kriminal genial - Leseoffensive Steiermark

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kriminal genial - Leseoffensive Steiermark
z | Elisa Muhr | Marlene Fraß | Luca
Struggel | Johanna Fabsitz | Elisa Muhr | Marlene Fraß | Luca
kobLena
Marterer
| Manuel
Kulmer
| |Julian
Güsser
| Thomas Berghofer
| Jakob Marterer
| Manuel Kulmer
Julian
Hofer | Jakob Strempfl | Philipp Marterer | Klara Schwarzenberger |
p Marterer
| Grabner
Klara
Schwarzenberger
Helena Nagl | Selina
| Silke
Ferstl | Anke Huber | Alexandra |
Dunst | Katharina Fleck | Karin Herbst | Klara Wagner | Lisa Gollner |
Silke
Ferstl
Anke
Huber
| Alexandra
Kerstin
Reisinger | |
Christina
Kohlweg
| Lena Kulmer
Herbst | Klara Wagner | Lisa Gollner |
hlweg | LenacKulmer
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Lena Struggel | Johanna Fabsitz | Eli
Güsser | Thomas Berghofer | Jakob M
Hofer
| Jakob Strempfl | Philipp Mart
Schuljahr 2011/2012
Helena
|„Krimi
Selina
Im RahmenNagl
des Projekts
macht Grabner | Silke F
Schule“ der Leseoffensive Steiermark
Dunst
| Katharina Fleck | Karin Herbst
David – wer zu viel weiß, muss leiden! ��������������������������������� Seite 3
Karin Herbst
Klara Wagner
Klara Schwarzenberger
Helena Nagl
widespread deaths ��������������������������������������������������������������� Seite 17
Julian Hofer
Jakob Strempfl
Philipp Marterer
Die Sternenmörderin ����������������������������������������������������������� Seite 29
Selina Grabner
Silke Ferstl
Anke Huber
Alexandra Dunst
Falsches Spiel ����������������������������������������������������������������������� Seite 45
Katharina Fleck
4 minus 1 ����������������������������������������������������������������������������� Seite 55
Luca Güsser
Thomas Berghofer
Jakob Marterer
Manuel Kulmer
Entführt. ������������������������������������������������������������������������������� Seite 67
Lena Struggel
Johanna Fabsitz
Elisa Muhr
Marlene Fraß
Late Revenge ����������������������������������������������������������������������� Seite 81
Lisa Gollner
Kerstin Reisinger
Christina Kohlweg
Lena Kulmer
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Karin Herbst • Klara Wagner • Klara Schwarzenberger • Helena Nagl
David
Wer zu viel weiß, muss leiden!
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Prolog
Tipp, Tapp, Tipp, Tapp …
Leise Schritte hörte ich auf mich zukommen. Angst kam in mir hoch. Noch bevor ich mich
umdrehen konnte, spürte ich eine Hand auf meiner Schulter. Nochmals versuchte ich mich
umzudrehen und mich zur Wehr zu setzten, doch als ich in das Gesicht des Unbekannten
sah, war ich wie gelähmt. Ich wurde in das Jungs-Klo gezerrt … Blitzschnell sah ich eine
Hand auf mich zukommen. Ich spürte ein kurzes Brennen, fasste auf meine Lippe, sah auf
meine Hand … da waren Blutspuren! Noch bevor ich mir dessen bewusst wurde, spürte ich
schon, wie ein weiterer Schlag mir das Bewusstsein nahm …
Kapitel 1
„Ich könnte schwören, dass Frau Weizenberger heute in Sport einen fahren gelassen hat …“
Amelie grinste hämisch, als sie zusammen mit ihren Freundinnen in einer Ecke der Klasse
stand und ihr Pausenbrot aß. Alle lachten über die ihre Bemerkung.
„Mann, Mann, Mann ich check diese bekloppten Binomischen-Formeln nicht“, jammerte
Bella.
„Ich auch nicht …“, setzten Mary und Anna hinzu.
Da stürmte Tom, der sonst so ruhige Schulkamerad der vier, in die Klasse und schrie: ­„David
liegt zusammengeschlagen auf dem Klo!“
Geschockt blickten alle zu ihm und rannten dann wie auf ein Kommando zur Jungen-­
Toilette. Einer ihrer Mitschüler brüllte: „Ruft einen Krankenwagen. Schnell!“
Plötzlich drängte sich Herr Berger zwischen den Schülern hindurch, sah nach David und
warf die Schüler aus der Toilette. Sie sahen gerade noch, wie David von den Sanitätern in
den Krankenwagen gebracht wurde, bevor er die Klassentür schloss. Später wurde ihnen
ausdrücklich verboten, mit jemanden über den Vorfall zu reden. „David zuliebe“, hatte Herr
Berger eindringlich zu ihnen gesagt. Doch natürlich verbreitete sich das Ereignis wie ein
Lauffeuer. Im Nu wusste es die ganze Schule.
Am darauffolgenden Tag kam David nicht zur Schule. Bella, Amelie, Mary und Anna missachteten die Verwarnung von Frau Blau und fragten die anderen Mitschüler, ob sie etwas
von Davids plötzlichem Verschwinden wussten. Doch nicht mal sein bester Freund Tom
konnte ihnen Auskunft geben.
„Mich lässt diese Sache nicht in Ruhe! Wisst ihr zufällig, wo er wohnt?“ Anna nagte an ihrem Daumennagel. Die Sorge um David stand ihr ins Gesicht geschrieben.
„Nein, sorry, sollten wir denn?!“ Mary grinste anzüglich. Die anderen kicherten leise. Doch
Bella sagte: ,,Hey, ich hab mal gehört, dass er in der Blumenstraße wohnt. Wollen wir ihn
besuchen?“
Als die vier Freunde am Nachmittag an Davids Haustür klingelten, öffnete ihnen seine
Mutter die, wie es den Anschein hatte, stark betrunken war. Eine Zigarette hing ihr aus dem
Mundwinkel. Als sie die Freunde sah, nuschelte sie: „Was wollt ihr Kröten denn hier? Haut
ab! Sofort!“
Anna fasste sich ein Herz und sagte so freundlich wie möglich: „Schönen guten Tag! Wir
möchten gerne David besuchen. Er war heute nicht in der Schule, also wollten wir mal nach
ihm sehen. Ist er denn da?“
Die Frau schloss für einen Moment die Augen und rieb sich über die Stirn, als hätte sie
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Kopfschmerzen. „Neee … Der Rotzjunge is nicht da, und ich weiß, dass er heute nicht in der
Schule war, Prinzesschen.“ Sie stieß mit einem Schnauben den Atem aus.
„Kein Wunder, dass er nicht da ist. Bei so einer Mutter wäre ich auch lieber nicht zu Hause“, dachte Bella. Vorsichtshalber machte sie einen Schritt zurück, weil ihr eine grässliche
Alkoholfahne entgegenschlug.
Doch da erblickte Anna David, der an einem Türstock lehnte. Während seine Mutter lamentierte, dass ihr Sohn ein hoffnungsloser Fall sei, schob sie sich an ihr vorbei und hielt
dabei den Atem an, um der schrecklichen Mischung aus Rauch und Alkoholdunst zu entkommen. Sie schlich zu David. Als sie das geschwollene Auge von David sah, saugte sie
erschrocken die Luft ein. „David! Was ist mit dir passiert?“ Sie wollte nicht so schreien, aber
eine plötzliche Panik hatte sie ergriffen. „Ist das von deinem gestrigen Unfall? Wir haben
davon gehört … Ist mit dir alles in Ordnung?“ Doch weiter kam sie nicht. David drehte sich
um und lief davon. Inzwischen waren auch die anderen auf Anna und David aufmerksam
geworden. Gemeinsam liefen sie David hinterher – gefolgt von seiner brüllenden Mutter.
Die Tür, hinter der David verschwunden war, war abgesperrt. Bevor sie sich noch umsehen
konnten, packte sie schon eine grobe Hand und schleifte sie zurück an die Haustür. Ein
violetter Armreifen klimperte an ihrem Handgelenk, als Davids Mutter mit einem Ruck die
Türschnalle hinunter drückte und die Freunde ins Freie beförderte. Mit einem lauten Knall
fiel die Tür hinter ihnen ins Schloss. Die vier Freundinnen zuckten zusammen.
„Armer David, was da wohl gelaufen ist?“ Bella starrte immer noch auf Davids Haus. Die
anderen guckten sie fragend an. „Na, das blaue Auge meine ich.“
„Du glaubst doch nicht im Ernst, dass das da drinnen ein Unfall war oder?“ Anna tippte
sich an die Stirn.
„Was glaubst du, was da passiert ist? Vielleicht, dass seine Mutter ihn mit einem Pudding
beworfen hat?“ Sie lachte höhnisch auf. „Also echt, manchmal glaube ich, du bist vom Mars.
Schalt mal dein Hirn ein, das würde zu Abwechslung nicht schaden.“ Bella war wütend.
Dabei war ihr nicht klar, ob ihr Zorn nicht besser Davids Mutter gegolten hätte.
Anna antwortete auf die Beleidigung nicht. Sie war es von ihrer Freundin gewohnt, dass sie
heftig reagieren konnte. Den Unfall wollte sie aber trotzdem nicht wahr haben: „Es kann
genauso gut ein Lehrer gewesen sein!“, mutmaßte sie.
„Ja klar! Als ob ein Lehrer etwas davon hätte!“
„Da muss ich Bella zustimmen“, fiel Mary ein, „Ich meine, kein Lehrer macht so einen
Scheiß … Aber könnte es nicht die Trulle da drinnen gewesen sein?“
„Ja, das habe ich auch gedacht!“, stimmte Amelie ihr zu.
„Aber sicher! Erst war es ein Lehrer, und jetzt sind es die Eltern. Wer könnte es sonst noch
gewesen sein? Der Hund da drüben vielleicht? Mhh?“, meinte Bella sarkastisch.
Langsam wurde es Anna doch zu viel. „Weißt du was? Du kannst mich mal! Ich lass mich
hier nicht dauernd blöd anmachen!“ Sie machte auf dem Absatz kehrt und stürmte davon.
„Ja geh doch! Wir brauchen so eine wie dich sowieso nicht!“, schrie Bella ihr hinterher. Auch
sie rannte jetzt weg, sie wollte nur noch nach Hause.
Amelie und Mary blieben sprachlos zurück. Kopfschüttelnd sahen sie einander an. Was war
das denn? Normalerweise hielten die vier immer zusammen - und jetzt? Was war in die
beiden nur gefahren? Wegen so einer Kleinigkeit zerstritt man sich doch nicht gleich so!
Nachdenklich machten sie sich auf den Heimweg.
„Ob uns eine Freundschaftspause gut tun würde?“, überlegte Amelie laut, doch Mary zuckte
nur mit den Schultern. „Ach, lass sie. Wirst sehen, es wird sich schon wieder alles legen.
Du kennst Bella doch. Morgen kommt sie wieder zur Schule und tut so, als wäre nie etwas
gewesen.“
Die beiden grinsten einander an und gingen nach Hause.
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Kapitel 2
Bella und Anna hatten sich noch immer nicht wieder versöhnt, als die Klasse endlich in den
Schikurs fahren durfte. Trotzdem mussten sie zusammen sitzen. Mißmutig quetschten sie
sich im Bus hinter Frau Blau und Herrn Berger auf die geplosterte Sitzbank. Doch als sie
während der Fahrt immer wieder Gesprächsfetzen aufnahmen, wie „David dieser Rotzjunge“ oder „Dem werde ich schon zeigen, wo der Hammer hängt“, war sich Bella mit ihrer
Theorie nicht mehr so sicher.
