Gang trat, der Vanessas und meine Wohnung trennte. Erschrocken saugte ich die Luft zwischen die Zähne. Meine Tür stand weit offen. Ich hatte ein mulmiges Gefühl. Besser, ich rief die Polizei an! Da ich aber nicht warten wollte, bis sie eintraf, schlich ich in meine Wohnung … Da stand sie! Mitten im Wohnzimmer! Sie starrte mich mit ihrem irren Blick an. In der Rechten hielt sie ein riesiges Messer. Wirre Bilder rasten durch meinen Kopf. Mein schlimmster Albtraum wurde wahr! Sie kam auf mich zu. Das Messer hoch erhoben, bereit, es in meinen Körper zu rammen. Ich versuchte, sie zu überwältigen und schrie um Hilfe. Ob Vanessa mich hörte? Sie durfte sich auf keinen Fall in Gefahr bringen! Ich musste mich selbst gegen diese Wahnsinnige wehren! Sie war stärker, als ich erwartet hatte. Heftig keuchend rangen wir miteinander. Endlich hörte ich laute Schritte. Gott sei Dank! Die Polizei! In meiner Erleichterung war ich für einen kurzen Moment abgelenkt. Den nutzte sie und stach zu. Mir wurde schwindlig und ich stürzte auf die Knie. Ein stechender Schmerz durchzuckte meinen Bauch. „Polizei! Legen sie das Messer weg, oder ich schieße!“ Die bellende Stimme des Beamten waberte wie durch einen Wattebausch an mein Ohr. Endlich die Polizei. Sie kam, um mich zu retten. Ich hatte keine Kraft mehr, mich zu wehren. Todesangst und nacktes Grauen erfasste mich, als sie sich wieder zu mir drehte und ein weiteres Mal zustach. Schmerz explodierte in meinem Brustkorb. Dann wurde mir schwarz vor Augen … 13. Kapitel „Ich hole dich, Marc … Stern … töte ihn … Landkarte … Stern … Stern …“ Schweißgebadet schrak ich aus meinen Traum auf, und zitterte am ganzen Körper. Eine schemenhafte Gestalt ging auf mich zu und rüttelte mich leicht an der Schulter. Ich brauchte eine Weile, bis ich kapierte, dass es Vanessa war. Sie hatte ihr blondes Haar zu einem Kranz hochgesteckt und ihre blauen Augen glitzerten, als hätte sie gerade geweint. Auch ihre Wangen hatten rote Flecken. Ich sah mich um: weiße Wände, ein weißer Stuhl stand in einer Ecke und ein silbernes Nachtkästchen stand neben meinem Bett. Jetzt erst wurde mir bewusst, dass ich nur mit einem sehr knappen Krankenhaus-Nachthemd bekleidet war. Um meinen Brustkorb und den Bauch waren dicke Verbände gewickelt und in meiner Armbeuge steckte eine Infusionsnadel. „Was ist passiert? Bin ich im Himmel?“ Meine Stimme hörte sich komisch an und meine Kehle war trocken und rau. - 43 - Vanessa lachte unter Tränen und schüttelte wie wild den Kopf. „Nein, mein Schatz! Du bist im Krankenhaus.“ Sie griff nach meiner Hand und drückte sie. „Diese Wahnsinnige wollte dich umbringen, aber jetzt bist du in Sicherheit.“ „Vanessa …“, setzte ich an, aber mein blonder Engel beugte sich über mich und gab mir einen zärtlichen Kuss auf den Mund. Am nächsten Tag kam Pedro zu mir auf Besuch. Mit einem breiten Grinsen legte er mir die neueste Ausgabe der „Daily News“ auf die Bettdecke. „Du hättest es bestimmt besser geschrieben, aber diese Sensation konnte ich mir nicht entgehen lassen.“ Er klopfte mir auf die Schulter, entschuldigte sich aber gleich, weil ich vor Schmerz leise aufschrie. Neugierig linste ich auf die Schlagzeile. „Serienmörderin gefasst! Dank des heldenhaftes Einsatzes unseres Top-Reporters Marc Soon konnte der irren Mörderin endlich das Handwerk gelegt werden! Frau Sophie Eliston hat mit lebenslänglicher Haft zu rechnen. Sie ermordete Alexander Mörth, Patrick Winter, Hannes Müller und Peter Köther und verletzte den Reporter Marc Soon schwer. Schon früher war sie amtsbekannt geworden. Wegen Diebstahls und einigen Drogendelikten hatte sie bereits zwei Vorstrafen auf Bewährung. Sie wurde vom Gerichtsarzt als psychisch instabil erklärt und wird somit im Gefängnis jeden Tag zum dort stationierten Psychiater gebracht.“ Epilog Einige Monate nach dem Anschlag von Sophie fühlte ich mich schon besser. Ganz besonders, nachdem ich endlich aus dem Krankenhaus entlassen worden war. Sophie wurde für immer in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher gesteckt und ich konnte endlich wieder neu durchstarten. Nach den beeindruckenden Berichten über die Mordfälle wurde ich zum neuen Chefredakteur ernannt. Aber nicht nur das veränderte mein Leben. Heute wird Vanessa bei mir einziehen und ich bin der glücklichste Mensch der Welt. Meine Trauer über den Tod meines besten Freundes Patrick packt mich zwar immer wieder an, doch es wird von Tag zu Tag besser. Und sollte ich einen Rückfall erleiden, weiß ich, dass Vanessa mich immer unterstützt. Vielleicht werden Vanessa und ich schon bald nicht mehr nur zu zweit sein … Wer weiß? Bei dieser Frau ist alles möglich! Und ich freue mich auf alles, was noch kommen mag … - 44 - Katharina Fleck Falsches Spiel Kapitel 1 Es war düster. Nur leise Schreie drangen aus dem Tunnel, vor dem ich stand. Schweißperlen rannen mir über das Gesicht, als ich ganz langsam das Tunnellabor des verrückten Wissenschaftlers betrat. Es wurde immer dunkler, bis ich zu einer Abzweigung kam. Links von mir brannten gelb-orangefarbene Lichter, und rechts ging es einfach dunkel und schauderhaft weiter. Also entschied ich mich für die rechte Abzweigung. Immerhin konnte ich ja wieder zurück, wenn der Weg falsch war. „Du bist wirklich gekommen, meine Liebe“, sagte der Professor. „Naja, wenn Sie mir so viel Geld geben ...“ Mit einem skeptischen Blick betrachtete der Professor mich. „Na dann, herzlich willkommen in meinem Labor“, meinte er, doch seine nächsten Worte erschreckten mich. „Ich zeige dir dann mal die Genmaschine.“ Bitte was? Von einer Genmaschine war nie die Rede! Ich war doch nicht so was, wie ein Versuchskaninchen, ich war ein Mensch. Misstrauisch ging ich ihm nach. Langsam öffnete er eine schwere Metalltür und spähte hinein. Als ob er Angst hätte, dass ich etwas sah, was eigentlich niemand sollte. „Gut, alles in Ordnung“, murmelte er leise. Hinter der Metalltür befand sich eine riesige Maschine, an der sehr viele Stromkabel und Lichter angeschlossen waren. Doch er führte mich nicht zu dieser merkwürdigen Maschine, von der ich sehr sicher war das, dass dies die Genmaschine war. Er führte mich zu einem leer stehenden Stuhl, an dem Lederriemen angebracht waren. „Da muss ich mich aber nicht draufsetzten, oder?“, sagte ich ängstlich. „Ich dachte, das wäre selbstverständlich?“ Bevor ich noch etwas sagen konnte, nahm er mich schon und setzte mich auf den Stuhl. Für einen Holzstuhl war er gar nicht so unbequem, ganz im Gegenteil, es fühlte sich so an als ob er gepolstert war. Trotzdem klopfte mein Herz bis zum Hals. Was hatte ich mir bloß dabei gedacht? Ich war gefangen genommen worden! Er machte die Lederriemen enger, sodass ich meine Arme und Beine nicht mehr bewegen konnte. Ich wollte schreien, doch ich konnte nicht. Es war so, als hätte ich meine Stimme verloren. Ich bekam eine richtige Gänsehaut, als er mir einen metallartigen Hut aufsetzte. Das war ein elektrischer Stuhl! Ich fand meine Stimme wieder und schrie ihn an, dass er mich nicht umbringen solle. Doch er betätigte den Hebel und ein Stromschlag durchfuhr meinen Körper. Auf einmal wurde mir schwarz vor den Augen und ich sackte zusammen. Ich wachte mit leichten Kopfschmerzen auf. Der Raum, in dem ich mich wiederfand, war fensterlos und hatte weiße Wände. In der Mitte stand ein kleiner runder Tisch mit einem einfachen Holzstuhl. Langsam näherte ich mich dem Tisch, auf dem ein Glas Wasser und ein Salat war. „ Ich hoffe es schmeckt dir“, sagte eine Stimme aus der Dunkelheit. Selbstbewusst erwiderte ich: „Wenn, dieser Salat vergiftet ist, dann …“ „Dann, was? Du hast doch keine Chance gegen mich! Du bist doch nur ein kleines dummes Kind, das wegen Geld zu einem Mann kommt, den sie gar nicht kennt.“ Er hatte Recht. Ich hätte nicht zu ihm kommen müssen, ich hätte nicht einmal den Brief öffnen müssen, den er mir vor die Tür gelegt hat. „Iss doch, mein Kind, du brauchst Vitamine für den Test im Wasserbecken“, sagte der Professor ruhig. Angst überkam mich. Worauf hatte ich mich nur eingelassen? Was war das für ein Test? War das mit dem Stuhl auch schon einer? Hatte ich ihn bestanden? Trotz allem knurrte mein Magen heftig. Gegen jede Vernunft stürzte ich mich auf den Salat. Gerade legte ich meine Gabel wieder weg, als eine Frau mit schulterlangem, rotem Haar hereinkam. „Bringen sie mich jetzt zum Wasserbecken?“, fragte ich. Doch sie gab keine Antwort, sondern nahm mich beim Arm und führte mich durch einen hellbeleuchteten Raum. Wir - 46 - hielten vor einer Metalltür. Sie klopfte dreimal dagegen und wie von Zauberhand öffnete sie sich. Tausende von Gedanken schossen mir durch den Kopf. Ob ich in diesem Becken schwimmen soll? Vielleicht will er mich darin ertränken? Ich wusste es wirklich nicht, was auf mich zukam. „Da bist du endlich. Ich dachte schon, du wärst abgehaut.“ Der Professor wirkte, als wäre er völlig in seinen Gedanken versunken. „Was soll ich denn jetzt genau machen?“, fragte ich etwas ängstlich. „Das wirst du schon noch erfahren. Mach einfach, was man dir aufträgt.“ Sein Ton war schroff. Der fürsorgliche Anflug war einer merklichen Anspannung gewichen. Ich hatte seine Worte noch nicht verdaut, als eine Frau auf mich zukam. Sie hatte ihre schwarzen Haare zu einem straffen Pferdeschwanz zusammen gebunden und ihr Gesicht wirkte bleich wie das einer Leiche. Das konnte aber auch davon kommen, dass sie ihren Eyeliner balkendick aufgetragen hatte. Sie packte mich ahrt an den Handgelenken und zerrte mich zu einem Stuhl, an dessen Lehnen ich Lederriemen erkennen konnte. Erschrocken zuckte zurück. Ungerührt stieß sie gegen meinen Brustkorb, dass ich rücklings in den Sessel kippte. Ich bekam es immer mehr mit der Angst zu tun. Inzwischen war mir das Geld völlig egal. Ich wollte nur noch lebendig hier raus! Plötzlich ging eine Sirene los und eine tiefe Männerstimme schrie: „Lassen Sie das Mädchen frei! Und wagen Sie keine dummen Tricks, Professor. Sonst stürmen wir die Bude!“ Die Polizei! Meine Rettung! Ich fasste wieder neuen Mut. „Sie haben es gehört, lassen Sie mich frei!“, schrie ich und zerrte an den Lederriemen. Zu meiner Überraschung nickte der Professor. „Los, hau ab, Kindchen.“ Er näherte sich einer Holztür, die sich hinter ihm befand und die ich bisher noch gar nicht bemerkt hatte. „Aber pass gut auf dich auf. Ich will dich gesund wiederhaben - für die restlichen Tests.“ Mit einem irren Lachen öffnete er die Tür und war verschwunden. Im selben Moment stürmten Polizisten den Raum. „Geht es dir gut?“, erkundigte sich einer der Männer. Ich nickte langsam. „Wir bringen dich hier raus!“ Der Mann nahm mich am Unterarm und half mir auf. „Setz die hier auf!“, sagte er mit Nachdruck. Er reichte mir eine dunkelgrüne Gasmaske. Vorsichtig befestigte ich den Gummizug bei meinen Ohren. „Folge mir“, sagte der Mann. Er nahm mich wieder beim Arm und zog mich hinter sich her. Es war zu nebelig, um irgendetwas zu erkennen. Kapitel 2 Nach etwa zehn Minuten öffnete sich eine graue Stahltür vor mir und ich erkannte das Gesicht meiner besten Freundin Sabrina. Ich sah ihr an, wie erleichtert sie war, doch irgendwie kam sie mir auch traurig vor. Doch das bildete ich mir sicher nur ein. Ihr Gesicht wirkte bleicher als normal. Sie schwang geschickt ihren dunkelblonden rückenlangen Haare zurück und schloss mich in ihre Arme. Ein paar Tränen stiegen mir in die Augen. „Was dachtest du dir dabei, Süße? Du hättest umkommen können!“ Ihr Ton war scharf. Doch ich hörte vor allem Sorge heraus. „Du kommst jetzt ein paar Tage zu mir!“ Ich war zu müde, um ihr zu widersprechen. Und außerdem – ein paar Tage in netter Gesellschaft konnten doch nicht schaden. Ergeben willigte ich ein. Ich war überrascht. Hatte Sabrina nicht gesagt, sie würde allein zu Hause sein? In ihrer Wohnung brannte Licht. Als hätte ich laut gedacht, antwortete Sabrina: „Das ist vermutlich eine meiner Mitbewohner.“ Sie drückte den Klingelknopf. „Hast du deinen Schlüssel vergessen?“ Sabrinas Verhalten kam mir immer seltsamer vor. - 47 - „Nein, ich habe nur keine Lust, in meiner Tasche danach zu suchen“, sagte Sabrina. Eine hübsche Rothaarige öffnete die Tür. „Na? Wen schleppst du da denn schon wieder an?“, fragte sie und lehnte lässig im Türrahmen. Sabrina ging nicht näher auf ihre spitze Bemerkung ein. „Danke, Lucy“, sagte sie nur und verdrehte die Augen, bevor sie sich an ihr vorbeidrückte. Ich folgte ihr. „Du kannst deine Sachen hier bei der Garderobe ablegen“, meinte sie. Ich zog meine Schuhe aus und stellte sie unter einen Kleiderhaken. „Gehen wir zu mir.“ Ich folgte Sabrina in ihr Zimmer. Sabrina war immer für eine Überraschung gut. Bei jedem meiner Besuche sah ihr Zimmer anders aus. Dieses Mal hatte sie es grün mit großen violetten Punkten angepinselt. Die Vorhänge passten perfekt zu ihrer rotorangen Bettdecke. Und ihr Hochbett hatte schwarze Metallstangen. Es gefiel mir bei ihr. „Ich hab Hunger“, sagte ich. Insgeheim hoffte ich, dass mir Sabrinas dritter Mitbewohner Bastie zufällig über den Weg lief. „Dann schau doch mal in den Kühlschrank. Du kannst dir gerne nehmen, was du findest.“ Ich ging in die Küche und wer stand da? Bastie! Doch was sollte ich nur zu ihm sagen? Mein Herz begann zu rasen, als ich mich dem Kühlschrank näherte, wo mein Traumprinz lässig stand. Er trank gerade eine Cola … und sah zum Anbeißen aus! Ich musste wohl noch von seinem Anblick umnebelt gewesen sein, sonst hätte ich nie und nimmer das Dümmste getan, was man jemals in so einer Situation tun konnte! „Kann ich deine Nummer haben?“ Entsetzt hörte ich meine Stimme, die diese peinlichen Worte sagte. Scheiße, scheiße, scheiße! War ich total übergeschnappt? Er lachte mich an, holte einen Stift, nahm mein Handgelenk und schrieb eine Nummer darauf. „Hier, Süße!“ Dazu grinste er, dass mir das Herz bis zum Hals schlug. „Wenn du mal was unternehmen möchtest …“ Er zwinkerte mir zu, bevor er die Küche verließ. Oh mein Gott! Es hatte funktioniert! Mir war ganz schwindlig. Ich musste mich an der Küchenplatte festhalten. Nach so langem Warten und Hoffen und Sehnen hatte ich endlich seine Nummer! Auf einmal tauchte Lucy vor mir auf. Ihr Gesicht war fast so rot wie ihre Haare. Sie erinnerte mich an die rothaarige Frau, die bei diesem Professor arbeitete. Tatsächlich sah sie ihr zum Verwechseln ähnlich. „Was schmeißt du dich an meinen Freund ran?“, schrie sie mich an. Sie musste das Gespräch zwischen mir und Bastie belauscht haben. „Wenn er dein Freund ist, hätte er mir doch wohl nicht seine Nummer gegeben.“ Ich wollte mich nicht einschüchtern lassen, obwohl sie mich bedrohlich anfunkelte. „Zumindest nicht, wenn er dich wirklich liebt.“, setzte ich noch nach. Spiel, Satz und Sieg, das hatte gesessen! Sie schluckte hörbar. „Wir sind erst am Anfang unserer Beziehung!“ Doch ihre Augen zuckten nervös. Ich hatte sie tatsächlich getroffen! „Aha, sollte ,am Anfang eurer Beziehung‘ vielleicht heißen, dass Bastie noch gar nichts davon weiß?“ Lucy verdrehte die Augen und stampfte wütend weg. Ich kicherte vergnügt. Na, der hatte ich es gezeigt. Das würde sie so schnell nicht vergessen. Ich fühlte mich großartig. Jessica, kommst du mit zum Mc Donalds?“ Ich war so in Gedanken, dass ich erst gar nicht mitbekam, was mich Sabrina fragte. „Nö, keine Lust auf Fast Food. Ich schaue lieber fern“, gab ich zurück. In Wahrheit wollte ich einfach noch ein bisschen allein sein. Und in der Erinnerung an Basti schwelgen. Sabrina drehte mir den Rücken zu. „Wie du willst“, sagte sie, bevor sie ihren Mantel nahm und nach draußen ging. - 48 - Kapitel 3 „Ich komme gleich wieder, mach du es dir gemütlich.“ Bastie hatte mich angerufen und zu sich eingeladen. Dass er sich so schnell melden würde, hatte mich überrascht. Und mein Herz wie wild zum Klopfen gebracht. Jetzt saß ich in seiner Bude und schaute mich um. Sein Zimmer sah aus, als wäre er ein Künstler. Eine Zimmerwand war mit grünen Farbklecksen bedeckt, die andere mit blauen und pinken Punkten. Ich fand das superduperaffengeil. Die Tür öffnete sich und Bastie trat mit zwei Gläsern Sekt herein. Vorsichtig stellte die Gläser auf den weißen Tisch vor uns, bevor er sich neben mich hin setzte. „Du bist wirklich das Mädchen meiner Träume.“ Rr blickte mir tief in die Augen … und dieses Mal waren sie Grün. Ich war irritiert. Bastie hatte doch blaue Augen, oder täuschte ich mich? Nein, ich war mir hundertprozentig sicher. Aber vielleicht trug er diesmal Kontaktlinsen. Er nahm sein Glas und trank es gierig aus. Ich machte es ihm nach und nahm ebenfalls einen großen Schluck. Seine Stimme war ganz nah an meinem Ohr. „Komm, mach deine Augen zu …“, flüsterte er. Es war das Letzte, das ich noch aus Basties Mund hörte, bevor meine Augen zufielen. Ich fühlte mich, als hätte ich eine Vollnarkose bekommen. „Nur einen Augenblick schlafen …“, dachte ich bei mir. Dann verlor ich mich im Dunkeln. Als ich aufwachte, lag auf einer Art Metallplatte. Sie war warm und etwas feucht. Ich sah mich um, doch niemand war zu sehen. Also rappelte ich mich auf und tappte durch die Finsternis einfach gerade aus. „Keine Angst, es wird dir nichts passieren. Geh einfach immer weiter“, sagte eine Stimme zu mir. Diese Stimme kam mir irgendwie bekannt vor. Doch ich konnte sie nicht zuordnen. Meine Schritte wurden wie von selbst immer schneller, bis ich plötzlich gegen irgendwas Hartes rannte und mir meinen Kopf anstieß. Vorsichtig tastete ich die Wand mit meinen Fingern ab. Sie fühlte sich sehr glatt an. Auf einmal wurde es hell und der schwarze Raum verwandelte sich in ein buntes Zimmer. Ich sah mich neugierig um. Die grünen Wände trafen voll meinen Geschmack. Es gab sogar ein Himmelbett. Dieses war Rosarot - so wie ein Bett von einer Prinzessin. Es gab auch noch ein violettes Bücherregal. Und einen hellbraunen Schreibtisch mit einem rosafarbenen Stuhl. Nur eine Sache gefiel mir gar nicht: Im ganzen Raum fand ich kein Fenster. Ich ließ meinen Blick weiterwandern und stutze. Es gab auch keine Tür!. Wie war ich dann hier herein gekommen? Ich konnte ja nicht gut durch Wände gelaufen sein? Oder? Ein hysterisches Kichern stieg mir die Kehle hoch. Das wäre dann schon was ganz Neues! Aber wirklich daran glauben konnte ich nicht. Auf einmal bekam ich einen harten Schlag auf meinen Hinterkopf und klappte zusammen. Als ich aufwachte sah ich anfangs nur verschwommen. Mir brummte der Schädel. Mühsam drückte ich mich zum Stehen hoch. Das Erste, das mir in die Augen stach, war eine riesige Maschine, an der hunderte von Kabeln befestigt waren. Zu der Maschine führte eine Holztreppe hinauf. Neugierig näherte ich mich dem Gebilde. Durch ein rundes Fenster wagte ich einen Blick hinein. Ich konnte nicht viel erkennen. Außer einem Ledersessel war die Kammer leer. „Willst du mal reingehen?“ Ich zuckte erschrocken zusammen, als ich die Stimme des Professors hinter mir hörte. „Sind sie nicht eingesperrt?“, fragte ich mit zittriger Stimme. Ich bekam nur ein Lachen als Antwort. Plötzlich schoss mir ein Gedanke durch den Kopf, den ich gar nicht mochte. Sollte das etwa seine neue Genmaschine sein? Niemals würde ich da hinein steigen! - 49 - Doch meine Beine setzten sich ganz von alleine in Bewegung und ich marschierte geradewegs auf den schwarzen Ledersessel zu. Langsam setzte ich mich hin und schaute den Professor erwartungsvoll an. „Bleib einfach ganz ruhig sitzen, schließe deine Augen und denk an etwas Schönes. Wie zum Beispiel an Kätzchen. Ganz kleine süße Babykätzchen.“ Folgsam machte ich meine Augen zu. Plötzlich verspürte ich einen Stromschlag. Kurz danach einen Zweiten. Vor meinen Augen bildeten sich bunte Farbkreise. Dann verschwanden sie in tiefem Schwarz … Kapitel 4 Als ich wieder aufwachte, fand ich mich in einem Krankenhausbett wieder. Und ich stellte fest, dass ich an eine Menge Kabel angeschlossen war. Was zum Teufel machte ich hier? Und wer hatte mich hier hergebracht? Der Professor? Meine Gedanken schwirrten unkontrolliert durch meinen angeschlagenen Kopf. Eigentlich war der Professor doch viel zu jung, um schon dreimal im Knast gewesen zu sein. Er war sowieso zu jung, um ein verrückter Wissenschaftler zu sein. Eigentlich sah der Typ doch ganz normal aus. Naja, abgesehen von seinem schrillen Auftreten, seinen verrückten Reden und dem Gen-Ding, von dem er dauernd sprach. Ich fragte mich, ob er eine Freundin hatte. Vielleicht eine von seinen hübschen Angestellten? ... „Wie geht es Ihnen?“ Eine etwas stärkere Krankenschwester betrat den Raum und riss mich aus meinen wirren Gedanken. Ihre blaugrünen Augen gingen zur Tür, als Sabrina das Zimmer betrat. Sabrina setzte sich auf mein Bett, schwang ihre langen Haare zurück und sah mir tief in die Augen. „Wieso bist du wieder zu dem Wissenschaftler gegangen? Du weißt doch genauso gut wie ich, dass dieser Typ verrückt ist!“, sagte Sabrina energisch. Ich hatte keine Ahnung, warum ich wieder in dem Labor gelandet war. Das Letzte, woran ich mich erinnern konnte, waren Basties Augen ... die plötzlich eine grüne Farbe angenommen hatten. Doch das konnte ich Sabrina unmöglich erzählen! Sie würde glauben, ich sei verrückt geworden! Und sie würde versuchen, mir meine Schwärmerei für Bastie auszureden. Alos suchte ich nach einer anderen Erklärung, die sie mir abnehmen würde. „Du weißt genauso gut wie ich, dass ich dringend Geld brauche!“ Ich versuchte, besonders energisch zu klingen, damit sie nicht merkte, dass ich etwas ganz anderes vor ihr verbergen wollte. Sabrina wirkte wütend und traurig zugleich. „Ich möchte keine geldgierige Freundin haben. Du weißt doch, dass ich dir immer helfen würde.“ Sie stand auf und schlug die Tür hinter sich zu. Unglücklich rückte ich mein Kissen zurecht. So eine Scheiße! Meine Lüge war nach hinten los gegangen! Trotzig drückte ich den Rücken durch. Dann musste ich eben ohne sie klar kommen. Wenn ich nur endlich hier wieder herauskam. In diesem Moment betrat die Krankenschwester wieder den Raum. „Ein Herr Bastian Temiz hat nach Ihnen gefragt.“ Bastie? Mein Herz begann wie wild zu klopfen. Hatte er etwas mit dem Professor zu tun? Wenn ja, was? Mir wurde bei dem Gedanken regelrecht übel. Ich wollte ihn auf keinen Fall sehen! Als sie mich endlich entließen, nahm ich den Bus zur WG. Ich war nervös, wie Sabrina darauf reagieren würde, wenn ich plötzlich vor ihrer Tür stand. Ich bekam gar keine Gelegenheit zu klingeln. Lucy hielt mir schon die Tür auf und warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu. „Du hast vielleicht Nerven! Was bildest du dir überhaupt ein, hier wieder aufzutauchen?“ Ich ignorierte Lucy und betrat den Vorraum der WG. Mein Kopf brummte und ich hatte Hunger. Doch als ich mir gerade ein Müsli machen wollte, klingelte - 50 - es an der Tür. Mit einem Seufzer ging ich zur Tür und öffnete sie ruckartig. „Ja?“, fragte ich genervt. Ich ärgerte mich, dass niemand anderer es der Mühe wert fand, die Tür zu öffnen. „Begrüßt man so seinen Chef?“ Der Professor stand grinsend vor mir. Bevor ich noch wusste, wie mir geschah, schlang er einen Arm um meine Hüfte, warf mich über seine Schulter und rannte mit mir davon. Ich schrie wie am Spieß. „Lassen Sie mich sofort runter! Hilfe, ich werde entführt!“ Als Antwort bekam ich nur ein schäbiges Lachen vom Professor. Er brachte mich zum Wagen und schnallte mich auf den Beifahrersitz fest. Mit Vollgas fuhr er los. Schweißperlen standen mir auf der Stirn. Unauffällig tastete ich nach meiner rechten Hosentasche. Gott sei Dank! Ich hatte mein Handy eingesteckt. Jetzt konnte ich wenigstens versuchen, um Hilfe zu rufen. Aber wenn er mich nicht aus den Augen ließ, hatte ich ein ernsthaftes Problem. „Mist!“, hörte ich ihn fluchen. „Wir haben kein Benzin mehr!“ Er drehte sich zu mir um. „Du bleibst schön hier sitzen. Bastian passt in der Zwischenzeit auf dich auf.“ Bastian? Also doch …? Meine Gedanken überschlugen sich. „Überrascht mich zu sehen?“ Sein Gesicht tauchte zwischen den Vordersitzen auf. Er grinste mich schelmisch an. „Ja, allerdings!“, stieß ich tonlos hervor. Er wollte mir durch die Haare streichen doch ich wich ihm aus. „Was hast du mit dem Professor zu tun? Steckst du mit ihm unter einer Decke?“ „Blitzkneißer! Du merkst auch alles.“ Er lachte spöttisch. „Ich arbeite für ihn. Du bist wirklich naiv. Mein kleines, dummes, verwirrtes Kind!“ Aus seiner Stimme troff Verachtung. Da spürte ich, dass sich die Fesseln an meinen Händen gelockert hatten. Ich nutzte den Überraschungseffekt und trat mit dem Fuß das Fenster ein. Bevor Bastian reagieren konnte, kletterte ich schnell durch das entstandene Loch. Dabei riss eine Scherbe meine linke Wade bis zum Knochen auf. Ich schrie vor Schmerz. Trotzdem durfte ich nicht stehen bleiben. Humpelnd lief ich die Straße entlang, bis ich endlich an einen Supermarkt kam. „Kann mir bitte irgendjemand helfen? Ich … ich blute!“ Die Frau an der Kassa lief sofort um den Ersthilfe-Kasten und kniete sich vor mir hin. Geschickt legte sie einen Druckverband an. „Das sollte fürs Erste halten“, meinte sie und betrachtete mit zusammengezogenen Augenbrauen ihr Werk. „Das ist ein ziemlich tiefer Schnitt. Du solltest es in einem Krankenhaus nähen lassen. Wie ist denn das passiert?“ Aus ihren grünblauen Augen sprach so viel echte Sorge, dass ihr am liebsten alles erzählen wollte. Wie ich zu dem Professor gekommen war, er mich entführt und ich schließlich aus dem Auto geflüchtet war. Doch dann hatte ich wieder Angst. Was wusste ich schon, wer sonst noch mit dem Verbrecher gemeinsame Sache machte? Basties Vertrauensbruch machte mir schrecklich zu schaffen. „Ich bin ausgerutscht und auf eine Glasscheibe gefallen“, flunkerte ich stattdessen. Die Frau sah mich nur verdutzt an und bevor sie noch weiter etwas fragen konnte, bedankte ich mich und verschwand aus dem Laden. Mir wurde erst jetzt bewusst, dass ich seit einer halben Ewigkeit nichts Ordentliches mehr gegessen hatte. Also humpelte ich zur nahe gelegenen Bushaltestelle und studierte den Fahrplan. Mist! Der nächste Bus ging erst in einer halben Stunde. Was soll ich jetzt nur machen? Ich war kurz davor, zu heulen, als mich plötzlich jemand an meiner Schulter berührte. Ich fuhr herum. „Sabrina!“ Mir stiegen Tränen in die Augen. Ich war so glücklich, sie zu sehen. Jetzt konnte sie mir bei meiner Flucht vor dem Professor und Bastie helfen. Ich fiel ihr glücklich um den Hals. „Was machst du hier?“ Sabrina warf mir einen fragenden Blick zu. „Ich erklär dir alles später. Jetzt müssen wir erst einmal schleunigst hier fort!“, antwortete ich hektisch. Ich nahm sie beim Handgelenk und schleifte sie in das nächstbeste Geschäft. - 51 - „Was ist jetzt los? Ich will sofort eine klare Antwort von dir!“ Sabrina stemmte sich gegen meinen Versuch, sie weiter zu zerren und machte sich von mir los. Ich schaute mich nervös um und seufzte. „Also gut. Der Professor und Bastie stecken unter einer Decke. Sie wollten mich zurück ins Labor bringen, um mit mir diese Tests durchzuführen. Ich bin aber abgehauen. Jetzt suchen sie mich!“, erklärte ich ihr. „Wir müssen verschwinden, bevor sie mir auf die Spur kommen!“ Ihr verblüfftes Gesicht zeigte mir, dass sie mir nicht glaubte. „Bastie?? Nie und nimmer! Ich kenne ihn. Er ist der süßeste Typ, den es auf dieser Welt gibt! Der tut doch keiner Fliege etwas zuleide!“ Sie runzelte die Stirn und sah mich an, als wäre ich völlig übergeschnappt. „Du willst dich doch nur interessant machen!“ Ich konnte ihre Reaktion voll verstehen. Ich würde mir auch nicht glauben. Trotzdem musste ich zusehen, dass ich so schnell wie möglich hier weg kam. So weit weg, dass Bastie und der Professor mich nicht mehr finden konnten. Ich hatte keine Zeit mehr, Sabrina davon zu überzeugen, dass ich ihr kein Märchen auftischte. Ich lief aus dem Geschäft und ließ Sabrina einfach stehen. Sie war bestimmt stocksauer auf mich, aber ich hatte keine andere Wahl. Ich sah auf die Uhr. Noch fünf Minuten, bis der Bus kam. Ich drückte mich in die hinterste Ecke des Wartehäuschens und schaute mich immer wieder nach allen Seiten um. Zu meinem Glück war niemand zu sehen. Als der Bus endlich kam, kletterte ich schnell hinein. Außer mir gab es keine weiteren Fahrgäste. Ich setzte mich auf einen Platz in der hintersten Reihe und sah aus dem Fenster. Irgendetwas stimmte hier nicht. Es war nur so ein Gefühl im Bauch und weil nichts Außergewöhnliches passierte, beruhigte ich mich wieder. Bestimmt waren meine Nerven einfach nur überreizt. Kein Wunder, nach allem, was mir in den letzten Stunden so zugestoßen war! Ich stieg an der Endstation aus. Der Ort kam mir irgendwie bekannt vor. Wieder schrillten alle Alarmglocken im mir. Gerade in dem Augenblick, als mir klar wurde, wo ich dieses Schmiedeeisentor zuletzt gesehen hatte, packte mich jemand von hinten an den Oberarmen. Ich fuhr herum. Der Busschofför stand hinter mir, die Mütze tief in die Stirn gezogen. Doch ich erkannte ihn trotzdem: Es war Bastie! Bevor ich reagieren konnte, bekam ich einen Schlag auf den Hinterkopf und alles um mich herum wurde schwarz. Als ich wieder erwachte, lag ich festgezurrt auf einem Metalltisch. Rund um mich stieg grüner Rauch auf, der mich einhüllte, bis ich nichts mehr sehen konnte. Aus der Dunkelheit ertönte ein einzelner Schuss. Dann folgte ein zweiter. Mir stockte der Atem. Eiskalte Angst packte mich und ließ mein Herz rasen. Ich wollte noch nicht sterben! Doch dann keuchte ich vor Erleichterung auf. Aus dem Nebel schälte sich das vertraute Gesicht meiner Freundin. „Sabrina!“, rief ich aus und rüttelte am Bettgestell. Ein erleichtertes Lächeln ging über ihr Gesicht und sie war mit einem Schritt bei dem Metalltisch, an den ich festgebunden war. „Ich hab doch gesagt, dass du dich auf mich verlassen kannst“, stieß sie keuchend hervor, während sie an den Verschlüssen meiner Fesseln zerrte. Sie hatte eben meine Arme befreit, als ein weiterer Schatten hinter ihr auftauchte. Ich schrie erschrocken auf. „Sabrina! Hinter dir …!“ Doch da legte sich schon eine warme Hand auf meinen Mund und dämpfte mein Gebrüll zu einem erstickten Keuchen. Ich erkannte ihn sofort, obwohl er die Haare anders trug als vorhin noch und die Schofförs-Mütze gegen eine lässige Kappe getauscht hatte. Verzweifelt bäumte ich mich mit aller Kraft auf. Ich biss Bastie in die Hand, sodass er überrascht seinen Griff mit einem leisen Schmerzschrei lockerte. „Sabrina …!“, würgte ich hervor und riss verzweifelt an meinen Fußfesseln. Doch Bastie hatte mich schon wieder unter seine Kontrolle gebracht. Mit seinem ganzen Gewicht legte er sich auf mich und machte mich bewegungsunfähig. Warum griff Sabrina nicht ein? Ich sah, wie sie mit einem Grinsen daneben stand und ihre Hände in den Ho- 52 - sentaschen vergrub. Tränen der Verzweiflung schossen mir in die Augen. Hatte auch meine beste Freundin mich verraten? Basties Mund war ganz nah an meinem Ohr. Sein Atem erzeugte eine Gänsehaut auf meinem Hals. „Sch sch sch …“, flüsterte er und wiegte mich beinahe sanft hin und her. Erst als ich erschöpft meinen Widerstand aufgab, lockerte er ganz vorsichtig seinen Griff um meine Handgelenke. „Ich bin’s doch, Bastie …“ Seine warme Stimme ließ mir einen wohligen Schauer über den Rücken laufen. War ich jetzt völlig übergeschnappt? „Ich weiß, wer du bist!