Als der Bus mit den Schülern nach eineinhalb Stunden angekommen war, suchte Bella mit
Mary und Amelie das Gespräch und erzählte ihnen, was sie gehört hatte. Jetzt waren sich
auch Mary und Amelie nicht mehr so sicher, richtig zu liegen und schließlich entschuldigten sie sich bei Anna. Besonders Bella, der der Streit mit ihrer besten Freundin sehr nah
ging und die nun kurz davor stand, in Tränen auszubrechen, war froh, dass Anna ohne
lange Rede nickte und ihre Entschuldigung annahm.
Nun blieb nur noch eine Frage offen: Wer von den Lehrern hatte das David angetan? Und
warum? Doch trotz heftiger Diskussionen während der langen Busfahrt kamen sie zu keinem Ergebnis.
Am Gipfel angekommen erwartete sie der Wirt mit den Zimmerschlüsseln und der Anmerkung, sie sollten sich ruhig verhalten und später zum Essen kommen. Als sie durch die Tür
stürmten, war ihnen die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben. Das Zimmer war nicht nur
klein, sondern auch dreckig und stank fürchterlich. Das war absolut nicht das, was sich die
Freunde von ihrer Unterkunft erwartet hatten. Als Herr Berger sie gleich darauf zum Essen
rief, meinte Mary: „Hoffentlich schmeckt das Essen besser, als das Zimmer aussieht!“ und
ihre Freunde stimmten ihr nickend zu.
Kapitel 3
„Mann, Mann, Mann, das Essen war mal wieder ein Gaumenschmaus. Was Mädchen?“,
meinte Bella mit einem theatralischen Seufzen. Grinsend stimmten ihr Anna, Mary und
Amelie zu. Sie liebten ihre sarkastische Seite zwar nicht immer, weil es schwer war, auseinander zu halten, ob sie es ernst meinte, oder nur einen Witz machte, doch in diesem Fall
war es klar. Das Essen war so eklig, dass sie sich nur darüber lustig machen konnten. Als
sie die Treppe Richtung Zimmer gehen wollten, um dort ihre Pause zu verbringen, hörten
sie leises Wimmern aus der Toilette der Jungs. Sofort stürzten sie zur Tür und drückten ihre
Ohren an das Holz. Wer weinte da drinnen? Doch es war nicht Eindeutiges zu erkennen.
Das konnte jeder sein.
„Anna, geh du da rein. Irgendjemand muss den Typen da drinnen ja trösten.“ Amelie schob
die Freundin zur Klinke.
Anna stemmte sich dagegen. „Mann, immer ich! Ich bin immer an allem Schuld und darf
mich nie beschweren und die Drecksarbeit darf ich auch noch machen! Kannst du vergessen!“
Bella schüttelte den Kopf: „Tu doch nicht so, du weißt, dass du endlich auch mal deinen
Mund aufmachen und deine Meinung sagen sollst.“
„Passt auf, ich geh da jetzt rein, okay?“ Mary musste breit grinsen, weil die anderen sie so
verwirrt anstarrten. „Was soll mir da drin schon groß passieren? Da weint jemand! Ich denke nicht, dass der im nächsten Moment eine Pistole zieht und mich abknallt.“ Sie zuckte mit
den Schultern und holte noch einmal tief Luft. Auf einer Herrentoilette musste sie mit dem
entsprechenden mordsmäßigen „Toilettengeruch“ rechnen. Sie ließ ihre Blicke durch das
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versiffte Klo gleiten und verzog angeekelt das Gesicht. Es war schlimmer, als sie befürchtete
hatte. Doch dann fiel ihr Blick auf die zusammen gekauerte Gestalt in einer Ecke. „David!“
Ohne Zweifel. Sie erkannte seinen blonden Schopf. Wie ein Häuflein Elend hockte er im
Finstern, sein Gesicht hatte er in die, auf die Knie gestützten Hände vergraben und weinte.
Mary hockte sich zu ihm und legte vorsichtig eine Hand auf seine Schulter. „Mein Gott, David! Bist du verletzt? Ist dir was passiert?“ Doch zum Glück konnte sie keine Verletzungen
erkennen.
Stockend begann David zu erzählen: „Sie haben mich ins Klo gezerrt und mich geschlagen,
bis ich bewusstlos wurde. Meine Mutter … sie haben mir gedroht, ich darf es nicht erzählen
… Meine Mutter …“
Mary verstand nur Bahnhof. Wenn sie sich nicht beeilte, würde sie wegen diesem schrecklichen Geruch gleich in Ohnmacht fallen, also fragte sie: „Wer ist Sie, David? Womit haben
sie dir gedroht? Was ist mit deiner Mutter?“
Doch David sagte nur: „Nichts … ich habe schon zu viel gesagt … du musst jetzt gehen.
Wenn sie uns hier sehen ...“ Er versuchte, sie von sich wegzuschieben.
Mary hielt ihn an den Oberarmen fest. „David, erzähl mir, was passiert ist!“
Doch David schrie sie an. „Geh jetzt! Auf der Stelle!“ Er schob sie aus der Toilette und
schloss hinter ihr die Tür ab.
Mary rüttelte noch ein paar Mal an der Schnalle, ging dann aber nachdenklich in ihr Quartier zurück. Kaum hatte sie die Tür zum Zimmer geöffnet, stürzten sich ihre Freundinnen
auf sie.
„Wer war es? War es David? Was hat er gesagt? Worauf wartest du? Sag schon!“, riefen sie
durcheinander.
Mary versuchte ihre Freunde zu beruhigen: „Seid mal leise! Sonst kann ich euch gar nichts
erzählen.“ Als sie sich beruhigt hatten, erzählte Mary ihnen alles ganz ausführlich, was sie
von David erfahren hatte. Doch das brachte die vier „Privatdetektive“ leider auch nicht viel
weiter.
„Dass Jungs auch immer so einen Quatsch quasseln müssen, den kein Mensch auf Erden
versteht!“, seufzte Bella und die anderen mussten ihr Recht geben.
Kapitel 4
„Hey, ab auf die Piste!“ Bella rannte aufgekratzt zum Fenster und deutete nach draußen auf
die weiße Pracht. „Das wird sicher wieder voll witzig.“
Die Freundinnen hatten schon gefrühstückt und ihre Schiklamotten angezogen. Sie sollten jetzt runter gehen, ihre Schi holen und vor das Haus gehen, um auf die Schilehrer zu
warten. Kichernd gingen sie los, vor der Haustüre schnallten sie ihre Schi an. Da kam auch
schon Frau Blau und sagte: „Guten Morgen, sind alle da? Gut dann fahren wir jetzt los.“
Sie drehte sich um, holte Schwung und sauste den Hügel hinunter. Die vier Freundinnen
fuhren als letzte los. Nach ein paar Schwüngen blieb Amelie plötzlich stehen.
„Bist du total bescheuert!“ Mary setzte die Kanten ein, dass es staubte. Fast wäre sie in Amelie hineingefahren.
„Hey was ist denn los?“ Bella und Anna hatten gemerkt, dass Mary und Amelie nicht mehr
hinter ihnen waren.
Amelie antwortete flüsternd: ,,Schaut doch mal da!“ Sie zeigte in Richtung Unterkunft.
„Oh, mein Gott!“ schrie Anna. Im Schnee sahen sie Blutspuren die bis zu Davids Zimmer
führten.
Während sie noch überlegten, ob sie David suchen gehen sollten, kam Herr Lammbauer
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angefahren und schrie: „Was macht ihr denn da? Wo ist eure Gruppe? Was für Blutspuren?
Kümmert euch doch einfach um euren eigenen Kram. Und bevor ich es vergesse: ZweiSeiten-Aufsatz für jeden, wie man sich bei einem Schikurs zu verhalten hat. Bis morgen!“
Genervt fuhren die vier die Piste hinunter auf der Suche nach ihrer Gruppe. Erst waren sie
erleichtert, als sie den neongelben Anorak von Frau Blau auf der Piste erkannten. Doch ihre
Freude legte sich sofort, als ihre Lehrerin in Hörweite gekommen war.
„Sagt mal, spinnt ihr?“, pfauchte sie. „Ich hab euch doch verboten, abseits der Piste zu fahren! Was glaubt ihr eigentlich, wofür es Regeln gibt?“ Sie war außer sich. Ein giftiger Blick
durchbohrte die Mädchen.
Trotzdem traute sich Amelie leise zu flüstern: „Regeln sind da, um gebrochen zu werden!“
Leider hörte es Frau Blau. Wütend schrie sie: „Jetzt reicht es endgültig! Das ist deine letzte
Verwarnung … Noch ein so ein dummes Wort und du kannst diesen Schikurs verlassen.“
Amelie rieb sich erschrocken über die Oberarme. Sie hatte plötzlich eine Gänsehaut. „Wenn
Blicke töten könnten …“, wisperte sie und beeilte sich, den anderen auf die Piste zu folgen.
Nach dem Mittagessen wollten die vier Freunde nach David sehen. Sie beschlossen, bei ihm
im Zimmer vorbeizuschauen, aber das hatten sie sich leichter vorgestellt …
Bella meinte, sie würde ihnen schon beweisen, wie gut sie Jungs um den Finger wickeln
konnte. Anna, Mary und Amelie gönnten ihr die Freude und ließen sie anklopfen. Doch
diesmal versuchte Bella es umsonst.
Christoph öffnete ihnen mit der Begrüßung: „Was wollt ihr Schlampen denn hier zum Teufel? Haut ab! Sonst muss ich noch an eurer Hässlichkeit sterben!“
Bella erwiderte: „Halt mal die Luft an! Erstens: wir sind keine Schlampen.“ Sie stemmte
empört die Fäuste in die Hüften. „Und wenn du schon sterben willst, dann mit Sicherheit
wegen unserer umwerfenden Schönheit.“ Mit Hässlichkeit durfte man ihr nicht kommen,
da war sie empfindlich. „Und Zweitens: Du bist gar nicht gefragt.“ Sie deutete mit dem
Daumen hinter sich, wo die anderen gespannt ihre Diskussion mit Christoph verfolgten.
„Wir möchten mit David sprechen.“ Sie grinste den Jungen an, der ihr immer noch den Weg
versperrte.
„Der schläft.“ Christoph machte sich breit und versuchte, ihr den Blick zu verstellen, doch
Bella hatte sich geschickt an ihm vorbeigeschoben und blieb mit offenem Mund im Zimmer stehen. Was sie da sah, konnte sie nicht glauben. War das Blut? Davids Blut? Doch sie
wurden schon gepackt und durch die Tür gestoßen. „Ich hab gesagt, er schläft!“ Mit einem
lauten Knall schmiss Christoph die Tür zu. Die Freundinnen standen vor einem Rätsel.
Kapitel 5
Der nächste Morgen empfing sie mit einer dicken Nebelsuppe, als die Mädchen zum Schifahren aufbrachen.
„Mann, ist mir schlecht. Dieses Essen bringt mich zum Kotzen!“, jammerte Amelie, als sie
im Schilift saßen. Mary blickt sich um. „He, seht ihr das? Die Lehrer sitzen hinter uns. Aber
wieso ist David bei Ihnen? Keiner fährt freiwillig mit den Lehrern am Lift …“
Amelie unterbrach sie. „Ich habe gesehen, wie die Lehrer einen Kreis um David gebildet
und irgendetwas besprochen haben. Danach ist er zu ihnen in den …“
Ein grässlicher Schrei ließ Amelie mitten im Satz stocken. Blitzschnell drehten sich die
Mädchen um. Ein Körper lag tief unter ihnen im Schnee. War das ... David? Wieso war er
aus dem Lift gefallen? Stille herrschte. Die Mädchen bekamen Tränen in die Augen … Nach
einer Schrecksekunde riefen alle durcheinander.
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„Was ist denn passiert?“
„Haltet den verdammten Lift an!“
„David ist in die Tiefe gestürzt!“
„Ist er auf den Kopf gefallen?“
„Holt denn keiner die Rettung?“
„Hilfe! Hilfe! Irgendwer muss David doch helfen!“
Eine furchtbare Frage beschäftigte alle: War David tot?
Kapitel 6
Im Zimmer der Mädchen herrschte trübe Stimmung. Tränen zierten die Gesichter von
Amelie und Mary und auch Bella und Anna kämpften mit ihren Emotionen.
Amelie schluchzte: „Was ... was ist, wenn …“ Immer wieder stotterte sie. Schließlich platze
es aus ihr heraus: „Was ist, wenn er stirbt?“ Amelie war kurz davor, hysterisch zu werden.
Mary kannte ihre beste Freundin sehr gut. Um sie zu beruhigen, musste sie ihr eine Aufgabe geben. Irgendetwas, was Amelie vom furchtbaren Gedanken, dass David sterben könnte,
ablenken würde. Es fiel ihr aber nicht gleich etwas Passendes es. So setzte sie sich nur neben Amelie ans Bett und legte einen Arm tröstend um sie.
Inzwischen spann Bella Annas Gedanken weiter. „Vielleicht hatte Anna doch Recht … Ich
meine, das war kein Unfall, sondern … sondern …“ Die Worte kamen ihr nur schwer über
die Lippen. „Vielleicht waren es ja doch die Lehrer!“
Anna starrte sie erschrocken an. „Du meinst ... ein Mordversuch?“
Mary saugte die Luft ein. Sie konnte sich das einfach nicht vorstellen. „Meint ihr wirklich?
Die würden doch lebenslang in den Knast wandern!“ Doch als sie in die überzeugten Augen
ihrer Freundinnen blickte, kamen ihr selbst Zweifel an der Ehrlichkeit der Lehrer.
Amelie brach als Erste das Schweigen. „Erinnert euch an das Gespräch der Lehrer im Bus!“
„Das würde unsere Vermutung bestätigen, aber meinst du wirklich … dass die Lehrer …“
Anna konnte diese Ungeheuerlichkeit immer noch nicht glauben.
Bella bestätigte: „Amelie hat Recht, es führt alles zu den Leh…“
Plötzlich stand Frau Lutz im Zimmer. Die Mädchen starrten sie erschrocken an. „Was ... wie
... was wollen Sie hier?“, zischte Bella ihr entgegen.
„Schhhh … seid leise, die anderen dürfen nicht wissen, dass ich hier bin …“ Frau Lutz beugte sich ganz nah zu ihnen hinüber. „Ich habe euer Gespräch belauscht und ich möchte mit
euch darüber reden“, flüsterte sie.
„Wie? Die anderen dürfen es nicht wissen? Und wer sind die anderen? Und was genau
haben sie gehört?“, fragte Mary mit aufgerissenen Augen. Wenn die Lehrerin gehört hatte,
welchen Verdacht sie hatten, konnte das nichts Gutes bedeuten!
Frau Lutz rückte unruhig an einem Sessel. Ihr war anzumerken, dass es ihr nicht leicht fiel,
mit den Mädchen zu sprechen. „Ich habe so ziemlich alles gehört“, gestand sie und senkte
den Blick. „Und ich bin nicht wie die anderen Lehrer.“
Geschockt schauten sich die vier Freundinnen in die Augen. Amelie brach das Schweigen:
„Dann stimmt unsere Vermutung also doch! Oder, Frau Lutz?“
„Das kann und darf ich euch nicht sagen ...“ Sie senkte ihre Stimme noch mehr. Bitte, versteht mich! Wenn die anderen erfahren, dass ich mit euch geredet habe, dann …“ Sie sprach
den Satz nicht zu Ende. Bevor die Freundinnen noch etwas sagen konnten, brach Frau Lutz
das Gespräch ab. „Entschuldigt mich, ich muss jetzt weg. Sonst merken die anderen noch
was.“ Sie drehte sich um und verschwand im dunklen Flur.
Bella, Amelie, Anna und Mary konnten nicht schlafen. Die ganze Nacht berieten sie sich,
-9-
was der Besuch von Frau Lutz zu bedeuten haben könnte. Schließlich entschlossen sie sich,
ihr zu glauben. Trotzdem wollten sie ihr nicht alles sagen, was sie wussten.
Auch am nächsten Tag kreisten die Gedanken der Freundinnen immer wieder um David
und um Frau Lutz. Sie konnten nichts unternehmen, ohne beobachtet zu werden. Auch
wenn sie Frau Lutz vertrauten, waren sie sich immer noch unsicher, ob die Lehrerin ihnen
wirklich helfen wollte. Lustlos kauten die Mädchen an ihrer Pizza herum, als plötzlich Frau
Lutz bei ihnen am Tisch auftauchte. Die Mädchen blickten erstaunt auf, als die Lehrerin
flüsterte: „Wir treffen uns nachher draußen bei den Gondeln, okay?“
Anna, Bella und die anderen nickten stumm, während sich Frau Lutz wieder vom Tisch
entfernte und zum Lehrertisch zurückkehrte. Schnell aßen die Freundinnen fertig und gingen so unauffällig wie möglich zur Tür, um draußen gespannt zu warten, was die Lehrerin
ihnen zu sagen hatte, als sie wenig später zu ihnen stieß. „Ich möchte zu David ins Krankenhaus fahren und ich dachte, ihr wollt vielleicht mitkommen.“
Die Überraschung war den Mädchen ins Gesicht geschrieben. Damit hatten sie nicht gerechnet. „Aber geht das so einfach? Ich meine, können Sie einfach mit uns dorthin fahren?“, fragte Amelie verdutzt.
In Frau Lutz Stimme schwang Abenteuerlust mit. “Naja, ganz so einfach ist es tatsächlich
nicht. Wir müssten uns ungesehen aus dem Haus schleichen.“
Für einen Moment waren die Mädchen sprachlos. „Waaaasss?“, schrie Anna Und ihre Stimme schwankte. Nach kurzer Überlegung aber nickten die Freundinnen. „Wir sollten es tun,
oder was meint ihr?“
Frau Lutz nickte ihnen aufmunternd zu. „Eine andere Möglichkeit haben wir nicht. Packt
eure Sachen Mädels, wir fahren ins Krankenhaus.“
Schon beim Betreten schlug ihnen der spezielle Krankenhausgeruch entgegen. Eine Mischung aus Desinfektionsmitteln, Metall und medizinischen Produkten.
„Da wird mir ja schon beim Gedanken an die Spritzen schlecht“, jammerte Mary und hielt
sich die Nase zu.
„Stell dich doch nicht so an. Wir sind ja nicht deinetwegen hier.“ Anna schaute sie streng an.
Darauf gingen sie stumm zur Auskunft. Eine freundliche Empfangsdame wies ihnen den
Weg zum Zimmer 105.
Als Frau Lutz die Tür öffnen wollte, kam ihnen ein Arzt entgegen.
Frau Lutz fragte: „Wie geht es ihm?“
Der Arzt machte eine ernste Miene. „Er liegt noch im Koma.“
Erschrocken fragte die Lehrerin: „Können wir zu ihm?“
Nach einem Zögern erlaubte es der Arzt und sie betraten auf Zehenspitzen das Zimmer.
Auf einem Krankenbett, an unzähligen Geräten angeschlossen, lag David. In einem Kreis
standen sie um den reglos Daliegenden.
„Also ich weiß nicht, wie ihr das seht, aber mittlerweile vertraue ich Frau Lutz“, flüsterte Amelie den anderen zu. Mary, Bella und Anna nickten. Danach herrschte wieder tiefes
Schweigen.
Alles war leise, man hörte nur das regelmäßige Piepen und das nervige Surren der Maschinen, die David am Leben hielten. Der Arzt hatte den Mädchen und Frau Lutz mitgeteilt,
dass David eine Gehirnblutung habe, er aber zuversichtlich sei, dass David bald wieder
aufwachen würde.
Die Freundinnen hatten jedes Zeitgefühl verloren. Lange Zeit waren sie vor Davids Bett gestanden und hatten ihn einfach nur angestarrt. Irgendwann war dann eine Krankenschwester ins Zimmer gekommen, hatte ihnen freundlich zugenickt und ihnen gesagt, dass sie
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ruhig mit David reden könnten.
„Viele Komapatienten wissen, nachdem sie aufgewacht sind, alles, was um sie passiert ist,
wer sie besucht hat und was diese geredet haben“, meinte sie. Dann kontrollierte sie, ob mit
David und den Maschinen alles in Ordnung war und verschwand wieder aus dem Zimmer.
„Wie kann man bei so einem deprimierenden Job immer noch so freundlich sein“, flüsterte
Mary, während sie zur Tür schaute, durch die die Schwester verschwunden war. „Ich hätte
bestimmt schon durchgedreht.“
Jeder, der Freundinnen hing seinen eigenen Gedanken nach. Einmal hatte Frau Lutz ihnen
einen Kakao aus dem Automaten im Gang besorgt, den sie schweigend tranken.
„Was ist, wenn er nicht mehr aufwacht“, meinte Bella plötzlich.
Doch die Lehrerin versuchte sie zu beruhigen: „Denk gar nicht mal dran! Schau, alle Ärzte
und Schwestern sind so zuversichtlich, dass er wieder aufwachen wird. Und die müssen es
doch wissen!“
Amelie schnappte sich einen Stuhl und setzte sich. Plötzlich hörten sie ein leises Husten.
Alle schauten zu David und Frau Lutz meinte hektisch: „Schnell, holt jemanden!“
Sofort stürzten Amelie, Bella, Anna und Mary zur Tür und schrien in den Gang hinaus:
„Schnell, einen Arzt! Wir brauchen Hilfe.“
Natürlich eilten sofort ein Arzt und ein paar Schwestern in den Raum. Doch diese mussten
nicht mehr helfen ... David war aufgewacht!
„Oh mein Gott …“ Annas Stimme war nur ein Flüstern. Bella und Mary kamen die Tränen.
Der Mordversuch war nicht geglückt!
Eine Stunde später saßen die Freundinnen und die Lehrerin immer noch im Gang des
Krankenhauses. Der Arzt machte mit David noch ein paar Tests. Trotz der großen Freude,
dass David wieder aufgewacht war, war die Stimmung getrübt. David hatte Amnesie. Er
erinnerte sich an nichts mehr. Wie lange dieser Zustand anhalten würde, konnte keiner
sagen.
Kapitel 7
Schon am nächsten Tag war David von der Intensivstation entlassen und in ein normales
Krankenzimmer verlegt worden. Sobald es ihnen möglich war, kamen die Freundinnen mit
Hilfe von Frau Lutz wieder zu ihm. Sie waren nervös, als sie durch die Tür des Zimmers
traten. Ob David sich wieder erinnern konnte, was passiert war? Gespannt starrten sie auf
sein Bett.
„Hallo David, weißt du, wer ich bin oder weißt du, wer die anderen sind?“, fragte Bella aufgeregt. Doch Davids Gesichtsausdruck sah nicht so vielversprechend aus.
„Wer, wer bist du und wo bin ich…?“, antwortete David verwirrt.
Geschockt schauten sich die Freundinnen und Frau Lutz in die Augen. Frau Lutz ging zum
Bett von David. Sie nahm Davids Hand: „Weißt du, wie du heißt?“ Frau Lutz schaute David
tief in die Augen.
„Ich … ich weiß nicht.“ Er schaute verloren in der Gegend herum.
Darauf erklärte Frau Lutz: „Oh, Ok. Dein Name ist David und du bist im Krankenhaus, weil
du aus dem Sessellift … gestürzt … bist.“ Sie machte eine Pause, in der sich die Mädchen
verschwörerisch anschauten. „Ich bin Frau Lutz, deine Lehrerin und das sind …“
Fast wie einstudiert sagten die Mädchen: „Bella, Anna, Mary und Amelie.“
David setzte sich mit Mühe auf. Plötzlich ging ein Leuchten über sein Gesicht und sagte
freudig: „Wartet mal … ich glaube, ich erinnere mich wieder!“
Gespannt waren alle Augen auf David gerichtet.