“, stieß ich gehetzt hervor und drehte mich unter seinem Griff zur Seite. Er aber strich mir sanft meine schweißnassen Strähnen aus der Stirn. „Es ist nicht so, wie du denkst“, sagte er leise und warf Sabrina einen verschwörerischen Blick zu. Die nickte und ihre Lippen zogen sich noch mehr in die Breite, sodass ich ihre geraden Zähne sehen konnte. Ich verstand gar nichts mehr. Bastie aber streichelte mir sanft über die Wange, während er weitersprach. „Das war nicht ich, der dich entführt und misshandelt hat, sondern mein böser Zwillingsbruder.“ Ich riss die Augen auf. Verarschte er mich jetzt? Doch Sabrina bestätigte seine Worte mit einem neuerlichen Nicken. „Zum Glück habe ich nicht glauben können, dass du plötzlich so durchgeknallt warst. Ich habe Bastie gesucht und er hat mir von seinem Zwilling erzählt, der im Alter von sechs Jahren entführt worden und nie mehr wieder aufgetaucht war. Wir haben eins und eins zusammen gezählt und waren gerade noch rechtzeitig hier her gekommen, um das Schlimmste zu verhindern …“ Sie bückte sich und hob eine Pistole auf, die unter das Bett gerutscht war, auf dem ich jetzt völlig bewegungsunfähig lag. Doch als Bastie sich vorbeugte und mir einen Kuss auf die Lippen hauchte, kam wieder Leben in meinen Körper. Ich schloss die Augen und gab mich dem warmen Gefühl hin, das mich plötzlich erfasste. Erst später ließ mich ein plötzlicher Gedanke hochfahren und ich schob Bastie auf Armlänge von mir weg. „Habt ihr … habt ihr den anderen Zwilling …“ Ich wagte nicht auszusprechen, was mich so plötzlich mit Schrecken erfüllt hatte. Mit geweiteten Augen schaute ich von Bastie zu Sabrina und wieder zurück. Beide nickten nur und Sabrinas Augen wichen zur Seite. Ich folgte ihrem Blick und sag schemenhaft einen Körper in der Dunkelheit liegen. Ich schluchzte auf. Aber es war mehr Erleichterung als Entsetzen, das mich erfasste. „Und der Professor?“, fragte ich nach einer kurzen Pause. Bastie setzte sich zu mir auf die Pritsche und legte einen Arm um meine Schultern. „Kein Angst. Der wird auch niemandem mehr Schaden zufügen.“ Sabrina setzte sich an meine andere Seite. „Dank deiner Aussage hat die Polizei endlich genug Beweise gegen ihn.“ Sie lächelte mir aufmunternd zu. „Da werden wohl schon die Handschellen geklickt haben“, ergänzte sie. Mit einem tiefen Seufzer lehnte ich meinen Kopf an ihre Schulter, während meine Finger nach Basties warmer Hand suchten. „Danke“, wisperte ich und schloss erleichtert die Augen. Mit diesen Freunden an meiner Seite konnte mir nichts mehr passieren … - 53 - - 54 - Thomas Berghofer, Luca Güsser, Manuel Kulmer, Jakob Marterer, 4 minus 1 (Entführung in den Tropen) - 55 - Kapitel 1 Es war düster, als Fabian sich auf seinen Nachhauseweg machte. An einem Brunnen machte er Halt, um seinen Durst zu löschen. Ein Fremder, in einen schwarzen Mantel gehüllt, stand plötzlich wie aus dem Nichts hinter ihm. Fabian zuckte zusammen. „So ein Schwachsinn“, versuchte er sich selbst zu beruhigen, „dunkle Kleidung hat doch nicht automatisch etwas Böses zu bedeuten.“ Trotzdem schlug ihm das Herz bis zum Hals. Der Mann stellte sich knapp neben ihn. Fabian beobachtete aus dem Augenwinkel, wie der Typ prüfend die Straße und die anliegenden Häuser scannte. Irgendwas stimmte mit dem nicht! Fabian konnte vor Angst kaum atmen. Erst als der Mann ihm zunickte und einen geheimnisvollen Koffer in die Hand drückte, löste sich seine Erstarrung. In panischer Angst ließ er den Koffer fallen und rannte davon. Doch er musste feststellen, dass auch der Mann sich in Bewegung gesetzt hatte. In Fabians Körper breitete sich Adrenalin aus. Seine Beine bewegten sich wie von selbst. Schneller! Schneller! Seine Lungen schmerzten bei jedem Atemzug. Trotzdem brüllte er mit voller Kraft: „Hilfe! Hilfe! Ich werde verfolgt!“ Er rannte die nasskalte Gasse, wild mit den Händen fuchtelnd, entlang. Nach einem geschätzten Kilometer drehte er sich um und blickte in die Dunkelheit. Der Junge dachte, er hätte seine Verfolger abgehängt, doch er wurde das Gefühl nicht los, noch immer verfolgt zu werden. Mit zitternden Fingern schrieb er eine SMS an seinen Cousin. Fabian drückte gerade auf „Senden“, als er hinter sich etwas hörte. Er drehte sich blitzschnell um und konnte noch gerade das verbeulte und hässliche Gesicht eines Mannes sehen, als Fabian etwas von hinten durchbohrte. Ein stechender Schmerz breitete sich in seinem Körper aus. Er fiel auf die Knie, blickte noch einmal verzweifelt den Mann an und fragte sich in den letzten Sekunden seines Lebens, wer wohl sein Mörder war. Kapitel 2 Schon am frühen Morgen brannte die Sonne von einem wolkenlosen Himmel. Die vier Freunde Jakob, Manuel, Luca und Thomas machten sich bereit. Heute war es so weit! Das lang ersehnte Radrennen durch den Dschungel Brasiliens, für das sie sich schon monatelang vorbereitet hatten, sollte in wenigen Minuten starten. Jakob überprüfte gerade noch einmal die optimale Sitzhöhe, als sein Handy vibrierte. Er riskierte einen kurzen Blick auf das Display, um zu sehen von wem die SMS war. Fabian? Seit Monaten hatte er von seinem Cousin, der in Ungarn lebte, schon nichts mehr gehört. Was wollte er gerade jetzt von ihm? Er staunte nicht schlecht, als er las, dass Fabian von einem Drogendealer verfolgt wurde. Aufgeregt tippte er Thomas auf die Schulter, der ihm gerade am nächsten stand. Thomas kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf. „Glaubst du das echt? Fabian meint das sicher nicht ernst. Du kennst ihn doch. Der verbreitet oft Blödsinn.“ Jakob biss sich auf die Lippen. „Wahrscheinlich hast du Recht“, meinte er schließlich und beachtete die SMS nicht länger. Start. Das Rennen begann. Jakob, Thomas, Manuel und Luca starten voll durch und setzen sich sofort an der Spitze der vielen Spitzenradfahrer ab. Auch wenn sie sich zu hundert Prozent auf das Radrennen konzentrieren sollten, hatten die vier Freunde ein mulmiges Gefühl. Alles wegen Fabian! Es lenkte sie ab, denn sie mussten immer wieder an Jakobs Cousin denken und so fielen sie mit der Zeit immer weiter zurück. Erst als sie den ersten - 56 - Kontrollpunkt passierten, wurde ihnen klar, dass sie nicht einmal mehr zu den Top Ten des Rennens gehörten. Die vier Freunde befanden sich am Ende des zweiten Kontrollpunkts, als Thomas bemerkte, dass sie niemanden von anderen Teilnehmern mehr sehen konnten. Als Jakob auch noch bemerkte, dass sein Handy nicht mehr in der Rucksacktasche war, wo er es zuvor hineingetan hatte, bekamen sie es mit der Angst zu tun. Hatten sie sich verfahren? Aber sie waren doch genau der Streckenkarte nachgefahren! „Scheiße, Leute! Wir sind da mitten im Nirgendwo! Wo ist die verdammte Strecke?“ Thomas sprang vom Rad und ließ es achtlos auf den staubigen Boden fallen. Hektisch blickte er sich um. Aber außer Bäumen und einer unendlich scheinenden staubigen Landschaft war weit und breit nichts zu sehen. Sie blieben stehen und versuchten sich zu orientieren, aber ohne Erfolg. Sie wollten nicht aufgeben und suchten immer weiter, bis dann endlich Manuel rief: „Hier, seht mal!“ Die anderen drei liefen schnell zu Manuel, der gerade versuchte, einen Busch aus dem Weg zu räumen. Endlich schaffte er es und legte ein altes verbeultes Schild frei. Beinahe gleichzeitig lasen die vier die Buchstaben, die auf dem Schild standen: G…o…f…f…s. Plötzlich wurde Thomas’ Gesicht ganz bleich und er starrte das Schild an, als wäre gerade eine Maus über seine Leber gelaufen. Jakob, der nichts mit diesem Namen anfangen konnte, und nur darüber spottete, bemerkte den Gesichtsausdruck seines Freundes. Beängstigt fragt er: „Alles OK bei dir, Thomas?“ Thomas drehte seinen Kopf nur ganz langsam in Jakobs Richtung. Er starrte Jakob an, sodass dieser Angst bekam, danach stottert Thomas: „W…w…weißt du w...was G...G...Goffs ist?“ „Nein“, sagte Jakob, „was ist damit?“ Thomas, der auch manchmal sehr abergläubisch war, antwortete: „Ich hab mal über diese Stadt gelesen und …“ Er schluckte. „… und das war ne Geisterstadt!“ Luca bemerkte gelangweilt: „Ja, und? Du glaubst doch nicht ernsthaft an so einen Humbug!?“ Thomas sagte darauf nichts mehr. Er starrte nur unbewegt in die Luft. Manuel, der eher der Typ fürs Praktische war und von der Theorie nicht viel hielt, tat so, als hätte er das Wort Geisterstadt überhört und schlug den unebenen Schotterweg ein, der nach Goffs zu führen schien. Da Rennräder für den Asphalt gedacht waren und nicht für Schotterwege, mussten sie ihre Räder zurücklassen, um Schäden zu vermeiden. Ihre Schuhe machten komische Geräusche beim Auftreten, fast wie Schischuhe. Natürlich wussten die Vier, warum das so war: Ihre Schuhe waren Spezialschuhe, die man in die Tretpedale der Fahrräder verankern konnte, um nicht abzurutschen. Um den Weg, auf dem die Jugendlichen gingen, lag ein Nadelwald. „Ich schätze, das sind Brasilkiefern“, bemerkte Thomas. Doch auch ihm war nicht nach Reden zumute. Schweigend setzten sie ihren Weg fort. Nach ein paar hundert Metern Fußmarsch sahen sie eine Art Tor, auf dem geschrieben stand: Bem-vindo ao Goffs „Wahrscheinlich bedeutet das so viel wie Willkommen in Goffs“, vermutete Manuel. Er und seine Freunde durchquerten der Tor und blieben stehen. Thomas versuchte cool zu wirken und sich nicht in die Hose zu machen, weil er solche Angst hatte. Er konnte sich noch genau an die Bilder im Buch erinnern, in dem er über diese Stadt gelesen hatte. Es war alles komplett gleich. Das Rathaus, die Kneipe, der Saloon und das Lebensmittelgeschäft - nichts hatte sich verändert. Überall klapperten die Rollos, Papierfetzen flogen durch die Gegend und ein warmer Wind blies den vier Jungen um die Ohren. Thomas fiel auf, dass diese Stadt aussah, wie eine aus dem wilden Western und nicht wie eine aus Brasilien. Das - 57 - Dorf war vermutlich schon vor längerer Zeit verlassen worden. Die Fensterläden hingen schief in den Angeln und irgendwo schlug eine Tür im Wind gegen einen Holzrahmen. Als die vier Freunde schon am Ende ihrer Hoffnung waren, doch noch etwas Brauchbares zu entdecken, fand Jakob am Rand der Geisterstadt eine alte, rot schimmernde und schon halb verrostete Telefonzelle. Er glaubte nicht, dass sie noch funktionierte, aber einen Versuch war es wert. Er rief seine Freunde zu sich. Sie alle beschlossen, dass Jakob in die Telefonzelle rein gehen sollte, um die Polizei anzurufen. Jakob wählte eine Nummer, die er als einziger von den Vieren kannte. Fabian hatte sie bei seiner mysteriösen Nachricht mitgeschickt. Luca fragte zweifelnd: „Wen rufst du bitte an?“ „Keine Ahnung“, antwortete Jakob, „ich hoffe einfach, dass jemand abhebt.“ Und wirklich, es klappte. Am anderen Ende der Leitung sprach ein Mann. Leider konnten die Vier ihn nicht verstehen. Thomas wusste aber, von wo der Mann her kam, denn Thomas hatte die Sprache des Mannes erkannt und behauptete, dass es ein Chinese war. Ein Pech, dass keiner der vier Freunde chinesisch konnte. Die Person sprach auch kein Deutsch, denn Jakob versuchte, sich auf Deutsch mit ihm zu verständigen, aber der Mann schwafelte immer etwas auf Chinesisch. Sie probierten es auch auf Englisch, doch auch das klappte nicht. Jakob legte auf und seufzte. Plötzlich läutet das Telefon. Sie sahen überrascht zum Hörer. Manuel nahm den Hörer ab und fragte:„ Ja, wer ist da?“ Die Person am anderen Ende der Leitung sagte mit einer rauen, tiefen Stimme: „Ihr seid verloren! Ihr vier Bengel kommt hier nicht mehr fort. Ich krieg euch schon! Hahahahaha!“ Dann war die Leitung tot. Jakob, Manuel, Thomas und Luca sahen sich verängstigt und fragend an. Hatte der Mann sich bloß verwählt? Vielleicht wollte er doch sie fangen? Was sollten sie jetzt machen? Keiner konnte es glauben, was gerade geschehen war. Plötzlich fuhren die Vier auf und sprangen aus der Telefonzelle. Kann das sein, kann das wirklich sein? Sie glaubten es einfach nicht. Sie glaubten es einfach nicht, dass sie ein Motocross auf sich zufahren hörten. Jakob rannte voller Angst aus der Telefonzelle, die aus irgendeinem Grund mitten im Urwald von Brasilien stand. Da sah er einen Motocrossfahrer auf sich zukommen. Er fuchtelte mit den Armen durch die Luft. “Hier sind wir! Bleiben Sie stehen!“ brüllte er aus Leibeskräften. Erst als er bemerkte, dass irgendetwas nicht stimmte, verstummte er. Als der Mann zehn Meter vor Jakob noch immer nicht stehen blieb, war es eindeutig: Die Person auf dem Motocross wollte weder anhalten noch die vier Rennradfahrer retten. Jakobs Herz pochte immer schneller. Er musste irgendetwas tun, sonst erwischte der unbekannte Mann ihn noch. Er warf sich zur Seite – keine Sekunde zu früh! Im nächsten Augenblick knatterte die Maschine haarscharf an seinem Körper vorbei. Jakob spürte, wie seine Muskeln versagten. Er wollte weglaufen, aber er konnte keinen Muskel bewegen. Der Fahrer hatte bereits umgedreht und raste wieder auf Jakob zu, der noch immer schockgelähmt war. Noch ein paar Meter und der Motocross Fahrer hätte ihn erwischt. Da raste er auch schon wieder an Jakob vorbei, der gerade noch von Manuel gerettet werden konnte. „Schnell, komm!“, schrie Manuel, und lief davon. Jakob nickte nur und rannte Manuel hinterher. Wieder hatte der Mann umgedreht und verfolgte nun beide Freunde. Jakobs und Manuels Beine wurden von Schritt zu Schritt immer schwerer. Es kam ihnen vor, als würden sich ihre Beine nach und nach in Blei verwandeln. „Wir müssen ihnen irgendwie helfen!“, stieß Thomas aus und lief dem Mann mit der Maske hinterher. Luca folgte ihm, aber es war zu spät. Luca bekam gerade noch mit, wie der Motocross-Fahrer Jakob am Arm packte und danach in der Staubwolke eintauchte, die die Räder seiner Maschine aufwirbelte. Im Vorbeifahren rempelte der Mann Manuel an, sodass er das Gleichgewicht verlor und auf die Knie fiel. Luca, der Thomas inzwischen überholt hatte, - 58 - lief an Manuel vorbei, Jakob hinterher. Inzwischen war sein Kopf vor lauter Anstrengung knallrot. Luca gab nicht auf. Nein, er hatte noch nie aufgegeben. Weder bei den Wettläufen noch bei den Schwimmwettbewerben, bei denen er sich immer unter den zehn besten Teilnehmern befand. Trotzdem war er zu langsam für ein Motocross. Luca musste einsehen, dass er den Mann nicht einholen konnte. Kapitel 3 Nachdem der Fahrer mit Jakob nicht mehr zu sehen war, wusste keiner der drei Freunde, was sie jetzt tun sollten. Manuel wollte mit seinem Handy die Polizei rufen, doch er hatte keinen Empfang. Luca rannte ein Stück hinter den Reifenspuren her, die sich im Straßenstaub abzeichneten, bis er sich erschöpft ins dürre Gras fallen ließ. Thomas aber war ihm gefolgt. Aufmunternd legte er Luca eine Hand auf die Schulter. „Die Idee ist gar nicht schlecht. Wenn wir Jakob retten wollen, müssen wir der Spur folgen. Irgendwo muss der Typ ja mit ihm hingefahren sein.“ Luca hob den Kopf und sah den Freund zweifelnd an. Thomas aber nickte mit mehr Überzeugung, als er in sich fühlte. „Irgendwann wird ihm der Sprit ausgehen. Und außerdem werden sie bestimmt irgendwo eine Pause machen.“ Er streckte Luca die Hand hin, bis der Freund sie ergriff und sich von ihm zum Stehen hochziehen ließ. „Wir lassen Jakob nicht im Stich!“, rief er und auch Manuel schien neuen Mut gefasst zu haben. „Wir sind Freunde! Er würde dasselbe für uns versuchen. Wir werden ihn finden und befreien.“ Keiner von ihnen wollte sich anmerken lassen, wie viel Angst sie eigentlich hatten. Sie alle verdrängten den beängstigenden Gedanken, dass sie nur drei Jungs waren - allein im Urwald von Brasilien. Erschöpft blieben sie stehen. „Verdammt!“, schimpfte Luca sehr außer Atem, obwohl er der sportlichste seiner Freunde war. „Oh mein Gott, was sollen wir jetzt machen?“, stieß Manuel verzweifelt aus, „Jetzt ist alles aus!“ Luca sagte dazu gar nichts, aber sein Gesichtsausdruck sagte mehr als hundert Worte. Nur Thomas jammerte nicht um Jakob. Stattdessen dachte er angestrengt nach. Schließlich hockte er sich auf seine Fersen und deutete auf den Boden vor ihm. „He Leute, ich habs! Hier ist alles voller Schlamm. Wenn man mit einem Motocross über so einer Oberfläche fährt, hinterlässt man eine Spur!“, rief er und schaute die Freunde von unten an. „Und was bringt uns das?“, fragte Manuel mit einem zweifelnden Gesichtsausdruck. „Na, das zeigt uns, wie wir Jakob verfolgen und retten können!“, antwortete Thomas. Luca bemerkte mit sorgenvoller Miene: „Wir sollen ihn retten?“ „Ja“, meinte Thomas, „aber sicher.“ „Ok, aber wie sollen wir das anstellen?“, fragte Manuel. „Wir folgen erst mal diesen Reifenspuren“, antwortete Thomas, „Und dann, dann retten wir ihn eben.“ „Und wie sollen wir retten? Ich glaube kaum, dass der Mann Jakob uns ausliefert, wenn wir rufen: „WIR SIND GEKOMMEN UM DICH ZU RETTEN, JAKOB!“, nörgelte Luca. „Ja, ja. Eines nach dem anderen. Wie wir ihn dann retten, können wir uns auf dem Weg überlegen.“ Thomas wartete nicht länger ab, wie seine Freunde sich entscheiden würden. Entschlossen ging er der Reifenspur nach. - 59 - Kapitel 4 Nach einem schier endlosen Lauf durch den Urwald verloren sie die Hoffnung darauf, Jakob noch irgendwo finden zu können. Aber Thomas hatte wieder einmal eine gute Idee. „Einer von uns sollte auf einen hohen Baum klettern. Vielleicht war ja von weiter oben ein Weg aus dem Dickicht zu sehen.“ Sein Mut und sein Überlebenswille schenkte auch den anderen wieder neue Hoffnung. Sie beschlossen, dass Luca, der athletischste der drei verbliebenen Freunde, auf den nächsten Baum klettern sollte, um sich umzusehen. Luca war anfangs nicht unbedingt begeistert, dass er auf einen 40 Meter hohen Baum klettern sollte, aber Thomas und Manuel waren dafür nicht sportlich genug. Also ließ er sich schließlich breitschlagen und machte sich auf den Weg zu dem Baum, den Thomas ausgesucht hatte. Kraftvoll begann er voller Energie zu klettern. Eigentlich war Jakob noch besser als er, aber der war ja leider nicht da. Schritt für Schritt versuchte Luca Halt zu finden und zog sich immer weiter hoch, bis er oben angekommen war. „Und“, fragte Thomas, „was siehst du?“ „Äääähhhhmmm“, überlegte Luca, „ich sehe da drüben einen… aaaaaaaaaaahhhhhhhhhhh!“ Die Freunde hörten ein Krachen, gleich darauf plumpste etwas auf den Boden. „Ist dir etwas passiert, geht es dir gut?“ Hektisch rannten Thomas und Manuel zu der Stelle, aus der das Geräusch gekommen war. „Was soll mir schon passiert sein, wenn ich von einem Baum falle“, knurrte Luca und klopfte sich den Staub von der Hose, „Dieser blöde Ast muss wohl schon morsch gewesen sein.“ „Oh, oh“ Thomas hatte Lucas Hosenbein hochgeschoben und tastete seinen Fuß ab. „Siehst du diesen Fleck da? Ich glaube das ist’n Bluterguss am rechten Knöchel.“ „Verdammt! Lass den Blödsinn! Du tust mir weh!“, schimpfte Luca. Manuel half Luca auf die Beine. „Und? Hast du wenigstens was gesehen?“ „Ja“, murmelte Luca und zeigte nach Süd-Westen, wo eine feine Rauchfahne zu sehen war. „Hier hinten muss wohl das Lager des Entführers sein. Dort finden wir bestimmt auch Jakob!“ Entschlossen drückte Thomas sich zum Stehen hoch: „Na gut, dann auf in diese Richtung!“ Luca humpelte zwar noch ein wenig, aber Manuel und Thomas stützten ihn, damit er nicht umfiel. So kamen sie langsam voran. „Seht ihr das? Es dämmert bereits“, sagte Thomas. „Ja“, meinte Manuel, „du hast recht.“ „Wir sollten uns schleunigst einen Unterschlupf für die Nacht suchen.“ Luca schaute sich ängstlich um. „Ob es hier wilde Tiere gibt?“ Sie teilten sich auf, damit sie bessere Chancen hatten, einen Platz für die Nacht zu finden. Manuel ging nach rechts, Luca gerade aus und Thomas nach links. Manuel wanderte über Wurzeln und Dreck und sah sich nach allen Seiten um, aber alles, was er sah, waren Bäume über Bäume. Die Drei hatten ausgemacht, dass sie sich nicht zu weit voneinander trennen sollten, und so musste Manuel wieder umkehren. Bei Thomas lief es ein wenig besser. Auch er musste durch Dreck wandern und sah nur Bäume. Das Superhirn, wie Thomas manchmal von seinen Kollegen genannt wurde, fand aber ein kleines Bächlein. Er lief sofort zurück, um den anderen zu berichten, was er gefunden hatte. Luca entdeckte zuerst auch nichts Besonderes. Doch nach ein paar Minuten fand er eine Felswand, in der eine Höhle eingelassen war. Und das war noch nicht einmal das Beste! Etwa 100 Meter neben der Höhle entdeckte Luca auch noch eine Quelle, von der sie trinken konnten. Er lief zurück zum Ausgangspunkt. - 60 - Thomas und Manuel warteten bereits auf ihn. „Und, habt ihr etwas gefunden?“, fragte Manuel. „Jap“, sagte Thomas, „ich hab einen Bach gefunden, und ihr?“ „Ich hab leider nichts gefunden“, murmelte Manuel, „und du, Luca, hast du etwas gefunden?“ Luca berichtete mit breitem Grinsen von seiner genialen Entdeckung. Die anderen waren begeistert. „Dann lasst uns hingehen“, meinte Thomas. Luca wusste den Weg noch genau und konnte seine Freunde so direkt ohne Umweg zur Höhle führen, die er gefunden hatte. Luca checkte, ob die Höhle nicht doch von einem wilden Tier oder so bewohnt war, während Manuel und Thomas ihren Mund vor lauter Staunen nicht mehr zu brachten. Er gab Entwarnung und die Freunde richteten es sich in ihrem Nachtlager ein. „Jetzt brauchen wir nur noch was zum Essen“, stellte Luca fest und schaute fragend in die Runde. „Das überlasst mal mir!“ Manuel ging los in Richtung dunklen Wald. Er nahm einen langen Stock, der auf dem Boden lag, und brach ihn mit einem schnellen und starken Tritt in zwei Hälften. Danach nahm er sein Taschenmesser, das er einmal von seiner Oma zu Weihnachten bekommen hatte, aus einem seiner vielen Säckeln an seinem Fahrradtrikot und spitzte damit einen der beiden Stöcke zu. Mit schnellen Schritten, die Waffe in der rechten Hand, lief er leichtfüßig in den dunklen Wald hinein. Manuel hatte ein Ziel vor Augen: erstens wollte er Jakob retten, zweitens Nahrung für diese Nacht finden und drittens Spaß haben auf der Jagd nach Nahrung. Thomas hatte gemeint, er sollte etwas Nahrhaftes fangen. Manuel überlegte, ob er vielleicht eine Eidechse aufspüren sollte, entschied sich dann aber dagegen. „Die ist ja viel zu klein! Davon werden wir nicht alle satt. Suchend ging er tiefer in den Wald. Er wollte einen Fisch fangen - oder ein Eichhörnchen! Die konnte man grillen und damit dafür sorgen, dass ihre hungrigen Mägen für eine Nacht - und vielleicht noch den ganzen nächsten Tag - gefüllt waren. Es war das erste Mal, dass er vor einer solchen Aufgabe stand. Er hatte keine Ahnung, wie er sich als Jäger anstellen würde. Luca und Thomas sammelten inzwischen Feuerholz und bereiteten den Schlafplatz vor. Sie legten den Boden der Höhle mit vielen und vor allem großen Blättern aus, die sie unterhalb eines Bananenbaumes fanden. Damit würde der kahle Felsen nicht so hart sein und außerdem würden sie auch ein bisschen wärmen. Thomas holte auch noch Decken aus Blättern. Zu guter Letzt ging er Früchte sammeln, falls Manuel nicht genug Tiere fangen würde, was Thomas insgeheim befürchtete. Inzwischen baute Luca eine Feuerstelle vor der Höhle auf. Er holte Steine und legte sie zu einem Kreis zusammen. Nachdem er dürres Feuerholz gesammelt hatte, türmte er die Äste hoch auf. Dank dieser Technik würde der Glutkegel größer werden, und wenn Manuel wirklich ein Tier erlegen würde … Luca hatte gerade seinen Feuerturm fertig, da kam Manuel langsam aus dem Wald. In der linken Hand hielt er seinen Stock, die rechte Hand zog er etwas am Boden. Luca lief ihm entgegen und traute seinen Augen kaum: Manuel hatte tatsächlich ein Reh erlegt! Gleich darauf kam Thomas mit ein paar Früchten angerannt und staunte: „Wow, wie hast denn das hingekriegt?“ „Alter, das Fleisch reicht bestimmt für einige Tage“, meinte Luca. Manuel grinste über das ganze Gesicht voller Stolz. Die drei bereiteten sich auf die Nacht vor. Sie aßen die Früchte, tranken ihr letztes Wasser und unterhielten sich. Nach ein paar Minuten, in denen alle ihren Gedanken nachhingen, fragte Thomas schließlich mit leiser Stimme: „Glaubt ihr, können wir Jakob überhaupt noch - 61 - retten?“ Luca nagte gerade am letzten Rest seiner Frucht. Erst nach einer längeren Pause antwortete er: „Hoffen wir es. Wenn nicht, sieht es nicht nur für Jakob schlecht aus. Auch für uns wäre es dann nicht viel besser.“ Wieder einmal wurden sie von den lauten Geräuschen der Tiere gestört, die aber nicht näher zu kommen wagten, denn ihr Feuer brannte vor dem Höhleneingang und das Brennholz sollte noch für die ganze Nacht reichen. Schließlich rollte sich Thomas auf dem Steinboden zusammen und zog seine Jacke enger um die Schultern. „Wir sollten jetzt eine Runde schlafen. Wir müssen morgen früh los.“ Die Freunde versuchten, seinen Rat zu befolgen, doch es wollte ihnen nicht wirklich gelingen. Zu ungewohnt war die Umgebung und die Angst davor, was sie am nächsten Morgen erwarten würde, raubte ihnen die Ruhe. Und auch die Tiere wurden nicht leiser. Trotzdem hielten alle ihre Augen fest geschlossen und jeder lauschte auf den Atem des anderen. Nur manchmal fluchte einer der drei, weil er endlich schlafen wollte. Kapitel 5 Jakob saß immer noch im dunklen Verhörraum der Männer die ihn entführt hatten. Er war hungrig und noch schlimmer war der Durst, der ihm die Zunge an den Gaumen klebte. Aber niemand gab ihm etwas zu essen oder zu trinken. Obwohl er kaum noch Hoffnung auf Rettung hatte und seine Stimme immer leiser wurde, schrie er immer wieder um Hilfe. Endlich flog die Tür auf und der Mann, der ihn auf das Motorrad gezerrt hatte, streckte den Kopf herein. Seine Miene verriet, dass Jakobs Geschrei ihm grässlich auf die Nerven fiel. „Was soll das Gejammere! Das hält ja keiner aus! Was muss ich dir geben, damit du Ruhe gibst?“ Jakob schöpfte neue Hoffnung. “Ich habe Hunger und Durst! Gib mir Wasser und irgendwas zu essen. Sonst will nichts!“ Der Mann starrte ihn minutenlang unbewegt an, bevor er erwiderte: „Wenn du mir die gewünschte Information gibst, lass ich dich auch nicht verhungern.“ Jakob schüttelte verzweifelt den Kopf. “Was soll ich dir denn verraten? Ich hab doch überhaupt keine Ahnung, was du von mir wissen willst!“ Seine Stimme nahm einen verzweifelten Klang an. Der Mann kniff die Augen zusammen und fixierte ihn aus den Augenschlitzen. „Du bist doch der Cousin von Fabian. Verrate mir alles, was du über ihn und den verschwundenen Koffer weißt.“ Jakob biss die Lippen so fest zusammen, dass auch diese bald zu bluten begannen. Er zuckte bei jedem Schlag, den er einstecken musste, ein wenig zusammen. Er wollte sich kleiner machen, um weniger Angriffsfläche zu haben aber es half absolut nichts. Sein Peiniger traf fest und hart. Jakob schrie auf, doch das produzierte noch mehr Schläge. Er blutete am ganzen Körper und auch das Auge war schon ganz angeschwollen, sodass er nur mehr eingeschränkt sehen konnte. Jakob hielt die Schmerzen nicht mehr aus, er gestand alles, was im gerade einfiel. Doch auch das brachte ihm nicht die gewünschte Erleichterung. „Sei still und erzähl mir nicht so einen Quatsch!“, blaffte ihn der Mann an. Wieder klatschte seine Faust gegen Jakobs Gesicht. Er glaubte ihm anscheinend nichts. Der Mann wurde immer wütender. Man sah schon die Adern in seinem Gesicht. Er fing an zu erklären: „Der Veranstalter des Radrennens, mein Geschäftspartner, hat mich beauftragt, euch vier auszuschalten denn ihr wüsstet über unseren Handel mit Dopingmitteln Bescheid. Deshalb bist du jetzt hier und wenn du nicht ausspuckst, was du weißt, wirst du - 62 - bald tot zu sein.“ Jakob entgegnete mit zittriger Stimme: „Aber ich weiß gar nichts über einen Drogenhandel …“ Der Mann schlug ihm neuerlich ins Gesicht. „Ich weiß, dass du etwas über uns weißt! Mein Informant ist zuverlässig. Er hat mich darüber informiert, dass dieser Junge uns bei unserem Geschäft beobachtet hat … dieser Fabian.“ Kapitel 6 Die Sonne kam schon hell leuchtend über den Horizont herauf. Als hätte ein Wecker sie aus dem Schlaf gerissen, wachten die Freunde gleichzeitig auf. Schnell packten sie alle Sachen, die sie noch hatten und setzten die Suche nach ihrem vermissten Freund fort. Es war schon einen ganzen Tag her gewesen, als Luca, Thomas und Manuel den Rauch entdeckt hatten. Ihre Hoffnung, Jakob zu finden und überhaupt lebend aus diesem Urwald heraus zu finden, wurde mit jedem Schritt kleiner. Doch aufzugeben und hier im tiefsten Urwald zu verrecken war keine Option. Alle hatten sich die Richtung, in die sie gehen sollten, um ihren Freund zu retten, gut eingeprägt. Dank Thomas hatten alle gut schlafen können und Lucas Fuß tat auch nicht mehr weh. Nur Manuel klagte über Rückenschmerzen. Gähnend traten sie aus ihrer Höhle ins Freie. Der Rauch war verschwunden und Thomas und Manuel wussten nicht mehr, wohin sie gehen sollten. Luca hatte sich aber die Richtung eingeprägt und ging voraus. Dabei machte Luca der Dschungel selbst Angst. Doch er versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen. Während sie so vor sich hin trotteten, dachten sie über ihre Situation nach. Plötzlich sagte Thomas: „Können wir uns nicht einfach nur hier hinsetzen und auf Hilfe warten?“ Manuel schüttelte den Kopf. „Niemand würde uns finden. Wenn wir aufgeben, werden wir sterben.“ Thomas streckte den Rücken durch. „Okay. Dann gehen wir einfach weiter.“ Er schluckte trocken. Wenn er schon sterben musste, dann wollte er bestimmt nicht tatenlos darauf warten. Die Füße brannten. Mit jedem Schritt wurden die Schmerzen größer. Man konnte es den Füßen und Schuhen bald ansehen, wie weit sie schon gelaufen waren. Nach gut fünf Kilometern entdeckten die drei Jungs plötzlich etwas Unglaubliches. Da waren tatsächlich die Reifenspuren des Motocross am Boden! Aufgeregt folgten sie den Spuren und fanden kurz darauf eine verlassene Feuerstelle. Thomas streckte die Hand vorsichtig aus und berührte den schwarz gefärbten Boden. „Die Asche ist kalt“, stellte er fest. „Das heißt, sie sind schon mehrere Stunden weg von hier.“ Sie sahen sich an der Feuerstelle noch ein bisschen um, aber alles, was sie fanden, war ein Baumstamm, der als Sitzgelegenheit diente und Blut, das an einem Baum klebte. „Ob das von Jakob stammt?“, fragte Luca mit banger Stimme. „Ist er womöglich …?“ Thomas wollte den Satz nicht beenden, doch alle drei Freunde sahen sich betreten an. „Das kann nicht sein“, warf Manuel ein. „Dann müssten wir doch irgendwo seinen Körper finden. Oder?“ Er drehte sich einmal um die eigene Achse. „Daran dürfen wir gar nicht einmal denken!“ Trotzdem machte sich Hoffnungslosigkeit breit. Als die Drei niedergeschmettert auf dem Baumstamm saßen und mit einem Stock, den Luca neben dem Feuer gefunden hatte, Kreise in die feuchte Erde zeichneten, hörten sie von weitem einen Lärm. „Das ist ein Motocross!“, rief Manuel und riss damit auch die anderen Zwei aus ihrer Versunkenheit. „Von hier kommt der Fahrzeuglärm!