- 11 -
„Wir waren auf Schikurs, und dann waren wir beim Sessellift und dann wurde ich …“
„Ja? Was war dann?“ Anna starrte ihn an, als wollte sie ihn hypnotisieren.
Davids Augen zuckten. Mit unsicherer Stimme brachte er stockend hervor: „Ich … ähhm …
ich glaub, ich bin aus dem Lift gefallen.“
Ungläubig sahen Amelie, Bella, Mary und Anna David an.
Da rief Frau Lutz: „Oh! Schon so spät! Wir müssen los, sonst merken die anderen noch was.“
„Tschüss, David und gute Besserung“, sagten alle fast im Chor.
Mit etwas Verspätung kamen sie im Speisesaal an. „Mann, ich hatte gehofft, wir könnten
diesem ekligen Abendessen entgehen“, jammerte Bella leise, sodass es nur ihre Freundinnen hören konnten. Die Mädchen setzten sich an einen Tisch neben die Lehrer. Sie erhofften sich, so die Gespräche ihrer Hauptverdächtigen belauschen zu können. Sie vertrauten
Frau Lutz zwar, die ganze Wahrheit über den Vorfall hatte sie ihnen aber bestimmt nicht erzählt. Irgendetwas musste sie davon abhalten, doch die Mädchen wussten nicht, was es war.
Leider flüsterten die Lehrer nur und Bella, Anna und die anderen verstanden kein Wort.
„Wir müssen wissen, was die reden“, meinte Mary, „unbedingt!“
Amelie antwortete: „Du hast recht und ich hab auch schon eine Idee. Jemand tut so, als
würde ihm die Gabel runterfallen und klettert unter den Tisch. Dann krabbelt er vorsichtig
zu den Lehrern und versucht, sie zu belauschen!“
„Nicht mal so schlecht, nur wer ist dieser jemand?“ fragte Anna.
Bella meinte lachend: „Immer der, der fragt!“
„Mann kommt schon, das ist gemein“, jammerte Anna, doch schließlich gab sie sich geschlagen und rutschte unter den Tisch. Vorsichtig und immer darauf bedacht, gegen keinen
Fuß der Lehrer zu stoßen krabbelte sie weiter, bis sie etwas hören konnte.
„Und was ist, wenn diese blöden Gören doch darauf kommen, dass wir David aus dem Lift
gestoßen haben?“, meinte Frau Blau und Anna sog erschrocken Luft ein. Jetzt hatten sie
Gewissheit, dass die Lehrer David tatsächlich umbringen wollten! Die Stimme von Herrn
Berger klang schockiert. „Wie wir? Das warst du doch ganz allein! Wir anderen wollten das
nicht!“
Frau Blau lachte gekünstelt: „Aber selbst wenn die Bullen uns erwischen, ihr werdet kein
Wort sagen … denn sonst werde ich euer kleines Geheimnis ausplaudern und ihr werdet für
längere Zeit in den Knast wandern. Und euren Job könntet ihr euch auch abschminken!“
Anna merkte, wie die anderen Lehrer erschraken und schweigend weiter aßen. Anna wusste, dass sie nichts Interessantes mehr erfahren würde. Also krabbelte sie vorsichtig auf ihren Platz zurück. Was war dieses Geheimnis? Erzählte ihnen deswegen Frau Lutz nicht
alles? Und war wirklich Frau Blau die einzige Täterin?
Nach der Aktion beim Essen, die einem Geheimagenten alle Ehre gemacht hätte, gingen
Anna, Amelie, Mary und Bella aufs Zimmer. Kaum hatten sie die Tür hinter sich zugezogen,
bestürmten sie Anna mit ihren Fragen.
„Also sag, haben sie sich verraten? Hast du was Verdächtiges gehört? Raus mit der Sprache,
Anna mach es nicht so spannend!“ Anna blieb hinter der Tür stehen und zog die anderen
zur Seite. Als der letzte Lehrer im Gang verschwunden war, begann Anna flüsternd: „Sie redeten über den Unfall und ich bin mir jetzt sicher, das, es die Lehrer waren, die David etwas
antun wollten. Doch es war nur einer und der hat die anderen erpresst. Dieser Lehrer ist …“
„Tok, tok, tok…“ klang es von der Stiege.
Anna hörte erschrocken zu reden auf. Gebannt schauten alle Vier zur Treppe hinüber. Eine
Person mit einem dicken Kopfverband stand etwas verlassen da, neben sich einen schwarzer Koffer mit Rollen. Sein Gesicht war nahezu vollständig verhüllt und voller Kratzer. Die
Mädchen konnten nicht erkennen, wer unter den Bandagen steckte.
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„David, bist du das?“, fragte Amelie vorsichtig.
Tatsächlich antwortet der Junge mit brüchiger Stimme: „Ja, ich bin’s. Und ich kann mich
jetzt wieder an alles erinnern ...“
Anna versuchte es vorsichtig zu formulieren. „David, wir wissen über alles Bescheid. Du
musst es der Polizei melden!“
Darauf reagierte David bestürzt: „Du weißt über gar nichts Bescheid, ihr alle wisst nicht,
wie man sich fühlt, wenn man die ganze Zeit etwas für sich behalten muss, was man gar
nicht wissen will!“
Geschockt schauten die vier Mädchen einander an. In den Augen von Anna und Mary standen schon wieder Tränen. Es herrschte Schweigen im Raum, als Amelie das Schweigen
brach. Auch ihr waren Angst und Schock in den Augen anzusehen. „Wirst du dich wenigstens noch von allen verabschieden?“
David nickte. Er ließ den schwarzen Koffer im Flur stehen und ging in den Speisesaal. Mary
und Amelie folgten ihm. Bella blieb mit Anna zurück und hielt sie am Arm fest: „Wer war
es? Es war doch nicht Frau Lutz oder?“ Bella sah sie verzweifelt an, doch Anna antwortete:
„Ich sag es dir später, doch jetzt müssen wir in den Speisesaal. Komm!“
Kapitel 8
Zielstrebig durchquerte David den Speisesaal und blieb vor Frau Blau stehen, die ihn gebannt anstarrte. „Sie war´s!“ Anklagend richtete sich sein gestreckter Zeigefinger auf die
Lehrerin. Die Schüler sprangen erschrocken von den Sitzen hoch. David trat einen Schritt
zurück. Er war den Tränen nahe. Es musste ihm schwer gefallen sein, nun allen zu sagen,
wer ihm das Schreckliche angetan hatte. Wahrscheinlich hatte er gehofft, dass der Albtraum
damit ein Ende haben würde. Doch es war erst der Anfang ...
Frau Blau, die auch aufgesprungen war, zückte plötzlich eine Pistole. Die Schüler schrien
auf, doch Frau Blau lachte nur: „Er hat recht. Ich wollte ihn umbringen, denn er kennt mein
Geheimnis - und das der anderen Lehrer! Nicht wahr!?“ Sie schaute zu David, dem stumm
die Tränen über die Wangen liefen. Trotzdem nickte er nur ergeben.
„Sie sind doch vollkommen krank“, schrie ein Schüler.
Herr Lammbauer versuchte, Frau Blau zu überreden, die Waffe wegzulegen. „Machen Sie
sich nicht unglücklich! Hören Sie auf, noch ist nichts passiert! Wenn Sie jetzt schießen,
kommen Sie lebenslang in den Knast. Legen Sie die Waffe weg! Sofort!“
Doch Frau Blau dachte nicht daran. „Ich hab in meinem Leben schon so viel Scheiße gebaut“, schnaubte sie, „Wenn ich ihn jetzt umbringe, würde das auch nichts ändern.“
Amelie schrie: „Was gibt es denn so Schreckliches, was einen Mord rechtfertigen könnte?“
Doch Frau Blau antwortete nicht. Sie war offenbar fest entschlossen, David umzubringen
und auch jeden anderen, der sich ihr in den Weg stellen würde oder etwas ausplaudern
könnte. Zur Überraschung aller brach sie aber plötzlich ihr Schweigen und die Geständnisse ihres Lebens sprudelten aus ihr heraus.
„Es fing an, als ich Siebzehn war und noch in Deutschland lebte. Damals hieß ich auch noch
nicht Blau … Ich war übermütig und stahl mit meinen Freundinnen ein paar Klamotten.
Ich trank und rauchte, und probierte schließlich auch noch Drogen. Es war ein Teufelskreis!
Ich musste immer mehr stehlen … da war dieser Nervenkitzel, wenn ich etwas in der Hand
hatte, das mir nicht gehörte … es an mich zu nehmen, machte süchtig.“ Sie unterbrach sich
selbst, als sie sah, dass ein paar Schüler versuchten, sich davonzustehlen. „Stopp, stopp,
stopp!“ , schrie sie, „ihr bleibt schön hier und hört mir zu!“ Sie konnte es noch nie ausstehen, wenn man sie ignorierte. „Oder soll ich schießen?“ Sie drohte mit der Waffe und die
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Schüler wichen verängstigt auf ihre Plätze zurück. Geschockt standen die Kinder zusammengedrängt an der Wand.
Auch die anderen Lehrer verharrten sichtlich schockiert in einer Ecke des Speisesaals.
Frau Blau aber fuhr so ungerührt fort, als würde sie kleinen Kindern eine Gute-Nacht-Geschichte vorlesen. „Ich stahl also immer mehr und wagte mich auch an größere Sachen
ran. Eines Tages, ich war gerade dabei in das Haus eines reichen Ehepaares einzubrechen,
erwischte mich das Hausmädchen und wollte die Polizei rufen! Im Effekt stieß ich sie um.
Sie fiel mit dem Kopf so unglücklich auf die Stiegenkante, dass sie reglos liegen blieb. Ich
war geschockt und haute ab. Am nächsten Tag erfuhr ich aus der Zeitung, dass im Haus
reicher Leute eingebrochen und das Hausmädchen tot aufgefunden worden war. Da drehte
ich durch! Ich war zu einer Mörderin geworden. Das hatte ich nicht beabsichtigt. Der Polizei wollte ich mich nicht stellen, also musste ich untertauchen, bevor sie mich irgendwann
gefunden hätten. Ich besorgte mir einen falschen Pass und flog nach Amerika. Ich hatte
kein Geld, deswegen musste ich wieder stehlen. Ich musste immer daran denken, dass ich
einen unschuldigen Menschen umgebracht hatte, bis ich merkte, dass in Amerika auch
viel passierte.“ Aus ihren Augen sprach Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. „Außerdem
sterben Menschen sowieso irgendwann, ob früher oder später ist doch egal.“ Sie zuckte nur
mit den Schultern, als ginge es nicht um Mord, sondern um eine harmlose Nachlässigkeit.
„Nach einem Jahr Abenteuerleben in den USA beschloss ich, zurückzufliegen. Von den
Drogen war ich immer noch nicht weg, aber ich wollte wieder arbeiten. Nach Deutschland
zurückzukehren war mir noch zu riskant, deswegen flog ich nach Österreich. Ich beschloss,
als Lehrerin zu arbeiten, weil das immer mein Kindheitstraum gewesen war.“ Jetzt trat ein
neuer Glanz in ihre Augen. „Mit abermals gefälschten Papieren und Ausweisen gelang es
mir nun, an eurer Schule zu unterrichten.“ Sie kicherte irre. „Obwohl ich gar nicht mit
Kindern umgehen kann!“
Dem wollte niemand widersprechen, selbst wenn es jemand gewagt hätte. Die Schüler
starrten sie ungläubig an. Was für eine schreckliche Geschichte!
„Und was hat es mit dem Geheimnis der anderen Lehrer auf sich?“,fragte Bella, die sich als
erstes wieder gefasst hatte.
„Ach das …“ Frau Blau wedelte mit der Pistole in Richtung der Lehrer, die sich ebenso wie
die Schüler nicht zu rühren wagten. „Einmal auf einer Schulparty erwischten mich einige
der Kollegen, wie ich ein paar Pillen schluckte. Ich brachte sie mit meinem Charme dazu,
auch welche zu probieren!“ Sie grinste diabolisch und fixierte einen der Lehrer so lange, bis
dieser seine Augen niederschlug. „Wenn das jemand rausfindet, könnt ihr alle euren Beruf
an den Nagel hängen. Welche Schule nimmt schon das Risiko auf sich, einen drogensüchtigen Lehrer auf Schulkinder loszulassen?“ Sie wirkte äußerst zufrieden.
Wir … wir wollten diese Pillen wirklich nicht schlucken“, beteuerte Frau Lutz und die vier
Freundinnen glaubten ihr sofort. Und auch Herr Berger meinte: „Wir haben es sofort bereut, wir lieben es, zu unterrichten!“ Doch bevor sich die Lehrer weiter entschuldigen konnten, unterbrach sie Frau ,,Blau“ und meinte: „Genug geredet! Jetzt ist David an der Reihe!“
Sie drehte sich zu dem Jungen um, der weiß wie die Wand war und zitternd vor ihr stand
wie das Kaninchen vor der Schlange. „Pech für dich, dass du von dem Geheimnis erfahren
hast.“ Sie machte einen Schritt auf ihn zu und zuckte mit den Schultern. „Es tut mir echt
leid, dass du jetzt sterben musst!“ Sie richtete die Waffe auf David, der vor Angst zitterte und
neben Mary immer kleiner wurde. „Verabschiede dich von deinem Leben“, sagte sie noch
und drückte ab …
Davids Schrei, als er zu Boden fiel, schallte durch den Raum. Die Schüler und Lehrer
schrien erschrocken auf. Viele brachen in Tränen aus, als sie David blutend auf dem Boden
liegen sahen.
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Dass er noch lebte, merkte Frau Blau zu seinem Glück nicht. Hysterisch schrie sie: „Ich werde euch alle töten!“ Sie richtete die Waffe auf die Schüler und schoss und schoss und schoss
… bis das Magazin leer war. In Panik versuchten die Kinder, sich in Sicherheit zu bringen.
Anna sprintete in Richtung Tür. Als sie zurück sah, merkte sie, dass mehrere Mitschüler
schon auf dem Boden lagen. Sie sah nur rot. Überall war Blut. Sie merkte erschrocken, dass
auch Amelie niedergefallen war und ihr Fuß voll Blut war.
Auch Bella und Mary versuchten zu flüchten. Zusammen liefen sie zur Tür, als Bella plötzlich nebe sich einen schrecklichen Schmerzensschrei hörte! Frau Blau hatte Mary getroffen
und diese sank zu Boden. Wie in Trance lief Bella weiter, bis sie Anna erreichte. Zusammen
mit ein paar Mitschülern, Frau Lutz und Herrn Lammbauer stürmten sie durch die Tür
nach draußen. Frau Lutz hatte ihr Handy dabei und rief die Polizei, während sie alle die
Pisten hinunterliefen. „Nur weg, weg, weg“, war der Gedanke aller. Trotzdem dachten Bella
und Anna immer daran, dass Mary, Amelie und andere Mitschüler vielleicht tot waren …
Polizei und Rettung waren nur fünfzehn Minuten später da. Sie brachten die unverletzten,
aber geschockten Schüler und Lehrer ins Tal. Bella und Anna saßen im Gang des Krankenhauses. Seit mehr als zwei Stunden warteten sie auf Neuigkeiten von Amelie, Mary, David
und den anderen Verletzten. Die Polizei hatte Frau Blau im angrenzenden Wald der Unterkunft festnehmen können, als sie flüchten wollte. Sie würde nie wieder aus dem Gefängnis
freikommen. Ein Arzt kam aus einem Krankenzimmer und trat zu den Mädchen und der
Lehrerin.
„Was ist mit unseren Freundinnen Amelie und Mary und den anderen?“, bestürmten sie
ihn, denn das war das Einzige, das sie derzeit interessierte!
Der Arzt schwieg zuerst, doch dann sagte er: „Amelie wurde am Fuß getroffen und ist schon
wieder bei Bewusstsein. Ihr könnt sie gleich besuchen, wenn ihr wollt. Mary hat einen
Streifschuss am Bauch. Sie wurde schon operiert und schläft noch. Die beiden liegen im
gleichen Zimmer. Herr Berger wird bald entlassen werden. Ihm wurde nur die Hand angeschossen. Aber es gibt auch schlechte Nachrichten. Für fünf eurer Mitschüler kam leider
jede Hilfe zu spät.“
„Und David?“ Anna hatte die ganze Zeit darauf gewartet, dass der Arzt auch seinen Namen
nennen würde. Sie hatte Angst vor dem, was nun kommen würde.
Der Arzt schaute sie ernst an. „Ob David überleben wird, ist offen. Die Kugel hat seinen
Lungenflügel zerfetzt. Noch kämpfen die Ärzte um sein Leben.“
Anna presste die Hand auf ihren Mund und spürte, dass Tränen in ihre Augen schossen.
Sie hatte David immer besonders gern gemocht. Wenig später saßen Bella und Anna an den
Betten von Amelie und Mary. Den beiden ging es zum Glück schon besser. Die Freundinnen
waren traurig, dass nicht alle überlebt hatten und doch froh, dass für sie und der Großteil
der Klasse der Albtraum noch halbwegs glimpflich vorbei gegangen war. Das schreckliche
Erlebnis würden sie aber bestimmt nie in ihrem Leben vergessen.
Frau Blau wurde zu lebenslanger Haft verurteilt, und die anderen Lehrer durften wieder
unterrichten.
Nur auf eine Frage wusste niemand für eine sehr lange Zeit eine Antwort:
Würde David sterben? Oder hatte er noch einmal Glück?
Anna beschloss, ihn jeden Tag zu besuchen ... bis er die Augen wieder aufschlug. Sie wollte
die erste sein, die er sehen würde, wenn er diesen letzten Mordversuch doch überleben
sollte ...
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Julian Hofer • Jakob Strempfl • Philipp Marterer
widespread deaths
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Prolog
„Cornelius!“
„Was ist Papa?“
„Hast du die Ratte wieder eingefangen?“
„Nein, aber ich hab sie gleich …“
Cornelius kroch auf den Knien unter den metallisch glänzenden Tisch. „Komm her, du …“,
er warf sich nach ihr. „Du kleines Biest!“ Seine Stimme zitterte vor Wut.
„Hast du sie bald, oder muss ich wieder …“, rief sein Vater in eiskaltem Ton.
„Nein, bitte nicht.“
Doch das Gesicht seines Vaters tauchte schon neben ihm auf. „… so, ab mit dir, du bist doch
zu nichts nutz.“
Cornelius wollte weglaufen, doch vor Angst konnte er keinen Muskel mehr bewegen. Jeglicher Fluchtversuch schlug fehl. Sein Vater griff mit seiner eisernen Hand nach ihm.
„Du kommst jetzt mit!“, brüllte er.
Nein, nein, nein!, dachte Cornelius. Er wehrte sich so heftig er konnte, doch da hatten sie
schon den Tisch erreicht. Cornelius‘ Vater band seinen Arm an ein Tischbein. Über ihm
war ein Laser.
„Wann kapierst du es? Du musst auf meine Versuchskaninchen aufpassen. Dummer Junge.
Wenn du nicht hören kannst, dann musst du fühlen. 300° Grad für 5 Sekunden.“
„Bitte …! Nicht!“ Der Laser fuhr hoch, es dauerte immer einige Zeit.
„Nein, nein! Stopp es bitte!“
Eins. Cornelius begann zu schreien so laut er konnte.
Zwei. Er spürte, wie sein Blut köchelte. Rasender Schmerz raubte ihm den Verstand.
Drei. Er betete. Er hoffte, dass es bald aufhören würde.
Vier. Der Schmerz brannte sich in seine Haut ein.
Fünf. Endlich war es vorbei.
Die Kuppel öffnete sich. Sein Vater trat herein und band ihn los.
„Fünfzehn und noch immer so dumm.“ Mehr sagte er nicht. Er schaute seinen Sohn nicht
einmal an.
Cornelius taumelte. Irgendwie kam er wieder in die Welt zurück, die real war.
1. Kapitel
Dr. Cornelius fuhr mit seinem Auto ins Stadtzentrum von New York zu seinem Bürogebäude. Er war ein kräftiger junger Mann, hatte braunes lockiges Haar und ewig schlechte Laune. An seinem Gesicht erkannte man immer, ob er glücklich war oder nicht. So waren seine
Lügen jedes Mal sehr unglaubwürdig. Er stieg aus dem Auto und ging zur Eingangstür, wo
sein Assistent auf ihn wartete. Der Assistent war ein muskelbepackter Mann, der eine Waffe
bei sich trug. Er hatte schwarzes Haar und ein „Pokerface“. Er war der perfekte Lügner und
Betrüger. Er machte gutes Geld mit seinem Job.
Sie nahmen den Aufzug ins oberste Stockwerk. Cornelius betrat den Saal. Links neben
dem Eingang befand sich das Labor, auf der gegenüberliegenden Seite standen ein paar
Schreibtische und die Hochleistungsrechner. Die beiden Teile wurden durch einen Paravent getrennt. Das Labor war sehr schmutzig, es hatte viele braune Flecken, an manchen
Stellen bröckelte der Putz ab. Die Ratten im Käfig waren aufgeregt. Sein Assistent holte für
ihn eines dieser zarten Tierchen heraus. Cornelius übernahm das Tier. Vorsichtig fuhr er
mit seinem schweißnassen Finger über das weiche Fell der Ratte, bevor er das Tier in einen
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Glasbehälter setzte. In das Gefäß führten mehrere Rohre. Als er einen Schalter betätigte,
füllten sich die Rohre mit blauen Dämpfen.
„Und jetzt?“, fragte Cornelius‘ Assistent.
„Warten wir bis zum nächsten Morgen“, antwortete Cornelius. Er drehte sich zu seinem
Assistenten um. „Mark, hol mir einen Kaffee“, befahl der Doktor.
„Ich bin nicht dein Haussklave!“, regte Mark sich auf, ging aber dann doch und füllte etwas
von der braunen Brühe in einen abgeschlagenen Becher.
Der Doktor nahm seinen Stift, Papier und alles andere, was er zum Berechnen brauchte.
Er kritzelte etwas auf das Blatt. Schweiß rann ihm von der Stirn und tropfte auf das Papier.
Bei jeder Zahl, die er niederschrieb, hörte er das Ticken seiner Taschenuhr, Buchstabe für
Buchstabe verfolgte ihn das Quietschen der Mäuse. Der Stressfaktor in ihm stieg extrem an.
Er wollte die Arbeit heute fertig bringen. Bei seinen Mäusen hatte er es so oft getestet, doch
nun dauerte es ihm schon zu lang. Zu lang, um nicht bei der Polizei Verdacht zu erregen.
2. Kapitel
Ein ganz normaler Tag.
Montag.
Jessica stand noch halb verschlafen auf. Ihre langen schwarzen Haare klebten ihr im Gesicht. Der Wecker klingelte schrill. Sie hasste die alte Schrottlaube!
Müde trottete sie durch ihre alte Bruchbude in die Küche und machte sich einen Kaffee.
John, ihr Freund, war schon längst in die Bar aufgebrochen. Dabei war er gestern erst um
drei Uhr früh heim gekommen. Jess schaute auf die Uhr.
Halb neun! Schon so spät!
Sie hastete ins Schlafzimmer, zog ihre Arbeitskleidung an und lief die Treppe hinunter.
Schnell ins Auto und Vollgas in die Fabrik, dacht sie. Plötzlich klingelte das Telefon.
„Hallo, haben Sie Zeit? Heute Nachmittag so gegen vier? Sie bekommen eine hohe Geldsumme“, fragte ein Mann mit tiefer Stimme.