“ Er deutete in die Richtung, aus der das Geräusch zu hören war. Alle sprangen vom Sitzen hoch. Ohne irgendetwas auszuhandeln oder zu überlegen, - 63 - starteten sie in die Richtung. Luca lief voran und gab das Tempo an. Die Sonne stieg immer höher und brannte unbarmherzig auf das trockene Land herunter. Thomas’ Magen knurrte so laut, dass Manuel, der hinter Thomas ging, es deutlich hörte, auch er hatte schon mächtigen Hunger. Es war ja nicht viel, was sie gegessen hatten. Es musste schon bald Mittag sein, die Sonne stand hoch am Himmel und leuchtete unbarmherzig auf alle. Da blitzte es hinter einem verdorrten Busch. Manuel schob die dürren Äste weg, die mit einem leisen Krachen zerbrachen. Darauf zog Thomas ein Motocross heraus. Aufgeregt schaute er sich um, ob nicht noch irgendjemand in der Nähe war, der das Gefährt hier versteckt hatte. Doch es war aber weit und breit niemand zu sehen oder zu hören. Thomas untersuchte das Motorrad. Bis auf einige dünne Äste, die noch in den Speichen hingen, schien es in Ordnung zu sein. Wer mag es wohl zurückgelassen haben? Und warum hatte er es versteckt? „Mit dem Motorrad könnten wir viel schneller unterwegs sein!“ Thomas hievte das blitzende Gefährt zum Stehen hoch. Luca war auch sofort Feuer und Flamme. „Und außerdem ist es nicht so anstrengend wie zu Fuß“, rief er und versuchte, sich auf den Sattel zu schwingen. „Genau! So könnten wir Jakob viel schneller finden!“ Manuel klatschte vor Begeisterung in die Hände. Gleich darauf war ihre Hoffnung aber zerstört, als sie bemerkten, dass kein Benzin mehr im Tank war. „Jetzt wissen wir auch, warum die Männer es hier liegen gelassen haben.“ Enttäuscht ließen sie es im Gestrüpp zurück und machten sich wieder zu Fuß auf den Weg. Es war hart, die Hoffnung auf einen fahrbaren Untersatz zu begraben. Aber es half nichts. Das nutzlose Motocross mitzunehmen, wäre unsinnig gewesen. Sie benötigten die Kraft, um den Fußmarsch zu schaffen. So gingen sie weiter. Nach gefühlten sechs Stunden kamen sie erschöpft und müde an einem breiten Fluss an. Da sie keine Brücke fanden, gingen die drei Kumpel den Fluss entlang. Voll Freude entdeckten sie ein gestrandetes Boot. Natürlich sprangen sie sofort hinein und konnten kaum glauben, was sie da sahen: Überall waren Lebensmittel verstreut. Die meisten waren zwar schon verdorben, doch es gab auch welche, die man noch essen konnte. Sie füllten in einen Rucksack alles Nützliche, was zu fanden: drei Flaschen Mineralwasser, einige Dosen Sardinen, eine Packung fast steinharter, alter Semmeln und eine Stange Salami. Danach stiegen alle drei hintereinander in das Boot und fuhren voller Erwartungen los. Nach einiger Zeit bemerkte Manuel ein seltsames Rauschen, das er am Anfang nicht besonders ernst nahm. Doch als es immer lauter wurde, fragten sich die Freunde, was das sein könnte. Thomas war am Anfang nicht ganz sicher, aber schließlich war er davon überzeugt, dass sie mit ihrem Boot auf einen Wasserfall zusteuerten. Hektisch versuchten sie, sich ans Ufer zu retten, aber die Strömung riss sie immer weiter mit – unaufhaltsam kamen sie dem Wasserfall näher. Sie schafften es einfach nicht, gegen die Strömung anzukommen. Je mehr sie dagegen ankämpften, desto schneller ging ihnen die Kraft aus und so riss sie die Strömung unaufhörlich Richtung Wasserfall zu. Je näher sie auf das Gefälle zutrieben, umso lauter klatschte das Wasser auf die Felsenschlucht. Hilflos wurden sie vom Strom erfasst und stürzten schließlich kopfüber hinab in einen See. Prustend undkeuchend tauchte einer nach dem anderen wieder an der Oberfläche auf. Hektisch kämpften sie sich schwimmend ans Ufer und ließen sich erschöpft auf die Böschung fallen. Zum Glück war keiner von ihnen verletzt worden! Sie konnten es noch gar nicht richtig fassen, dass sie den Sturz über den Wasserfall in den See überlebt hatten und zitterten vor Kälte und Angst. Einige Zeit lagen sie noch atemlos am Schlammufer da, ohne etwas sagen zu können. Dann rafften sie sich auf und wanderten abwärts entlang des Flusses. Es war anstrengend, durch den Schlamm zu waten und sehr bald waren sie ganz außer Atem. - 64 - Erst das Schwimmen und nun der Lauf am Ufer entlang forderten die letzten Kraftreserven von ihnen. Plötzlich hörte Thomas ein seltsames Geräusch. Obwohl sie nicht herausfanden, was die Ursache dafür sein könnte, beschlossen sie, dem geheimnisvollen Lärm zu folgen. Vielleicht war es ja eine Spur zu Jakob! Bald schon war klar, dass es sich um Stimmen handeln musste. Schon konnten sie einzelne Worte: verstehen. Da rief jemand um Hilfe! Und die Stimme klang, obwohl sie schon ein wenig heiser zu sein schien, vertraut. Entgeistert stoppten sie und starrten einander an. Das war eindeutig Jakob! Kapitel 7 Die drei liefen mit ganzer Kraft auf ihn zu, denn sie wollten Jakob um jeden Preis retten. Der Faustschlag traf Luca völlig überraschend aus dem Hinterhalt. In ihrer Freude, Jakob lebend gefunden zu haben, hatten sie nicht wahrgenommen, dass der Entführer sie längst kommen gehört hatte. Dem ersten Schlag konnte Luca dank seiner schnellen Reflexe noch ausweichen. Doch beim nächsten war er chancenlos. Es stand drei gegen drei – denn auch die Entführer waren zu dritt. Doch die Jungs waren entkräftet und von ihrer abenteuerlichen Verfolgungsjagd erschöpft. Die Männer hatten ein leichtes Spiel mit ihnen. Einer der Entführer schlug Thomas ein blaues Auge, wodurch dieser zu Boden ging. Manuel bückte sich gerade, um ihn mit beiden Händen hochzuziehen, da bekam er einen so heftigen Tritt gegen sein Schienbein, dass er laut aufschrie. Auch Luca wehrte sich mit seiner ganzen Kraft. Doch sein Angreifer kam mit einem Seil und schließlich waren alle Vier gefangen genommen. Sobald einer flüchten wollte und einen großen Schritt machte, riss er die anderen dabei zu Boden. Am Ende ihrer Kräfte waren sie mit roten und blauen Flecken übersät und lagen bewegungsunfähig am Boden. Der Mann, der gerade die letzte Fessel festmachte, begann auch gleich mit seinem Verhör. „Ich kann euch nur raten, euch kooperativer zu zeigen, als euer Freund hier.“ Er trat Jakob gegen die Seite, der sich mit einem heiseren Schrei krümmte. Thomas, Luca und Manuel rissen erschrocken die Augen auf. „Aber wir wissen doch überhaupt nichts!“, stammelte Luca und versuchte dem Schlag auszuweichen, der augenblicklich auf seinen Ausruf folgte. „Dieser kleine Idiot … wie hieß er noch einmal? Fabian? Der hat euch doch eine SMS geschickt!“ Der Mann baute sich drohend vor den Freunden auf. „Er hat euch doch alles von unseren Plänen verraten!“ Weil die Freunde kein Wort sagten, schrie sie der Mann an: „ Los, jetzt redet schon! Oder soll ich euch abknallen wie die kleine verräterische Ratte!“ Die vier duckten sich und sahen einander ratlos an. Auf einmal entdeckte Luca ein kleines Taschenmesser auf dem Boden. Er versuchte es zu erwischen. Aber so sehr er sich streckte, er kam trotzdem nicht ran. Doch während der Mann herumschrie und mit seiner Waffe vor ihnen herumfuchtelte, hatte Jakob die Gelegenheit, um nach dem Messer zu greifen. Jakob schnitt vorsichtig seine Fesseln durch, ließ aber die Hände trotzdem noch hinter dem Rücken, um nicht aufzufallen. Als der Mann kurz wegging, nutzte er die Chance. Er sprang den Entführer von hinten an und rammte ihm das Messer in den Rücken. Der Mann fiel wie ein Baum auf den Boden und Jakob rannte zu seinen Freunden, um ihnen die Fesseln durchzuschneiden. Dabei schaute er sich hektisch nach den anderen Entführern um, die aber nirgendwo zusehen waren. Der Mann lag immer noch am Boden und Jakob nutzte die Chance und rannte mit seinen Freunden auf das Geländefahrzeug zu, das am Straßenrand geparkt war. Schon sahen sie - 65 - die anderen Entführer auf sich zu rennen. Luca sprang in das Fahrzeug und deutete den anderen, auch einzusteigen. Der Schlüssel steckte! Hektisch löste er die Handbremse und drehte den Zündschlüssel um. Ein paar Mal hatte er schon mit Großvaters altem Lastwagen eine Runde drehen dürfen. Ob er allerdings dieses Hightech-Gerät lenken konnte, war eine andere Frage! Aber er musste es wenigstens versuchen! Sie wollten nicht schon wieder gefangen genommen werden! Diesmal würden sie nicht mit dem Leben davon kommen! Davon waren alle vier Freunde überzeugt. Der Wagen machte einen Sprung nach vorne. Dann starb der Motor ab. Thomas schrie auf und auch Manuel stöhnte auf. Jakob war von den Schlägen noch viel zu benommen, um etwas mitzubekommen. Er lag nur zusammengekrümmt und stöhnend auf dem Rücksitz. Luca fluchte. Die Kupplung war einfach ganz anders als bei Opas Klapperkiste! Im Rückspiegel sah er, dass seine Verfolger das Auto beinahe erreicht hatten. In der Sonne blitzten ihre Waffen, die sie bereits auf sie gerichtet hatten. Endlich sprang der Motor stotternd wieder an. Luca legte den ersten Gang ein und trat gleichzeitig das Gaspedal durch. Der Motor heulte auf. Gleichzeitig drehten die Räder durch und wirbelten eine Sandfontäne auf. Die Männer waren in eine Staubwolke gehüllt. Luca hörte sie laut fluchen. Er hatte ein paar wertvolle Sekunden gewonnen! Noch einmal trat er aufs Gas und ließ das Kupplungspedal los. Der Wagen schoss los und Luca schrie auf. Mit einem Jubelruf lenkte er das Fahrzeug auf die Straße und raste in irgendeine Richtung davon. Kapitel 8 Wie durch ein Wunder stießen die vier Freunde auf die Radrenntruppe, die sie vor einer gefühlten Ewigkeit aus den Augen verloren hatten. Luca trat auf die Bremse und die vier Freunde rannten, wild mit den Armen fuchtelnd, in Richtung Ziellinie. Im Zielraum warteten schon jede Menge Zuschauer auf die Ankunft der Teilnehmer des Radrennens. So wurden auch die Streckenposten auf die ungewöhnliche Truppe aufmerksam. Besorgt liefen sie ihnen entgegen und nahmen die erschöpften Jungs in ihre Obhut. Als ihre Verfolger ebenfalls dort ankamen, wurden sie schon von Polizisten erwartet. Nach einem hart geführten Verhör gestanden die Männer ihre Taten und verrieten auch ihre Auftraggeber. Daraufhin nahm die Polizei den Veranstalter des Rennens auch gleich in Haft. Luca, Thomas, Manuel und Jakob hatten das Rennen zwar verloren, waren aber glücklich, mit dem Leben davon gekommen zu sein. Ihre teuren Rennräder blieben allerdings im Dschungel verschwunden … - 66 - - 67 - Prolog Es ist kalt. Langsam wache ich auf und starre an die Decke eines kahlen Raumes. Ich bin verwirrt. Geschockt sehe ich meine Hände und Beine, die mit einem Stück Stoff gefesselt sind. Ein Traum? Nein, die pure Realität. Verzweifelt rufe ich um Hilfe. Ich höre Schritte, die immer näher kommen. Es muss eine Frau mit High Heels sein, die wütend die schwere Tür hinter sich zuschlägt. „Hallo?“ rufe ich ängstlich. Ein dunkler Schatten erhebt sich vor mir. Angestrengt versuche ich, die Person zu erkennen, aber es ist zu dunkel. „Na, wie gefällt es dir denn hier, Zara?“ spricht sie. In dem Moment läuft mir ein kalter Schauer über den Rücken, denn die Stimme ist mir sehr bekannt. „Du!? Wie kannst du mir das nur antun …?“ Aber statt einer Antwort bekomme ich nur ein Tuch auf den Mund gepresst … Kapitel 1 Es war Winter. Zara Montepellier saß mit einer Schüssel Obstsalat zugedeckt auf der neuen Designercouch vor dem Fernseher. „… Und wir freuen uns auch schon darauf, Ihnen morgen die Modenshow der neuen Winterkollektion von H&M präsentieren zu können. Als Höhepunkt wird das berühmte Model Zara Montepellier auftreten“, hörte man den Moderator von Punkt12 sprechen. Zara lächelte in den Fernseher, während sie einen Bissen von der Banane nahm. Ihr Chihuahua Gina wedelte mit dem Schwanz. Plötzlich hüpfte sie mit Schwung auf Zara, der vor Schreck die Schüssel ins Gesicht klatschte. *RING RING*. Auf dem Desktop ihres Laptops, den sie auf ihrem Schoß stehen hatte, tauchte eine Videobotschaft von ihrem Freund Marco auf. Sie bewegte ihren Finger auf dem Touchpad zum Botton „annehmen“ und klickte ihn an. „Hallo Maus. Ich wollte dich nur schnell daran erinnern, dass heute noch die Generalprobe für deinen morgigen Auftritt ist.“ Zara lächelte. „Ich weiß. Der Bericht bei Punkt12, den ich gerade gesehen habe, hat mich daran erinnert.“ Wie süß, dass er daran gedacht hatte. Zara liebte Marco für seine Aufmerksamkeit. „Tschüss bis morgen!“, flötete sie und suchte dabei seinen Blick. „Tschüss, und Zara!? Du hast da noch etwas an der Wange!“ Jetzt lächelte er. „Nein, wirklich?“ Hektisch wischte sie mit dem Handrücken übers Gesicht. Dieses Biest! „Frage doch Gina diesen Bengel ... äähm, ich meine Engel, warum.“ Zara konnte es nicht leiden, nicht perfekt zu sein. Zorn stieg in ihr hoch und sie drückte den Knopf, um das Gespräch zu beenden. Als nächstes schupfte sie Gina von ihrem Schoß, die es sich gerade gemütlich gemacht hatte. Wütend verließ sie den Raum und begab sich ins Bad, um sich den Obstsalat vom Gesicht zu waschen. Mit offenen Haaren ging Zara auf ihren Lieblings-High-Heels aus dem Hotel. Ihr Chauffeur hielt ihr bereits die Tür der Limousine offen. „Hi Jenny!“ Zara und Jenny gaben sich rechts und links ein Küsschen. „Wie gefallen dir meine Haare?“ „Hallo Zara. Wie immer: TRAUMHAFT! Da kann ich nicht mithalten!“, antwortete Jenny leicht genervt. - 68 - „Danke. Aber deine sind auch nicht schlecht.“ Jenny griff nach dem bereits vorgekühlten Champagner und schenkte sich und Zara ein Glas ein. Nach 10 Minuten Fahrt hielt die Limousine vor der großen Modelfirma MarLena&Co stehen und der Chauffeur öffnete ihnen die Tür. Bein vor Bein gingen die beiden Richtung Eingang. Hinter den Topmodels hörte man nur den Lärm der vorbeifahrenden Autos. Marco wartete schon vor der Eingangstür und empfang Zara mit einem zärtlichen Kuss. Jenny warf den beiden neidische Blicke zu. Mit verkniffenen Lippen folgte sie dem Paar in die Garderobe, wo schon die Klamotten für den morgigen Auftritt bereit lagen. „So, ich geh und schau, ob ich Marlene und Lena, die Organisatoren, treffe, um ihnen Bescheid zu geben, dass wir schon hier sind“, sagte Marco zu Zara. „Okay, tu das. Bis dann!“ antwortete sie. Jenny und Zara gingen in die Garderobe und zogen sich um. Alles lief super, doch plötzlich nahm Jenny das Kleid, das eigentlich für Zara bestimmt war. „Ähm, kannst du mir bitte das Kleid geben?“ fragte Zara verwundert. „Nein! Das passt viel besser zu meinen Typ. Übrigens genauso wie Marco. Ein Wunder, dass er dich genommen hat!“ Jenny fauchte wie eine Wildkatze auf der Jagd. „Was bitte?“ Mit Tränen in den Augen sprang Zara auf und klatschte ihr zornig eine Ohrfeige ins Gesicht. „Spinnst du komplett? Du hast Glück, dass ich jetzt auf die Bühne muss. Aber da ist das letzte Wort noch nicht gesprochen!“, schrie sie ihre beste Freundin an und verließ die Garderobe. Kaum war sie vor der Tür, packte sie schon das schlechte Gewissen. „Oh Gott, was hab ich getan? Sie hat das wahrscheinlich nicht so gemeint. Und ich? Ich verpasse ihr eine Ohrfeige! Sobald sie wieder hier ist, entschuldige ich mich bei ihr“, dachte Zara. Erschüttert ging sie in ihre Garderobe, wo sie sich umziehen wollte. Erschrocken stieß sie einen lauten Schrei aus. „Fritz, was machst du hier? Hab ich dir nicht klar und deutlich gesagt, dass ich nichts mehr von dir will. Das war ein einmaliger Ausrutscher! Und jetzt RAUS!“ Zaras Stimme überschlug sich förmlich. „Du wirst schon noch sehen, was du an mir verloren hast. Das wird dir eines Tages leid tun und du wirst zu mir zurück gekrochen kommen, aber nicht mit mir. Ich werde dir nicht noch einmal helfen!“ sagte Fritz aufbrausend. Zara jedoch blieb hart und zeigte mit ihrer Hand Richtung Tür. Mit seinen großen Goldketten und einer schwarzen Lederjacke ging der Mann aus der Garderobe. „Verrückt muss man sein.“ redete Zara vor sich hin, als sie gerade das letzte Kleid anzog. Mit den Gedanken, wie sie sich bei Jenny entschuldigen solle, versuchte sie, den Reißverschluss zu schließen. Doch irgendetwas störte ihre Gedanken. Es waren Schritte, die nur jemand verursachen konnte, der flache Schuhe trug. „Hallo, ist da jemand?“, rief Zara mit ängstlicher Stimme. Doch sie bekam keine Antwort. Ein Quietschen, das in ihren Ohren Schmerzen verursachte, war zu hören. Voller Angst drehte sie sich hin und her. Zara konnte niemanden sehen. Nochmals rief sie Hallo, aber sie bekam keine Antwort. Sie sah zur Seite. „Da! Hier hat sich etwas bewegt. Kommen Sie raus, wer auch immer Sie sind!“ Sie nahm einen Schuhlöffel und näherte sich der Bewegung. Plötzlich spürte sie einen harten Griff auf ihren Lippen. „Mmmmmmmh!“ wimmerte Zara, als sie zu schreien versuchte. Mit den Füßen trat sie nach hinten, verzweifelt versuchte sie sich zu wehren. Der Angreifer drehte ihr die Hände nach hinten. Sie spürte ein feuchtes Tuch, das auf ihren Mund gepresst wurde. Als Zara nach Luft rang, stieg ihr ein bitterer, nach Schnaps riechender Duft in Nase und Lungen. Sie wurde auf einmal müde. Trotzdem strampelte sie weiter. Doch ihre Kräfte ließen nach. Müder und müder und müder und ... ihre Augen schlossen sich. Ihr Körper wurde schwer und sie stürzte in eine unendliche Tiefe. Bevor sie auf dem Boden aufschlug, fühlte sie sich von kühlen Händen auffangen. - 69 - Kapitel 2 Jenny lugte hinter den Vorhang. Draußen im Publikum wurde unruhig getuschelt. Die Gäste sahen sich fragend um, denn dem Zeitplan nach sollte Zara schon längst aufgetreten sein. Doch Zara war verschwunden. Nun musste jemand anderes für sie auftreten. Doch das war nicht so einfach, Zara war nämlich das Topmodel schlecht hin. An ihren Auftritt heranzukommen, schaffte so schnell nicht jemand. Jenny zog den Vorhang wieder zu, der sie von den neugierigen Blicken der Zuschauer schützte und ging hinter der Bühne auf und ab. Obwohl sie vor Anspannung ganz kribblig war, holte sie sich erst einmal ein Glas Wasser. Sie hatte gerade angesetzt um zu trinken, als Barbara, die Sekretärin, auf ihren hohen Stöckelschuhen angaloppierte und mit gehetztem Blick vor ihr stehen blieb. „Jenny, du bist die Einzige, die die Show noch retten kann! Sonst hat keiner dieselbe Größe wie Zara! Ich flehe dich an! Ich weiß, dass du schon einen Auftritt hattest und deswegen sicher schon erschöpft bist, aber du bekommst dann natürlich auch das doppelte Geld für deinen Auftritt. Nun schau mich doch nicht so an und sag etwas, du redest doch sonst auch immer so viel!“ Jenny konnte es kaum fassen, dass Babsi sie fragte. Sie fühlte so ein gewaltiges Glücksgefühl, dass ihr das Glas fast aus der Hand gerutscht wäre. Wie angewurzelt stand sie da und überlegte, was sie wohl tun sollte. Aber Barbara ließ ihr nicht lange Zeit und schrie hysterisch: „ Menschenskind, du hast vielleicht Nerven, rede doch mit mir, sonst frage ich eben Lydia, wenn du nicht willst. Unsere Schneiderin wird zwar in der kurzen Zeit nicht alles so ändern können, dass Lydia in Zaras Kleidungsstücke passt, aber zur Not müsste es dann eben so gehen …!“ Das wirkte. Jenny riss sich von ihren Gedanken los. „Ach Babsi, krieg doch nicht gleich die Krise. Natürlich werde ich mir die Zeit für einen zweiten Auftritt nehmen. Es ist doch mein Beruf …“ Weiter kam sie nicht, denn Barbara hatte sie schon in die Garderobe gezerrt und redete unentwegt von der Chefin und wie stolz sie auf ihre Mädels sein würde. Die Chefin war beunruhigt, seit sie auf das Verschwinden von Zara hingewiesen worden war, und hatte die Polizei verständigt. Nun stand sie gerade auf der Bühne und sprach mit ihrer Kollegin über den Vorfall. Jenny wartete in der Garderobe und betrachtete Zaras Kleider. Ohne Zweifel, Zara hatte viel mehr Kleider als sie - und teurer schauten sie auch noch aus. Sie konnte ihr Glück kaum fassen. Sie würde heute das Schönste selber tragen und Zara konnte sich inzwischen auf ihren Untergang in der Modewelt gefasst machen! Ja, sie, Jenny, würde ihren Platz einnehmen! Ein schwaches blaues Licht blinzelte hinter dem dunklen Tannenwald hervor. Gleich darauf ertönte das ohrenbetäubende Heulen eines Signalhorns. Für ein paar Sekunden glotzten die Gäste perplex auf das Polizeiauto, aus dem vier uniformierte Männer sprangen. Diesem Auto folgten weitere zehn. „Das Gelände ist abgesichert! Bewahren Sie Ruhe und verlassen Sie geordnet das Gebäude!“ Blechern schallten die Befehle aus Lautsprechern durch den Saal. Nur zwei blieben noch hinter der Bühne. Jenny und Marco. Marco durchwühlte Zaras Umkleideschrank nach Hinweisen auf ihr Verschwinden. Doch er fand nur ein rotes mit Diamanten besetztes Kleid, ein dutzend Paar Schuhe und viele andere teure Sachen, die Zara gehörten. Eines nach dem anderen flog aus dem Schrank, doch Marco konnte nichts finden, das ihm weiterhelfen könnte. Gerade als er unter dem Schreibtisch ein weißes Tuch hervorholte, kam Jenny lässig die Tür hereinspaziert und lehnte sich gegen die Tischkante. Blitzschnell steckte er das Tuch in seine Hosentasche. Marco fixierte sie mit zusammengekniffenen Augen. „Was willst du hier? Ich kann deine - 70 - Hilfe nicht gebrauchen!“ Jenny zog einen Schmollmund. „Ach, ich bin doch genauso traurig wie du, dass Zara verschwunden ist“, säuselte sie. „Ach ja, natürlich, und das soll ich dir jetzt glauben? Du hast sie noch nie gemocht. Das Theater kannst du dir sparen!“, fuhr er sie zornig an. Jenny drückte auf die Tränendrüse und schon liefen erste Tropfen die Wange hinunter. Es wirkte. Marco tat seine schroffe Reaktion sofort leid. Er nahm sie in den Arm und flüsterte ihr ein paar tröstende Worte ins Ohr. Jenny hielt ihn bei der Schulter fest: „Bitte, lass mich mitkommen.“ Als Marco nickte, hauchte Jenny ihm einen Kuss auf die Wange, rauschte aus dem Zimmer und rief ihm noch zu: „ Wir treffen uns in zehn Minuten.“ Marco schaute ihr verdattert hinterher. Hatte er ihr gerade erlaubt mitzukommen? Er drehte sich um und sah eine Flasche, die in einem Handtuch eingewickelt war. Er erkannte das Fläschchen und wusste sofort, was es war: Ein Betäubungsmittel! Wie bei einem Puzzle fügten sich die Teile zu einem Bild zusammen. Er konnte sich die Entführung bildlich vorstellen. Marco nahm das Tuch, das er vorhin in seine Hosentasche gegeben hatte und betrachtete es genauer. Als er das Stückchen umdrehte sah er, dass auf der anderen Seite ein kleiner Teil eines Seidenschals klebte. Dieser Fund passte nicht ganz zu seiner Vision. Marco wollte zuerst gar nicht, dass Jenny ihn begleitete, aber sie konnte manchmal so richtig nerven. Wenn sie etwas wollte, bekam sie das auch. Früher, als sie noch klein war, wollte sie unbedingt Model werden, doch ihr Vater ließ das anfangs nicht zu. Denn er bestand darauf, dass seine einzige Tochter, die alles für ihn bedeutete, einen richtigen Beruf erlernt. Aber sie bearbeitete ihn solange, bis er einwilligte – auch wenn es einige Jahre brauchte. Und jetzt war sie eines der berühmtesten Models. Das gleiche wie bei ihrem Vater versuchte sie nun also auch bei Marco. Doch der erwies sich als widerstandsfähiger, als Jenny erwartet hatte. Egal was sie tat, ob sie ihn mit ihren süßen Hundeaugen ansah, oder solange redete bis sie keine Luft mehr bekam, er ließ sich nicht überreden. Doch schließlich musste er einsehen, dass er so oft nein sagen konnte wie er wollte, sie würde nicht aufhören, bis sie ihren Willen hatte. „Na endlich! Ich dachte schon du würdest nie nachgeben.“ Erleichtert fiel sie ihm um den Hals. Marco schüttelte sie grob ab. So eine Behandlung war Jenny nicht gewöhnt. Sie holte tief Luft und zickte los, bis Marco ihr mit einer ungeduldigen Handbewegung das Wort abschnitt. „Jenny, jetzt halte endlich mal die Luft an! Schon vergessen? Wir müssen so schnell wie möglich Zara finden! Was ist, wenn ihr in diesem Augenblick etwas angetan wird?“ Er packte sie an den Schultern und schüttelte sie, weil sie immer noch nicht zuzuhören schien. Erst als er ihr den Rücken zukehrte und ohne ein weiteres Wort die Zimmertür ansteuerte, wurde ihr bewusst, dass ihr Gezeter bei Marco nicht die erwünschte Wirkung hatte. Sie lief ihm nach und hängte sich bei ihm ein. „Wo gehst du hin? Sei nicht böse auf mich! Ich komme ja schon!“ Mit ihrem berühmten Augenaufschlag lächelte sie ihn an und boxte ihn mit gespielter Entrüstung gegen den Oberarm, als er hörbar aufseufzte, ihr dann aber doch die Tür aufhielt, um sie vor ihm hinaus zu lassen. Marco saß am Steuer und starrte gerade aus. Der Gegenverkehr rauschte an ihnen vorbei und blendete ihn in den Augen. Er blinzelte und warf einen Seitenblick auf Jenny. Wie gut, dass er nun doch nicht alleine nach Zara suchen musste und sie ihn begleiten wollte. Schnell lenkte er seinen Blick auf die Straße zurück, als sie merkte, dass er sie anstarrte. Ihre Augen blitzten auf, als ein Auto nur wenige Zentimeter entfernt an ihnen vorbeirauschte. - 71 - Jenny stöhnte: „Ach Marco, ich weiß, dass du dich schlecht fühlst, aber bitte schau auf die Straße, wenn du keinen Unfall bauen möchtest!“ Marcos Blick pendelte weiter zwischen ihr und der Straße hin und her. Eine Weile fuhren sie schweigend durch einen dunklen Wald. Auf einmal fing Jenny an zu jammern: „Marco, ich habe Angst. Es hätte genauso gut auch mich treffen können. Was ist, wenn es dieser Attentäter vielleicht auch auf mich abgesehen hat?“ Marco reagierte nicht sofort, aber schließlich antwortete er in einem angespannten Ton: „Komm schon, ich werde schon aufpassen.“ Als er bemerkte, dass er nicht sehr überzeugend geklungen haben musste, fügte er sanfter hinzu: „Natürlich brauchst du keine Angst zu haben. Ich beschütze dich.“ Jennys erleichtertes Lächeln bestätigte ihm, dass er das Richtige gesagt haben musste. Nach einer Weile fing sie wieder zu reden an: „Wenn ich dir helfe, Zara zu finden, bin ich immer bei dir, damit du mich beschützen kannst!“ Marco zog die Augenbrauen hoch und trat augenblicklich fester aufs Gas. Dennoch antwortete er: „Okay. Wenn es dir dann besser geht … aber steh nicht blöd im Weg herum.“ Jenny klappte den Mund auf, klappte ihn aber gleich darauf wieder zu. Wenn sie ihn begleiten wollte, musste sie auf ihn hören, so viel war klar. Sie bogen auf eine holprige Landstraße ein und nun funkelten ihnen nur noch die Sterne entgegen. Jenny nahm ihre Handtasche und kramte darin herum. Als sie endlich gefunden hatte was sie suchte, schloss sie die Tasche und stellte sie wieder auf den Boden des Autos. Marco blickte wieder zu ihr rüber, und sah einen Lippenstift in ihrer Hand. Als sie gerade ihre Lippen nachzog, machte er einen Schlenker mit dem Auto und sie malte weit über ihre Lippen hinaus. Er grinste und warf ihr noch einen Blick zu. Als sie beleidigt drein schaute, erwiderte er schnell: „Du siehst müde aus, da hilft schminken auch nichts.“ „Ähm, danke?“ sagte Jenny sarkastisch. „Entschuldige Jenny, das habe ich so nicht gemeint. Aber du musst mich verstehen, ich bin schon den ganzen Tag auf den Beinen und bin extrem müde. Ich mach mir einfach Sorgen um Zara. Was ist, wenn ihr etwas passiert ist?“ Marco sah ehrlich besorgt aus. „Lass uns doch zu mir nach Hause gehen. Ich wohne gleich um die Ecke“, schlug Jenny vor. Fünf Minuten später parkten sie in der Tiefgarage. Ohne ein Wort miteinander zu reden, gingen sie in Jennys Wohnung. Sie war sehr modern eingerichtet. Im Wohnzimmer hatte man einen tollen Ausblick auf den Eifelturm und es roch nach dem Parfum, das Jenny immer trug. „Okay, dann mach ich mich mal auf den Weg nach Hause. Tschüss und Danke für alles!“, sagte Marco und wollte die Tür hinter sich schließen. Doch Jenny stemmte ihren Fuß gegen die Tür. „Willst du denn nicht hier bleiben? Du siehst fertig aus und könntest einen Espresso vertragen!“ Jenny lächelte ihn verführerisch an. Nach kurzem Zögern stimmte Marco zu. „Mach es dir gemütlich und fühl dich wie zu Hause!“ Jenny machte sich auf den Weg in die Küche. Während sie Kaffeewasser zum Kochen brachte, schraubte sie eine kleine Flasche auf, die sie aus dem Schränkchen über dem Herd genommen hatte, und tropfte drei Tropfen in den Kaffee. Ein Gefühl sagte ihr, dass es nicht richtig sei, ihm die k.o.-Tropfen zu geben. Musste sie ihn denn wirklich betäuben, um ihn ins Bett zu bekommen? Sie musste doch nur ihre Reize einsetzen … Trotzdem rührte sie weiter sorgfältig mit einem polierten Teelöffel aus Silber um, damit alles gut verteilt war. Mit einem Lächeln stellte sie ihm den Kaffee auf den Tisch. Nervös zog sie an ihrer Baumwollweste und setzte sich schließlich neben Marco. „Möchtest du nicht einen Schluck trinken?“ Sie beobachtete Marco genau, ob er wirklich alles hinunterschluckte. Plötzlich wurde ihr schlecht. „Entschuldige mich!“ sagte sie und lief ins Badezimmer, wo - 72 - sie die Tür hinter sich zuschloss. Sie setzte sich hin und lehnte ihren Körper gegen die Tür. Irgendwie bereute sie es, was sie getan hat. „Warum? Warum bin ich nur so blöd!“, dachte sie. Eine innere Stimme sagte ihr, dass sie es Marco erzählen sollte. „Alles in Ordnung?“, fragte Marco von außen. „Ja, ich dachte nur, dass ich mich übergeben muss!“ Sie stand auf und öffnete die Tür. „Aber ich habe mich wohl getäuscht!“ Sie sah, wie Marco sie erleichtert ansah. Da schnürte ihr das schlechte Gewissen die Kehle zusammen. Sie musste es ihm einfach sagen! „Was ist denn jetzt los? Hast du etwas zu beichten?“ Marco lächelte sie an. „Ja, habe ich“, antwortete sie. Marco sah sie verwundert an. „Marco, im Kaffee, den du getrunken hast, waren …“ Doch noch bevor sie ihren Satz beendet hatte, kippte Marco vom Sofa. „Mir ist so … schwindelig ich, ich ...“ Marco griff sich mit der Hand an die Stirn. Er wollte noch etwas sagen, aber in diesem Moment brach er bewusstlos zusammen. Jenny packte ihn unter den Armen und schleppte ihn ins Gästezimmer. Behutsam breitete sie eine Decke über ihn, schaltete das Licht aus und schloss die Tür hinter sich. Kapitel 3 Es war früher Morgen. Als Marco von merkwürdigen Geräuschen aus einem bleiernen Schlaf gerissen wurde, hatte er keine Ahnung, wo er war. Was war geschehen? Hatte er gestern zu viel getrunken? Er konnte sich nicht erinnern, wie er ins Bett gekommen war. Geschweige denn, was er dort sonst noch alles gemacht haben könnte … Verwundert rieb er sich die Augen. Wer hatte das Geräusch von sich gegeben? Er schaute neben sich, konnte aber niemanden sehen. War er etwa immer noch in Jennys Wohnung? Er hat doch wohl nicht … Leichte Panik stieg in ihm auf. Das Letzte, was er tun wollte, war, Zara zu betrügen. Noch dazu mit ihrer besten Freundin! War sie etwa schon aufgestanden? Er lauschte nach Geräuschen aus dem angrenzenden Badezimmer, hörte aber nur einen tropfenden Wasserhahn. Als er dann auch noch eine Berührung an seinem Unterschenkel spürte, bekam er es mit der Angst zu tun. Entsetzt sprang er aus dem Bett. Er sah, dass sich etwas unter seiner Bettdecke bewegte. Zitternd wich er ein paar Schritte zurück. Was zum Teufel war das bloß? Als er noch ein paar Schritte weiter zurück ging, stieß er gegen einen Schuhkasten. Seine Hand schloss sich um einen alten Kerzenständer. Immer noch zappelte etwas unter der Decke. Auf Zehenspitzen näherte sich Marco wieder dem Bett. Auf einmal hob „die Kreatur“ die Bettdecke an. Mit ganzer Kraft schlug Marco mit seinem Kerzenständer auf die gewölbte Stelle ein. Ein dumpfer Schmerzensschrei drang gedämpft zu ihm. Dann war es totenstill. Mit klopfendem Herzen hob Marco die Bettdecke an. Entsetzt sah er Jenny ausgestreckt auf dem Leintuch liegen. Eine kleine Blutlache breitete sich neben ihrem Kopf aus. Scheiße! Habe ich Jenny etwa umgebracht? Hektisch tastete er nach ihrem Puls. Gott sei Dank! Seine Finger spürten das zarte Klopfen ihrer Halsschlagader. Immerhin war sie noch am Leben! Auch wenn er sich große Sorgen machte, weil sie so bewusstlos vor ihm lag. Vorsichtig tastete er die Stelle an ihrem Kopf ab, aus der immer noch Blut sickerte. Das würde eine hässliche Narbe geben. Jenny bringt mich um, wenn sie das sieht! , dachte er bei sich. Die Vorstellung, wie Jenny eine ihre berühmten Heulszenen vor ihm abziehen würde, jagte ihm eine Gänsehaut über den Rücken. Er musste schnellstens dazu sehen, dass die Blutung endlich gestoppt würde. Eilig holte Marco Verbandszeug und einen Rasierer. Er schnitt Jenny ein paar Haare am Kopf weg und legte einen Druckverband an. Dann setzte er sich an die Bettkante und hoffte, - 73 - dass sie bald wieder zu sich kommen würde. Zwei Stunden später schlug Jenny endlich die Augen auf. An ihrem verwirrten Gesichtsausdruck konnte Marco leicht ablesen, dass sie keine Ahnung hatte, was passiert war. Als er ihr gestand, dass er ihr zappelndes Bein für ein böses Monster gehalten hatte, schnappte sie erst nach Luft und legte dann wie befürchtet so richtig los. „Hast du sie nicht mehr alle? Hättest du nicht wenigstens vorher nachschauen können, bevor du mir mit dem Kerzenhalter eine überziehst? Und dann hast du mir auch noch meine seidenweichen Haare abgeschnitten? Wie sehe ich denn jetzt aus? So kann ich doch nicht auftreten! Was denkst du dir eigentlich dabei? Weißt du überhaupt, was du tust? Wenn du jetzt meine Karriere ruiniert hast, dann …“ Jenny hätte bestimmt noch stundenlang weitergeschimpft, doch Marco beugte sich vor und verschloss ihre Lippen mit seinem Mund. Zu seiner Überraschung erwiderte Jenny den Kuss. Immer intensiver küssten sie sich, bis Marco plötzlich zu weinen anfing. „Hey, was ist denn los?