Wie lange sie schon auf diesen Anruf gewartet hatte! Sie musste sich anstrengen, damit ihre
Stimme nicht zitterte. „Wie viel bekomme ich?“
„1 Million Dollar“, sagte der Mann.
Jessica saugte die Luft ein. „Wow, das ist viel Geld!“ Was sie wohl dafür tun musste? War sie
dafür bereit? Sie dachte an ihre winzige, schäbige Wohnung. „Wo soll ich hin?“
„Time Square, altes Bürohaus, oberster Stock. Seien sie pünktlich!“ Damit legte der Mann
auf.
Total verwirrt stieg Jess in ihr Auto und fuhr in die Fabrik. Auf der Fahrt dachte sie noch
nach, ob sie das wirklich machen sollte, aber eine Million Dollar waren zu verlockend. Also
stieg sie aus und ging in die Fabrik zu ihrem Arbeitsplatz. Sie hatte sich entschieden. In der
Mittagspause wollte sie zu dem alten Bürogebäude gehen.
Sie ging die glitschigen Stufen hinunter vom vierten Stock, wo sie arbeitete, bis in das Erdgeschoß, und ging hinaus. Dort wartete sie auf ein Taxi, das sie zu der angegebenen Adresse
führen sollte.
Jess fuhr zum alten Bürogebäude. Als sie angekommen war, nahm sie ihre Tasche heraus.
Sie war ein wenig abgelenkt von dem Gedanken, was sie da drinnen erwarten könnte.
War es vielleicht eine heimliche Quizshow oder ein Glücksrad?
Der Taxifahrer rief: „18 Dollar, bitte.“
„Was?“ Jess runzelte die Stirn. Wovon sprach der Mann?
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„18 Dollar. Für die Fahrt hierher.“ Der Taxilenker musterte sie, als wäre sie ein Alien.
„Hier, bitte.“ Jess fummelte schnell einen zerknitterten Schein aus ihrer Geldbörse und
ging vom Taxi zum Gebäude. Sie fuhr mit dem Lift in den 9 Stock, denn dort war Endstation. Dort musste sie weitere 9 Stockwerke über die Treppe zu Fuß. Die Treppe war nicht im
besten Zustand. Sie war dreckig und nass.
Sie wurde schon erwartet. Ein maskierter Mann überreichte ihr ein Bündel Geldscheine.
Hastig zählte Jess nach. Die Summe stimmte. Ihre Finger zitterten vor Aufregung. So viel
Geld auf einmal hatte sie noch nie in Händen gehalten. Dabei waren die 250 Tausend Dollar
erst ein Viertel des vereinbarten Betrages! Was sie wohl dafür tun musste?
Der Fremde führte sie in einen Raum, der blau beleuchtet war. Sie schaute sich um, aber
der Mann mit der Maske war schon verschwunden. Ein anderer Maskierter führte sie in den
Keller. Im Gegensatz zu ihrer Wohnung hatte der Keller hier eine Kunststoffversiegelung.
In der Mitte war ein Glaskobel aufgestellt. Aus Lautsprechern kam der Befehl, dass sie in
die Glaskammer steigen sollte.
Mit klopfendem Herzen befolgte sie die Anordnung. Was würde mit ihr geschehen? Ihr
Magen verkrampfte sich. Ängstlich drückte sie sich gegen die kalte Scheibe. Minuten vergingen. Jess kam es vor, als wären es Stunden. Je länger sie wartete, desto größer wurde ihre
Angst. Doch … es passierte nichts.
Nach einer Ewigkeit ertönte aus dem Lautsprecher der Befehl, dass sie wieder nach draußen
kommen könne. Kaum hatte sie den Raum verlassen, bekam sie von dem Mann, der sie
abgeholt hatte, ein Kuvert mit dem restlichen Teil des versprochenen Geldes.
Jess kaute nervös an ihrer Lippe. Sie verstand nicht, wofür ihr Der Fremde so viel Geld gegeben hatte. Sie war doch nur in einem Glasbehälter herumgestanden. Dann aber zuckte
sie mit den Schultern. Sollte ihr Recht sein! Wozu sollte sie sich so viele Gedanken darüber
machen. Das Geld konnten sie und ihr Freund gut gebrauchen.
Sie fuhr wieder mit dem Lift hinunter. Auf der Straße war ein riesiger Stau und sie beschloss, ihren Freund John Erikson in der Bar Apple zu überraschen. Obwohl sie sehr lange
brauchte, weil die Bar am anderen Ende der Stadt lag, genoss sie den Spaziergang durch die
belebten Straßen. In Gedanken schmiedete sie schon Pläne, wofür sie und John ihr Geld
verwenden wollten.
Endlich war sie in der Bar Apple angekommen. John war noch nicht fertig, deshalb bestellte
sie einen Martini. Sie konnte es kaum erwarten, bis John endlich Feierabend hatte und sie
ihm bei einem Spaziergang die tollen Neuigkeiten erzählen konnte. Wieder dachte Jessica
über die Nachwirkungen des Versuches nach. Aber auch John fand keine Erklärung, wofür
das hätte gut sein sollen. Schließlich beschlossen sie, sich nicht länger den Kopf darüber
zu zerbrechen.
„Es gibt so viele Verrückte auf der Welt! Warum sollten wir nicht einmal Glück haben!“ John
zwinkerte Jess zu und hängte sich bei ihr ein. Dann schlenderten sie weiter die Straße entlang. Sie gingen in den Park, dort setzten sie sich auf eine Parkbank und warfen den Vögeln
kleine Brotkrümel zu. Dann gingen sie weiter, den Broadway entlang. Bei einem Reisebüro
hielt Jess John fest. „Schau mal! Ein Angebot für eine Kreuzfahrt! Das wollte ich immer
schon einmal machen!“ Sie schaute John mit großen Augen an.
Er strahlte sie an und nahm sie bei der Hand. „Dann gehen wir doch einmal hinein“, sagte
er und stieß die Tür auf. „Ich will unbedingt nach Lissabon und wieder über die Ostküste
zurück“, sagte er, „Ich geh noch schnell zur Bank und mache einen Kredit.“
Jessica hielt ihn am Arm zurück. „Den brauchst du nicht“, lachte sie und holte das Kuvert
mit dem Geld hervor. „Diese Kreuzfahrt übernehme ich.“
Nur wenige Tage später traten sie die große Fahrt nach Lissabon an.
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3. Kapitel
Die Drohung
„Cornelius, wir müssen gehen.“
„Aber warum? Ich hab jetzt endlich ein paar Freunde.“ Cornelius protestierte heftig. Er war
gerade Sechzehn geworden. Er wollte endlich einmal so leben, wie er sich vorstellte und
nicht, wie es ihm sein Vater vorschrieb.
„Wir müssen gehen habe ich gesagt!“
Cornelius wusste, dass sein Vater dabei war, wütend zu werden. Aber er hatte genug davon.
„Nein! Ich bin nicht länger dein Kind.“
„Na gut, dann muss ich das eben nochmal machen, was vor einem Jahr geschah.“
„Nein! Diesmal nicht. Nie wieder.“
„Oh doch“, meinte sein Vater mit tiefer Stimme.
„Wenn du das tust, werde ich dich töten.“ Cornelius meinte dies mit vollem Ernst.
Sein Vater starrte ihn mit versteinerter Miene an. „Du mich oder ich dich.“ Es herrschte eine
kurze Schweigeminute zwischen ihnen. Cornelius kam es so vor, als wäre es eine Ewigkeit.
Sein Vater wirkte wie ein Gepard, der in dem hohen Gras lauerte, als wartete er auf einen
Fehler des Beutetiers.
Schließlich brach er das Schweigen. „Komm jetzt, steig ein“, sagte er. Diesmal gehorchte
Cornelius.
Es war Nacht, sein Vater schlief im Zimmer neben ihm. Sie hatten eine Nacht im Motel
auf der Autobahn gebucht. Jetzt war seine Chance auszubrechen. Doch bevor er flüchtete,
musste er ihm noch eine Nachricht schreiben.
„Ich werde dich töten. Egal wie.“
Cornelius nahm den Zettel und legte ihn neben sein Bett. Dann öffnete er das Fenster und
stieg vorsichtig hinaus. Er rannte so schnell er konnte. Den Herzschlag konnte in jedem
Teil seines Körpers spüren. Er schlug den Weg in Richtung zur Autobahn ein. Die ganze
Zeit hielt er seinen Daumen hoch und schließlich hielt ein LKW-Fahrer in die Straße vor
dem Hotel an.
„Kann ich mitfahren? Ist egal wo’s hingeht.“
Als der Fahrer ihm die Tür aufhielt, nickte er und kletterte zu ihm in die Fahrerkabine.
An all das erinnerte sich Cornelius, während er seinen Rücken gegen die kalte Wand in seinem Labor drückte. Genau deswegen hatte er die Bombe gebaut. Er wollte sie alle töten. Er
wollte sich rächen. An seinem Vater und an all den anderen, die ihm so weh getan hatten.
Cornelius befahl seinem Assistenten, die Kamera anzumachen. Es war eine billige Ausführung mit einer 240p Auflösung. Sein Assistent Mark fragte: „Wie macht man das Ding an?“
„Das ist jetzt nicht dein Ernst. Du weißt nicht …“
„Boss?“
„… wie man eine verdammte Kamera anmacht!!!“, schrie ihn der Professor an. „Drück den
größten Knopf auf der Kamera. Du haben verstanden mich jetzt großes Dumbo?“
„Ähh, Boss, wieso reden Sie mit mir, als wär ich ein Idiot?“
„Na, weil du einer bist! Jetzt drück den verdammten Knopf!“, brüllte ihm der Professor ins
Ohr.
„Jaja … “
Mark drückte den Knopf und die Kamera gab einen Piepton von sich.
„Liebe Welt, ich, Professor Cornelius, habe eine Bombe. Sie ist gefüllt mit Gift. Dieses Gift
wirkt schneller, als ihr denkt. Ich habe es schon an einem von euch getestet. Doch ihr wisst
nicht, wer das ist. Ich werde mich noch gedulden. Wenn ihr wissen wollt, was ihr tun könnt,
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dann gebt mir eine Milliarde Dollar und lasst mich gehen. Ihr habt bis 21.12.2012 Zeit. Danach macht es Boom.“
Ohne weitere Worte drehte Mark die Kamera ab und gab dem Professor sein Notebook.
Über WLAN stieg er in das Computerzentrum von New York ein, lud das Video hoch und
wartete. Als es oben war, schaltete er die Werbung im gesamten Bundesgebiet ab. Auf jeder
Fernsehstation der Vereinigten Staaten ging nun stattdessen sein Video on air.
4. Kapitel
15.12.2012
„Sir! Sir! Eben bekamen wir die Meldung, dass in ganz New York die Werbung ausgefallen
ist“, schrie Sam aufgeregt. Seit einem Jahr war er nun schon Polizist. Aber so etwas Irres
war ihm noch nie untergekommen.
„Na und?“ Sein Chef schien seine Aufregung nicht zu teilen.
„Na und! Das ist nicht ,na und!‘ Ein Verrückter hat vor, uns in die Luft zu sprengen!“
„Ja, ein Verrückter. Es ist nur ein Verrückter. Die können ja nichts als drohen. Und nachher
passiert doch nichts.“
„Aber …“
Sam wurde von einem plötzlichen Flackern abgelenkt. Der Bildschirm fiel aus. Genauso wie
alle anderen Computer auf der Polizeistation.
„Was ist denn nun schon wieder?“, maulte der Chef.
Doch dann gingen auch noch plötzlich alle Lichter aus. Angst breitete sich aus. Jeder auf
der Station dachte sofort an die Warnung von vorhin. Plötzlich kam es ihnen nicht mehr so
unrealistisch vor. Sie hatten Angst vor einem gut geplanten Überfall. Als sie Schritte hörten,
zog der Chef vor lauter Angst seine Pistole. Schritt für Schritt kam etwas immer näher. Dem
Chef selbst stand die Angst ins Gesicht geschrieben. Einer der Polizisten rollte sich vor lauter Angst am Boden zusammen.