“ Jenny drückte sich ein Stück von ihm weg und runzelte irritiert die Stirn. Marco gab keine Antwort. Immer noch rannen Tränen über seine Wangen und er machte sich keine Mühe, sie abzuwischen. Als Jenny schließlich ins Bad ging, um sich frisch zu machen, griff er schnell nach seiner Hose und war bereits angezogen, bevor sie wieder kam. Hastig suchte er seine Sachen zusammen, als er bei Jennys Tasche einen Schal liegen sah. Irgendwo hatte er dieses Stoffmuster schon einmal gesehen. Aber er konnte sich nicht erinnern, wo das war. Während er noch überlegte, zeigte sein Handy den Eingang einer neuen SMS an. Als er das Handy aus der Tasche holte, fiel gleichzeitig der Stofffetzen heraus, den er in Zaras Garderobe gefunden hatte. Während er die Nachricht las, dass er am Nachmittag ein Interview geben sollte, hob er gedankenverloren das Tuch vom Boden auf. Da wusste er plötzlich, wo dieses Stoffstück her war: es war ein Teil von Zaras Schal … Marco stolperte die Stiege hinunter. Die Sonne blendete ihn im Gesicht und er hielt sich die Hand vor die Augen. Hinter ihm stand Jenny und grinste breit. Sie schien ihm vergeben zu haben und stieß einen langgezogenen Seufzer aus. In den Händen hielt sie zwei Tassen mit Kaffee und strahlte ihn an: „Sorry, mein Liebling, ich hatte keinen Honig mehr, aber der Kaffee ist währenddessen fertig geworden. Ich hab mir gedacht, Marmelade tut’s auch!“ Sie setzte sich auf den Sessel beim Küchentisch und nahm einen kräftigen Schluck von ihrem Kaffee. Marco war mit einem Satz neben ihr und riss sie zum Stehen hoch. „Wo ist sie?“, fuhr er Jenny wütend an. Jenny quietschte erschrocken auf. „Wer?“, fragte sie mit schriller Stimme. Es war ihr anzusehen, wie nervös sie plötzlich war. „Tu nicht so scheinheilig!“ Marco hatte keine Geduld mehr. Er würde jetzt von Jenny die Wahrheit erfahren. Und wenn er sie aus ihr heraus prügeln musste! „Du hast dafür gesorgt, dass Zara ihren Auftritt verpasste! Und du warst es auch, die sie entführt hat!“ Jetzt schrie er sie ungehemmt an. „Was bildest du dir ein? Ich bin doch ihre beste Freundin. So etwas würde ich nie tun!“ Aber Jennys gespielte Entrüstung war nicht sehr überzeugend. Sogar ein Blinder hätte gemerkt, dass Jenny etwas mit der Sache zu tun hatte. Marco machte einen weiteren Schritt auf Jenny zu und wirkte, als ob er sie im nächsten Moment erwürgen wollte. Jenny wich immer weiter zurück, bis sie gegen die Wand stieß. Blitzschnell packte Marco sie an den Schultern und drückte Jenny gegen die raue Mauer. Seine Hand war groß und reichte leicht um den zarten Hals von Jenny. Fest quetsche er ihren Hals, sodass sie bald keine Luft mehr bekam. „Wo ist sie!“, brüllte Marco, „sag mir sofort wo sie ist!“ Jenny spürte einen schrecklichen Druck in ihrer Lunge. Hektisch versucht sie nach Luft zu - 74 - schnappen. Obwohl das Stück Schal Jenny eindeutig verraten hatte, konnte Marco einfach nicht glauben, dass Jenny so etwas gemacht haben konnte. Sie war die ganzen Jahre doch so nett gewesen. Aber die Beweise waren eindeutig. Diese Betrügerin! Es war schwer, Jenny hochzuheben und sie gleichzeitig nicht aus dem Griff zu verlieren. Jenny war nicht gerade ein Fliegengewicht. Marco fragte sie mit zorniger Stimme: „ Wo hast du Zara versteckt? Ich weiß das du sie entführt hast!“ Sein Zorn verlieh ihm ungeahnte Kräfte. Erst als er einsah, dass Jenny lieber sterben würde, als ihm irgendetwas zu verraten, ließ er sie hinunter, hielt sie aber weiter bei den Schultern fest. Er wiederholte den Satz zum zweiten Mal doch Jenny gab keinen Laut mehr von sich. Jenny lehnt keuchend an der Wand und schnappt nach Luft. Wütend funkelte sie zurück. Mist, das durfte doch wohl nicht wahr sein! Er war hinter ihr schreckliches Geheimnis gekommen, aber freiwillig würde sie ihm nichts sagen. Seufzend ließ sie sich zu Boden gleiten und starrte ihn weiter an. Ein stechender Schmerz zog sich vom Hals bis zur Schulter hin. Sie fasste sich an den Hals und stöhnt erneut auf. Sie rang um Luft und sagte nur ein einziges Wort: „Wieso?“ Marco ging inzwischen wild im Raum auf und ab. Er konnte es immer noch nicht fassen, was er herausgefunden hatte. Immer hatte sie so getan, als würde sie alles schrecklich bedauern, aber in Wirklichkeit hatte sie mehr damit zu tun, als ihr oder ihm lieb war. Wütend fuhr er sie an: „Du fragst, wieso? Ich frag dich mal was! Wieso hast du mich angelogen? Wieso hast du etwas mit dem plötzlichen Verschwinden meiner Freundin zu tun? Und wieso sagst du mir nicht, wo sie ist?“ Er hob seine Hand und funkelte sie wütend an. „Sag mir die Adresse! Sag sie mir!“ Aber dann ließ er sie wieder sinken. Tagelang hatte er ihren Lügengeschichten Gehör geschenkt und sie auch noch geglaubt. Er hätte sich selbst anbrüllen können. Aber jetzt war es das Wichtigste, herauszufinden, wo Zara steckte. Niedergeschlagen ließ er sich auf den nächstbesten Stuhl fallen und räumte mit einer Handbewegung eine Vase und einen Stapel Bücher vom Sessel. Jenny gab immer noch keinen Laut von sich. Marco hatte keine Idee, was er jetzt tun sollte. „Tja, am besten, ich bring dich zur Polizei. Die werden es sicher aus dir herausbringen.“ Diese Worte hatten mehr Wirkung, als er sich erhofft hatte. Alle Farbe wich aus ihrem Gesicht und sie fing schlagartig zu zittern an. Jenny richtete sich auf und fiel bei diesem Versuch fast um. Ihr Fuß war eingeschlafen, während sie auf dem kalten Fliesenboden gehockt hatte. Sie taumelte gegen die Wand. Marco flüsterte so leise, dass er seine Worte selbst kaum hören konnte: „Sag mir doch endlich, wo sie ist.“ Eine plötzliche Leere breitete sich in seinem Herz aus. Was, wenn Zara womöglich schon tot war? Vielleicht wollte Jenny deswegen nichts sagen. Ein brennender Schmerz durchfuhr ihn. Wie benommen schloss er die Augen und stöhnte auf. Was zum Teufel war bloß in Jenny gefahren? „Wenn du mich gehen lässt, sag ich es dir, wo Zara steckt.“ Marco riss die Augen auf. War Jenny nun doch zur Vernunft gekommen? Hatte sie eingesehen, dass sie den Kampf verloren hatte? Er nickte. Erst musste er seine Freundin finden. Dann war immer noch Zeit, sich darum zu kümmern, dass Jenny für ihre Tat zur Rechenschaft gezogen wurde. „Sie ist in der Hütte meiner Eltern in den Bergen. Erinnerst du dich? Wir waren letzten Sommer gemeinsam dort …“ Marco schaute sie durchdringend an. „Und woher weiß ich, dass du mich nicht wieder anlügst?“, fragte er. Sie zuckte nur mit den Schultern. „Indem du hinfährst und nachsiehst“, gab sie kurz ange- 75 - bunden zurück. Marco zögerte. Dann öffnete er seine Faust, die er immer noch um ihre Handgelenke geschlossen hielt und stieß sie von sich weg. Aus schmalen Augenschlitzen fixierte er Jenny, die ihm einen unergründlichen Blick zuwarf, bevor er sich von ihr wegdrehte und aus dem Zimmer hastete. Marco beobachtete Jenny, wie sie aus dem Haus eilte und in ihr Auto stieg. Gehetzt sah sie sich um, bevor sie den Zündschlüssel ansteckte und aufs Gas drückte. Augenblicklich drehte Marco, sicher verborgen hinter einer Hausecke, startete seinen Wagen ebenfalls. Jenny war jetzt sicher auf den Weg, um nach Zara zu sehen. Sie hatte ihm garantiert nicht die richtige Adresse gegeben. Als er das Haus verlassen hatte, war er in sein Auto gestiegen und aus der Einfahrt gefahren. Er hatte Jenny gesehen, wie sie ihn durchs Fenster beobachtet hatte. Sie wollte wohl sicher gehen, dass er wirklich wegfuhr. Aber Marco war nur einmal um den nahegelegen Park gekurvt und hatte sich dann hinter eine Hausecke geparkt, von wo er das Haus wunderbar beobachten konnte. Jenny bog aus der Einfahrt, schlug den Weg Richtung Kirche ein und hielt an einer roten Ampel. Marco fuhr ihr hinterher. Eine Werbetafel lenkte seine Aufmerksamkeit kurz ab. In letzter Sekunde sah er, dass die Ampel wieder grün geworden war. Er fluchte, denn Jennys Wagen war aus seinem Blickfeld verschwunden. Wo war sie bloß hingekommen? Wütend riss er am Lenkrad und vermied es gerade noch, in einen Baum zu fahren. Er brachte das Auto zum Stehen und atmete ein paar Mal heftig durch. Wenn er nicht besser aufpasste, würde er sich noch selbst umbringen! Da bog Jennys Wagen um die Ecke. Schnell startete Marco den Wagen und konzentrierte sich wieder auf die Fahrbahn. Noch einmal würde er nicht so viel Glück haben, dass sie von selbst wieder vor ihm auftauchte. Jenny sah gehetzt auf die Uhr und erstarrte. So spät schon? Sie hatte fast zwei Stunden mit Marco gekämpft. Sie warf einen Blick auf ihre Handtasche und zog eine Augenbraue hoch. Mord… Sie hasste dieses Wort, wollte es nicht tun. Aber wenn sie Zara aus dem Weg geschafft hatte, würde sie ein paar Jahre im Exil verbringen. Gut versteckt auf irgendeiner Urlaubsinsel. Und wenn sie zurückkam, würde keiner mehr von Zara reden. Dann konnte sie sich wieder voll und ganz auf ihre Karriere konzentrieren, und sich einen Freund suchen. Nie wieder musste sie Angst haben, irgendwann aus der Modelbranche zu fliegen, wenn sie sich einen Fehler erlaubte. Ja. Zara musste aus dem Weg. Mord… Sie wollte es doch nicht. Aber es gab keine andere Möglichkeit. Mord… Wütend stieg sie aufs Gas. Irgendwie kam es ihr so vor, als hätte sich die ganze Welt gegen sie verbündet. Dabei wollte sie doch auch nur einmal Erfolg haben. Sogar Zara hatte lang daran arbeiten müssen, um so erfolgreich zu sein. Dabei war sie ein Naturtalent. Jenny würde das nie schaffen, solange Zara noch im Geschäft war. Zara wäre nicht die Erste, die von einer Konkurrentin aus dem Weg geräumt wurde. Und trotzdem. Das Blut von jemand an den Händen kleben zu haben, war eine grausige Vorstellung. Mord… Schluss jetzt, dachte Jenny und rieb sich über die Stirn. Ihr schlechtes Gewissen würde sie noch total verunsichern. Das durfte nicht passieren. Gab es denn wirklich keine andere Möglichkeit? Nein … Marco wusste noch nicht genug, um etwas gegen sie ausrichten zu können. Aber Zara schon. Sie wollte endlich ihr Ziel erreichen! Grimmig lächelte sie vor sich hin und brachte ihr Ge- 76 - wissen zum Schweigen. Dennoch spukten die Worte klar in ihrem Kopf herum. … Mörderin … jeder ist seines Glückes Schmied … du kannst einem anderen nicht das Leben wegnehmen … wenn du einmal damit anfängst, wird an deinen Händen das Blut von noch mehr Menschen kleben … Mord … Kapitel 4 Es war nebelig und Marco wartete hinter einer Ecke. Als er Jenny erblickte, hatte sie schwarze High-Heels, eine schwarze Lederhose und dazu eine schwarze Bluse an. „Wenn ich nicht wüsste, was sie alles getan hat, würde ich sie richtig scharf finden.“ Marco schüttelte den Kopf. Er setzte einen Hut und eine Sonnenbrille auf, damit er nicht so leicht erkannt werden konnte, startete seinen Motor. Er ließ ein paar Sekunden verstreichen, bis er sicher war, dass sie ihn nicht mehr sehen konnte. Mit halsbrecherischem Tempo fuhr er hinter Jenny her. Sie rasten durch einen Wald und dann gleich darauf in die Innenstadt. Marco fiel auf, dass Jenny jedes Mal, wenn sie an einer Ampel anhalten musste, in den Rückspiegel blickte. Sie wirkte zornig und nervös. „Kein Wunder“, dachte Marco. Er war immer noch fassungslos darüber, was er über sie erfahren hatte. Für einen Augenblick war er unaufmerksam. Sie hatte angehalten und er rollte in ihr Blickfeld. Verdammt! Sie hatte ihn gesehen! Obwohl die Ampel Rot zeigte, raste sie los. Marco wollte ebenfalls hinterher. Aber im diesem Moment trat eine alte Dame auf den Zebrastreifen, um die Straße zu überqueren. Er musste warten, trommelte nervös mit den Fingern aufs Lenkrad und drückte schließlich auf die Hupe. Doch die Alte drohte ihm nur mit ihrem Stock und humpelte quälend langsam weiter. Als die Straße endlich frei war, hatte er Jenny aus den Augen verloren. Schon wieder! Doch er gab nicht auf. Er durfte nicht! Es ging schließlich um Zaras Leben! Kreuz und quer fuhr er durch die Stadt, um irgendwo Jennys Auto zu finden. Plötzlich sah er einen etwas dickeren Mann die Straße entlang gehen. Marco stoppte das Auto und lies die Scheibe hinunter. „Entschuldigen Sie! Haben Sie zufällig einen rotes Mercedes Sportcoupé hier vorbeifahren gesehen?“, fragte Marco den Herrn auf gut Glück. Die Wahrscheinlichkeit war nicht hoch, aber er durfte nichts unversucht lassen! Höflich nahm er die Sonnenbrille ab. Der Mann musterte ihn neugierig. Dann ging ein Strahlen über sein Gesicht. „He, ich kenne Sie doch. Sind Sie nicht Marco Vousètes? Der aus der Schuhwerbung? Warten Sie mal ... Ist ihre Freundin Zara Montepellier nicht entführt worden?“ Er blinzelte ihn ein wenig nervös durch seine Augengläser an. Marco nickte ungeduldig. „Ja, darum geht es jetzt auch! Ich habe eine heiße Spur!“, drängte er. Der dicke Mann, der ihn immer noch sensationslüstern anstarrte, machte ihn kribbelig. Irgendwo hatte er ihn schon einmal gesehen, aber er kam nicht drauf, wo. Bei einer Modeschau? Eine Erinnerung blitzte auf. Ein Mann mit Goldkette und fetter Uhr am Handgelenk … ein Riesenstrauß Rosen in Zaras Garderobe … und Zara hatte ihm nicht in die Augen sehen können, als er sie gefragt hatte, von wem die waren … „Das rote Sportcoupé, nach dem Sie suchen – gehört das nicht Jenny? Hat sie etwas mit der Entführung zu tun?“ Der dicke Mann wischte sich mit einem Stofftuch über den Mund. „Ich wusste es doch! Diese falsche Schlange!“ Er fasste in seine Hosentasche und zog einen Zettel heraus. „ Geben Sie mir einen Stift“, stieß er kurzatmig hervor. Marco reichte verwundert seinen teuren Montblanc-Füller aus dem Seitenfenster und sah, wie der Mann eine Adresse aufschrieb. Hatte er womöglich auch etwas mit der Sache zu tun? Wieviel wusste er von Jenny? Der Mann reichte ihm den Stift und den Zettel durchs Fenster und schlug ihm kumpelhaft - 77 - auf die Schulter. „Grüßen Sie Zaraq von mir, wenn Sie sie gefunden haben“, meinte er und grinste. Der Ausdruck, den der Mann dabei in den Augen hatte, ging Marco unter die Haut. Der Dicke hatte irgendein Geheimnis, davon war Marco überzeugt. „Von wem soll ich sie denn grüßen?“, fragte er zurück. Doch der Mann war schon einen Schritt in die Dunkelheit zurückgetreten. Marco hörte ihn nur noch leise sagen: „Sie wird sich an mich erinnern … Ich habe ihr gesagt, dass sie mich noch einmal brauchen wird … Ach ja, und mich haben Sie nie gesehen!“ Marco runzelte die Stirn. Er verstand nur Bahnhof. Wer war denn das? Aber dann zuckte er mit den Schultern. Es war jetzt nicht wichtig. Er gab die Adresse, die der Mann ihm auf den Zettel geschrieben hatte, in sein Navi ein. Denn sein Bauch sagte ihm, dass er dort Zara finden würde. Im Stillen dankte Marco dem etwas zu dick geratenen Mann noch einmal, bevor er losstartete. Der hilfsbereite Herr sollte ihn noch retten, doch Marco ahnte zu diesem Zeitpunkt noch nichts davon. Er bog nach einer Weile in eine nicht asphaltierte Straße ein. Sie führte zur alten Fleischerei, die schon seit Jahren leer stand. Auch das Gasthaus, das dazu gehörte, hatte schon lange dicht gemacht. Marco parkte seinen Wagen in einem sicheren Abstand, damit Jenny ihn nicht bemerkte. Er schloss ab und schlich leise durch den kleinen Wald, der die Fleischerei umgab. Die Blätter unter seinen Füßen raschelten und es war eisig kalt. Nur vereinzelt lag Schnee, denn es hatte in den letzten Tagen nicht viel geschneit und die vielen Bäume machten es fast unmöglich, dass die wenigen Schneeflocken, die gefallen waren, bis zum Boden durchgedrungen waren. Als er nach geschätzten fünf Minuten das große Gebäude erreichte, entdeckte er Jennys kleinen Flitzer vor der Hintertür. Zuerst war er erleichtert, dass sie hier war. Doch dann fiel ihm wieder der eigentliche Grund ein, warum er hier war. Jenny hatte Zara entführt! Bei dem Gedanken daran wurde Marco wütend und traurig zugleich. Jenny war doch ihre beste Freundin gewesen, aber anscheinend hatten sich alle in ihr getäuscht. Langsam und sehr vorsichtig näherte Marco sich dem Teil des Gebäudes, in dem sich früher das Gasthaus befunden hatte. Er schlich an die kalte Wand gedrückt zur Eingangstür. Einige Schritte davor blieb er stehen. Seine Blicke wanderten zum Fenster, vor dem er jetzt stand. Marco bückte sich, denn hinter diesem Fenster entdeckte er Jenny, die gerade vor sich hin fluchte. „Verdammt, verdammt, verdammt! Wo ist bloß diese beschissene Pistole? Ich hab sie doch vor kurzem hier in den Küchenschrank gelegt …“ Sie bemerkte Marco nicht. Diese einmalige Gelegenheit ergriff Marco sofort und drückte leise die Tür auf. Nun war er in der ehemaligen Gaststube. Um ihn herum standen noch ein paar alte Sessel und Tische, die niemand mitgenommen hatte, als das Gasthaus geschlossen wurde. Er malte sich gerade aus, wie es damals wohl hier ausgesehen haben könnte, als er wieder Jennys Stimme hörte. Nur eine Tür trennte die beiden. Er überlegte, welche es sein könnte, da sprang ihm ein Schild in die Augen. KÜCHE stand darauf in Großbuchstaben. Marco schnappte sich einen Stuhl und versperrte damit die Tür, auf der das Schild angebracht war. „Na, endlich! Da ist sie ja!“ Jenny nahm die Pistole an sich, die sie vor einigen Tagen in der Küche des ehemaligen Gasthauses versteckt hatte. Als Marco die Entführung aufgedeckt hatte, bekam sie schreckliche Angst und wollte Zara endgültig vernichten. Deshalb hatte sie Marco die falsche Adresse gegeben und sich auf den Weg zur Fleischerei gemacht, in der sie Zara versteckt hatte. Doch was sie nicht ahnte war, - 78 - dass Fritz Marco an der Kreuzung, an der sie glaubte, ihn abgehängt zu haben, die richtige Adresse gegeben hatte. Genau das würde sie gleich bemerken. Denn als sie die Tür in den Gastraum öffnen wollte, ging diese einfach nicht auf. Was sie auch versuchte, sie klemmte irgendwie. Da dämmerte ihr, dass etwas nicht stimmte. Ob Marco ihr doch gefolgt war? Ok, Punkt Eins seines Plans war abgeschlossen. Er hatte Jenny eingesperrt und konnte damit in Ruhe Punkt Zwei ausführen … nämlich sich auf die Suche nach Zara zu machen. „Und den Schlüssel hab ich auch schon!“ Marco sprach leise vor sich hin, als wollte er sich selbst Mut machen. Da hörte er ein leises Jammern aus einem Raum. War das Zara? Oder ein Tier? Da war es wieder! „Das muss sie sein!“ Aufgeregt lief er durch den langen Gang, in dem überall Spinnweben hingen. WUMM! Marco fiel mit voller Wucht auf den kalten Fliesenboden. Gleichzeitig rutschte der Schlüssel zu Zaras Tür weg ... „Verdammt!“ Was war das gewesen? Hatte ihm jemand ein Bein gestellt? Oder war er so schnell unterwegs gewesen, dass er ausgerutscht war? Er drehte sich um, doch er konnte nichts sehen. Langsam krabbelte er auf dem Boden weiter und tastete im Dunkeln nach dem Schlüssel. Nochmals hörte er einen Schrei, der gedämpft an sein Ohr drang. Er war so nahe, dass es ihm kalt über den Rücken lief. „Zara, bist du das?“, wisperte Marco und hielt sein Ohr an die Tür. Er glaubte so etwas wie ein Ja zu hören. „Zara ... ich komme und rette dich, hast du gehört? Halte durch.“ Er hatte nur ein Problem … Er konnte den verdammten Schlüssel nicht finden! Da half nur eines: Er ging ein paar Schritte zurück, nahm Anlauf und rammte mit seiner Schulter gegen die Tür. Mit einem Knall gab sie nach und Marco lag am Boden. Die Tür war nur angelehnt gewesen! „Was bin ich doch für ein Idiot!“ Marco rieb sich die schmerzende Schulter. „Und ich nehm noch Anlauf! Dabei hätte ich nur ausprobieren müssen, ob die Tür überhaupt verschlossen ist.“ Plötzlich hörte er ein Stöhnen aus einer Ecke. Er drehte sich um … Zara! Endlich! Er hatte seine Zara wiedergefunden! Kapitel 5 „Zara, du bist es wirklich! Du weißt gar nicht wie erleichtert ich bin!“ Marco beugte sich über mich und gab mir einen zärtlichen Kuss auf die Stirn. Vorsichtig löste er das Klebeband, das meinen Mund verklebte. Ich war unglaublich glücklich und erleichtert, dass Marco mich gefunden hatte. Was hätte mich sonst noch hier erwartet? Jenny, dieses Miststück ,hätte mich hier verrotten lassen. Sie hätte kein bisschen Mitleid gehabt. Ich spürte einen starken Schmerz in meinen Händen, dass ich nur mit Mühe einen Schrei unterdrücken konnte, als Marco mir die Handfesseln löste. „Mir ist so kalt.“ Klappernd schlugen meine Zähne auf einander. Marco zog fürsorglich seine Winterjacke aus und legte sie mir um die Schultern. „Ich hole dich hier raus! Mach dir keine Sorgen“, antwortete er und strich mir sanft über die Wange. „Marco!“ Entsetzt schrie ich auf, dass man es durch das ganze Haus hören konnte. Irritiert runzelte Marco die Stirn. Er verstand nicht gleich, was ich ihm sagen wollte. Erst als er das kalte Metall an seinem Hinterkopf spürte, wusste er, wovor ich ihn warnen wollte. Jenny stand mit einer Pistole hinter ihm und drückte sie in seinen Nacken. Nein, das durfte nicht geschehen! Ich merkte, wie Marco von einem Schauer geschüttelt wurde. Seine Arme waren von einer Gänsehaut überzogen. Jennys Hände zitterten. Ich war sicher, dass sie das alles nicht wirklich tun wollte. Sie hatte eine böse Seite, das - 79 - musste ich in den letzten paar Tagen bitter am eigenen Leib erfahren - aber jemanden erschießen? Nein, soweit würde sie nie gehen. Oder doch? Was würde sie alles tun, nur wegen ihrer Karriere? Ich fühlte mich so hilflos, ich konnte Marco nicht helfen. Er hat so viel für mich getan und ich saß hier vor ihm und sah zu, wie Jenny ihm eine Pistole auf den Hinterkopf drückte. Tränen standen mir in den Augen. Ich musste mir etwas einfallen lassen, statt einfach nur loszuheulen. Ich musste versuchen, sie in ein Gespräch zu verwickeln und damit Zeit gewinnen. „Jenny, was ist bloß los mit dir?“ fragte ich sie ängstlich. „Wer redet schon mit dir? Halt deine Klappe.“ Jenny starrte mich an. In ihren Augen suchte ich vergeblich nach der Freundin, die ich einmal zu kennen glaubte. „Ich hätte das Ganze schon vorher machen sollen. Ja, schade, dass du noch lebst. Ich kann dich nicht mehr sehen. Du hast dich immer vorgedrängt, nie gefragt wie es mir dabei geht. Immer nur Zara, Zara, Zara. Ich werde dir das Leben zur Hölle machen, so wie du es mir die ganze Zeit gemacht hast.“ Sie lachte irre. „Wie schaut’s aus? Könntest du auch ohne deinen Freund leben?“ Panik schnürte mir die Kehle zu. Was hatte sie vor? “Kannst du nicht, wetten? Ich weiß, was Marco dir bedeutet. Und deswegen muss er jetzt leiden. Nur wegen dir!“ Jetzt schrie Jenny mich richtig an. Ich hatte Angst, ja Angst von meiner besten Freundin. Wie konnte sie so etwas nur machen? Marco sah mich mit glasigen Augen an. Ich hatte das Gefühl, dass er jetzt genauso losheulen könnte wie ich. So niedergeschlagen hatte ich ihn noch nie gesehen. POOF!! Ein Schuss zerriss die angespannte Stille. Ich zitterte am ganzen Körper. Mein Herz klopfte so hart, dass es sich wie Schmerz anfühlte. Marco sah mich verzweifelt an. Er schloss die Augen und presste seine Lippen fest aneinander. Nicht Marco! Ich wollte schreien, doch ich brachte keinen Ton heraus. Eine einzelne Träne rann an meiner Wange hinunter zum Kinn. Meine Hände ballten sich zu Fäusten zusammen. Ich öffnete eine Faust und griff nach Marcos Hand. Er drückte sie fest. Nicht einmal eine Minute hatte ich an Jenny gedacht oder sie angesehen. WOOM. Ich schloss die Augen, weil ich es nicht sehen wollte, wie Marco zu Boden fiel. Aber Marco hielt immer noch meine Hand fest. Langsam öffnete ich wieder meine Augen. Das war nicht Marco, der auf dem Boden lag, sondern Jenny. Seltsam verdreht hielt sie ihre Hand auf ihrem Rücken. Langsam bewegte sie die Finger. Alles war voll Blut. Ihr weißer Angorapullover färbte sich nach und nach Rot. In ihren Augen stand blanker Hass, unendlicher Neid. Sie drehte ihre Augen nach oben und ihr Körper sackte in sich zusammen. War sie etwa tot? Ich sah zu Marco hinüber, der geschockt auf eine Stelle hinter mir starrte. Ich drehte meinen Kopf dorthin, wo er mit seinen Fingern hinzeigte. Ein Mann mit einer Pistole stand im Türrahmen. Da erkannte ich ihn: es war Fritz! Der Fritz, der mich vor meiner Entführung noch in der Garderobe belästigt hatte. Er lehnte sich an die Mauer und stammelte: „Ruft einer von euch bitte die Polizei und die Rettung?“ Mit zitternden Fingern holte Marco sein Handy aus der Hosentasche und tippte die Nummer 133 ein. Alle Anspannung wich mit einem Mal von mir. Mit einem Schluchzen ließ ich meinen Körper gegen die kühle Wand sinken und holte tief Luft. Dann weinte ich. Endlich. Während Marco seine Arme um mich schloss, fiel all die Angst und Anspannung der vergangenen Stunden von mir ab und ich ließ mich in seine Brust sinken. Endlich war ich in Sicherheit. Und Marco war bei mir … - 80 - - 81 - Prolog Der Schlag war präzise. Blut tropfte aus meiner einst perfekt geformten Nase. Als ich aufsah, blickte ich in seine Augen. Grüne Augen, die schön gewesen wären, würde nicht Hass und Abscheu aus ihnen sprechen. Doch das war nicht das Schlimmste. Das Schlimmste war, dass ich nicht fliehen konnte. Dieser Mensch hatte mein Leben Tag für Tag zur Hölle gemacht. Er war die Ursache. Ich hege gegen keinen Menschen dieser Welt so viel Hass wie gegen ihn. Meinen Stiefvater. 1. Kapitel Grace. Als mein Wecker klingelte, schaltete ich ihn sofort wieder aus, schlug die Augen auf und merkte, dass meine Katze auf meinem Schoß lag. Sie blickte mich mit ihren giftgrünen Augen an und ich sah ihr kohlrabenschwarzes Fell im Sonnenlicht, das durch das Fenster schien, schimmern. Zart streichelte ich ihr über das seidige Fell, worauf sie zu schnurren begann. Sanft hob ich sie von meinem Schoß und setzte sie neben mir ins Bett. Seufzend warf ich einen Blick auf den leeren Platz neben mir: Mein Freund musste wie so oft nachts arbeiten. Langsam stand ich auf und strich mir meine Haare aus dem Gesicht. Mein hellblaues Nachthemd flatterte in der leichten Brise, die durch das gekippte Fenster strich. Verschlafen blickte ich auf meinen Wecker und stellte erschrocken fest, dass es bereits halb acht war. Ich griff nach ein paar Klamotten, eilte ins Badezimmer und machte mich fertig. Zähne putzen, notdürftig mein langes Haar kämmen, Make-up auflegen ... es musste heute schnell gehen! Auf dem Weg nach draußen nahm ich noch schnell einen Umweg in die Küche und stürzte ein Glas Wasser herunter. Schon halb im Flur, schlüpfte ich gleichzeitig in meine neuen Louis Vuitton Schuhe und in meinen schwarzen Mantel. Meine beste Freundin Liz wartete bereits beim Sturbucks, wo wir uns normalerweise immer zum Frühstück trafen, bevor wir uns auf den Weg zur New York University, machten, auf der wir beide Jura studierten. Als ich nach einem langen Tag auf der Uni wieder zu Hause ankam, war niemand da. Darren würde wohl auch heute erst wieder später nach Hause kommen. Ich zuckte zusammen, als mein Freund plötzlich herein stürmte, die Tür zuknallte, und sich gleich darauf vor mir aufbaute. Seine grünen Augen funkelten mich wütend an. „Darren, Liebling, was ist denn passiert?“ Ich wollte auf ihn zugehen, doch er reagierte abweisend. Ich hatte keine Ahnung, was mit ihm los war, doch offensichtlich wollte er nicht mit mir reden. Traurig ging ich schon bald zu Bett. Ich las noch ein bisschen, doch als ich merkte, das Darren noch länger nicht ins Bett kommen würde, schaltete ich das Licht aus und legte mich schlafen. In der Früh verließ ich schnell die Wohnung. Ich hatte ein paar Besorgungen zu machen - aber vor allem wollte ich Darren nicht sehen. Dieser mies gelaunte Darren war nicht der Mann, den ich kannte und mochte. Ein zufälliger Blick auf meine Armbanduhr ließ mich erschrecken. Ich hatte bei all meinen Tätigkeiten völlig die Zeit vergessen! Ich beschloss, dass ich mich nicht ewig vor ihm verstecken konnte, und begab mich auf den Weg nach Hause. Seufzend öffnete ich meine Wohnungstür, und ließ sie hinter mir ins Schloss fallen. Ich war hungrig und müde. Was gäbe ich jetzt für einen Schluck Milch! Gähnende Leere erwartete mich, als ich den Kühlschrank öffnete. - 82 - „Darren!“ Hatte er sich schon wieder nicht an unsere Vereinbarung gehalten! „Wenn du schon wie ein Schwarm Heuschrecken über meine Vorräte herfällst, könntest du wenigstens dafür sorgen, dass das Wichtigste im Haus ist?“ Doch ich erhielt keine Antwort. Er wusste, wie er mich auf die Palme bringen konnte. Aufgebracht eilte ich ins Wohnzimmer. Mein Blick fiel auf Darren, der mit einer Zeitung auf dem Sofa saß und mich ignorierte. Ich riss ihm die Zeitung aus der Hand. „Wieso hast du nicht eingekauft, obwohl du es versprochen hast?“ Darren starrte mich nur wütend an und nahm die Zeitung mit einer raschen Bewegung wieder an sich. Dann fuhr er damit fort, mich zu ignorieren. Ich zog an der Zeitung, aber keiner wollte nachgeben, bis sie schließlich in zwei Teile riss. Ohne mich eines Blickes zu würdigen stand er auf, holte ein Buch aus dem Regal direkt neben dem Fenster und setzte sich wieder auf das Sofa. Jetzt platzte mir der Kragen. „Was ist denn bloß mit dir los?“, schrie ich ihn an. Diesmal antwortete er. „Was geht dich das an? Aber wenn du es unbedingt wissen musst, ich habe es immer noch nicht geschafft!“ Er verschränkte die Arme und las gleichzeitig weiter. Ich verstand kein Wort und öffnete gerade den Mund, um eine weitere Frage zu stellen, als ich seine Augen sah. Seine grünen, wunderschönen Augen sahen mich an, aber in seinem Blick lag keine Spur von Liebe. Nein, ganz im Gegenteil, sie waren voller Hass, dunklem, tiefen Hass. Mit rasendem Herzklopfen sah ich weg. Als ich ihn wieder ansah, waren sie wieder da: die schönen, blattgrünen Augen in die ich mich damals verliebt hatte. Trotzdem, ich konnte diesen Blick von vorhin nicht vergessen. Ganz im Gegenteil, er brannte sich tief in mein Bewusstsein. Ich kannte diesen Blick. Ich kannte ihn sogar sehr gut. Es war ein Blick, den ich sehr lange nicht mehr gesehen hatte, und trotzdem nie vergessen werde. Ich hatte versucht, ihn zu vergessen. Viele tausend Mal, aber immer wenn ich ihn verdrängt hatte, tauchte er wieder auf. Es ging einfach nicht. Langsam löste ich meinen Blick von seinen Augen und verließ äußerlich ruhig das Wohnzimmer. In mir drinnen aber krümmte sich meine Seele wie ein tödlich verletztes Tier ... Nachdem ich die Wohnung verlassen hatte, wählte ich mit zitternden Fingern Liz‘ Nummer. „He Liz, kann ich heute bei dir übernachten?