Plötzlich fing der Computer des Chefs zu flackern an. Langsam wurde das Bild klarer. Man
hörte eine verzerrte Stimme: „Kann ein Verrückter etwa das?“
Gleich danach war wieder der blaue Desktop des Computers zu sehen. Die Lichter gingen
wieder an und die Männer auf der Polizeistation entspannten sich.
Der Chefinspektor kratzte sich am Kinn: „Ich fürchte, wir müssen etwas tun. Der Kerl ist
ein echtes Problem.“
Marshall kam nach Hause und warf sich auf die Couch. Er war todmüde. Mit einer Hand
versuchte er, die Fernbedienung zu erreichen. Doch sie lag auf dem Fernsehtischchen. Und
das war einfach zu weit weg. Stöhnend stand auf, griff nach dem Gerät und schaltete den
Fernseher ein. Als erstes sah er die Warnung. Irgendwas sagte ihm, dass er Angst haben
sollte. Als er umschaltete, sah er den gleichen Typen auf dem Empire State Building stehen.
Der Mann schrie: „Ich werde die Bombe explodieren lassen. Ich habe zwei Gegenmittel eines für mich, das zweite für die Wissenschaft.“ Gleich darauf verschwand er im Empire
State Building und kam kurz danach mit einem Ding auf einem Rollwagen wieder heraus,
das so groß war, wie zwei Menschen.
Marshall ließ zischend die Luft aus den Lungen entweichen. Das war eindeutig eine Bombe! Zum ersten Mal in seinem Leben wusste er nicht, was er tun sollte. Es kam ihm vor, als
würde er alles in Zeitlupe sehen. Mit einem Satz sprintete er zum Esstisch, warf sich unter
ihn und hielt die Hände vor sein Gesicht.
Er hörte einen großen Knall und wusste nicht, ob es aus dem Fernseher oder von draußen
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kam. Vor dem Fenster verdunkelte sich der Himmel. Dies war das Ende der Welt.
Die Bombe explodierte. Am Anfang war nichts zu sehen. Aber nach etwa zehn Minuten
entwickelte sich auf einmal ein blaugrüner Schleier. Er legte sich über ganz New York. Alle
Menschen gerieten in Panik und liefen umher. Die Geschäfte wurden geplündert und alles
sah fürchterlich aus. Man hörte Sirenen heulen und alle Kirchenglocken bimmelten. Zur
gleichen Zeit lag John auf der Couch und sah Fluch der Karibik 4 an. Bei der Hälfte fiel der
Strom aus. Nun wusste er, dass Cornelius‘ Drohung Wirklichkeit wurde. Der Reihe nach
wurden die amerikanischen Städte verseucht. Als nächstes zog die Wolke über Washington.
Dann kam Boston dran. Die ganze Ostküste Amerikas war innerhalb von einer Stunde nicht
mehr bewohnbar. Das Ökosystem brach in allen Landesteilen Amerikas zusammen.
Die Strahlen verbreiteten sich sehr schnell und erzeugten ein Tiefdruckgebiet, in dem sie
sich mit den Regenwolken vermischten und als Regentropfen ins Meer gelangten. Die
Gamma-Strahlen vergifteten Fische und alle Meeresbewohner starben aus. Die Fischer und
mit ihnen die meisten Menschen an der Ostküste fanden einen qualvollen Tod. Die Wolke
breitete sich weiter aus. Wie der unsichtbare Tod wanderte sie nach Westen. Die Menschen
rannten verzweifelt in ihre Keller. Der Präsident und alle, die genug Geld hatten, um sich
einen Platz zu erkaufen, wurden in Atombunker gebracht. Man musste Nahrungsmittel
heranschaffen, denn die Lebensmittel in den Vereinigten Staaten waren inzwischen alle
vergiftet. Die meisten Lebensmittel wurden aus Kanada importiert. Es stand sehr schlecht
um die USA.
5. Kapitel
Massenpanik
Es herrschte Panik in der City Hall. Der Bürgermeister rang verzweifelt neben der tobenden
Menge um Aufmerksamkeit.
„Ruhe! Ruhe bitte!“, rief er immer wieder, doch niemand hörte ihm zu.
„Was sollen wir nur tun? Wir haben nichts mehr zu essen!“, schrie eine wütende Stimme
mitten aus der Menge. „Wenn wir nichts tun, dann müssen wir sterben!“
„Das müsst ihr sowieso!“
Der große Bildschirm über dem Pult hatte sich eingeschaltet und das Gesicht von Cornelius
war zu sehen. Es wurde ganz still in der großen Halle. Hätte man eine Stecknadel fallen
gelassen, hätte man es gehört. „Ich warte immer noch auf das Geld. Seht, was ich in der
Hand halte! Das könnte euch gehören, wenn ihr mir das Geld geben würdet.“ Die Kamera
zoomte auf eine Flasche mit einer grünlichen Flüssigkeit. „Der Inhalt dieser Flasche könnte
euer Leben retten …“
Das Licht fing an zu flackern. Cornelius lachte teuflisch. „Überlegt es euch noch mal.“
Damit schaltete sich der große Bildschirm aus. Es wurde wieder ohrenbetäubend laut. Der
Bürgermeister ergriff das Wort: „Wir müssen mit Kanada verhandeln, ob sie uns weitere
Hilfsgüter exportieren. Der Wind über dem Atlantik hat die Wolke in Richtung Europa getragen, also ist Kanada nicht so kontaminiert wie wir. Es sind harte Zeiten, aber wir sind
Amerikaner und wir haben mehr Rückgrat als alle anderen!“
Laute Zustimmung erfüllte den Raum und die Stimmung schlug wieder in Optimismus
um.
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Marshall rannte zu seinem Bruder John. John hatte herausgefunden, wo Cornelius sich
aufhielt. „Er ist beim alten Bürogebäude!“, rief er seinem Bruder entgegen, als dieser bei
ihm ankam. Sie fuhren so schnell sie konnten zu dem alten Haus. In der Mauer klaffte ein
riesiges Loch. Alles war dunkel und verlassen.
,,Schnell! Hier entlang, Marschall.“
Sie rannten ins Innere. Vor ihnen tat sich ein Tunnel auf. Die Wände waren mit Schlamm
bedeckt. Von oben tropfte Wasser auf sie herunter, Wurzeln hingen vor ihren Augen. „Diese
Bäume sind bestimmt schon mehrere Jahrzehnte alt“, stellte Marshall fest. Das einzige, woran sie sich orientieren konnten, war ein schwaches Licht, das in den Tunnel hineinschien.
Der Weg kam ihnen länger vor, als er tatsächlich war. Marshall stolperte über die Überreste
der Ziegel, die herausgesprengt worden waren. Endlich erblickten sie ein Licht. John rannte
voraus, so schnell er konnte. Marschall schrie: ,, Warte, es könnte...“
Aus dem Raum kam ein schmerzvoller Schrei. Marschall spürte förmlich, wie sich die Zeit
verlangsamte. Jeder Schritt, den er tun würde, musste nun genau geplant sein. Er rannte so
schnell er konnte in den Raum.
Auf der gegenüberliegenden Seite bemerkte Marshall eine verschlossene Stahltür. Der
Raum war vollgeräumt mit Tischen, auf denen Reagenzgläser und Destillierkolben standen. Auf dem Boden lag John mit einer Spritze im Arm. Über ihn gebeugt stand Cornelius.
„Hau ab, Marschall, oder mit dir passiert das Gleiche“, warnte ihn Cornelius.
Marschall suchte nach etwas, um den Doktor zu überwältigen. Er rannte zum Tisch und
warf in blinder Wut mit den Gläsern nach ihm. Doch er traf niemanden. Der Doktor rannte
über die Glasscherben zu der Stahltür, schlüpfte in einen anderen Raum und schloss hinter
sich ab. John krümmte sich vor Schmerz auf dem Boden.
,,Es wird alles wieder gut, John, ich bring dich ins Krankenhaus“, flüsterte Marshall und
streichelte hilflos die Hand seines Bruders. Doch er wusste, dass er nicht mehr rechtzeitig
Hilfe bekommen würde.
Trotzdem packte er seinen Bruder unter den Achseln und hievte ihn zum Stehen hoch.
Johns Beine knickten weg. Marshall musste ihn aus dem Bunker tragen. Es war ein glitschiger Weg nach draußen. Die Betonmauern waren über und über mit Algen bedeckt. Als er
endlich an der freien Luft war, schnaufte er schwer. Er brauchte eine Pause! Aber er hatte
keine Zeit. Er schleppte sich weiter bis zu seinem Auto und bettete John auf die Rückbank.
Nach kurzem Überlegen entschied er sich für das Mount Sinai Krankenhaus, denn es war
am nächsten. Das Problem war der Mega-Stau. Alle wollten die Stadt verlassen. Er musste
die Bundesstraße nehmen. Die wenigen Ampeln, die noch funktionierten, blinkten wirr.
Der Verkehr war fast völlig zusammen gebrochen. Fluchend drückte Marshall auf die Hupe.
Als er einsah, dass nichts mehr ging, riss er die Wagentür auf und lud sich John auf die
Schultern. Keuchend rannte er mit dem schweren Gewicht weiter, bis er das Krankenhaus
endlich vor sich auftauchen sah. Marshall trug seinen inzwischen bewusstlosen Bruder in
die Eingangshalle und übergab ihn den Ärzten. Er wollte John nicht alleine lassen. Doch die
Ärzte schickten ihn in den Warteraum, bevor sie John einer großen Anzahl von Tests unterzogen. Marshall ahnte, dass sein Bruder nicht mehr zu retten sein würde. Er würde sterben.
Weil er nichts ausrichten konnte und das Warten ihn verrückt machte, beschloss Marshall,
wieder zum geheimen Labor zurück zu kehren. Er konnte sich noch genau erinnern, wo
Cornelius hingelaufen war. Das Bürogebäude war nach Norden ausgerichtet, der Tunnel
war in einer 180°-Kurve angelegt. Also verlief er nach Süden. Das nächste Gebäude im Süden, das einen Bunker hatte, war das Rathaus. Aber der Irre konnte sich doch unmöglich im
Rathaus verstecken! Wie konnte das nicht auffallen? Das FBI hätte doch längst das Signal
geortet.
Außer … Marshall dachte fieberhaft nach. Es gab noch einen zweiten Bunker. Von diesem
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Bunker wussten nicht viele. Es war ein Bombenbunker aus dem zweiten Weltkrieg. Damals
hatte man einen Weg dorthin durch das Bürogebäude angelegt.
Marshall rannte im Regen zur nächsten Polizeistation. Er hatte zum Laufen nicht die richtigen Schuhe an, trotzdem rannte er weiter. Ein mächtiger Blitz fuhr nieder und traf das Haus
neben ihm. Felsbrocken prasselten auf ihn herunter. Marshall beschleunigte noch einmal.
Er wollte John unbedingt retten. Ihm begegnete eine alte Frau. ,,Marshall?!“
Er hielt an und starrte die Fremde irritiert an. Woher wusste sie seinen Namen?
,,Ich bin es, Jessica, deine Nachbarin. Ich bin doch Johns Freundin! Erinnerst du dich nicht
mehr an mich?“
Marshall blieb stehen, als hätte ihn der Blitz getroffen. ,,Jess!! Was ist mit dir passiert?“
,,Cornelius‘ Gift - es lässt die Menschen schnell altern.“
,,Aber, aber … wie?“
,,Es ist schon egal, ich hab nur noch eine Stunde zu leben. Was ist mit John?“
Marshall schüttelte nur den Kopf. Jess starrte ihn kurz an und zuckte dann mit den Schultern. Sie drehte sich ohne ein weiteres Wort um und verschwand in dem zerstörten Haus.