“ Ein dunkler Plan nahm in meinem Hirn Gestalt an. „Ja klar“, dröhnte es aus dem Lautsprecher, „Warum?...“ Ich hatte diese Frage erwartet, trotzdem starrte ich auf das Handy in meiner Hand. Ich hatte Angst davor, was mit mir geschah. Weil ich Darren einfach nicht mehr ertragen konnte, in seinem ganzen Sein. Nicht, nachdem ich sein wahres Wesen gesehen hatte. Seine Augen ... „Grace, bist du noch da?... Grace?“ Liz Stimme weckte mich aus meinen schwarzen Gedanken, doch ich legte einfach auf und machte mich auf den Weg zu ihr. Sie konnte mich später auch noch mit Fragen durchlöchern. Als ich bei ihr ankam, stand sie schon vor der Tür und wartete auf mich. Wir gingen in ihre Wohnung, und ich ließ mich wie ein Kartoffelsack auf ihre Couch fallen. Ich bemerkte ihren fragenden Blick und seufzte: „Bitte jetzt nicht…!“ „Okay, fühl dich wie zu Hause. Bin gleich wieder da, muss nur noch ein paar Besorgungen erledigen.“ Mit diesen Worten verließ sie die Wohnung, und meine Gedanken nahmen mich wieder voll in Besitz. Nach einer Weile bekam ich Hunger. Ich ging in die Küche und machte mich Lade für Lade öffnend auf die Suche nach etwas Essbarem. Mein Blick fiel auf ein großes Messer, das ich nicht an meiner Kehle spüren wollte. Ich fuhr mit meinem Finger die Klinge entlang. Ein kleiner Tropfen Blut quoll aus dem Schnitt heraus. Ich zuckte zusammen. Genau mit so einem Messer war er damals auf mich losgegangen. Wenn ich mich nicht geduckt hätte, wäre ich heute tot. So streifte die Klinge nur meine rechte Schulter. Meine Finger tasteten - 83 - instiktiv nach der etwa drei Zentimeter langen Narbe. Damals hatte ich behauptet, ich hätte mich mit einer Glasscherbe geschnitten. Doch heute bereute ich, dass ich ihn nicht verraten hatte. Bei diesem Gedanken fasste ich einen Entschluss. Ich umwickelte das Messer mit Küchenpapier und packte ich es in meine Handtasche. Meinen Hunger hatte ich vollkommen vergessen. Als ich am nächsten Tag aufwachte, war Mittag längst vorbei und Liz war wieder zurück. „Gut geschlafen, Morgenmuffel?“, begrüßte sie mich freundlich. Mich packte die Panik. Hatte sie das Fehlen des Messers bemerkt? Nichts deutete darauf hin. Scheinbar ruhig wünschte ich ihr auch einen schönen Morgen, stand auf und lächelte sie an. Der Duft von Lasagne stieg mir in die Nase. Oh Mann, hatte ich einen Hunger. Ich folgte Liz in die Küche. „Bedien‘ dich ruhig!“ Liz nickte in meine Richtung. Das musste sie nicht zweimal sagen! Voll Heißhunger stürzte ich mich auf die Lasagne. Erst als ich mir zufrieden den Bauch rieb, erinnerte ich mich wieder daran, welchen Entschluss ich gestern gefasst hatte. Sollte ich das wirklich machen? Immerhin konnte er nichts dafür, was mein Stiefvater einst getan hatte. „Nein!“, sagte ich zu mir selbst, „Jetzt ja nicht weich werden!“ Laut sagte ich: „Soll ich uns einen Kaffee bei Starbucks holten?“ „Liebend gern“, antwortete Liz, von meinem Vorschlag hellauf begeistert. Und so verließ ich die Wohnung, meine Handtasche mit dem Messer fest umklammert. Als ich um die Ecke gebogen war, verfiel ich in einen Laufschritt, später begann ich zu rennen. Keuchend erreichte ich meine Wohnung. Die Sonne war bereits untergegangen. Der Kaffee war nur ein Vorwand gewesen, um aus dem Haus zu kommen. Ich würde ihn später holen. Anstatt meine Schlüssel zu benutzen, versuchte ich, mit einer Haarspange das Schloss zu knacken. Ich hatte das einmal in einem Film gesehen und wollte es immer schon einmal selbst ausprobieren. Überraschend schnell ging die Tür auf. Wie es aussah, hatte ich gerade ein neues Talent von mir entdeckt. Ich hörte ein lautes Poltern aus der Küche und daraufhin ein Fluchen. Schnell eilte ich in die Küche: „Warte, ich helfe dir“, brachte ich gerade noch heraus als ich Darren erblickte, dann begann ich zu heulen. „Es tut mir so leid! Du hattest Recht, ich hätte nicht so neugierig sein sollen. Es tut mir leid…so leid…leid…“. Ich schniefte ein letztes Mal, dann hörte ich auf zu weinen. Als ich wieder klar sehen konnte, bemerkte ich, dass Darren vor mir stand. Ein verlegenes Grinsen umspielte seine Lippen: „Bin gleich wieder da“, sagte er. Dann rannte er zur Toilette. Das war meine Chance. Ich zog das Messer aus meiner Handtasche und befreite es von der Küchenrolle. Griffbereit legte ich es neben den Herd und stellte mich so hin, dass er das Messer nicht sehen konnte. Gerade noch rechtzeitig war ich in Position, denn schon kam Darren wieder zurück. „He, es tut mir auch leid. Ich hätte nicht so wütend reagieren sollen. Friede?“ Man sah ihm an, dass ihm diese Entschuldigung nicht leicht über die Lippen kam. Wir umarmten uns. Sein Mund suchte meinen, und als er ihn gefunden hatte, küssten wir uns leidenschaftlich. Ich schloss die Augen und wollte immer in dieser Position verharren. Fast hätte ich vergessen, warum ich eigentlich hier war, aber nur fast. Mit der rechten Hand fischte ich nach dem Messer und bekam es zu fassen. Noch immer küssten wir uns, ich war schon ganz außer Atem. Bald würden wir uns voneinander trennen - schon allein, um nicht zu ersticken. Doch so lange durfte ich nicht warten. Ich rammte ihm das Messer in den Rücken. Direkt zwischen die Rippen. Darren erstarrte, seine Fingernägel bohrten sich krampfhaft in meine Haut. Seine Augen verloren an Glanz. Diese Augen, die ich so geliebt und gleichzeitig so gehasst hatte. Jetzt empfand ich bei ihrem Anblick gar nichts. Ohne einen weiteren Laut sackte er vor meinen Füßen zusammen. Blut klebte an meinen Händen. Das Blut meines Freundes, der tot vor mir auf dem Boden - 84 - lag. Es war so frisch, dass ich noch die Wärme, die davon ausging, spüren konnte. Steif stand ich da und starrte auf den Leichnam meines Freundes herab. Erst jetzt merkte ich, dass mir Tränen über meine Wangen liefen. Ich wollte sie abwischen, doch zu meinem Entsetzen bemerkte ich Blut an meinem Gesicht. Schnell nahm ich noch ein Taschentuch und drehte den Wasserhahn auf. Eine Ewigkeit ließ ich Wasser auf meine Hände fließen, bis sie kalt und gefühllos waren. Jetzt erst realisierte ich, was gerade passiert war. Mein Freund war tot. Und ich war sein Mörder. Ich nahm die Gummihandschuhe, die immer für den Abwasch neben dem Spülbecken bereitlagen, und streifte sie mir über. Mit einem Ruck zog ich das Messer aus Darrens Rücken, hielt es unter das fließende Wasser und rubbelte solange mit einem Lappen daran herum, bis alles Blut abgewaschen war. Dann wickelte ich die Waffe in das blutbefleckte Tuch. Ich musste mir einen guten Trick einfallen lassen, damit man mir den Mord nicht anhängen konnte! Ich lief zum Thermostat und programmierte die Temperatur so, dass es die nächsten zwei Stunden in der Küche eiskalt werden würde, bevor die Heizung wieder ansprang. Um Gina zu schützen, sperrte ich sie ins warme Wohnzimmer. Anschließend packte ich entschlossen das Bündel mit dem Messer und steckte es in meine Jackentasche. Hilfsinspektor Thomas. Das Leben als Hilfsinspektor war nicht immer leicht. Am schwersten war es, weil mich Inspektor Hunter noch immer zum Kaffee holen schickte oder Bambino nannte. Dabei war ich jetzt schon seit drei Jahren hier. Doch heute konnte ich ihm endlich beweisen, was in mir steckte. Mein erster Job als Leiter der Morddiagnose. Na ja, man hatte mir diesen Job nur gegeben, weil Inspektor Hunter und fast die Hälfte des restlichen Teams krank waren. Aber ich würde diese Chance nützen! „Inspektor, sollen wir die Kleidung auf Fingerabdrücke untersuchen?“ brachte mich die Stimme von Mr. Gabe wieder in die Wirklichkeit zurück. „Äh….was?“ „Die Leiche … untersuchen!“ Um Gabes Lippen spielte ein herablassendes Grinsen. „Ja, natürlich! Das wollte ich auch gerade vorschlagen.“ Ich hörte ihn „Anfänger“ murmeln, doch ich tat so, als hätte ich seine Rede überhört. Was würde Inspektor Hunter in diesem Fall tun? Bericht erstatten lassen - richtig! Ich suchte unter den Mitarbeitern den Beamten, der dafür zuständig war. „Mac Lee, was können Sie mir über die Leiche sagen?“ „Es handelt sich um Darren Anderson, hellhäutig, männlich, 23 Jahre alt. Nach dem Autopsie Bericht wurde er mit einem Messer erstochen. Die Klinge bohrte sich zwischen die Rippen und durchstach einen Lungenflügel. Es gibt Hinweise darauf, dass eingebrochen wurde, aber es wurde nichts als gestohlen gemeldet. Das lässt auf Rachemord schließen. Er starb zwischen vier und fünf Uhr nachmittags. Seiner Freundin hat ihn gefunden.“ Er warf einen kurzen Blick auf seine Notizen. „Grace Cally Stone. Sie wohnten seit zweieinhalb Jahren in dieser Wohnung zusammen.“ „Und wo war sie, als er erstochen wurde?“ „Nach eigener Aussage verbrachte sie nach einem Streit die letzten zwei Tage bei einer Freundin nicht weit von hier, weiteren Aussagen nach wollte sie sich mit ihm versöhnen, als sie die Leiche fand.“ „Und wo ist sie jetzt?“ Mac Lee deutete stumm auf einen Tisch im Nebenzimmer, wo Taylor gerade versuchte, eine heftig weinende junge Frau zu beruhigen. Ich versuchte, so gelassen wie möglich zu wirken und ging auf die zwei zu. Mit einer schnellen Handbewegung griff ich nach einem Stuhl und nahm vor ihr Platz. „Mrs. Stone, ich bin Inspektor Parker, und ich weiß, dass es im - 85 - Moment sicher sehr schwer für Sie ist, aber bitte erzählen Sie mir, was passiert ist.“ Sie sah mich mit ihren verweinten braunen Augen an und schluchzte: „Ich weiß es doch selber nicht, ich und Darren hatten einen Streit. Ich war sauer und habe beschlossen, für gewisse Zeit Abstand von ihm zu halten. Also ging ich zu meiner Freundin. Heute wollte ich mich entschuldigen und fand ihn so in der Wohnung.“ Sie deutete mit der Hand auf die Küche, wo im Moment die Leiche ihres Freundes von meinen Beamten untersucht wurde. Mein Blick folgte ihrer Hand und schweifte dann wieder zu ihr. „Worum ging es bei diesem Streit?“ Sie sah weg. „Es war dermaßen lächerlich. Ich hatte mich geärgert, dass er schon wieder nichts eingekauft hatte, und wir schrien uns an.“ Sie bekam einen Weinkrampf. „Gab es irgendwelche Personen, die ihren Freund nicht mochten oder ihm etwas Böses wollten?“ „Es gab sicher Leute, die Darren nicht besonders gut leiden konnten. Aber mir fällt niemand ein, der ihn so hasste, dass…“ Bei diesen Worten brach sie wieder ihn Tränen aus. Die Frau tat mir wirklich leid. Ich hasste es, aber ich musste ihr die nächste Frage stellen. „Mrs. Stone, wo waren Sie zwischen vier und fünf Uhr nachmittags?“ „Was?“ Sie blickte verwirrt auf. „Verdächtigen Sie mich etwa, Darren umgebracht zu haben? Ich habe ihn geliebt, nicht getötet!“ Verlegen schaute ich auf meine Hände. „Dessen bin ich mir sicher, Mrs. Stone. Trotzdem müssen Sie die Frage beantworten.“ „Ich war bei meiner Freundin, Sie können sie ja fragen, sie war auch dort!“ „Wie lautet der Name ihrer Freundin?“ „Elisabeth Hudson.“ Sie fing wieder zu heulen an. Ich stand vom Sessel auf und war mir zu hundert Prozent sicher, dass dieses verstörte Mädchen niemals die Mörderin gewesen sein konnte. Die arme Frau hatte schon viel durchgemacht. Trotzdem war mir ihre Spange aufgefallen. Sie wirkte etwas verbeult. Ob ich paranoid war? Schnell warf ich einen Blick über meine Schulter und sah, dass sie den Haarschmuck auf den Tisch gelegt hatte. Ich gab Taylor ein Zeichen, dass Mrs. Stone nicht zu den Verdächtigen zählte, wir sie später aber noch einmal genauer verhören mussten. Unauffällig nahm ich die Spange an mich. Kurzerhand verglich ich sie mit dem Schloss, und tatsächlich, sie passte. Das konnte natürlich auch ein Zufall sein, aber der Sache würde ich auf jedenfalls auf den Grund gehen - allerdings ohne meinen Kollegen etwas davon zu berichten. Ich wollte meinem Boss endlich beweisen, dass ich kein Nichtsnutz war und es verdiente, endlich zum Inspektor ernannt zu werden. Grace. Es war der 10. Dezember 2000, genau zehn Jahre zuvor. Durch Zufall fand ich den Weg in das Büro meines Stiefvaters. Doch als ich hereinkam, spritzte er sich gerade etwas in seinen Arm. Ich war noch jung, doch da ich in New York aufwuchs, war ich nicht blöd. Ich war zutiefst schockiert, das mein Stiefvater sich in seinem Büro, in unserem Haus, Heroin spritzte. Ich konnte mich noch genau erinnern - an das Ticken der Uhr in der Kürze dieses Augenblicks, an die fünf Männer, alle in seinem Alter, die um ihn herumstanden. Sie bemerkten mich, und ein korpulenter Mann mit Schnauzer zog mich zu sich. Mein Stiefvater fragte jeden der Männer, ob er nicht so etwas kaufen möchte, doch keiner antwortete. Alle fixierten sie mich mit ihren Blicken. 10. Dezember 2010. Der gleiche Ort, der gleiche Raum. Nur etwas war anders. Ich war bewusst in diesen Raum gekommen, ich war gekommen um zu stehlen. Keine Menschenmenge umrundete mich, ich war allein, und das war gut so. Ich steuerte geradewegs auf - 86 - einen kleinen Schrank zu. Er war mit einem Zahlenschloss versperrt, doch ich kannte die Kombination. Ernüchternd musste ich aber kurze Zeit später feststellen, dass die Kombination geändert worden war. Ich musste da aber unbedingt rein! Dann musste ich die Kombination eben erraten. Ich probierte es als erstes mit dem Hochzeitstag von ihm und meiner Mutter. Fehlanzeige. Dann fiel mir etwas ein. Vielleicht war es etwas verrückt, doch ich musste es probieren. 2 – 11 – 2005. Klick. Da waren sie. Geldquellen, höchst Illegal und potentiell tödlich. Es war alles dabei. Speed, Kokain, Ecstasy und so weiter. Doch ich suchte nach etwas ganz bestimmten. Mit meinen behandschuhten Händen suchte ich danach. Gleich darauf stellte ich fest, dass das natürlich auch vorhanden war. Weiter hinten entdeckte ich noch etwas. Eine Paketbombe. Die würde ich gut gebrauchen können, dachte ich mir und nahm sie heraus. Ich steckte das Pulver und die Bombe in meine neue Gucci – Tasche, die ausreichend Stauraum bot. Sofort verschloss ich den Schrank wieder und ging leise aus der Wohnung. Als ich an der Straße angelangt war, rief ich ein Taxi und begab mich auf den Weg nach Hause. Ich hatte heute Beute gemacht, jetzt musste ich sie nur noch irgendwie einsetzen. Bronx passte perfekt zu einem Arschloch wie meinem Stiefvater. Ich stand vor der Kneipe, in der er sich immer besonders gern besoff. Schnell vergewisserte ich mich, dass die Pille noch in meiner Hosentasche war. Mein Blick fiel auf die Tür, ich öffnete sie und ging hinein. In dieser Spelunke fand man alles - von miesen Kleinverbrechern bis zu Räubern und Junkies. Ein paar von diesen Gaunern pfiffen mir hinterher, als ich an ihnen vorbei an die Bar ging, und einer besaß sogar die Frechheit, mir auf den Hintern zu klopfen. Ich bestrafte ihn mit einem tödlichen Blick und setzte mich auf einen der Hocker. Langsam ließ ich meinen Blick über die Leute schweifen, bis ich ihn erblickte. Sein Anblick erregte so viel Wut und Hass in mir, dass ich am liebsten aufgesprungen wäre, zu ihm rüber gerannt und ihn erwürgt hätte. Aber ich musste mich noch ein wenig gedulden. Eine Kellnerin sprach mich an: „Was darf´s denn sein, Süße?“ Ich sah sie an. Sie hatte rote, gelockte, hochgesteckte Haare, knallpinke Lippen und war etwa Mitte Fünfzig. Sie war eine Kneipen-Kellnerin, wie sie im Buche stand. „Ein kleines Bier, bitte.“ Kurz sah sie mich an und meinte: „Du bist nicht von hier, stimmt’s?“ „Woher wissen Sie das?“, antwortete ich mit einer Gegenfrage. Sie lächelte mich an: „Weil du, bitte‘ sagst!“ Ich drehte mich in Richtung meines Stiefvaters um, achtete aber sorgfältig darauf, nicht erkannt zu werden. Hinter mir hörte ich die Kellnerin sagen: „Bring das zum alten Dursley!“ Der Kellner, der das Bier zu meinem Stiefvater trug, hatte noch drei andere Gläser, deshalb war es zu riskant, die Pille in eines dieser Gläser zu geben. Es könnte den Falschen treffen, auch wenn ich seine Freunde ebenso hasste. Ich musste warten, bis das Glas auf seinem Tisch stand. Meine Chance zeigte sich, als er aufstand, um auf die Toilette zu gehen. Schnell folgte ich ihm, nahm die Pille aus meiner Tasche und tat so, als ob ich auch auf die Toilette müsste. Mit Absicht stieß ich gegen seinen Tisch und ließ die Pille in sein Glas fallen. Einer seiner Freunde grollte mich an: „ Pass doch auf, du dämliche Schlampe!“ „Entschuldigung“, murmelte ich und ging auf die Damentoilette. Dort wartete ich dreißig Sekunden, bevor ich mich wieder auf meinen Hocker begab. Mein Stiefvater war noch nicht zurück, doch das Bierglas war komischerweise schon leer. Ich sah noch, wie sich der fetteste Freund meines Stiefvaters den Bierschaum vom Schnurrbart leckte: „Scheiße“, flüsterte ich. Als mein Stiefvater wieder zurückkam, schrie er den Fetten an: „Hast du Fixer etwa mein Bier ausgetrunken?“ Als dieser gerade denn Mund öffnete, um etwas zu erwidern, brach er auf einmal zusammen. Alle Kellner liefen zu ihm und auch ein paar der Leute. Erst jetzt bemerkte ich, dass mein Bier bereits auf der Theke stand. Ich nahm einen Schluck, legte - 87 - etwas Geld daneben und verschwand, während alle abgelenkt waren. Das war definitiv nicht nach Plan gelaufen! Auch wenn dieser Mann es verdient hatte, da war ich mir sicher. Meinen Stiefvater musste ich mir nun wohl ein andermal vornehmen. Ich schritt den schmalen Korridor entlang. Zufällig traf ich auf den blonden Mark, der sich in meiner Nähe immer komisch verhielt. Ich fasste den Entschluss, einfach weiterzugehen und ihn zu ignorieren, als er plötzlich auf mich zukam und mich begrüßte. Ich grüßte freundlich zurück. „Wie geht’s“, erkundigte er sich. Ich antwortete kurz angebunden. Wir redeten noch weiter über belangloses Zeug wie das Wetter, als er mich plötzlich fragte, ob ich mit ihm mal was trinken gehen möchte. Das schockierte mich. „Nur als Kumpels“, meinte er, als er meinen Gesichtsausdruck sah. Mir war bewusst, dass da mehr dahinter steckte, also lehnte ich etwas gereizt ab: „Ist es nicht ein bisschen dreist, mich zu fragen, schließlich ist mein Freund vor Kurzem gestorben.“ „Naja, ehm… Das wusste ich nicht..“, stotterte er. Offensichtlich überraschte ihn das. Verdutzt sah ich ihn an. Er sagte nichts. Sekunden vergingen. Plötzlich kam ein Mann vorbei. Der dunkelhaarige junge Mann klopfte ihm kumpelhaft auf die Schulter. „Kommst du jetzt?“, fragte der junge Mann etwas grob. Mark entschuldigte sich und ging mit ihm davon. Hilfsinspektor Thomas. Bald hatte ich es geschafft. Ich konnte es immer noch nicht fassen. Ein so schönes junges Mädchen sollte jemanden umgebracht haben? Aber alle Indizien sprachen gegen Mrs. Stone. Nachdem ich die Spange gefunden hatte, hatte ich auf eigene Faust ermittelt. Ich war später allein wieder gekommen, und hatte das Schloss noch einmal genau mit der Spange verglichen. Leider ließ sich nichts Genaues feststellen. Um hier den nötigen Beweis zu finden, müsste ich die Spange ins Labor schicken. Aber so schnell wollte ich nicht aufgeben. Darum kaufte ich mir eine gleiche Haarspange und bestellte das gleiche Schloss über das Büro. So erregte es kein Aufsehen, und ich musste weiterhin niemandem von der Haarspange erzählen. Dann versuchte ich, mit der neuen Spange das nagelneue Schloss zu knacken. Ich brauchte fast fünfzehn Minuten dafür, aber für jemanden, der geübt ist, wäre das in fünf Minuten zu schaffen. Die Spuren auf meiner Spange waren eindeutig zahlreicher, als auf der von Mrs. Stone. Allerdings konnte das auch damit zu tun haben, dass ich viel länger gebraucht hatte. Denn einige Spuren waren auf jeden Fall dieselben. Trotzdem konnte ich mit so mickrigen Beweisen niemanden festnehmen. Also ermittelte ich weiter. Jetzt waren bereits mehr als drei Wochen vergangen und ich befand mich wieder am Tatort. Unter normalen Umständen, wäre das nach so langer Zeit vollkommen nutzlos gewesen, allerdings glaubte ich immer mehr daran, etwas Entscheidendes übersehen zu haben. Nur was? Ich nahm alles gründlich unter die Lupe: Nichts! Sie musste doch irgendwo Spuren hinterlassen haben! Neben der Suche nach Beweisen hatte ich noch eine andere Frage: Mrs. Stone sah für mich nicht wie eine Einbrecherin oder gar Mörderin aus. Trotzdem deutete die kurze Zeit, die sie brauchte, um das Schloss zu knacken, darauf hin, dass sie ein Profi in diesem Fach war. Allerdings wurde in letzter Zeit nirgendwo mit einer Spange eingebrochen. Und dann war da noch die Tatzeit. Für die Zeit, in der der Mord stattfand, hatte Mrs. Stone ein sicheres Alibi. Sogar Nachbarn ihrer Freundin Liz hatten sie gesehen. Doch ich hatte eine weitere nützliche Entdeckung gemacht. Liz hatte mir erzählt, dass Grace ungewöhnlich lange dazu gebraucht hatte, Kaffee zu holen. Wenn man sich also am Tatzeitpunkt geirrt hätte, dann… - 88 - Oh, ja! Das musste es sein. Irgendwie hatte Mrs. Stone es geschafft, den Todeszeitpunkt zu verändern. Und genau danach musste ich jetzt Ausschau halten. Aber ich hatte doch schon überall gesucht? Die plötzliche Hoffnung, die mich soeben befallen hatte, verwandelte sich in Hilflosigkeit. Ich war eben doch ein Versager. Wie es aussah, musste ich diesen Fall den Erfahrenen überlassen. Ich seufzte tief. Dann eben nicht. Grace. Nur mit Mühe konnte ich verhindern, in Panik auszubrechen. Was wollte der Bulle noch hier? Hatte er Verdacht geschöpft? Dabei war ich mir sicher, alle Beweise vernichtet zu haben. Aber wie es aussah, musste ich irgendetwas übersehen haben. Er hatte mich aus dem Zimmer geschickt - angeblich, um in Ruhe ermitteln zu können. Nun, er hatte nicht gelogen, allerdings hatte er mir nicht verraten, was er sich zu finden erhoffte. Jetzt wusste ich es: er sammelte Beweise gegen mich! Was hatte ich vergessen? Es traf mich wie ein Blitzschlag. Ich fasste mir an Kopf und dachte: „Meine Spange!“ Nach dem ersten Verhör gleich am Tatort, hatte ich sie am Tisch liegen gelassen. Oh mein Gott, mir wurde übel. Gleich würde ich mich übergeben. Ich rannte ins Badezimmer und kotzte mir die Seele aus dem Leib. Wenn ich noch länger hier bleiben müsste, würde es aus sein mit meiner Selbstbeherrschung. Dabei hatte ich mich schon in Sicherheit gewogen. Ich hatte sogar schon versucht, meinen Stiefvater umzubringen. Oh mein Gott, was sollte ich nur tun? Ich atmete tief ein und aus. Erstens durfte ich mich nicht durch auffälliges Verhalten verraten. Vielleicht stand es noch gar nicht so schlecht um mich. Zweitens musste ich den Polizisten aus der Wohnung bringen. Und drittens… Es blieb mir nichts anderes übrig. Ich musste es tun, einen Versuch war es wert. Vielleicht wusste wirklich niemand außer ihm, was ich getan hatte. Falsch, verbesserte ich mich: Vielleicht ahnte wirklich niemand außer ihm, was ich getan hatte. Ich nahm kaum war, dass Mr. Parker aus der Wohnung ging. Nun Problem zwei hatte sich erledigt. Problem eins gab es im Moment nicht. Also blieb nur mehr Problem drei. Sollte ich es gleich jetzt tun? Nein, das wäre nicht gut. Ich hatte noch keinen blassen Schimmer, wie ich es tun würde, und überhaupt war es bereits viel zu spät. Mr. Parker würde jetzt nicht mehr zur Polizeiwache zurückgehen. Gestern als Mr. Parker gegangen war, und ich bereits im Bett gelegen hatte, hatte ich den Entschluss gefasst. Mr. Parker wusste zu viel. Er musste eliminiert werden. Über das Telefonbuch hatte ich seine Adresse herausgefunden. Nun stand ich ein paar Stufen über seiner Wohnungstür und verschaffte mir einen Überblick. Es war wie für mich gemacht. Ich befand mich im siebenten Stockwerk. Die Stiege hatte kleine schmale Stufen und sah gefährlich aus. Die nächste Ebene befand sich etwa zwei Meter unter mir und war sehr schmal. Sie konnte einen Sturz schwer bremsen. An einem Ende dieser Plattform fehlte das Geländer. Wenn man unglücklich fiel, konnte man durch das Loch im Geländer zirka zehn Meter in die Tiefe fallen. So etwas überlebte man nur mit einer Riesenmenge Glück. Mr. Parker würde kein Glück haben. Ich hatte ein paar Stufen unter mir eine Schnur quer über die gesamte Länge gespannt. Wenn er die Treppe hinunterging, würde er über die Schnur stolpern. Im selben Moment wollte ich ihm einen Schubs geben. Natürlich mit Handschuhen, aber das war doch selbstverständlich. Doch jetzt hieß es, Geduld zu haben und dann genau im rechten Moment zuzuschlagen. Es kam mir vor, als wäre eine halbe Ewigkeit vergangen, als sich endlich die Tür öffnete. Mr. Parker sah schrecklich aus. Seine Augen waren blutunterlaufen, seine Lippen hatten einen ungesunden Blauton, und ich konnte darauf schwören, noch nie eine so rote Nase gesehen zu haben. Seine offensichtliche Krankheit würde mir einen weiteren Vorteil verschaffen. Ein kranker Mr. Parker war mit Sicherheit leichter zu Fall zu - 89 - bringen, als ein gesunder. Fiebernd wartete ich auf den richtigen Augenblick. Doch der kam nicht. Mit einem Stöhnen hob Mr. Parker die Zeitung auf, murmelt etwas und verschwand wieder hinter der Tür. Meine Freude verwandelte sich in Zorn. Wie konnte es sich dieser trottelige Hilfsinspektor einfallen lassen, krank zu werden? Aber ich beruhigte mich schnell wieder. Mir würde schon noch etwas anderes einfallen. Ich musste nur scharf nachdenken. In Gedanken verließ ich das schäbige Haus. Wenn ich mich recht erinnerte, musste man, wenn man länger als einen Tag krank war zum Arzt, um eine Krankheitsbestätigung einzufordern. Und selbst wenn nicht - Mr. Parker sah so aus, als ob er morgen auf jeden Fall zum Arzt gehen würde. Morgen würde ich es noch einmal probieren, und dann würde es mir gelingen. Hilfsinspektor Thomas. „Hatschi“ Umständlich schnäuzte ich mich in ein Taschentuch. Ich fühlte mich hundsmiserabel. Mir war schwindelig - ein weiterer Grund, um zum Arzt zu gehen. Ich trat in das Treppenhaus und machte mich auf den Weg nach unten. Hinter mir nahm ich eine schemenhafte Gestalt wahr. Wahrscheinlich Mrs. Pumpanikel, die sich wegen was weiß ich beschweren wollte. Mit ihrem rosa Lippenstift und den mindestens fünfzehn Zentimeter hohen Absätzen versuchte sie, von ihrer riesigen Schweinchennase ablenken. Trotz meines Zustands schnaubte ich verächtlich. Plötzlich stolperte ich. Was machte eine Schnur im Treppenhaus? Ich versuchte, mich am Treppengelände festzuhalten. Auf einmal bekam ich einen Stoß von hinten. Mit dem Kopf voran krachte ich auf eine Stufenkante und überschlug mich. Blut rann mir in die Augen und versperrte mir die Sicht. Alles, was darauf folgte, erlebte ich wie in Zeitlupe. Vor mir sah ich durch einen Blutschleier das Geländer auftauchen. Ich streckte meine Hand aus, um mich festzuhalten, doch ein weiterer Schlag ließ mich auf das Loch im Geländer zuhalten. Mit dem Handrücken wischte ich mir das Blut aus meinen Augen. Endlich konnte ich wieder vernünftig sehen. Neben mir konnte ich die Gestalt meines Verfolgers erkennen. Es war nicht Mrs. Pumpanikel, die Gestalt war viel zu schlank dafür. Ich erkannte weizenblonde, lange Haare, eine zierliche aber schiefe Nase und große haselnussbraune Augen. Ich kannte diese junge Frau. Grace Kelly Stone war gerade dabei, mich umzubringen! Diese Tatsache wiederholte ich in Gedanken immer wieder, bis Panik über mich hereinbrach. Nur noch ein paar Zentimeter trennten mich von dem tödlichen Loch, ein paar Sekunden Leben. Was sollte ich tun? Noch einmal versuchte ich mich festzuhalten, dann gab ich auf. Ich fiel, wollte schreien, doch es ging nicht. Kein Ton kam über meine Lippen. Der Boden kam immer näher und näher. Zehn Meter, wie sollte ich das überleben? Dann schlug ich auf. Wilder Schmerz durchzuckte meine Glieder. Einige Rippen bohrten sich in meine Lunge. Ich bekam keine Luft mehr, spuckte Blut. Dieser Schmerz… er war unerträglich, ich wollte, dass er aufhört. Leise begann ich zu wimmern. Verschwommen konnte ich erkennen, dass Grace an mir vorbeilief, sorgsam darauf bedacht, nicht in mein Blut zu treten. Wo blieben die Nachbarn? Warum kam niemand? Dann erinnerte ich mich daran, wie spät es war. Viel zu früh, um zur Arbeit zu gehen. Wieder spuckte ich Blut. So höllische Schmerzen. Schließlich hörte der Schmerz auf. Vollkommene Schwärze und Stille umgab mich. Und dann war nichts mehr… Grace. Heute war Weihnachten. Ich würde den Tag mit Sarah Parker verbringen. Sie hatte ein paar weitere Freunde eingeladen. Eigentlich wollte ich nicht kommen. Ich fühlte mich elend - 90 - und musste ständig daran denken, was ich gestern getan hatte … so kurz vor Weihnachten! Aber da niemand sonst mit mir feiern konnte, hatte ich mich meinem Schicksal ergeben. Eigentlich hätte ich längst dort sein sollen, immerhin hatte ich Sarah versprochen, ihr bei den Vorbereitungen zu helfen. Schließlich überwand ich mich, klopfte an und trat ein. Der verführerische Duft von selbstgebackenen Lebkuchen schlug mir entgegen. Obwohl ich es Sarah nie zugetraut hätte, war sie die beste Köchin, die ich kannte. Sie hatte ein wunderschönes Puppengesicht mit großen saphirblauen Augen. Obwohl sie gern und gut aß, war sie spindeldürr. Abgesehen vom Kochen bestand ihre Lieblingsbeschäftigung darin, Shoppen zu gehen. Und selbstverständlich hatte sie die High School als Prom Queen verlassen. „Hi, ich bin da!“, rief ich in die Wohnung hinein. „Wird aber auch Zeit! Du bist so spät wie immer …“, tönte es aus dem Nebenzimmer, in dem sich die Küche befand. „Was soll ich machen?“ „Wohnzimmer dekorieren!“ „Wird erledigt, Boss!“ Irgendwie war ich froh, mit Sarah einen leichten Ton anzuschlagen. Es würde mir helfen, meine grässliche Tat zu verdrängen. Im Wohnzimmer erwartete mich solch ein Durcheinander, dass ich am liebsten kehrt gemacht hätte. Aber die Vorstellung, allein in der Wohnung zu sein, in der Darren gestorben war, hielt mich davon ab. Stattdessen machte ich mich an die Arbeit. Das Schrillen der Haustürklingel ließ mich aufschrecken. War es denn schon so spät? Ich hörte, dass Sarah die Tür öffnete und die ersten Besucher überschwänglich begrüßte. Neugierig ging ich ins Vorzimmer. Zwei Personen standen in der Tür, einen erkannte ich sofort: Mark! Meine schlimmsten Befürchtungen waren wahr geworden. Ich konnte den Typ nicht leiden. Er konnte zwar nichts dafür, dass er mit mir zum ungünstigsten Moment ausgehen wollte und ich war vielleicht etwas nachtragend. Aber Mark war nicht der Mann, mit dem ich Weihnachten feiern wollte. Auch die Gestalt hinter ihm erkannte ich. Der junge Mann war ein Freund von Mark, ich hatte ihn einmal zusammen mit ihm gesehen. „Grace, darf ich dir Kevin vorstellen? Kevin, das ist Grace.“ Mark deutete zwischen mir und dem jungen Mann hin und her. „Schön dich kennen zu lernen, Mark hat mir viel von dir erzählt“, begrüßte mich Kevin. Er hatte ein süßes Lächeln. Wie es aussah, war der junge Mann ziemlich nett. Seine Anwesenheit versöhnte mich mit dem Umstand, dass ich so gar nicht in Weihnachtsstimmung war. Vielleicht würde es doch noch ein halbwegs brauchbarer Abend werden … 3. Kapitel Grace. Es war eisig kalt. Ich wartete auf den Schulbus, der sich wegen der Schneemassen wieder einmal verspätete. Bis auf den Wind, der trotz des altmodischen Wartehäuschens mein Haar zerzauste, war es mucksmäuschenstill. Durch den dichten Nebel konnte ich die dunklen Umrisse einiger Häuser erkennen. Dann plötzlich tauchte ein Licht auf. Bewegte es sich auf mich zu? Kamm jemand zu mir? Waren das Schritte? Nein, das hatte ich mir sicher nur eingebildet. Die Scheinwerfer des Autos waren bereits verschwunden. Es musste ein Auto gewesen sein, oder etwa nicht? Ich erkannte die Silhouette eines Mannes - keinen Meter entfernt von mir. Ich bekam eine Gänsehaut, wollte schreien. Es ging nicht. Kein Ton kam über meine Lippen. Zitternd drückte ich meine Jacke noch fester an mich. Auf einmal wurde es hell, so hell. Ich sah nichts mehr. Dann plötzlich ein lautes Hupen. Ich kannte dieses Hupen. Mein Schulbus, endlich. Schnell schnappte ich mir meine Schultasche und stieg ein. Als der Bus sich wieder in Bewegung setzte, erkannte ich, dass das, was ich für - 91 - den Mann gehalten hatte, nur ein kleiner Baum war. Erleichtert ließ ich mich in meinen Sitz fallen. Genau so musste Melanie sich jetzt fühlen. Der Nebel, der Wind, die Dunkelheit - alles war wie damals. Nur würde ihre Geschichte nicht so gut enden. Sie würde sterben. Bei diesem Gedanken lächelte ich. Melanie war die Tochter meines Stiefvaters aus erster Ehe. Mit ihr war viel Böses aus meinem einstigen Leben verbunden. Es war mein gutes Recht, sie umzubringen. Ich hatte alles genauestens geplant. Bis die Feuerwehr die Straße von den querliegenden Bäumen freigelegt hätte, würde Melanie längst hängen. Drei Meter trennten mich noch von ihr, jetzt musste ich leise sein. Ich nahm den Strick fester in meine behandschuhten Hände und kam weiter auf sie zu. Nun stand ich direkt hinter ihr, trotzdem hatte sie mich noch nicht bemerkt. Blitzschnell legte ich den Strick um ihren Hals. Melanie wollte schreien, aber ich hielt ihr mit der linken Hand den Mund zu. Währenddessen bastelte ich mit meiner Rechten einen Henkerknoten mit sechsfacher Umschlingung. Mit nur einer Hand und um den Hals eines sich sträubenden Mädchens war das gar nicht so einfach. Aber ich hatte fleißig geübt. Schließlich hörte das Mädchen auf, sich zu wehren und begann zu wimmern. Vorsichtig nahm ich meine Hand von ihrem Mund. Sie schrie nicht. Wie es aussah, war sie in eine Schockstarre verfallen. Das war ausgezeichnet. So war es viel leichter. Geschickt band ich das andere Ende an einem Querbalken des Wartehäuschens fest. Er lag so hoch, dass ich mich auf die Zehenspitzen stellen musste, um ihn zu erreichen. Mit der anderen Hand hob ich Melanie hoch. Sie war ungewöhnlich leicht. Als der zweite Knoten ebenfalls fertig war, ließ ich Melanie los. Dreißig Zentimeter vor dem Boden blieben Melanies Füße in der Luft hängen. Ihr Hals dehnte sich und sie begann zu röcheln. Mein Blick fand ihre Schultasche, ich öffnete sie und suchte nach ihrem I Phone. Als ich es gefunden hatte suchte ich auf Google eine Seite, wo der von mir angewendete Henkerknoten genau beschrieben war. Ich legte das Handy auf die Sitzbank und ließ die Seite geöffnet. Danach eilte ich um das Wartehäuschen herum und begann die großen Steine, die dort lagen, zu Melanie zu tragen. Unter ihren Füßen baute ich damit einen kleinen Turm aus Steinen. Ich achtete darauf, dass die obersten Steine am wackeligsten und kleinsten waren. Dann nahm ich Melanies Füße und schupfte sie hin und her. Einige Steine fielen von dem Turm. Genau diesen Effekt wollte ich erzielen. Schließlich ging ich ein paar Schritte zurück und begutachtete mein Werk: Melanie hatte einen Steinhaufen zusammengetragen, war hinaufgestiegen, hatte sich den Strick um den Hals gelegt und durch das Gezappel ihrer Beine war der Steinhaufen umgefallen. Alles sah wie Selbstmord aus. Ich war zufrieden. Eilig machte ich mich auf den Weg zu Taxistand. Und plötzlich durchfuhr mich ein Schock: Melanie war unschuldig. Ich stieg aus dem Taxi aus und bezahlte. Ich bekam nur am Rande mit, welche Summe mir der Fahrer nannte. Es handelte sich dabei um einen korpulenten Mann der meiner Schätzung nach zu urteilen so um die 50 war, aber genau konnte ich das nicht sagen, denn ich war nicht gut im Schätzen des Alters von fremden Leuten,. Danach knallte ich die Tür des quietschgelben Taxis zu und machte mich auf den Weg. Wohin, wusste ich selbst nicht genau. Ich ging meine Optionen durch: ich konnte erstens nach Hause gehen, was ich auf keinen Fall wollte, mich zweitens der Polizei zu stellen, was auf eine Katastrophe hinauslaufen würde, drittens wieder bei einer Freundin zu übernachten, was auch nicht ziemlich erfreulich enden würde oder viertens mich irgendwo zu verkriechen, wofür ich mich letztendlich auch entschied. Auf der Taxifahrt war mir bewusst geworden, dass ich gerade ein elfjähriges Kind umgebracht hatte, das ich zu allem Überfluss auch noch ziemlich gut leiden konn- 92 - te. Es hatte keinen Zweck, ich konnte zwar jedem, wirklich jedem etwas vormachen, die Polizei in die Irre führen, meine Freunde täuschen, jeden Mord vertuschen, doch da war eine Person, die es immer wissen würde, und diese Person war ich. Mich selbst konnte ich nicht täuschen, so sehr ich es mir auch einredete, so sehr ich mich auch anstrengte, es funktionierte einfach nicht. Ich konnte es nicht einfach vergessen, das Gefühl des toten Körpers unter meinen Fingern oder der Rausch, das Hochgefühl -, das war etwas, das ich mit Alkohol einfach nicht erreichen konnte. Das hatte ich schon versucht. Dennoch waren da die Schuldgefühle, die Scham nur wenige Stunden danach, wenn mir bewusst wurde, dass mein Machwerk falsch war und dass die Gefühle, die ich danach empfand, genau die Gefühle waren, die ich empfinden musste. Es war ein Teufelskreis, den ich nicht beenden konnte - und zu meiner Überraschung auch nicht beenden wollte. Es tat mir gut, ohne jedwede Erinnerung an meinen Stiefvater zu leben. Da war noch das Problem, dass mein Stiefvater selbst noch immer ungestört durch die Gassen und Straßen der Bronx wandern konnte, ohne dass auch nur irgendjemand bemerkte, welch grausame Machenschaften er verübte. Es ekelte mich an! Der Versuch, ihn zu töten, war gescheitert. Und das würde noch eine Zeit lang so bleiben. Es sollte sich ja kein Muster dahinter verstecken. Es ist noch vieles zu erledigen, und durch den Mord an Melanie hatte ich mir bewiesen, dass ich keine Angst davor hatte, mir die Finger schmutzig zu machen. Ich konnte skrupellos handeln, was ziemlich gut für den weiteren Verlauf war. Aber nun wanderte ich mit diesem Wissen durch die Straßen New Yorks, bis mich eine Welle der Trauer übermannte. Es war zu meiner Verwunderung nicht die Trauer, die man einfach unterdrücken konnte, wenn man wollte. Es war die Sorte, die einen verschluckte, die einem den Atem raubte und mit der man nicht so leicht fertig wurde. Mir war bewusst, dass ich nicht weiter durch die Straßen gehen konnte, ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Ich wusste überhaupt nicht, wo ich war, also entschied ich, mir erst mal ein Straßenschild zu suchen, an dem ich mich orientieren konnte. Ich war in Brooklyn. Das war gut. Und es war ein Park in der Nähe, was auch gut war. Ich ging geradewegs auf den Park zu, ging hinein und betrachtete ihn erst mal. Es war ein Park mittlerer Größe mit mächtigen Bäumen, die kreuz und quer verstreut standen, vermutlich alle hunderte Jahre alt. Letztendlich entschied ich, mich auf eine Parkbank zu setzen, die tief hinter ein paar alten Bäumen verborgen lag. Das weiß gestrichene Holz roch nach Haselnuss. Das lag wohl daran, dass die Parkbank direkt neben einem Haselnussbaum stand. Aus der leichten Schneedecke lugten ein paar Spitzen grünes Gras heraus. Obwohl es schon spät war, war es noch nicht vollkommen dunkel. Ich setzte mich auf die Parkbank, kauerte mich zusammen, zog die Beine an meine Brust und horchte auf das Schluchzen, das in unregelmäßigen Abständen aus meiner Kehle kam. Ich sah mich um und schaute wieder auf den Schnee, der nun, da sich meine Augen mit Tränen füllten, undeutlich davor verschwamm. Als ich merkte, dass mich das nicht beruhigte, konzentrierte ich mich auf meinen Atem. Doch auch das konnte mich nicht beruhigen, aber ich konnte wenigstens anfangen, nachzudenken. warum hatte ich Melanie umgebracht? Warum hatte ich überhaupt mit dem Töten begonnen? Warum musste Darren sterben? Es waren Fragen, auf die ich keine Antwort wusste. Ich wusste auch nicht, warum ich überhaupt anfing, Fragen zu stellen. Was wusste ich dann eigentlich noch? Ich wusste nur, dass ich eigentlich so gut wie gar nichts wusste. Das Schluchzen war immer noch da, genauso wie die Tränen, die unaufhaltsam meine Wange hinunterliefen und auf meine Jacke tropften. Mittlerweile hatte ich einen leichten Salzgeschmack im Mund, der mich aber nicht weiter störte. Was mich aber störte, regelrecht aufregte, war die Tatsache, dass ich keine Antworten fand. Aber ich musste welche finden, ich musste es wenigstens versuchen. Ich hatte Melanie umgebracht, weil sie mich an meinen Stiefvater und seine grauenhaften - 93 - Schläge erinnerte, wobei jeder Schlag erniedrigender war als der andere, und danach litt ich Höllenqualen, mit denen ich immer lange nach den Schlägen noch zu kämpfen hatte. Ich hatte mit dem Töten begonnen, weil mich Darren an meinen Stiefvater erinnerte und diese Erinnerung mich einfach zu sehr schmerzte. Auch wenn diese Antworten keine Lösung des Problems waren, konnte ich es nun deutlich spüren: Da war ein Monster, eine dunkle Seite in mir, die Rache wollte. Aber da war auch die Erkenntnis, dass es nicht richtig war. Ich spürte das Verlangen danach, es einfach hinter mir zu lassen. Aber dazu war ich nicht in der Lage, ich musste beenden, was ich begonnen hatte. Außerdem wurde mir bewusst, dass ich auch körperlich spüren konnte. Es war absurd, doch irgendwie half es mir, die Wahrheit zu realisieren. Ich sah ein, dass das Nachdenken nicht half und dass es wohl am einfachsten war, mich wieder dem Schluchzen zu widmen. Und genau das war es, wonach ich suchte: Den einfachsten Weg. Ich starrte auf den Schnee, den ich noch immer nicht klar sehen konnte, bemühte mich, nicht laut zu sein, doch es half alles nichts. Ich konnte das soweit eindämmen, das ich die Schritte auf dem Gehweg hörte, der nicht weit von mir entfernt lag, durch den Haselnussbaum konnte ich aber nicht sehen, wer sich auf dem Gehweg herumtrieb. Es war Mischung aus High Heels und Männerschuhen. Ich hielt den Atem an. Gott sei Dank! Die Schritte entfernten sich wieder, bis ich sie nicht mehr hören konnte. Es war inzwischen schon längst dunkel, und ich schaute hinauf in den Nachthimmel, konnte keine Sterne aber dafür einen fast Vollen Mond entdecken. Ich war nicht abergläubisch, aber der Vollmond machte mich immer ganz kribbelig. Ich hatte mich normalerweise gut im Griff, aber bei Vollmond konnte ich mich nur schwer kontrollieren. Da waren sie wieder! Die Schritte! Sie kamen näher. Ich ließ mich von der Bank gleiten und duckte mich hinter die Querbalken. Von dort hatte ich einen guten Blick auf eine andere Parkbank, die ebenfalls aus weißem Holz war. Eine Frau setzte sich. Ihre Haut schien im blassen Mondlicht aschfahl. Sie trug eine Hose, deren Farbe ich nicht definieren konnte und einen giftig grünen Cardigan Die Sorte Grün, die man nicht in der Natur findet. Ihr Haar war lockig und die Farbe ähnelte der ihres Gesichtes: aschfahl. Ihre Haarmähne hing ihr bis zur Taille über den Rücken hinab. Sie kramte in ihrer riesigen Tasche, die mit dem karmesinroten Farbton gar nicht auffälliger hätte sein können. Die Frau schaute sich fast panisch nach allen Seiten um, und als sie mich erblickte erschrak sie. Ich kroch hinter der Bank hervor und tat so, als würde ich sie nicht beachten. Es funktionierte, denn sie schaute wieder weg. Sie kramte wieder in ihrer Tasche und holte nach einigen Augenblicken etwas heraus.. Nach einiger Zeit hörte ich wieder Schritte, diesmal entfernten sie sich, doch sie kamen gleich darauf zurück. Zu meinem Entsetzten sah ich, dass eine große männliche Gestalt direkt auf mich zuging. Ich war in Panik, doch ich entschied, der Gestalt einfach keine Beachtung zu schenken. Aber als ich ihren Schatten über mir sah, wusste ich nicht, was ich tun sollte. Ich hatte einfach nur Panik. Panik, die alles überstieg. Jedes Gefühl, das ich bisher in meinem Leben gefühlt habe, war nicht so stark wie die Panik, die ich fühlte. Das einzige, was meine Angst noch übertraf, war der Hass auf meinen Stiefvater. Mit zusammengekniffenen Augen sah ich zu der Gestalt auf. Kevin. Wie immer wanderte ich nachts, wenn ich von einem langen Tag an der Uni nach Hause kam, gleich durch den Park. Doch irgendetwas war heute anders. Ich sah mich nach allen Seiten um, konnte aber nichts entdecken. Ich horchte, und da war es: Das Geräusch, so voller Schmerz, dass das bloße Horchen schon Folter war. Es war ein Schluchzen, das von weiter hinten kam. Ich drehte mich um, doch da war nichts. Ich ging hinter die Bäume, - 94 - und da war es: Der Ursprung des Schluchzens. Ein Mädchen, oder besser gesagt eine Frau. Soviel ich erkennen konnte, war sie nicht viel jünger als ich. Und bei genauerem Hinsehen erkannte ich das Mädchen, das mir mein bester Freund gezeigt hatte, das Mädchen, das er wegen ihrer Stärke so unheimlich mochte. Doch nun saß sie da, offensichtlich verletzt, und ich konnte nicht anders, als zu ihr hinzugehen, mich neben sie zu setzen und sie einfach nur anzusehen. Ich musterte sie und war mir auf einmal sicher, dass sie es war. Ich räusperte mich und fragte sie, was los war. Sie gab keine Antwort, das Schluchzen wurde noch herzzerreißender. Ich nahm ihre Hand und suchte ihren Blick. Sie sah auf und sah mir direkt in die Augen. Selbst der Medizinstudent in mir, der Menschen begutachtete, ohne dabei etwas zu empfinden, konnte keinen einzigen Makel entdecken. Sie schien mir zu vertrauen. Ihre haselnussbraunen Augen musterten mich, bevor sie wieder geradeaus in den matschigen Schnee schaute. „Ich weiß nicht genau, warum ich dir das jetzt erzähle. Aber es wäre schön, wenn du ein Weilchen bei mir sitzen bleiben könntest.“ Sie lächelte unsicher. Mein Herz machte einen Sprung. Ich nahm wieder ihre zierliche Hand und sie legte den Kopf an meine Brust. Wir saßen eine Ewigkeit so. Ich weiß nicht, wann ich mich zuletzt so vollkommen glücklich gefühlt hatte. Erst als die Kälte der Märznacht nicht mehr länger zu ignorieren war und meine Hände schon ganz steif gefroren waren, nahm ich seufzend den Arm von ihrer Schulter. „Ich glaube, du solltest langsam nach Hause. Ich könnte dich bringen, wenn du willst“, sagte ich. Ihre Augen leuchteten im Mondlicht. „Ja, das wäre lieb“, antwortete sie schließlich. Wir standen auf und machten uns auf den Weg. Grace. Was für ein zauberhafter Name. Und wie passend für dieses Mädchen aus Manhattan. Ich konnte es fast nicht glauben, dass dieser Engel sich bei mir eingehängt hatte, und ich im Gleichschritt mit ihm über das Straßenpflaster schwebte. Ursprünglich hatte ich nur nach Hause gewollt, um unter die Decke zu schlüpfen und endlich einmal auszuschlafen. Doch jetzt spielte es keine Rolle mehr, dass Brooklyn in der entgegengesetzten Richtung lag. Ich hätte noch stundenlang mit ihr durch die Stadt laufen können, ohne müde zu werden. „Nun komm ich schon allein zurecht“, sagte sie, als wir schließlich vor ihrem Haus angelangt waren. Ich wollte nicht, dass sie wieder so einfach aus meinem Leben verschwand. „Okay, aber wir sollten und wieder sehen“, stotterte ich. Sie lächelte. „Auf jeden Fall. Ich gebe dir meine Telefonnummer“, sagte sie und nahm ein Stück Papier und einen Stift aus ihrer Tasche. Sie schrieb ein paar Ziffern darauf und reichte es mir. Sie wandte sich zum Gehen und ich tat dasselbe. Als sie schon fast verschwunden war rief ich: „Ich ruf dich an!“ In Gedanken fügte ich noch hinzu: Und das sicher so bald wie möglich. 4. Kapitel Grace. Ich war einfach nur happy. Es würde nicht lange dauern, dann würde es klingeln und ich würde ihm mit einem strahlenden Lächeln in die Arme fallen. Wir wollten heute ins Kino und er würde den Film aussuchen. Ich hoffte auf einen Actionfilm. Mit diesen Liebesschnulzen konnte ich nichts anfangen. Das Klingeln riss mich aus meinen Gedanken. Ich rannte zur Tür, schaute auf dem Weg dorthin nochmal schnell in den Spiegel und checkte, ob alles richtig saß. Dann riss ich die Tür auf und da war er: Kevin. Medizinstudent, super Aussehen, … und doch war er nur ein Freund. Wir umarmten uns, ich griff nach meiner Tasche und meinen Schlüsseln und dann - 95 - machten wir uns auf den Weg. Wir quatschten über unseren Tag und ich merkte, dass heute etwas an ihm anders war. Als er beim Hinausgehen aber nach meiner Hand fasste, hatte ich den Gedanken gleich wieder vergessen. Wir nahmen uns ein Taxi. Kevin wollte mir zu meinem tiefsten Bedauern nicht sagen, welchen Film wir anschauten. „Überraschung!“, lachte er und zwinkerte mir zu. Hatte er vergessen, wie sehr ich Überraschungen hasste? Einmal hatte er mich auf der Straße gesehen und mir zum Spaß die Augen zugehalten. Ich hatte nach ihm getreten und ihn voll erwischt, und zwar genau an der richtigen Stelle. Tja, … für ihn war es wohl die falsche … Auf jeden Fall konnte er fast eine Stunde lang nicht aufrecht gehen. Da half es auch nicht viel, dass ich mich gefühlte hundert Mal dafür entschuldigte. Arm in Arm betraten wir den Kinosaal und setzten uns auf unsere Plätze. Es dauerte nicht lange, da lief der Vorspann an. Ich war zutiefst schockiert, als das Wort Titanic groß auf der Leinwand erschien. Der Film war fast zu Ende, als Kevin den Arm um mich legte. Ich hatte gar nicht gemerkt dass ich zitterte, aber es war eben so traurig. Ich schaute Kevin an, unsere Gesichter näherten sich langsam und dann plötzlich lag sein Mund auf meinem und es war das schönste Gefühl der Welt. Wehmütig entfernten wir uns wieder voneinander und er setzte ein verschmitztes Lächeln auf. Also, wenn ich geglaubt hatte, Darren könnte gut küssen, hatte ich mich gewaltig getäuscht. Als der Film aus war, gingen wir Hand in Hand aus dem Kino, und als er meine Hand kurz drückte, machte mein sowieso schon gemartertes Herz noch einen kleinen Sprung. Kevin schlug vor, noch eine Pizza essen zu gehen, was mich sehr freute, denn ich hatte ihm vor Kurzem gesagt, dass mein Lieblingsessen Pizza ist. Das bezeugte, dass er aufmerksam zugehört hatte. So machten wir uns auf den Weg. Wir fuhren mit der U-Bahn zu Luigis, einem kleinen Italiener in der East 22nd Street. Das Lokal war ein Geheimtipp und wie erwartet gesteckt voll. Ich hatte keine Hoffnung, noch einen Platz zu bekommen. Doch Kevin hatte einen Freund, der dort arbeitete, und so bekamen wir einen Tisch in der hintersten Ecke des Lokals. Als mir Kevin den Mantel abnahm und ich mich auf den Stuhl setzte, stieg mir der Duft von Lasagne und Oregano in die Nase. Eine junge Kellnerin kam zu uns und nahm unsere Bestellung auf. „Die hat ganz schön was auf den Hüften, findest du nicht?“, flüsterte ich Kevin ins Ohr und beugte mich dabei zu ihm über den Tisch. Kevin zwinkerte mir zu. „Es kann ja nicht jeder so eine makellose Figur haben wie du.“ Er grinste und ich spürte, wie Hitze in meine Wangen schoss, als sein Blick für einen Moment an meinem Ausschnitt hängen blieb. Rasch lehnte ich mich zurück und vertiefte mich angestrengt in die Speisekarte. Kevin bestellte Cola und Spaghetti Bolognese. „Lasagne und ein Glas Wasser, bitte“, krächzte ich hinter der Menükarte und räusperte an dem Frosch, der mir im Hals saß. Kevins Finger schlossen sich warm um meine Hand, während er einen Aperitif orderte. „Ein Gläschen Sekt hilft bestimmt!“ Ich hörte deutlich das Lachen in seiner Stimme. Als wir an unserem Orangensaft-Sekt Getränk nippten, kam ich mir irgendwie seltsam vor. Vor gerade einmal einer halben Stunde hatten wir uns geküsst, und nun tat er so, als wäre nie etwas gewesen. Als die rundliche Kellnerin unser Essen brachte, fragte ich: „Wie fandest du denn den Kinobesuch so?“. Die erwartete Antwort kam nicht, er zog sich nur ganz dreist seine Spaghetti in den Mund. Ich ließ meine dampfende Lasagne noch ein bisschen stehen, aus Angst, mir die Zunge zu verbrennen und mich vollkommen zu blamieren. Als ich schließlich nach ein paar Minuten ein Stückchen probierte, zerging sie wie ein Feuerwerk der Geschmäcker in meinem Mund. Als wir aufgegessen hatten, bestellten wir uns noch einen Eisbecher. Die Kellnerin teilte uns mit, dass sie nur mehr über das Eis für einen Eisbecher verfügten. Kevin fragte mich sofort, ob wir uns nicht den Eisbecher teilen wollten. Dieses Angebot nahm ich natürlich dankend an, und wir bestellten. Als sie uns dann unser Eis mit den zwei Löffeln brachte, war ich etwas skeptisch. Als ich gerade einen Löffel Schokoeis in den Mund nehmen wollte, bemerkte ich, dass Kevin mich anstarrte. Ich erstarrte in meiner Bewegung und - 96 - fragte Kevin, was denn los sei. Sein Blick schmolz dahin, und es schien fast so, als wäre er in einer anderen Welt. Ich sah in kurz an, bevor ich mich wieder von ihm abwandte, nur um kurze Zeit später zu fragen, was denn los sei. Ich bekam lange keine Antwort. Doch als ich dann die verlegene Antwort: „Tja, du faszinierst mich einfach“ erhielt, war es um mich geschehen. Ich konnte nicht umhin zu fragen, was da im Kino los gewesen war, und warum er sich jetzt so komisch benahm. Als ich lange keine Antwort erhielt, sah ich zu ihm auf, nur um erneut zu bemerken, dass er mich mit seinen haselnussbraunen Augen ansah. Es regte mich mittlerweile schon ziemlich auf. Er schwieg die ganze Zeit, und hatte nichts Besseres zu tun, als mich die ganze Zeit anzustarren. Da ich nichts Besseres zu tun hatte, starrte ich zurück. Nichts regte sich. Es schien, als wäre die Zeit stehen geblieben. Ich wusste nicht, wie lange wir so dasaßen, alles was ich sagen konnte war, dass das Eis geschmolzen war. Die Kellnerin kam, und nahm das Eis mit, es regte sich jedoch keiner von uns. Es war zwar ziemlich schwer, nichts zu sagen, denn es brannten mir tausend Fragen auf der Zunge. Es wurde schon fast unheimlich, mittlerweile kannte ich jeden seiner Gesichtszüge, weil wir uns schon so lange anstarrten. Später meinte ich eine Regung in seinem Gesicht zu erkennen, doch ich hatte mich wohl getäuscht. Das war nicht mehr normal, dachte ich und stand auf. Ich ging zum Tresen, bezahlte meinen Teil der Rechnung, holte meine Jacke und ging. Ich drehte mich noch einmal um, doch es war noch immer keine Regung in seiner Miene zu erkennen. Folglich drehte ich mich wieder um und ging aus dem Restaurant. Da es schon sehr spät war, entschied ich mich, ein Taxi zu rufen. Doch als sie alle an mir vorbeifuhren, und es schon mitten in der Nacht war, rief ich den Taxiservice an, und bestellte ein Taxi. Das Taxi würde wohl noch eine Weile brauchen, dachte ich, doch ich blieb entschlossen stehen, trotz der klirrenden Kälte, die langsam anfing, meine Glieder zu lähmen. Plötzlich hörte ich Schritte hinter mir. Ich schätzte meine Chancen ab, wegzurennen, doch als mir bewusst wurde, dass ich keine Möglichkeit hatte, blieb ich stehen. Zielsicher drehte ich mich um, bereit, zum Schlag auszuholen, doch überrascht musste ich feststellen, das Kevin mit erhobenen Händen hinter mir stand. Ich drehte mich wieder Richtung Straße und beachtete ihn gar nicht, was eindeutig funktionierte. Als mein Taxi kam, stieg ich ein und nannte dem Fahrer die Adresse. Zu meinem Entsetzen, stieg Kevin auch mit ein. Ich ließ mir nichts anmerken. Kevin probierte oft, mich anzusprechen, doch ich hielt an meiner Strategie fest. Ich ließ mir weiterhin nichts anmerken, doch in meinem Inneren brodelte es. Tausend Gedanken schwirrten mir im Kopf herum. Unter anderem fragte ich mich, ob er mir überhaupt noch in die Augen sehen konnte, ob ich ihm überhaupt noch in die Augen sehen konnte. Es war schwer, ihm nicht an die Gurgel zu gehen, denn im Moment nervte er mich. Es war nicht mehr weit bis Manhattan, bis ich wieder in den engen Gassen mit den grellen Lichtern war. Kevin bemerkte, dass sich ein Lächeln auf meinem Gesicht ausbreitete. Ich wollte ihn nicht dazu veranlassen, noch etwas zu sagen, also starrte ich aus dem Fenster. Schon bald sah ich die Fassade meines Wohnhauses, es konnte nicht mehr weit sein. Als ich ausstieg stieg Kevin, wie nicht anders zu erwarten, ebenfalls aus dem Taxi. Ich wollte dem Taxifahrer schon das Geld geben, als Kevin schnell einen Schein zückte und ihm dem Fahrer wortlos zusteckte. Es waren nur noch ein paar Schritte bis zum Eingang, doch als ich gehen wollte, hielt mich Kevin am Ärmel fest. Ich drehte mich zu ihm um, wollte mich wehren, doch er war stärker. Er nahm mich nun in seine Arme und küsste mich. Er küsste Leidenschaftlich und, natürlich, hervorragend. Ich wollte mich erst nicht von ihm lösen, musste mir aber dann doch sagen, dass ich morgen eine Vorlesung hatte und dass ich nicht zu spät kommen durfte. Also löste ich mich wehmütig von ihm. Ohne ein Wort aber mit einem strahlenden Lächeln rannte ich in meine Wohnung, ich wusste, er würde anrufen. Tja, dieser Tag lief ein bisschen anders als gedacht. - 97 - 5. Kapitel Grace. Ich ging die Straße entlang, mein Ziel vor Augen, die Kreditkarte in der Tasche, so wie jede normale Frau es auch machen würde. Doch war mein Ziel ein anderes. Ich hatte diese ekelhafte Frau, die meinen Stiefvater verführt hatte, schon immer verabscheut. Nun ging ich auf Barneys zu und hatte nur ein Ziel: Terri, die frühere Affäre meines Stiefvaters, würde dieses Geschäft nicht lebend verlassen. Den Lärm der Straße bekam ich nicht mit, ich war zu fixiert auf das, was nun auf mich wartete. Ich entdeckte sie sofort, als ich den Laden betrat. Mit ihren Pink gefärbten Haaren war Terri selbst in der Menge nicht zu übersehen. Ich schaute ganz unauffällig die Schuhe an, wobei ich einige Paare entdeckte, die ziemlich hübsch aussahen. Ich nahm ein beliebiges Paar mit und sah mich noch weiter um, wobei ich meine High Heels musterte. Sie waren von Dolce & Gabbana, etwa zehn Zentimeter hoch und blau. Sie waren schlicht, unauffällig und wunderschön. Ich entschied mich, sie zu kaufen, da sie auch extrem verbilligt waren. Doch vorher hatte ich noch etwas zu erledigen. Terri stand etwas abseits und sag sich giftgrüne Gucci Pumps an. Ich steuerte auf sie zu, doch als ich eine etwas ältere, stämmige Frau auf sie zugehen sah, blieb ich abrupt stehen. Anscheinend wollte die Frau die gleichen Schuhe wie Terri, doch als diese sie nur anschrie schnappte sich die Frau einen beigen Gucci High Heel, den eine Blondine neben ihr in der Hand hatte und schlug ihn Terri direkt auf den Kehlkopf. Danach ging alles ganz schnell. Viele Frauen rannten in Panik aus dem Geschäft, ich ging schnell weiter, schnappte mir noch ein zweites Paar Schuhe, ging unauffällig zur Kassa und bezahlte. Ich bekam noch mit, dass Terris Mörderin verhaftet und mit Handschellen abgeführt wurde. Ich hörte noch das Geräusch des davonfahrenden Polizeiwagens, dann ging ich unauffällig aus dem Geschäft, jedoch nicht, ohne mich noch einmal umzudrehen. Terri lag am Boden, Blut rann ihr über die Brust und klebte in ihren Pink gefärbten Haaren. Sie war ganz weiß, sogar ihre Lippen hatten die Farbe von Schnee. Doch das kümmerte mich nicht weiter, ich drehte mich wieder um und verließ das Geschäft. Da hatte mir diese verrückte Psychopathin aber eine Menge Arbeit erspart. Und dieses Mal musste ich die Frau nicht einmal selbst umbringen. „Tja, ich bin echt fein raus“, dachte ich, als ich auf dem Gehsteig neben der Straße entlangging. Als alle anderen sahen, dass die Frau tot war, waren sie wie eine Bande erschreckter Hühner herumgelaufen, bis sie raus aus dem Laden waren. Auch ich hatte mich schnell verdrückt. Alles, was ich noch wahrnahm, war die Verkäuferin, die schnell die Rettung anrief. Es hatte keinen Sinn mehr, sie war tot. Dass musste ich schließlich wissen, denn ich hatte genug Leichen gesehen, um es zu wissen. Dabei hatte ich ihnen bei meinen Morden nie wirklich ins Gesicht gesehen. Nur der schlaffe Körper, wie er mit blutgetränkter Kleidung am Boden lag, der kam mir bekannt vor. Es war ein erschreckender Anblick, in ihre glasigen Augen zu sehen. Doch das alles tat jetzt nichts mehr zur Sache. Die Hauptsache war, dass sie tot war. Seltsam. Ich fragte mich, ob ich darüber enttäuscht war, meinen ursprünglichen Plan nicht mehr ausführen zu können. Ich hatte vor dem hochstöckigen Autohaus warten wollen, bis sie auftauchte. Dann hätte ich ihr mit einem Taschentuch, das in Beruhigungsmittel getränkt war, Mund und Nase zugedrückt. Unfähig, sich zu wehren, hätte ich sie über die Halterung in die Tiefe geworfen. Ein paar ihrer Sachen hätte ich ihr nachgeworfen und den Rest neben ihrem Auto stehen gelassen. Dann hätte es so ausgesehen, als ob es ein für New York ganz gewöhnlicher Unfall gewesen wäre. Aber so war alles natürlich viel einfacher. Jetzt würden sie die Verrückte einsperren. Das war ein Sieg für mich - und die Gesellschaft. Mit schnellen Schritten ging ich weiter. Ich nahm - 98 - nichts um mich herum wahr. Etwas, das mir noch zum Verhängnis werden sollte. Denn als ich gerade dabei war, die Straße zu überqueren, hörte ich ein lautes Hupen und das letzte was ich sah, war die rote Karosserie eines Wagens. Stechender Schmerz durchzuckte mich, ich nahm wahr, wie mein Körper über das Autodach geschleudert wurde. Der Aufprall auf dem Boden nahm mir den Atem. Jeder einzelne Knochen in meinem Körper fühlte sich wie zertrümmert an. Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, bis es endlich schwarz wurde und ich von den Schmerzen erlöst war. Der Schlag war präzise. Blut tropfte aus meiner einst perfekt geformten Nase. In diesem Augenblick wurde es mir klar: Gegen keinen Menschen empfand ich so viel Hass wie gegen ihn. Wir hatten uns vorher gestritten. Der eigentliche Grund des Streits ging im Eifer des Gefechts verloren. Er prügelte auf mich ein. Ich hatte Schmerzen. Höllische Schmerzen, die meinen Körper lähmten und mich nur ein Gefühl empfinden ließen: Hass. Noch mehr Schmerzen. Dann war Leere. Schweißgebadet wachte ich auf. Alles um mich herum war Weiß. Wo war ich? Langsam lichtete sich der Nebel in meinem Kopf. Ich sah Kevin, der neben meinem Bett stand und besorgt aussah. „Wo bin ich“, stammelte ich. Es fiel mir immer noch schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. „Im Krankenhaus“, antwortete Kevin. „Wie geht’s dir?“ Er sah besorgt aus. Meine Antwort war kaum hörbar. „ Geht so … Was ist passiert?“ Ich konnte mich beim besten Willen nicht erinnern. Das Letzte, was ich wusste, war, dass ich auf dem Weg nach Hause war. Kevin nahm meine Hand vorsichtig in seine. “Du bist fast überfahren worden!“ In seinen Augen konnte ich sehen, wie schockiert er immer noch war. „Und woher weißt du das?“ Ich blickte immer weniger durch. Warum war Kevin hier im Krankenhaus? „Ich arbeite hier.“ Aber natürlich! Er ist ja Medizinstudent. Das war logisch. Ich hatte Schmerzen. Kevin gab mir ein Schmerzmittel und ich döste sofort ein. Von Schmerz gezeichnete Tage vergingen. Nur langsam ging es aufwärts. An einem Mittwoch kam dann plötzlich Kevin in mein Zimmer. „Hast du heute keine Schicht?“, fragte ich. „Ich hab mir frei genommen, denn du darfst nach Hause.“ Erfreut blickte ich ihn an. Eifrig packte ich meine Sachen zusammen. Doch ich wurde enttäuscht. Stunden um Stunden vergingen. Ich fragte Kevin, ob er nicht fragen könnte, warum das so lange dauerte. „Natürlich kann ich das machen.“ Mit einem Lächeln verschwand er aus dem sterilen Zimmer. Kurze Zeit später kam er wieder herein. „Die haben gerade einen Unfall hereinbekommen. Es herrscht Hochbetrieb. Das mit deiner Entlassung könnte noch ein bisschen dauern.“ „Aber warum muss denn eine Schwester diese Entlassungspapiere bringen? Warum kannst du das nicht machen?“ „Das kann ich machen, aber nur, wenn ich im Dienst bin. Und ich möchte dir doch helfen, deine Sachen nach Hause zu bringen.“ „Warum braucht man überhaupt solche Papiere? Das ist doch total sinnlos.“ „Wenn man solche Papiere nicht hätte, würde jeder Kommen und Gehen, wann er will. Stell dir mal vor, was dann im Krankenhaus los sein würde.“ Irgendwie hatte er ja Recht. Trotzdem fand ich es doof, so lange hier drin zu sitzen und - 99 - nichts tun zu können. Endlich brachte eine Schwester die Entlassungspapiere. Im Taxi nahm ich verlegen seine Hand. „Du siehst aber heute besonders gut aus“, bemerkte er. Ich lächelte ihn an. „Danke. Bestimmt weil ich wieder gesund bin.“ Wir fuhren mit dem Taxi bis zu meiner Wohnung. Ich bezahlte und er nahm meinen Koffer mit nach oben. An der Tür blieben wir verlegen stehen. „Bleibst du noch etwas?“ Ich hatte Sehnsucht nach seiner Nähe und wollte heute in der Wohnung nicht allein sein. Sprachlos nickte er … Als ich aufwachte spürte ich seinen warmen Atem an meiner Stirn. Mein Kopf lag auf seiner Brust, ich hörte sein Herz schlagen. Wenn es mir nur möglich gewesen wäre, für immer in diesem Augenblick zu verweilen. Ich zeichnete mit dem Finger sanft seine perfekt geformte Brust nach. Zart küsste ich ihn. Das weckte ihn auf. „Gut geschlafen?“, fragte er. „Es könnte nicht besser gewesen sein“, bemerkte ich. Langsam stand ich auf. Das gefiel ihm gar nicht. „Was ist, Liebling? Geh nicht weg!“ Sein Blick war noch vom Schlaf gefangen. Als er mich so zärtlich ansah, schnürte sich mein Herz zusammen. „Wir müssen reden“, antwortete ich verlegen. Er sah mich fragend an. „Tja, ich weiß nicht, wie du das siehst, aber der Status ‚Nur Freunde‘ ist meiner Meinung nach nicht mehr gültig für uns.“ „Also nach letzter Nacht ganz sicher nicht“, sagte er lachend. Meine Beine zitterten. Schnell setzte ich mich aufs Bett. „Was empfindest du für mich?“ Er sah mich lange an. Offensichtlich fehlten ihm die Worte. Mir ging es da ganz ähnlich. „Ich mag dich. Sehr.“, sagte er schließlich, ohne mich aus den Augen zu lassen. „Naja, dann… Sind wir jetzt zusammen, oder?“, fragte ich schüchtern. „Ja, das sind wir.“ Er beugte sich vor und besiegelte unsere junge Liebe mit einem Kuss. 6. Kapitel Kevin. Mit schnellen Schritten ging ich von Bryans Wohnung zu meinem Auto, bevor mir seine Umzugskiste herunterfiel. Bryan war ein guter Freund, aber er brabbelte noch mehr als ein Wellensittich. Bronx ist meiner Meinung nach ein gefährlicher Ort. Ich verstand, warum Bryan hier weg wollte. Hier also hatte Grace den größten Teil ihrer Kindheit verbracht. Die Straßen waren grau und die Gassen verdreckt. Und da erblickte ich ihn. Ein fetter Kerl mit schäbigen, schwarzen Hosen und einem braunen Shirt. Ein Mistkerl, wie er ihm Buche stand. Ich wusste sofort, wer da vor mir stand. Es war Graces Stiefvater. Er sah genauso aus, wie auf dem Foto, das Grace mir gezeigt hat. Ich schluckte schwer. Wut kochte in mir hoch. Der Kerl, der meine Freundin jahrelang geschlagen hatte, stand keine drei Meter von mir entfernt. Er sah zu mir herüber, wir sahen uns direkt ins Gesicht. „Hey, du da! Hast du ein Problem?“, blaffte er mich an. „Ja, dich!“ Ich konnte mich kaum zurückhalten. „Was?“ Jetzt kam er direkt auf mich zu. „Grace!“, sagte ich mit sicherer Stimme. Er blieb geschockt stehen. „Was?“ Man konnte ihm geradezu ansehen, wie erschüttert er war. - 100 - „Kannst du dich nicht mehr an deine eigene Tochter - oder besser gesagt Stieftochter erinnern? Das Mädchen, das du jahrelang geschlagen hast!“ Er kam noch einen Schritt näher. „Woher kennst du Grace?“ „Sie ist meine Freundin!“ Er sah an mir herunter. „Ich habe mir schon gedacht, dass die Mistschlampe nichts Besseres als so eine Schwuchtel wie dich abkriegt!“ Er lachte höhnisch und spuckte vor mir aus. Jetzt war das Maß voll. Ich trat ihm in den Schritt und er jaulte auf. Mit der Faust gab er mir eins aufs Auge und ich stolperte zurück. Er war gerade dabei, auf mich loszugehen, als Bryan mir zu Hilfe kam. Bryan war einen Kopf größer als das Arschgesicht und konnte so manchen einschüchtern. „Was ist hier los?“, brüllte er und baute sich vor dem Mann auf. Der Kerl drehte sich um, um etwas zu erwidern, bis er Bryan sah. Sein Blick wischte kurz zu mir und dann wieder zu Bryan bevor er Reißaus nahm. Bryan streckte mir die Hand hin, um mir aufzuhelfen. Ich nahm sie und mit einem Stöhnen, richtete mich auf und fasste mir ans Auge. In einem Fenster spiegelte sich mein Gesicht wieder. Ein blaues Auge würde sich nicht vermeiden lassen. Ich fragte mich, was Grace wohl zu dieser Geschichte sagen würde. Wenn ich es ihr überhaupt erzählte… Zielstrebig schlenderte ich auf das Sardi‘s zu. Ich hatte eine dunkle Sonnenbrille auf. Als ich das Sardi’s betrat, saß Grace bereits an unserem Tisch. Misstrauisch blickte sie auf meine Sonnenbrille. Ich legte meinen Mantel ab. Schnell kam eine Kellnerin. Ich bestellte ein Bier, Grace eine Cola. Ich merkte, wie Grace mich musterte. Zunächst sagte sie nichts. Die Kellnerin stellte geschickt unsere Getränke auf den Tisch. Danach bestellten wir unser Essen. „Warum hast du noch immer deine Sonnenbrille auf“, fragte sie endlich. „Keine Ahnung“, antwortete ich gereizt. Sie beugte sich vor, als wollte sie mich küssen, doch mit einer geschickten Bewegung zog sie mir die Sonnenbrille vom Gesicht. Grace saugte hörbar die Luft ein. „Was ist denn passiert?“ Nun war es passiert, was ich um jeden Preis vor ihr fernhalten wollte. „Dein Stiefvater …“ „Was?“ Es war ihr anzusehen, wie schockiert sie war. „Gestern hab ich ihn getroffen.“ „Was?“ Ihre Stimme kippte gefährlich. „Er ist handgreiflich geworden.“ „Kann ich mir denken.“ Ihr Gesichtsausdruck ließ erkennen, dass sie darüber nicht erfreut war. Dann kam das Essen, und ich war froh, denn Grace hatte von nun an nicht mehr so viele Chancen, weitere Fragen zu stellen. Als wir aufgegessen hatten, war es allerdings vorbei mit der Ruhe. „Was hat er dir denn angetan?“ In ihren Augen spiegelte sich Besorgnis. „Wir hatten ’ne Auseinandersetzung.“ „Aber …“ „Du, ich muss jetzt leider noch einmal weg.“ „Was? Wieso denn? Du kannst mich jetzt doch nicht einfach so stehen lassen? Wir müssen das besprechen! Mein Stiefvater ist …“ An Weggehen war bei ihrem Temperament nicht zu denken. Sie war auf hundertachtzig. „Naja, ich wollte mit Mark noch was trinken …“ Ich war ein schlechter Lügner, Grace durchschaute mich ohne viel Mühe. „Und dafür versetzt du mich?“ Sie hatte mich enttarnt, sie war ja nicht blöd. Ich stand auf, ging zum Tresen und bezahlte die Rechnung. Mit schnellen Schritten war ich wieder bei Grace, gab ihr einen ausgedehnten Kuss, ehe ich flink verschwand. Diese Diskussion würde ein anderes Mal zu Ende geführt werden. - 101 - Grace. Genau konnte ich mich daran erinnern, wie Katherine sich immer über mich lustig gemacht hat. Sie hat die schlimmsten Sachen zu mir gesagt, und mich immer herunter gemacht. Die anderen standen nur da und lachten. Und das alles nur, weil ich nicht so wohlhabend und hübsch wie sie war. Persönlich fand ich mich immer hübscher - etwas, das ich ihr nie gesagt hatte, weil ich wusste, was dann auf mich zugekommen wäre. Ich war damals ihr Opfer und jetzt ist sie meins. Den ganzen Morgen hatte ich vor ihrem Haus hinter ein paar Büschen gewartet, bis sie endlich herauskam. Sie trug ein rosa Top und einen Minirock. Wie immer. Ein paar weitere Minuten wartete ich darauf, dass sie mich auch sicher nicht entdeckte, bis ich ihr weiter nachschlich. In der Hand hielt ich das lange Stück Holz, einem Baseballschläger vergleichbar. Nach einiger Zeit gingen wir an einem Wald vorbei, der perfekte Ort, sie umzubringen. Und als ob es das Schicksal so gewollt hätte, blieb sie kurz stehen, um ihren Rock ein wenig zurechtzurücken. Das war meine Chance! Jetzt oder nie! So leise ich konnte, schlich ich mich näher, bis ich sie fast an den Haaren ziehen konnte. Ich konnte es beinahe nicht fassen, dass die blöde Schlampe mich bis jetzt noch nicht bemerkt hatte. Dann allerdings fiel mir auf, dass sie Ohrstöpsel hatte. Kein Wunder, dass sie mich nicht hören konnte. Die Musik drang bis zu mir vor. „So Emotional“ von Glee. Dass wir beide die Serie mochten, war wohl das einzige, was wir gemeinsam hatten. Ich hob den Stock mit beiden Händen und ließ ihn auf ihren Kopf herunter sausen. Sofort brach sie mit einem Schmerzensschrei zusammen. Den Knüppel fest in der Hand schlug ich so oft auf sie ein, bis ich sicher war, dass sie tot war. Erst als sie sich nicht mehr rührte, machte mich daran, ihren toten Körper tiefer in den Wald schleifen. Unterwegs ließ ich noch die Mordwaffe verschwinden und machte ihren Mp3 Player aus. Das wimmernde Gedudel machte mich krank. Außerdem durfte sie nicht zu früh gefunden werden. Dafür dass sie so schlank aussah, war sie ziemlich schwer. Ich packte sie mit beiden Händen am Bein und zog sie in den Wald, immer tiefer, aber nicht so tief, dass ich mich verlief. Denn das Letzte, was ich wollte, war, mit der Leiche des Mädchens, das ich gerade umgebracht hatte, in einem Wald festzusitzen. Sorgfältig versteckte ich sie unter ein paar Sträuchern und Blättern. Denn Rest würden hoffentlich die Tiere für mich übernehmen. Schnell rannte ich zurück zur U-Bahn Station. Ein Hochgefühl machte sich in mir breit. Ich würde jetzt nach Hause fahren und ein bisschen fernsehen, während Katherine im Wald verrottete. Hand in Hand schlenderten wir nebeneinander her. Wir redeten nicht viel. Es war warm für die Jahreszeit. „Also wegen dem Treffen …“ Ich musste es einfach wissen. „Ja?“ Ihm war anzumerken, dass ihn das nicht besonders erfreute. „Was hat er nun genau gemacht?“ Ich fühlte mich schwach. Meine Verletzungen machten mir wieder etwas zu schaffen, denn wir gingen schon eine ganze Weile in der Sonne. Kevin ging schweigend neben mir her. „Hey, was hast du eigentlich auf deine letzte Prüfung?“, sagte er plötzlich, als hätte er vergessen, worüber wir eben gesprochen hatten. Mann, der ließ sich echt nicht kleinkriegen. „Tja, eine zwei … minus, wieso?“ Was er konnte, konnte ich schon längst. „Wollte es einfach nur wissen.“ „Klar.“ Glaubte er, ich wäre so blöd? „Leider hab ich die nächste schon in ein paar Tagen.“ Dann spielte ich eben sein Spiel, was machte das schon. - 102 - „Hast du schon fleißig gelernt?“ „Natürlich. Das wird eine schwere Prüfung.“ Wie lange wollte er sein Spiel noch durchziehen? Langsam merkte ich ein leichtes Schwindelgefühl. Es hielt an, und wieder wurde alles schwer. Der Boden kam gefährlich nahe, doch bevor ich aufprallen konnte, hielten starke Hände mich ganz fest. Sanft legte er mich auf den Boden, danach war es dunkel. Langsam öffnete ich die Augen. Ich lag auf einem Bett, neben mir stand eine Lampe. Mir war hundeelend zumute. Mein Kopf dröhnte und mein Bewusstsein war umnebelt. Am Rand des Bettes konnte ich eine Gestalt erkennen. Es war Kevin. Ich befand mich bei mir zu Hause. Ruckartig setzte ich mich auf. Sofort wurde mir schwindelig und ich ließ mich wieder auf mein Bett fallen. Verzweifelt versuchte ich, nicht wieder die Besinnung zu verlieren. Mit Erfolg. Nochmals setzte ich mich auf, diesmal aber langsamer. Kurz wurde mir schwarz vor den Augen, doch dann hatte ich mich wieder unter Kontrolle. „Nun, haben wir uns wieder unter die Lebenden gesellt?“, fragte Kevin mich spöttisch. Doch seine Stimme hatte einen besorgten Unterton. „Was hat unsere Prinzessin denn so aufgeregt, dass sie es vorzog, in Ohnmacht zu fallen?“ Solche kleinen Neckereien waren nichts Besonderes. Wir ärgerten uns oft gegenseitig, aber diesmal machte es mich wütend. „Hat der Herr Medizinstudent denn nichts Wichtigeres zu tun, als mich zu verarschen?“ Meine Antwort war wohl etwas überraschend, auf jeden Fall starrte mich Kevin erst einmal wie vom Donner getroffen an. Dann begann er vorsichtig zu lachen. „Ja wirklich sehr lustig, haha… eh…“ Doch ich stimmte nicht ein, sondern gab noch einen drauf. „Warum hast du den Abschluss fast nicht geschafft? Ich habe es leider vergessen, kannst du mir auf die Sprünge helfen?“ Kevin konnte es nicht leiden, wenn man Witze über seine beinahe nicht bestandene Abschlussprüfung riss. Das brachte ihn zur Weißglut. Sein Kopf wurde knallrot, er presste die Lippen aufeinander. Ich stellte fest, dass er kurz davor stand, wie ein der Vulkan zu explodieren. Ich grinste ihn herausfordernd an. „Hast du eine Lernschwäche?“, spöttelte ich. Ich war sicher, das würde ihm den Rest geben. Und tatsächlich stürmte er aus der Wohnung. Er rannte die lange Treppe hinunter, durch die Tür hinaus und auf die Straße. Als ich ihm nachsah, bereute ich sofort wieder, was ich gesagt hatte, aber ich war viel zu stolz, um das zuzugeben, geschweige denn, ihm hinterher zu rennen und um Entschuldigung zu bitten. 7. Kapitel Grace. Seit Tagen hatte ich nichts mehr von Kevin gehört. Ich war fix und fertig. Schon oft hatte ich mit dem Gedanken gespielt, Kevin anzurufen. Heute war Valentinstag. Dieses bedrückte Gefühl erschwerte mir das Denken. Ein Gedanke war in meinem Kopf: Ruf ihn an. Dann hast du keine Schmerzen mehr. Ich wollte gerade zum Handy greifen, als es an der Tür klingelte. Schweren Herzens stand ich auf. Vorsichtig lugte ich durch den Spion und war erstaunt. Rasch öffnete ich die Tür. Kevin blickte mir in die Augen. „Es tut mir ja so leid. Ich hätte mich nicht so affig benehmen dürfen.“, sagte ich reumütig. „Da hast du aber Glück – ich liebe Äffchen!“ Seine Stimme war voller Fürsorge. Ich konnte nicht anders, ich musste ihn umarmen. „Hey, mal langsam mit den jungen Pferden.“ „Damit musst du eben rechnen“, sagte ich neckisch und schaute ihn von unten an. Sanft schob er mich von sich weg. Geschickt zog er etwas aus seiner Hosentasche. Mein Herz klopfte mir bis zum Hals. Zuerst sah ich nur eine rote Rose, die er mir in die Hand - 103 - drückte. Danach drehte er mich um und hantierte mit seinen zärtlichen Fingern am Verschluss einer Kette, die er mir um den Hals legte. Verdutzt drehte ich mich um. Lächelnd blickte er auf mich herab. Ich drehte das filigrane goldene Herz zwischen den Fingern und musste lächeln. Danach stellte ich mich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen langen, ausgedehnten Kuss, der alle unausgesprochenen Fragen beantwortete. Kevin betrat daraufhin die Wohnung, und wir machten es uns gemütlich … Schon früh wurde ich wach. Nach der allmorgendlichen Routine, bestehend aus Zähneputzen, Frühstücken, Anziehen, Kämmen, Make-up auftragen und Katze füttern ging ich aus dem Haus. Es war acht Uhr am Morgen. Die Vorlesung begann um zehn. Ich entschied, mich in den Aufenthaltsraum der Uni zu begeben. Es würde sich schon eine Tätigkeit finden. Ich setzte mich in einen bequemen Sessel, und schon bald war ich tief in Gedanken versunken … Ich hatte eine heftige Auseinandersetzung mit meinem Stiefvater gehabt, die in einer saftigen Ohrfeige endete. Das brachte das Fass zum Überlaufen. Ich wollte nicht länger sein Box Sack sein, also schloss ich mich in meinem Zimmer ein und griff nach meinem iPhone, das auf meinem Nachtkästchen lag. In meinen Kontakten war eine Nummer gespeichert, die zu einer jungen Frau gehörte, die ich vor langer Zeit auf einer Klassenfahrt kennengelernt hatte. Cassidy und ich hatten uns damals angefreundet, und sie hatte mir versichert, dass ich sie jederzeit anrufen könnte - und das tat ich. Ich wollte weg. Weg von meinem Stiefvater. Weg von dieser Stadt, an die ich nur schlechte Erinnerungen hatte. Ich konnte es nicht fassen, aber Cassidy stimmte tatsächlich zu. Ich musste ihr nicht einmal die ganze Geschichte erzählen, ein paar Andeutungen hatten gereicht. Schon bald buchte ich online ein Zugticket nach San Francisco. Der nächste Morgen war kalt. Es war der Morgen des 2.11.2005, mein 16. Geburtstag. Draußen regnete es. Meine Koffer waren gepackt. Sie enthielten nur das Nötigste, sowie mein gesamtes Gespartes. Es war sehr früh, ich war unfreiwillig aus dem Schlaf gerissen worden. Ich entschied mich mit meinen Koffern aus dem Haus zu schleichen, jedoch nicht, ohne vorher etwas zu essen. Eine halbe Stunde später war ich am Bahnhof von New York angelangt. An die anschließende dreitägige Fahrt nach San Francisco erinnerte ich mich nur noch bruchstückhaft. Die Ankunft in San Francisco war von gemischten Gefühlen begleitet. Ich sah Cassidys wallendes rotes Haar, noch bevor ich ihr Gesicht entdeckte. Später war ich in Cassidys Wohnung, einem Loft. Sie verdiente dem Anschein nach mehr, als sie mir erzählt hatte. San Francisco war für mich seitdem immer ein Zufluchtsort gewesen, obwohl ich danach nicht mehr oft dort war. Das alles war vor fünf Jahren passiert. Ich war in San Francisco geblieben, bis ich mich schließlich dazu entschloss, nach New York zurückzugehen, um zu studieren. Als ich auf meine Armbanduhr sah, musste ich erschreckt feststellen, dass es schon kurz vor zehn war. Ich musste mich beeilen, wenn ich nicht zur Vorlesung zu spät kommen wollte. 8. Kapitel Kevin. Dieses Wochenende besuchte ich meine Verwandten in Suburbs. Ich war bereits am Freitag gekommen, jetzt war Sonntag und als Abschluss dieses schönen Wochenendes machte ich mit meinem Lieblingsonkel Steve einen Spaziergang im Wald. Es war nicht sonderlich kalt. Onkel Steve und ich redeten über dies und das, als uns plötzlich ein modriger Geruch auffiel. Mein Onkel meinte, dass das der Geruch eines Kadavers wäre. Wir wollten das tote Tier nicht so liegen lassen. Also suchten wir nach dem Ursprung des Geruches. Schließlich - 104 - nahm ich etwas unter einem Gebüsch wahr. Hier stank es bereits barbarisch. Ich trat näher und schob einige Äste zur Seite, um mir alles genauer anzusehen. Als ich erkannte was da unter dem Busch lag, fuhr ich entsetzt zurück. Das war nicht der Kadaver eines Tieres, sondern der eines Menschen! Ich machte auf dem Absatz kehrt und rannte in die Richtung, aus der ich gekommen war - direkt in die Arme meines Onkels, der - von meinem hysterischen Geschrei alarmiert - auf mich zukam. Er stand direkt neben mir, und an seinen Mundbewegungen konnte ich erkennen, dass er irgendetwas sagte, doch in meiner Panik konnte ich nichts hören. Endlich drang seine Stimme zu mir durch. „Junge, Junge beruhige dich. Wir sehen uns das jetzt gemeinsam noch einmal an. Vielleicht hast du dich geirrt, und es ist doch nur ein Tier.“ Obwohl ich beleidigt war, dass mir mein Onkel, trotz meines Medizinstudiums nicht zutraute, einen Tierkadaver von einem Menschenkadaver unterscheiden zu können, fasste ich mich wieder. Zusammen mit Onkel Steve ging ich noch einmal zu dem Gebüsch, obwohl alles in mir von dem schrecklichen Fund fern bleiben wollte. Als wir die Äste auseinander schoben, merkten wir, dass ich mich nicht geirrt hatte. In dem Busch lag eine junge Frau. Mein Blick wanderte von ihren Füßen aus immer weiter aufwärts. Fast am gesamten Körper fehlte die Haut, überall sah ich verfaultes Fleisch. Und als ob das nicht schon schlimm genug gewesen wäre, krabbelten hunderte von widerlichen Maden über ihren Körper - und aus unzähligen Löchern aus ihm heraus. An manchen Stellen war bereits Leichenflüssigkeit ausgetreten, aber am schlimmsten war ihr Gesicht! Denn als ich in ihre Augen sehen wollte, sah ich nur mehr leere, blutige Höhlen. Die Maden hatten ihre Augen vollständig aufgefressen! Trotz meines Medizinstudiums hatte ich noch nie zuvor etwas so Schreckliches wie diese Leiche gesehen. Ein würgender Reiz schnürte mir die Kehle zu. Hilfesuchend schaute ich mich nach dem nächsten Busch um, zwang mich dann allerdings, nicht in Panik zu verfallen. Ich war ein angehender Arzt, verdammt! Eine Leiche durfte mich nicht derartig aus der Fassung bringen. Ich holte mein Handy aus meiner Tasche und übergab es Onkel Steve. „Ruf die Polizei!“ Onkel Steve nickte. Obwohl dieser Anblick ekelerregend war, gewann das medizinische Interesse an dem Leichenfund die Oberhand. Während Onkel Steve telefonierte, sah ich mir die Leiche der Frau noch einmal genauer an. Grace. Ich saß auf der Couch, trank Tee und las ein Buch, als mich plötzlich das Klingeln des Telefons aus meinen Gedanken riss. Mit der einen Hand stellte ich die Tasse auf den Wohnzimmertisch, während ich mit der anderen nach dem Hörer griff. „Grace!“, dröhnte mir Kevins Stimme entgegen. „Oh, hey Kevin, wie ist es bei deiner Familie?“ „Jaja, schön, aber hör mir kurz zu.“ Er sprach mit gehetzter Stimme. „Du klingst aufgebracht, ist irgendwas?“ Sein angespannter Ton ließ meine Alarmglocken schrillen. „Das versuche ich dir ja die ganze Zeit zu erklären! Ich habe gerade mit Onkel Steve einen Spaziergang im Wald gemacht. Auf einmal drang ein widerwärtiger Gestank aus dem Gebüsch. Es roch nach verwestem Fleisch. Und weißt du, was wir entdeckt haben?“ Eine schreckliche Ahnung schoss mir durch den Kopf und ich betete, dass sie nicht zutraf. „Keine Ahnung ... ein totes Tier?“ Kurz blieb es am Hörer still, als ob er sich beruhigen müsste: „ Es war ein toter MENSCH! Onkel Steve und ich haben bereits die Polizei alarmiert.“ Ein Schauer durchfuhr mich wie ein Blitz. Obwohl ich es schon vermutet hatte, war ich - 105 - trotzdem geschockt. Wie groß waren die Chancen, dass mein eigener Freund die Leiche von einem der Menschen fand, den ich umgebracht hatte? Denn dass es Katherine war, daran zweifelte ich keinen Augenblick. Ich meine, wie viele Leichen lagen denn noch in diesem verdammten Wald? „ Grace … Grace bist du noch dran?“ Kevins erstaunlich ruhige Stimme holte mich aus meinen beunruhigenden Gedanken in die Wirklichkeit zurück. „I..i..ch..“ I meinem Reflex legte ich auf und warf den Hörer ans andere Ende der Couch. Nachdem ich aufgelegt hatte, fühlte ich mich irgendwie mies. Es war jemand, den ich umgebracht hatte, denn ich wusste, wo dieser Wald war. Nun war es raus. War es das, was ich wollte? Die Todesstrafe? Nein, denn so viel wusste ich nun. Ich wollte meinen Stiefvater töten. Aber wie? War das überhaupt möglich? Es waren Fragen, deren Antworten irgendwo verborgen lagen. Doch es lief nur auf eines hinaus: Ich musste Wallace töten. Doch würde das meine Probleme lösen? Konnte ich mit einem einzigen Schnitt alle meine Probleme eliminieren? Und würde diese Eliminierung meiner Probleme so einfach funktionieren? Das wusste ich nicht. Aber würde ich es denn je herausfinden, wenn ich es nicht versuchte? Nein, denn so viel war mir klar. Ich wollte nicht nur dasitzen, ich musste es zumindest probieren. Nur wie? Das war eine der vielen Fragen, deren Antworten ich nicht wusste. Nun würde ich alles daran setzten, Antworten auf diese Fragen zu finden. Das war nicht einfach. Ich war am Ende. Da klingelte plötzlich das Telefon. Verzweifelt hoffte ich, dass es Kevin war, doch ich wurde mit einem Blick auf das Display nur wieder enttäuscht. Ich hob ab. „Hallo“, sagte ich etwas bedrückt. „Hi“. Es war Liz, die am anderen Ende der Leitung war. „Was willst du?“ „Eigentlich nur reden. Aber was ist los mit dir?“ Nun war ich in einer Zwickmühle. „Kevin … ähm … Wir haben uns gestritten.“ „Oh. Wie blöd! Kann ich etwas für dich tun?“ „Nein, es geht schon.“ „Naja, wenn du was brauchst, ruf einfach an.“ „Werde ich. Bye.“ „Tschüss!“ Die Leitung war unterbrochen. Ich war niedergeschlagen. Ich wusste, dass ich unter diesen Umständen nicht schlafen konnte, also schluckte ich eine Schlaftablette und fiel in einen tiefen, traumlosen Schlaf. 9. Kapitel Grace. Mit allergrößter Vorsicht klebte ich das bewegungsmeldende Modul an die Oberfläche des Paketes. Alles, was ich jetzt noch zu tun hatte, war, den Deckel zu schließen und ihn zuzukleben. Ich hatte mir alles genau vorgestellt: dieser miese Bastard würde den Deckel meines Paketes öffnen und - Boom! Das würde ihn endgültig lehren, jungen Mädchen nicht unter den Rock zu fassen. Das alles würde ich nicht nur aus Rache machen. Ich beschützte all die anderen Mädchen, die er belästigt hatte oder noch belästigen würde. Nur zu genau erinnerte ich mich noch an diesen Mistkerl, wie er mir an den Busen gegrabscht hatte und mir unter den Rock gefahren war, als niemand hingesehen hatte. Und niemals würde ich den verhängnisvollen Tag vergessen, an dem ich noch länger in der Schule war, um in der Bibliothek etwas für ein Referat vorzubereiten. Ich war gerade auf dem Weg zur Toilette gewesen, als er mich auf einmal von hinten gepackt und versucht hatte, mich in die Abstellkammer zu zerren. Ich schrie aus voller Kehle aber ich wusste, dass - 106 - das nichts nützen würde, da nur er und ich in der Schule waren. Er drückte mich an die Wand und versuchte mir die Bluse aufzureißen. Doch ich wehrte mich, kratzte ihn und traf ihn mit meinem Schuh zwischen die Beine. Er klappte zusammen und stürzte zu Boden und ich rannte aus der Schule. Ich hielt nicht an, bis ich mir ganz sicher war, dass er mich nicht verfolgte. Zuhause kassierte ich Schläge, weil ich so spät kam, doch ich sagte nichts. Ich wusste, dass mir niemand zuhören würde. Also ging ich weiter in die Schule und sorgte dafür, dass ich nie mehr alleine unterwegs war. Doch heute war der Tag der Abrechnung gekommen. Zufrieden starrte ich auf das Paket vor mir. Es war zu gefährlich, das Paket an der Poststelle abzugeben, also fuhr ich mit dem Bus nach Bronx und machte mich auf dem Weg zu seinem Haus. Da stand ich nun, vor dem Haus des Mannes, der vor nicht allzu vielen Jahren versucht hatte, mich zu vergewaltigen. Mit schnellen Schritten rannte ich die paar Stufen zu seinem Haus hoch und legte das Paket ab. Ich klingelte nicht. Er würde es schon finden und wenn es explodierte, war ich schon längst wieder in New York City. An diesem Abend schaltete ich den Fernseher ein, um mir die Nachrichten anzusehen. Mein Herz klopfte aufgeregt, als der Nachrichtensprecher sagte: „Eine Tragödie ereignete sich heute in Bronx, als eine Explosion die Bewohner der Yates Avenue in Aufruhr versetzte. Mehrere wurden verletzt und es gab auch einen Toten. Bei dem Mann handelte es sich um den Lehrer Alan Smith, dem das Haus gehörte, vor dem sich die Explosion ereignete. Es wird noch immer nach der Explosionsursache gesucht. Die Polizei arbeitet bereits fieberhaft an dem Fall.“ Ich schaltete den Fernseher aus und lehnte mich zufrieden zurück. Das lief ja wie am Schnürchen. Ich hatte allen Mädchen an dieser Schule einen Gefallen getan. Jetzt konnte ich beruhigt den Rest des Tages genießen. Der Morgen begann wie jeder andere auch. Kevin las Zeitung, ich frühstückte gemütlich. Als ich gerade einen Schluck von meinem Kaffee nahm, stupste mich Kevin an, und ich verschüttete den heißen Kaffee auf meinen Pyjama. Ich wollte gerade aufstehen, doch Kevin hielt mich zurück. „Du musst dir da was ansehen, Grace.“ „Sorry, aber ich muss mir was anderes anziehen.“ Ich ging schnell in meinen begehbaren Kleiderschrank und schlüpfte in die erstbesten Klamotten. Als ich wieder zurück zum Esstisch kam, war Kevin schon ganz hibbelig. Er legte die Zeitung vor mir auf den Tisch und ich begann laut zu lesen: „Mörder von junger Frau aus den Suburbs gefunden. Es war der Abend des 7.2.2011 der für Katherine H. tödlich endete. Der Hergang der Tat …“ Diesen Teil überflog ich, denn den kannte ich ja bereits. „Aufgrund von Fingerabdrücken an der Leiche konnte der Mörder überführt werden, es war ihr 26jähriger Ehemann Julian Hooper.“ Ich erschrak. Oh mein Gott! Nun wurde meinetwegen jemand unschuldig verhaftet. Wer weiß, vielleicht würde gegen ihn sogar die Todesstrafe verhängt! Das ertrug ich nicht länger. Ich schob Kevin die Zeitung wieder hin. „Schlimm, nicht?“, fragte er mich. „Ja, schrecklich!“, gab ich zurück. Er wusste ja gar nicht, wie schrecklich das war! Ich sprang auf. Irgendetwas musste ich tun, um den Mann zu entlasten. Auch wenn ich keine Ahnung hatte, was das sein könnte. „Schatz, ich hab jetzt leider keine Zeit, ich habe heute schon ziemlich früh eine Vorlesung, die ich nicht verpassen darf. Kevin hob fragend die Brauen, schaute mich dann aber liebevoll an. „Oh, ja dann tschüss und viel Spaß! Sehen wir uns heute Abend?“ „Verlass dich nicht drauf“, antwortete ich mit einem verschmitzten Lächeln und war sogleich zur Tür hinaus. - 107 - Kevin. Überrascht starrte ich Grace hinterher. Sie musste zur Uni? Na aber sicher! Irgendetwas stimmte nicht mit ihr. Sie verbarg etwas vor mir. Die Frage war nur, was? Nun, jetzt war der Zeitpunkt gekommen, es heraus zu finden. Schnell machte ich mich an die Arbeit. Und nach einiger Zeit glaubte ich im Wohnzimmer nichts mehr zu finden, und ging durch die Küche in den Flur, von dort trat ich in ihr Schlafzimmer, das an ihrem begehbaren Kleiderschrank grenzte. Im Kleiderschrank begann ich vorsichtig ein Kleidungsstück nach dem anderen heraus zu nehmen und auf Merkmale zu durchsuchen. Warum genau die Kleider, wusste ich auch nicht genau. Es war ebenso ein Gefühl… Da ich bemerkte, dass ich mit meiner Methode nicht weiter kam, begann ich darüber nach zu denken, wo ich etwas verstecken würde, was niemand sehen sollte. Natürlich ganz hinten im Kleiderschrank. Also kämpfte ich mich bis ans hintere Ende durch, was gar nicht so einfach war, da Grace weder ein Ordnungsfreak war, noch unbedingt wenige Kleidungsstücke besaß. Als ich endlich am hinteren Ende angekommen war, machte ich mich weiter auf die Suche. Aber bis auf eine schwarze Hose mit einigen alten Flecken fand ich nichts. Also alles um sonst durchsucht. Und zu allem Überfluss musste ich jetzt auch noch aufräumen. Nach einer guten Stunde, die mir wie eine halbe Ewigkeit vorkam, war mein Werk vollbracht. Mit einem erleichterten Seufzer ließ ich mich auf das Bett fallen. Ich wollte nicht schlafen, aber ich war so müde… Schweißgebadet erwachte ich. Mein Albtraum war entsetzlich, oder musste es zumindest gewesen sein. Ich konnte mich nicht mehr daran erinnern. Schlaftrunken sah ich auf den Wecker, gleich neben der Tür. Oh mein Gott, es war bereits nach acht Uhr abends. Selbst wenn Grace nicht in der Uni war, würde sie bald nach Hause kommen, sie mochte keine Bars. Eilig packte ich meine sieben Sachen und verließ die Wohnung. Kurz bevor ich um die Straßenecke bog, drehte ich mich nochmal um und glaubte Grace zu erkennen. Grace. Heute war ein anstrengender Tag. Ich schloss die Wohnung auf. Auf den ersten Blick war alles wie immer. Langsam schritt ich durch die Wohnung und legte meine Tasche ab. Ich zog die Vorhänge zur Seite und ließ das matte Abendlicht herein. Danach ging ich in die Küche. Dort bestätigte sich, was ich auch im Wohnzimmer schon gesehen hatte. Die Müslischüssel, die ich heute Morgen so achtlos auf der Arbeitsplatte stehen gelassen hatte, war abgewaschen und sorgfältig eingeräumt. Ich konnte es nicht gewesen sein, denn ich wollte mich gerade an die Arbeit machen, die Küche aufzuräumen. Außerdem war Ordnungsliebe nicht mein Ding. Meine Gedanken gingen zu Kevin. Normalerweise regte ich mich immer darüber auf, dass er sein Geschirr nicht wegräumte. So ordentlich war er also gewiss auch nicht. Aber vielleicht wollte er nur nett sein. Schließlich hatte er heute Vormittag keine Vorlesung gehabt. Vielleicht aber hatte er ja Verdacht geschöpft. Ich musste einfach besser aufpassen. Kevin war nicht blöd. Vielleicht führte er ja etwas im Schilde. Zuzutrauen war es dem cleveren Kevin allemal. Was ich brauchte, waren Beweise. Ich brauchte einen Plan. Nur mit Beweisen konnte ich Kevin konfrontieren. Ich setzte mich auf das schwarze Ledersofa. Ich brauchte ein System. Was wollte Kevin? Wollte er etwas finden, mit dem er mich ausliefern konnte? Vielleicht fand er mein Verhalten komisch. Ich musste mich normaler verhalten. Wenn er bis jetzt nichts gefunden hatte, würde er weiter in meinen Sachen herumwühlen. Wahrscheinlich wollte er es mich nicht merken lassen - 108 - und räumte deswegen alles wieder sorgfältig auf. Aber das waren alles nur Vermutungen. Was ich brauchte, war eine Strategie, um meine Theorie zu beweisen. Und mir schwebte da schon etwas vor … Am nächsten Tag hatte ich die Gelegenheit, die ich brauchte. Es war ein sonniger Morgen in New York. Für den Moment war ich allein in der Wohnung. Kevin wollte beim Bäcker um die Ecke unser Frühstück holen. Er würde etwas länger aus sein, da er gerade erst aus der Wohnung gegangen war. Das war der richtige Zeitpunkt. Schnell schnappte ich mir meine Lieblingsvase. Ich hatte sie einmal von Darren bekommen. Sie war mit Glitzersteinchen besetzt und ein Geschenk zu meinem Geburtstag gewesen. Normalerweise war ihr Platz an dem massiven Esstisch aus Eichenholz. Nun stellte ich sie auf meinen Schreibtisch, ganz ungewohnt und offensichtlich, denn auf meinem Schreibtisch hatten normalerweise nur ein Block, ein Stift und meine zahlreichen Lehrbücher etwas zu suchen. Kevin wusste das, aber ich dachte nicht wirklich, dass ihn das in diesem Moment interessieren würde. Danach nahm ich eine kleine Leselampe, die normalerweise auf meinem Nachttisch stand und stellte sie mitten auf den Esstisch. Das sollte fürs Erste genügen. Kaum war ich fertig kam auch schon Kevin herein … Als ich nach meiner Vorlesung wieder nach Hause kam, bestätigte sich mein Verdacht. Die Vase war wieder auf dem massiven Küchentisch, die Leselampe auf dem Nachttisch. Ich hatte die Informationen, die ich brauchte. Nun musste ich nur etwas damit anfangen. Ich sammelte alles, was ich bisher wusste: Kevin suchte etwas. Er suchte Beweise dafür, dass ich eine Mörderin war. Doch er hatte die Rechnung ohne mich gemacht. Kevin würde nichts finden. Denn ich war eine gute Schauspielerin. Ich konnte Leute gut manipulieren. So würde ich es auch mit Kevin machen. Ich war sicher, dass ich Erfolg haben würde. Zur Not würde er Darrens Schicksal teilen. Auch wenn der Gedanke daran mir einen schmerzhaften Stich ins Herz versetzte. Denn so viel war mir klar: Ich konnte nicht mehr zurück. Zu viel Schreckliches war inzwischen schon geschehen. Ich wusste, was zu tun war, damit Kevins Verdacht nie bestätigt würde… 10. Kapitel Grace. Ich stand am Ufer und blickte hinaus auf den See. Der Wind strich mir die Haare aus dem Gesicht und kräuselte das Wasser. Schon seit geraumer Zeit war ich nicht mehr im Central Park gewesen. Mein Blick schweifte über das Wasser auf die gegenüberliegende Wiese, wo mehrere Kinder Fangen spielten. Mit einem Lächeln auf den Lippen sah ich ihnen zu und hörte ihr Lachen. Für kurze Zeit war es so, als ob gar nichts passiert wäre. Als ob ich ein ganz normaler Mensch unter der Menge wäre. Aber ich wusste, dem war nicht so, denn tief in mir kannte ich die Wahrheit. Ich hatte mehrere Menschen ohne mit der Wimper zu zucken getötet. Ich hatte Pläne geschmiedet, um die besten Wege zu finden, sie umzubringen. Es reichte. Das alles musste jetzt ein Ende haben. Mit bedächtigen Schritten entfernte ich mich von der Brücke und setzte mich auf eine nahe gelegene Parkbank. Mit entschlossenem Blick starrte ich in den Himmel. Ich musste endlich mit meiner Vergangenheit abschließen. Aber dafür war noch ein allerletzter Mord notwendig. Das Unheil hatte mit ihm angefangen und es würde mit ihm aufhören. Ich musste meinen Stiefvater umbringen. Es war die einzige Möglichkeit, die mir blieb. Im Endeffekt war doch auch alles seine Schuld. Wenn er mich besser behandelt hätte, wäre das alles nie passiert, und jetzt musste er den Preis bezahlen. Mein Gespräch vom letzten Abend mit Kevin fiel mir wieder ein. Ich war gerade dabei ge- 109 - wesen, das Essen zu machen, als er in die Küche gekommen war und eine kleine Flasche sowie eine Spritze auf den Tisch legte. „Was ist das denn?“, hatte ich ihn gefragt. „Oxycodon!“, hatte er mit ernster Chefarztstimme geantwortet Er ging davon aus, dass ich keine Ahnung hatte, was das denn sein sollte. Ich sah kurz zu ihm. „ Hä?“ Mit belustigtem Blick sah er mich an, als ihm mein Unwissen Freude machen würde: „ Das setzt man bei starken Schmerzen als Schmerzmittel ein.“ „Aha!“, war alles, was ich dazu sagte. „Weißt du, “ fuhr er fort „das ist ein ziemlich wichtiges Kapitel. Wenn man eine Überdosis spritzt, kann es zu Atemlähmung kommen!“ Ich fixierte weiter das Schneidbrett vor mir, auf dem ich Tomaten in dünne Scheiben schnitt, bis er endlich realisierte, dass mich das kein bisschen interessierte. In Wirklichkeit hatte ich mir alles genau eingeprägt. Diese Information war überaus nützlich! Mein Freund hatte mir die perfekte Mordwaffe frei Haus geliefert. Irgendwie tat es mir leid, ihn so auszunützen, aber wenn das bedeutete, dass dieser Horror endlich ein Ende hatte, war es mir das wert. Zufrieden stand ich auf und beschloss, nach Hause zu gehen. Ich wusste jetzt, wie ich Carlos ermorden konnte. Ich musste mir noch überlegen, wann und wo es am besten sein würde. Aber darum würde ich mich später kümmern. Im Moment wollte ich einfach nur nach Hause. Kevin. Mein Professor war krank, deshalb hatte ich heute keine Vorlesung. Ich war auf dem Nachhauseweg. Als ich in meine Straße einbog, sah ich ein Mädchen, das Grace verdammt ähnelte. Bald bemerkte ich, dass es wirklich Grace war. Ich entschied, ihr hinterher zu spionieren, denn ich hatte ja noch immer keine Beweise für meine Theorie, dass Grace eine Mörderin war. Unauffällig schlich ich hinter ihr her. Ich erkannte, dass sie auf die Bronx zuhielt. Als ich ihr näher kam, wurde deutlich, dass sie eine schäbige Kneipe ansteuerte. Plötzlich erkannte ich, welche Kneipe das war. Gleich in der Nähe hatte Bryan gewohnt. Aus dieser Kneipe war Graces Stiefvater gekommen, um mich zu verprügeln. Ich ahnte Übles und rannte auf sie zu. Als ich sie erreicht hatte, packte ich sie am Arm. Bei näherem Hinsehen sah ich eine meiner Spritzen. Mein Professor hatte sie mit Oxycodon, einem Nervengift, das bei Überdosis zu Atemlähmung führt, gefüllt. Er hatte sie mir zu Forschungszwecken gegeben. In der Spritze war genug Gift, um einen erwachsenen Mann zu töten. Und auf einmal fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Grace war in meine Wohnung eingedrungen, hatte die Spritze gestohlen und wollte nun Wallace, ihren Stiefvater töten. Ich fasste sie fester und zwang sie, mir in die Augen zu sehen. Ihre haselnussbraunen Augen waren mit Hass und Abscheu gefüllt. Doch bei genauem Hinsehen meinte ich, auch Angst darin zu erkennen. Stumm starrten wir uns an. Grace. Halb trug, halb zog er mich. In dem ganzen Gefecht war ich wie hypnotisiert. Ich machte keine Anstalten zu fliehen, aber ich wollte ihm auch nicht folgen. So hatte er große Mühe, mich in die U-Bahn, und dann schließlich in meine Wohnung zu zerren. Irgendwie schaffte er es dann doch. Er drückte mich auf das Sofa im Wohnzimmer und forderte mit drohen- 110 - der Stimme eine Erklärung. Und plötzlich packte mich die Panik. Ich erwachte aus meiner Trance und sprang auf. Doch bevor ich die Tür erreichte, bekam er mich zu fassen und stieß mich mit einem kräftigen Ruck auf das Sofa zurück. Noch einmal versuchte ich zu fliehen. Wild um mich schlagend, beißend und tretend, kämpfte ich mich bis zu Küche durch. Doch als mich Kevin dort mühelos überwältigte, wurde mir wieder einmal klar, wie durchtrainiert er war. Nun sah ich endlich ein, dass ich auf diese Weise keine Chance hatte und gab auf. Ich atmete mehrere Male tief durch, um mich zu beruhigen. Denn ich wusste, dass ich hier nur mit einem klaren Kopf weiterkommen würde. Erst jetzt nahm ich meine Umgebung wieder wahr. Ich befand mich auf dem Sofa, Kevin stand davor und blickte auf mich herab. Nun drang auch seine Stimme wieder zu mir durch. „Grace! Grace? Graaaace…! Also, was wolltest du mit dieser Spritze voll Oxycoton?!“ „Ich wollte ihn loswerden.“ Ich sagte es kurz und bündig. Es hatte keinen Zweck mehr, es zu leugnen, er wusste es ohnehin. Denn er war nicht auf den Kopf gefallen. Leider. Aber den Rest, den konnte ich noch leugnen, und das hatte ich auch vor. „Wen?“ „Denjenigen, der mich Tag und Nacht quälte. Denjenigen, den ich mehr als alles andere auf dieser Welt hasse. Denjenigen, der mich eines Nachts fast umgebracht hätte. Ihn und keinen anderen wollte und will ich loswerden. Ich will die Welt von diesem Monster befreien. Dieses Schwein verdient es nicht zu leben.“ In meinem Redeschwall vergaß ich alle Vorsicht. „Ich habe schon einmal versucht ihn zu töten, aber einer seiner Scheißfreunde hat sein Bier mit der Droge einfach ausgesoffen. Es hat den Falschen getroffen.“ „Es hat den Falschen getroffen?!“ „Du weißt schon: Krrrg“, dabei machte ich eine aussagende Geste. Ich erschrak über den Klang meiner Stimme. Sie klang irre, vollkommen verrückt. War ich etwa verrückt? Nein, so durfte ich gar nicht erst anfangen. Das wäre der Anfang vom Ende. „Du hast einen Menschen um… Nein, das ist unmöglich! Du würdest doch niemals jemanden töten? Das würdest du doch nicht?!“ Seine Stimme hatte einen ängstlichen Unterton. Stille breitete sich im Raum aus. Ich konnte es im nicht sagen. Er klang wie ein ängstlicher Schuljunge, der sich vor Schlägen fürchtete. Aber wusste er es denn eigentlich nicht schon längst? Trotzdem, ich wollte ihm nicht seine letzte Hoffnung nehmen. Er hatte eine Mörderin zur Freundin! „Du hast ihn umgebracht!“ Diesmal war eindeutig keine Frage zu erkennen. „I…I…Ich wollte es nicht! Es war ein Versehen. Seine Freunde sind scheiße, aber ich wollte sie nicht umbringen. Okay … meinen Stiefvater schon, aber, aber…“ „Es reicht! Grace! DU HAST EINEN MENSCHEN UMGEBRACHT!“ „Ich weiß …“ Und dann begann ich zu schluchzen. Am Anfang vorsichtig, aber dann immer lauter. Und auf einmal tat Kevin etwas vollkommen Unerwartetes: Er setzte sich neben mich auf die Couch und nahm mich in die Arme. Er versuchte tatsächlich mich zu trösten! Obwohl er wusste, dass ich einen Menschen umgebracht hatte. „Hasst du mich jetzt?“, fragte ich zaghaft. „Äh, ich weiß nicht… Sollte ich wohl…“ Offenbar wurde ihm gerade klar, dass er eine Mörderin in den Armen hielt, denn plötzlich stieß er mich abrupt von sich. „Wirst du mich jetzt der Polizei ausliefern?“ Erst jetzt wurden mir die Ausmaße meines Tuns bewusst. Wenn Kevin mich wegen Mordes und versuchten Mordes anzeigen würde, könnten sie mich deshalb zu Tode verurteilen? Wenn nicht, dann spätestens dann, wenn sie weitere Nachforschungen machen würden. Sie würden entdecken, dass ich eine Serienkillerin war, und dann würde ich durch einen gezielten Schuss sterben. Ohne die Spur einer Chance zu überleben. War es mein Schicksal, zu sterben? - 111 - „Ich weiß nicht. Oh Mann, Grace. Ich liebe dich, aber du hast einen Menschen ermordet. Was soll ich bloß machen … Hätte ich doch nie versucht hinter dein Geheimnis zu kommen! Dann müsste ich mich jetzt nicht entweder dazu entscheiden, meine Freundin dem Tod auszuliefern, oder selbst zu so etwas wie einem Mörder zu werden. Oh Scheiße!“ Dann verstummte er. Bestand noch Hoffnung für mich? „Grace“, ertönte seine Stimme erneut, „Ich muss darüber nachdenken. Ich meine … du könntest sterben!“ Er holte tief Luft. „Okay Grace, ich werde jetzt nach Hause gehen und darüber in Ruhe nachdenken.“ Panisch schaute ich auf. Als ob er mich beruhigen wollte, sagte er: „Ich verspreche dir was: wofür immer ich mich entscheiden werde, ich werde ich es dir vorher sagen.“ Dann verließ er die Wohnung und ich war allein. 11. Kapitel Grace. Ich wusste, er würde mich verraten. Zwei Tage waren vergangen, seit ich Kevin erzählt hatte, dass ich eine Mörderin war. Zwar hatte ich ihm nicht die ganze Wahrheit erzählt, trotzdem war die halbe Wahrheit auch schon schlimm genug. Es konnte sich nur mehr um Stunden handeln, bis er sich gegen mich entscheiden würde. Wenigstens war ich nicht so blöd, um an sein Versprechen zu glauben: Natürlich würde er mir nichts sagen, bevor er zur Polizei ging. Das wäre vollkommen verrückt. Immerhin war ich im Moment noch frei, jetzt konnte ich noch tun, was ich wollte. Aber dieser Moment war mir zu wenig, ich brauchte die Freiheit. Seltsam. Erst jetzt fiel mir auf, dass ich in all den Jahren nur in einer scheinbar glücklichen Welt lebte. Alles war nur ein Trugbild. Mein Leben war Scheiße gewesen. Ich hatte meinem Stiefvater die Schuld dafür gegeben - und er war ja auch wirklich Schuld daran. Trotzdem. Es war meine freie Entscheidung gewesen, all diese Morde zu begehen. Dabei war das, was ich wirklich brauchte, doch nur Freiheit. Die Freiheit, alles zu tun, was ich wollte. Und zwar dann, wenn ich es wollte. Aber diese Freiheit hatte ich nie gehabt. All die Morde, die ich begangen hatte, gaben mir nur scheinbar das Gefühl, zu leben. Nein, ich durfte nicht wieder damit anfangen. Aber vielleicht war das meine einzige Möglichkeit? Musste ich noch einen, nein, zwei Morde begehen, um endlich glücklich sein zu können? Es wäre so leicht. Und auch sie mich erwischen würden, konnte meine Situation auch nicht schlechter werden. Denn Kevin würde mich verraten, er hatte ein viel zu reines Gewissen, um das Geheimnis für sich zu behalten. Auch wenn er es versuchte … Ich musste ihn töten, und wenn er erst tot war, würde ich meinen Stiefvater ein für alle Mal ausschalten können. Und dann hätte ich endlich Ruhe. Dann würden die Alpträume aufhören, all die bösen Gedanken… Ich würde mich nicht mehr jedes Mal ducken, wenn mir jemand seine Hand entgegen strecken würde. Ich würde nicht jedes Mal, wenn ich jemanden sah, der meinem Stiefvater ähnelte, fast in Panik ausbrechen. Das war die Lösung! „Nein, Grace, so darfst du gar nicht erst denken!“, rügte ich mich selbst in Gedanken. „Du musst dagegen ankämpfen!“ Und als ich so mit mir kämpfte, begriff ich plötzlich, warum ich mordete. Warum ich noch andere Menschen als meinen Stiefvater ermordet hatte: Ich war süchtig. Auch wenn ich wollte, ich konnte nicht mehr aufhören. Es war wie eine Droge! Mit meinem neuen Wissen als Hilfe kämpfte ich noch entschlossener gegen die Versuchung an. Langsam verschwand sie. Ich hatte gesiegt. Und jetzt wusste ich nur mehr eines: Mein Leben lag in Kevins Händen. - 112 - Kevin. Ich rannte planlos durch die Straßen. Seit ich erfahren hatte, dass meine Freundin eine Mörderin war, war vieles passiert. Tausende Gedanken schwirrten in meinem Kopf herum, und gleichzeitig war er doch leer. Trotz der Vielfalt meiner Gedanken kamen für mich nur zwei infrage. Der erste lautete: Grace war eine Mörderin, brutal und unberechenbar. Sie war eine tödliche Gefahr. Der zweite war sanfter, naiver: Grace war die Liebe meines Lebens. Sie mordete aus einem plausiblen Grund und ich wollte wieder zu ihr zurück. Das waren die Optionen, die ich hatte, und ich wusste, ich musste eine davon wählen. Ohne dass ich es wahrnahm, trugen mich meine Füße immer weiter, bis ich schließlich an einem Park in Brooklyn angelangt war. Als mir klar wurde, wo ich war, traf mich fast der Schlag. Das war der Park, in dem ich Grace zum ersten Mal getroffen hatte. Ein schwaches Mädchen, weinend auf der Parkbank. Den Grund ihrer traurigen Stimmung hatte ich bis heute nicht erfahren. Doch ich konnte es mir denken … Auch wenn ich es nicht wahrhaben wollte. Hatte sie noch andere Menschen umgebracht? Doch was änderte das schon? Ein Mord oder mehrere, was war da der Unterschied? Ich wurde blass. Es änderte sogar sehr viel. Vor Gericht … bei mehrfachem Mord gab es keine Gnade … sie würde zum Tod verurteilt werden. Nein, ich konnte Grace nicht anzeigen! Aber würde ich mit dieser Schuld leben können? Waren die Morde, die sie verübt hatte, nicht auch in gewisser Hinsicht meine Morde, wenn ich einfach so über sie hinwegsah? Sollte ich sie einfach nur verlassen, ohne der Polizei etwas zu sagen? Aber war nicht ich der Anker, an den sie sich klammern konnte? Würde sie nicht den Halt verlieren, vielleicht in die Drogenszene abrutschen oder, schlimmer noch, sich selbst umbringen, wenn ich ihr nicht mehr zur Seite stand? Mir lief ein eisiger Schauer über den Rücken. Nein, das durfte nicht geschehen. Ich musste mich entscheiden: anzeigen oder zurückkehren. Die dritte Möglichkeit, einfach nichts zu sagen und sie trotzdem zu verlassen, war nicht einmal vorstellbar. Außerdem musste ich an mich denken, ich war es ja schließlich, der mit der Entscheidung leben musste. Grace hatte diese Menschen nicht ohne Grund umgebracht. Na ja, manche zumindest. Ich hasste sie dafür nicht, denn ich kannte ihre Geschichte, und die war alles andere als nett oder einfach. Erschöpft ließ ich mich auf „unserer“ Bank nieder. Ich liebte Grace. Das war die einzige Gewissheit, die ich hatte, denn das hatte sich nicht verändert, trotz der vielen Morde, die Grace verübt hatte. Doch wie viel war mir Grace wert? War sie es wert, all das auf mich zu nehmen? Vielleicht … Mit diesem einen Gedanken nickte ich langsam ein und glitt unaufhaltsam hinüber in die Welt der Träume. Erschrocken wachte ich auf. Etwas war anderes. Ich brauchte ein paar Sekunden, bis ich wieder vollkommen zur Besinnung kam, doch dann war alles glasklar. Der Nebel, der mir die ganze Zeit die Sicht auf die Entscheidung versperrt hatte, war wie weggeblasen. Ich wusste, was ich zu tun hatte. Grace. Ich war am Boden zerstört. Seit Tagen konnte ich an nichts anderes mehr denken. Alle paar Sekunden starrte ich auf das Handydisplay. Nichts. Plötzlich klingelte es an der Tür. Ich stürmte ins Vorzimmer und riss sie auf. Kevin stand davor. Ich war gleichzeitig erleichtert und verzweifelt. Was erwartete mich jetzt? Nervös drehte ich sein Kettchen zwischen den - 113 - Fingern. Er musterte mich. „Hör mal …“, begann er, „Ich habe lange darüber nachgedacht. Ich will es nochmal mit uns versuchen. Wenn du einverstanden bist …“ Ich starrte ihn sprachlos an. Die angespannte Stille war mit Händen zu greifen. Als ich mich endlich wieder soweit im Griff hatte, begann ich stotternd zu sprechen: „Das… willst du w-wirklich?“ Es kam mir vor, als würde die Sonne durch eine dicke Nebeldecke brechen. „Klar will ich das…“ Ich konnte kaum glauben, dass sein Angebot ernst gemeint war. „Aber unter einer Bedingung.“ Ich ahnte Böses. „Du solltest dir darüber im Klaren sein, wie du damit fertig wirst. Ich meine, ich kann auch nicht so mir nichts, dir nichts ein paar Leute umbringen und drei Wochen später ist es so, als wäre nie etwas gewesen …“ „Willst du mich jetzt anzeigen?“ Meine Angst war unüberhörbar. „Nein, ich will nur nicht, dass ich eines Tages nach Hause komme, und dich wie damals auf der Parkbank vorfinde - so schwach und zerbrechlich. Wer weiß, wohin das alles führen könnte …“ Ich nickte. Ich wusste nur zu genau, was er damit sagen wollte. „Darüber habe ich natürlich auch schon nachgedacht. Aber als du nicht da warst, fand ich einfach keinen Grund, mich besser zu fühlen. Denn ohne dich ist mein Leben verdammt leer.“ Kevin blickte mich an, als könnte er mir direkt ins Herz sehen. „Grace, das verstehe ich natürlich. Manche Leute reagieren sich beim Boxen ab, aber wenn ich nur daran denke, deinen zarten Körper im Ring zu sehen, wird mir übel.“ „Ich habe selbst auch schon darüber nachgedacht. Denn ich hoffte jeden Tag, dass du zurückkommen würdest, und für diesen Fall wollte ich vorbereitet sein. Ich habe mich erkundigt. Ich werde mich gemeinnützig beim Catholic Club of New York engagieren. Gestern habe ich dort angerufen. Morgen soll ich da mal reinschnuppern.“ „Das ist ja großartig! Und wenn du damit glücklich bist, dann bin auch ich glücklich.“ Ich spürte ein erleichtertes Kichern im Hals. Er brachte mich einfach immer wieder zum Lachen. Leidenschaftlich schmiegte ich mich an ihn. Hand in Hand gingen wir in die Wohnung. Kevin schloss die Tür hinter sich. Lachend küssten wir uns … Am nächsten Morgen stand ich schon früh auf. Ich gab Kevin einen langen Kuss. Dann machte ich mich fertig. Heute war ein wichtiger Tag. Mein Frühstück nahm ich für unterwegs mit, ich musste schon früh dort hin. Mit der U-Bahn war ich rasch bei dem Catholic Club of New York. Dort empfing mich eine Frau mit grau melierten Haaren. Sie war beherrscht und ihre Art ließ sie etwas kühl wirken. „Hallo und willkommen“, begrüßte sie mich. Mir war etwas unbehaglich zumute. „Hallo. Ich bin Grace Stone.“ „Ah ja. Ich habe Sie schon erwartet. Folgen Sie mir bitte.“ „Sie können ruhig du zu mir sagen, Miss…“ „Hawk. Mariella Hawk. Aber für dich bin ich Mary.“ Der Anflug von einem Lächeln kam über ihre Lippen. Ihre Haut wurde, wenn überhaupt möglich, noch ein bisschen faltiger. „Okay, Mary. “ Wir gingen in einen hohen Raum, der sehr alt war. „Vor jedem Treffen gehen wir zum Beten in diesen Raum. Du kannst ein Gebet deiner Wahl in Stille beten. Danach geben wir Essen an Bedürftige aus.“ Ihre Stimme hallte von den Wänden des Raumes wieder. Ratlos drehte ich mich zu ihr. „Ich bin zwar katholisch, doch Gebete habe ich nie gelernt. Meine Familie ist nicht so gläubig.“ „Ah, ich verstehe.“ Sie gab mir einen Zettel, auf dem ein Gebet stand. „Das Vaterunser“, belehrte sie mich. - 114 - Dankbar lächelte ich sie an und ließ die anschließende Stille auf mich wirken. Der Tag verlief gut. An der Essensausgabe hatte ich Kontakt mit den Menschen. Es war interessant, ihre Schicksale zu erfahren. Von nun an ging ich regelmäßig zum Catholic Club of New York. 12. Kapitel Grace. Kevin und ich saßen auf der Couch, er starrte mich ununterbrochen an, als wollte er gar nicht aufhören, bis er schließlich den Mund aufmachte: „ Ich glaube, die beste Möglichkeit, mit deiner Vergangenheit abzuschließen, ist, deinen Stiefvater anzuzeigen. Schließlich ist er die Ursache für das ganze Dilemma!“ Ich blickte ihn an und meinte: „ Du hast ja recht, ich schätze, ich habe einfach Angst davor, dass mir die Polizei nicht glaubt und er sich nachher an mir rächen wird!“ „ Wenn er das versucht, kann er was erleben!“, sagte Kevin mit einem schmalen Lächeln auf den Lippen. Kurz lächelte ich auch, doch dann wurde ich wieder ernst: „Würdest du mit mir gehen … du weißt schon … zur Polizei? Ich habe fürchterliche Angst, da alleine hinzugehen. Immerhin hab auch ich Menschen … na ja, du weißt schon …“ „Fang nicht schon wieder davon an. Ich warne dich!“ Er stand auf und reichte mir die Hand: „Ich gehe dahin, wo du hingehst!“ Dankbar nahm ich sie an und stand auf. „Lass uns jetzt sofort gehen!“ Mein Ton war selbstsicherer, als ich mich fühlte. Doch dann hätte ich es endlich hinter mir. Wir machten uns auf den Weg zur Polizeistation. Bei jedem Schritt, mit dem wir uns ihr näherten, drückte ich Kevins Hand fester. Irgendwann würde ich ihm noch die Finger zerquetschen. Schließlich standen wir vor ihr. Jetzt klammerte ich mich an Kevins Arm. Wir betraten das Gebäude und warme Luft strömte uns entgegen. Ein Beamter ging auf uns zu und lächelte. Ich versuchte so gut wie möglich zurückzulächeln, was mir wohl nicht so ganz gelang. Kevin trat dem Beamten entgegen und reichte ihm die Hand: „ Hallo, wir würden gerne Anzeige gegen jemanden erstatten.“ Der Beamte deutete auf einen Raum, der sich gleich rechts von uns befand: „ Einfach da reingehen.“, waren seine einzigen Worte, bevor er ins nächste Zimmer verschwand. Mit bedächtigem Schritt traten wir ein. „ Hallo, ich würde gerne Anzeige gegen meinen Stiefvater erstatten!“, sagte ich. Ich wollte nicht lange um den heißen Brei reden. Der Mann hob den Blick von den Papieren, an denen er gerade geschrieben hatte. „ Bitte setzen sie sich doch!“ Er deutete auf zwei Stühle vor seinem Schreibtisch. „Worum handelt es sich denn?“ Sein fragender Blick ließ mich unruhig auf dem Stuhl hin und her wetzen. „Mein Stiefvater … er ist früher oft handgreiflich geworden, hat mich verprügelt. Und im Übrigen verdient er sein Brot mit Drogen.“ Es tat so gut, das einem Polizisten zu sagen, ob er mir nun glaubte oder nicht. Es war, als würde eine jahrelange Last von meinen Schultern genommen. Der Beamte sah mich forschend an. Dann holte er ein Blatt Papier aus einer Lade. „Bitte füllen sie das aus. Ich werde mich umgehend darum kümmern.“ Erleichtert atmete ich auf. Als der ganze Papierkram erledigt war, schickten sie Kevin und mich mit der Versicherung nach Hause, dass sie mich umgehend kontaktieren würden, wenn sie Neuigkeiten hätten. Schon am nächsten Tag kam der ersehnte Anruf. Sie hatten meinen Stiefvater völlig zu gedröhnt zwischen seinen Drogen sitzend gefunden, und er hatte gesungen wie ein Vö- 115 - gelchen. Weil er zu high war, um abtransportiert zu werden, hatte ich die Ehre, bei seiner Verhaftung live dabei zu sein. So stand ich zitternd vor ihm und sah zu, wie ihm ein Polizist die Handschellen anlegte. Ich nahm mir vor, diesem Mann nachher persönlich zu danken. Erleichtert hörte ich zu, wie er die dafür vorgeschriebenen Worte sprach: „Wallace Dursley, Sie sind hiermit wegen Drogenbesitzes, Misshandlung einer Minderjährigen und unerlaubten Waffenbesitzes festgenommen! Sie haben das Recht zu schweigen. Alles, was sie sagen, kann und wird vor Gericht gegen Sie verwendet werden. Sie haben das Recht auf einen Anwalt. Falls sie sich keinen leisten können, wird Ihnen von der Regierung einer gestellt!“ Mein Stiefvater starrte mich schäumend vor Wut an, doch dieses Mal machte er mir keine Angst. Ich erwiderte seinen Blick mit einem triumphierenden Lächeln auf den Lippen. „Das wirst du noch bereuen, du Schlampe!“, war alles, was er noch herausbrachte, bevor ihm ein Beamter seinen Kopf ins Auto drückte und mit Schwung die Tür zufallen ließ. Von seinem Schweigerecht machte er also keinen Gebrauch. Ich spürte seinen brennenden Blick auf meinem Rücken, aber diesmal sah ich nicht zurück. Stattdessen umarmte ich Kevin und war einfach froh, dass der Horror vorbei war. Tränen liefen mir über die Wange, und ich wusste, dass ab jetzt alles besser werden würde. 13. Kapitel Kevin. Wir gingen schweigend nebeneinander her. Es waren Tage vergangen, seit Grace auf dem Polizeirevier gewesen war. Heute Morgen war mir plötzlich der Entschluss gekommen, sie zu fragen. Nun waren wir auf dem Weg zum Central Park. Ich hatte ein paar Leckereien in einen Picknickkorb gepackt, sie trug die karierte Picknickdecke. Es war nicht mehr weit, denn Grace‘ Wohnung war gleich neben der U-Bahn Linie, die uns direkt zum Central Park führte. Ich sah schon einen Eingang, doch als wir drinnen waren, mussten wir feststellen, dass an diesem schönen Frühlingstag ziemlich viele Pärchen den Central Park aufsuchten. Als wir ein schattiges Plätzchen gefunden hatten, breitete sie die Decke aus und wir setzten uns drauf. Ganz selbstverständlich nahm ich ihre Hand in die Meine. Ich drückte ihre Hand sanft, aber doch bestimmt. Dann sah ich ihr in die Augen, und es schien, als sähe sie endlich beruhigt in die Zukunft. Dadurch kam es mir nur noch richtiger vor, als ich mit fester Stimme sagte: „Willst du mich heiraten?“ Epilog Grace. In Weiß gekleidet schritt ich den kurzen Gang entlang, doch es war mehr als das. Ich konnte nun endlich meine Vergangenheit hinter mir lassen. Er drehte sich um und blickte mir direkt in die Augen. Dadurch wurde ich in meinem Entschluss bestärkt. „Du siehst so wunderschön aus!“ Kevins Augen strahlten. „Ich bin glücklich“, flüsterte ich zurück und machte den letzten Schritt auf ihn zu. Als ich an seiner Seite stand und der Pfarrer redete, spürte ich die Blicke in meinem Rücken. Die Blicke meiner Freunde, die hinter mir saßen, um sich den heutigen Tag nicht entgehen zu lassen. Als der Pfarrer dann endlich die erlösenden Worte „Sie dürfen die Braut jetzt küssen“ sprach und Kevin mich in die Arme nahm, war ich die glücklichste Frau der Welt ... - 116 - Danksagung Es war mir nicht nur eine besondere Ehre, als Krimi-Autorin mit den Schülerinnen und Schülern der Klasse 3c2 der Hauptschule Pischelsdorf die vergangenen zehn Monate an der Entstehung von sieben großartigen Krimis mitgewirkt zu haben, es hat mir auch besonders viel Freude gemacht, mitzuerleben, mit wie viel Eifer, Einsatz und Engagement die jungen Autoren an die Arbeit gegangen sind. Die 24 jungen Menschen haben nicht nur in der Schule, sondern sogar in den Ferien und in ihrer Freizeit an den Projekten gearbeitet. Ihr Ideenreichtum, ihre Einsatzbereitschaft und der Ernst, mit der sie an die Sache herangegangen sind, haben mich begeistert und mich stolz sein lassen, Teil dieser tollen Aktion sein zu dürfen, die die Leseoffensive Steiermark in die Wege geleitet hat. Ich bedanke mich sehr herzlich beim Projektmanagement der Leseoffensive Steiermark - Frau Mag. Silvia Maierhofer und Frau Mag. Verena Gangl - die alle meine Fragen geduldig beantwortet und für Druck und Produktion unseres Gesamtkunstwerks gesorgt haben. Ganz besonders will ich aber auch die tatkräftige Unterstützung von Ulrike Matzhold hervorheben, die als Deutschlehrerin der 3c/2 so viele ihrer Unterrichtsstunden für das Projekt zur Verfügung gestellt hat. Ihr unermüdlicher Einsatz, ihre Mithilfe während der Entstehung der Krimis und ihre vielfältigen Ideen zu unterschiedlichsten Motivations angeboten waren Motor und Treibstoff während des Schreibens. Ihre Begeisterung für das Projekt war nicht nur spür-, sondern auch jedes Mal sichtbar! Nicht zuletzt aber gilt mein Dank und mein größtes Lob den 24 tollen Mädchen und Buben, die mir einmal mehr deutlich gemacht haben, warum es mehr als nur ein genialer Beruf ist, Bücher speziell für Jugendliche zu schreiben. Erfahren zu dürfen, wie diese jungen Leute sich für das Schreiben begeistern lassen und zu sehen, wieviel Potenzial in ihnen schlummert, lässt mich diesen schönsten Beruf der Welt noch einmal mehr als eine Berufung erleben ... Liebe 3c/2: Herzlichen Dank für die Chance, bei euch gewesen zu sein! Herzlichen Dank, dass ihr so eine grandiose Gemeinschaft seid! Herzlichen Dank für eure Begeisterung, eure Ideen und euren ungheuren Einsatz! Eure Gabriele Gfrerer Wien, zum 20. Juni 2012 - 117 - z | Elisa Muhr | Marlene Fraß | Luca kob Marterer | Manuel Kulmer | Julian p Marterer | Klara Schwarzenberger | Silke Ferstl | Anke Huber | Alexandra Herbst | Klara Wagner | Lisa Gollner | hlweg | Lena Kulmer Lena Struggel | Johanna Fabsitz | Eli Güsser | Thomas Berghofer | Jakob M Hofer | Jakob Strempfl | Philipp Mart Helena Nagl | Selina Grabner | Silke F Dunst | Katharina Fleck | Karin Herbst