Marshall rannte ihr nach, doch sie war wie vom Erdboden verschluckt. Marshall spürte, wie
eine Träne über sein Gesicht floss. Dafür würde Cornelius sterben!
Er ging in die Wache und wandte sich dem nächsten Polizisten zu. Rasch erzählte er, was
passiert war. Der Polizist meinte: „Ich werde ihnen einen Einsatztrupp für diese Mission
mitgeben und werde das FBI verständigen.“
In der halben Stunde hatte Marshall sehr viel Zeit zum Nachdenken. Er dachte über seine
Kindheit nach und ihm kam eine Erinnerung.
„Hey Marshall fang!“, rief sein Bruder. Es war einer dieser bunten Gummibälle. Marshall
konnte sich noch an die Farben erinnern. Er war rot-blau gestreift.
„Komm Marshall wir gehen rein!“, rief John. In der Küche fand er seine Mutter vor. Sie
kochte gerade sein Lieblingsessen: Spaghetti Bolognese. Plötzlich ertönte von draußen ein
Schrei. Marshall rannte nach draußen und sah nach, wer geschrien hatte. Es war ein Jäger.
Er wurde von einem Bären angegriffen. Das Tier schleifte den blassen Körper den Schotterweg entlang. Überall war Blut. In diesem Moment gab der Jäger direkt vor Marshalls
Augen auf. Seit diesem Erlebnis hatte Marshall geschworen, nie wieder jemanden sterben
zu lassen.
Inzwischen hatten er und die Helfer den Tunnel erreicht. Durch das Licht auf den Gewehren sah der Tunnel noch viel grusliger aus. Als sie im Bunker ankamen, war er leer. Aber
Marshall zeigte ihnen die Tür. Das FBI schoss das Schloss auf. Sie stürmten hindurch und
stießen auf eine Mauer aus Erde.
„Aber… aber wie ist das möglich? Das war ein langer Tunnel! Ich habe ihn vorhin erst selbst
gesehen!“ Marshall drehte sich einmal im Kreis herum. Er verstand nichts mehr. Der FBITrupp schaltete die Lampen aus, die Männer sicherten die Gewehre und verzogen sich.
6. Kapitel
Die Rückkehr der Wolke
In einer New Yorker Wetterstation schaute ein Meteorologe auf den Bildschirm. Als ihm klar
wurde, was er sah, war ihm das Entsetzen ins Gesicht geschrieben. Sein Mund stand offen,
als wollte er damit Fliegen fangen. Auf dem Bildschirm bewegte sich eine große, schwarz
dargestellte Wolke auf die USA zu. Der Mann presste die Hände vors Gesicht und rieb sich
den Schweiß weg. Dann schüttelte er sich. Mechanisch hob er einen Hörer ab, wählte eine
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Nummer und wartete. Nach einer kurzen Zeit meldete sich der Vorsitzende des Pentagons.
„Hallo, was gibt es?“
„Sie kommt zurück! Die Wolke!“
Der Mann am andren Ende der Leitung reagierte sofort. „Wir müssen alles evakuieren! Ich
informiere das Weiße Haus. Präsident Obama muss sofort in Sicherheit gebracht werden!“
Er legte auf.
Der Meteorologe ging aus dem Raum. Er zittert am ganzen Körper. „Heute wird es kein
schöner Wetterbericht“, dachte er und kicherte, als wäre er plötzlich verrückt geworden.
Die Wolke war inzwischen über den ganzen Erdball geflogen und hatte überall die hochgiftigen Delta-Strahlen ausgesendet. Ihre Wirkung war fünfhunderttausend Mal stärker als die
Atombombe, die damals über Hiroshima niedergegangen war. Jedoch entstand dabei keine
Druckwelle. Die Menschen atmeten die hochgiftigen Strahlen ein und nahmen sie über die
verdorbene Nahrung zu sich. Dabei sahen die Lebensmittel von außen gesund aus. Doch
sie waren für jedes Lebewesen tödlich. Der Reihe nach fielen die Menschen ohne Anzeichen
und Reaktion einfach um. Die Glücklichen starben in der Nacht und die Unglücklichsten
überlebten. Denn das Leben wurde härter und schwerer. Die Leute brachten sich in Massen um, zuerst starben die größeren Städte der Ostküste Amerikas aus, ausgenommen
Washington, Boston und New York. Großbritanniens Städte wurden so groß wie Eisenstadt
und noch kleiner. Europa war zunächst am wenigsten betroffen, aber Asien starb völlig aus.
Dort überlebten nur die Superreichen, die einen eigenen Atombunker hatten. Afrika sah
auch nicht gut aus und in Australien lebte kein Mensch mehr. Jetzt lebten nur noch wenige
Menschen auf dem Erdball. Das Leben trotzte der Strahlung und versuchte, zu überleben,
aber niemand hatte lange eine Chance gegen das Strahlengift.
Marshall war der einzige aus seiner Familie, der noch lebte.
Marshall schleppte sich die Treppen des Empire State Buildings hinauf, weil die Lifte außer
Betrieb waren. Ein paar andere Passanten folgen ihm. Sie waren in der 98. Etage.
„Nur noch vier Etagen“, dachte Marshall und nahm noch einmal seine letzten Kräfte zusammen. Mit jeder Stufe wurde er schwächer. Dann hatte er endlich die Wendeltreppe erreicht.
Er verschnaufte kurz. „Warum habe ich nich‘ das Chrysler Building genommen. Aber is‘ ja
egal. Ich sterbe so oder so.“ Seine verschrumpelten Füße ließen sich nur noch schwer bewegen. Er hörte einen dumpfen Schrei, der immer näher kam. Durchs Fenster sah er, wie
sich ein Mann in die Tiefe stürzte. Marshall schüttelte den Kopf und ging weiter. Wenige
Sekunden später hörte er den dumpfen Aufschlag des Körpers auf dem Asphalt. Jetzt wusste er, was ihn erwartete ...
7. Kapitel
Der gemeinsame Sprung
Furchtbar sah es auf den Straßen von New York aus. Überall lagen künstlich gealterte Leichen herum. Cornelius fühlte sich wie in einem Wüstendorf, in dem nur wenige Häuser
standen. Aber tatsächlich war er in der größten Stadt der Welt – nur dass jetzt alle Häuser
leer standen. In nur noch wenigen Stadtwohnungen brannte Licht. Diejenigen, die nicht
gleich an der Giftwolke gestorben waren, gingen am verdorbenen Essen zugrunde, am
schmutzigen Wasser oder an Krebs, den die Strahlen verursachten. In den anderen Städten
war es nicht viel anders. Aber am schlimmsten war es auf dem Land. So gut wie niemand
hatte den Giftangriff überlebt. Stille lag über dem Land.
Cornelius ging beschwingt aus dem Haus und schlenderte den Broadway hinauf. Er hatte
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sein Ziel erreicht. Sein Gegenmittel funktionierte. Jetzt wusste er, dass er nicht sterben würde. Aber alleine auf einen lebensfeindlichen Planeten zu sein, wollte er auch nicht.
„AAAAAAAAAAAAAAA!!!!!!!!!!!!“
Cornelius hörte einen Schrei über sich, und auf einmal fiel kurz darauf ein Körper vom
nächsten Hochhaus. Er schrak zurück. Blut spritzte ihm ins Gesicht, nur einen halben Meter von ihm entfernt lag ein junger Mann. Sein zerschmetterter Körper sah furchterregend
aus. Cornelius blickte schnell weg und rannte in die andere Richtung davon.
Er ging Richtung Wohnung, um zu schlafen, denn am nächsten Morgen wollte er sein Werk
vollenden. Er setzte sich auf seine Couch und schaltete den Fernseher an.
„Nichts. Keine Sendungen. Die Leute vom Fernsehen sind wohl auch alle gestorben“, dachte er und schaltete seinen DVD Player an. Bis spät in die Nacht zog er sich eine DVD nach
der anderen rein. Erst so gegen ein Uhr ging er ins Bett und hörte das erste Mal in seinem
Leben eine Gutenachtgeschichte an.
Am nächsten Tag ging er den Broadway hinunter. „Ho, hoffentlich fällt mir diesmal keiner
vor die Füße“, dachte er, als er bei einem Hochhaus vorbei kam. Cornelius suchte seinen
Vater – und fand ihn in der Fulton Street.
Der einstmals kräftige Mann wirkte wie ein Greis. Er kauerte in der Ecke eines halb zerstörten Gebäudes und starrte seinen Sohn aus leeren Augen an. Als er ihn erkannte, streckte er
ihm seine dürren Hände entgegen. Cornelius blieb vor ihm stehen. Regungslos starrte er
auf den zittrigen Mann hinunter. Schließlich ging er vor ihm in die Hocke.
„Na, alter Mann? Lust auf ein Experiment?“ Ein kaltes Lächeln spielte um seine Lippen.
Sein Vater versuchte etwas zu sagen, doch es kam nur ein Röcheln aus seinem Mund.
Cornelius griff in seine Jackentasche und holte eine Flasche mit einem dickflüssigen grünen Inhalt heraus. „Das Gegengift“, sagte er ruhig und hielt es seinem Vater vor die Nase.
Wieder stöhnte der andere und versuchte, die Glasröhre zu erreichen.
Cornelius legte den Kopf schief und betrachtete seinen Vater aus zusammen gekniffenen
Augen. „Ich habe mir überlegt, dich doch leben zu lassen.“ Er leckte sich über die Lippen,
bevor er weiter sprach. „Denn was mach ich auf einer Welt, in der es außer mir niemanden
mehr gibt?“ Mit bedächtigen Bewegungen steckte er eine dünne Nadel auf den Spritzenkolben.
Sein Vater verdrehte die Augen. Hoffnung glomm in seinem Blick.
Cornelius zog die Flüssigkeit auf. Ein Geräusch ganz in der Nähe ließ ihn in der Bewegung
innehalten. Ein Schatten fiel auf ihn und als er aufsah, blickte er in zwei blaue Augen, die
in tiefen Höhlen steckten. Aschblonde Locken umrahmten ein Gesicht, das früher einmal
sehr hübsch gewesen sein musste. Er erinnerte sich an die junge Frau. Sie war seine erste
Versuchsperson gewesen.
„Jessica, richtig?“ Er streckte der zarten Frau einen Arm entgegen. Wie ein zittriges Vögelchen fühlte sich ihr Herzschlag an, als er sie an sich zog. Ohne das Gegenmittel würde sie
nicht mehr lange zu leben haben. Eine plötzliche Idee schoss ihm durch den Kopf und ein
Lächeln legte sich auf sein Gesicht.
„Eigentlich habe ich meine Rache schon gehabt“, sagte er leise. Mit dem Fuß schob er den
schlaffen Körper seines Vaters beiseite, der erfolglos versuchte, sich an seinen Beinen festzuklammern. Jessicas leichter Körper lag wie eine Puppe in seinen Armen. Rasch schlang
er ein Band um ihren Oberarm und suchte nach einer Vene. Sie zuckte kaum, als die Nadel
ihre dünne Haut durchstach. Langsam strömte die grüne Flüssigkeit in ihren Blutkreislauf.
Gebannt beobachtete Cornelius, wie immer mehr Farbe in ihr Gesicht zurückkehrte. Nach
wenigen Minuten war sie in der Lage, wieder alleine auf ihren Beinen zu stehen.
Erstaunen machte sich auf ihrem Gesicht breit. Cornelius lächelte sie an. Er hatte sich noch
nie in seinem Leben so glücklich gefühlt.
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Jessicas Augen lagen forschend auf seinem Gesicht. Er versuchte, in ihrem Blick zu lesen.
Schließlich nahm sie ihn bei der Hand. Neugierig ließ er sich von ihr durch die verlassenen
Straßen New Yorks führen. Als sie ihn mit einem Ausdruck in den Augen anlächelte, den er
nicht deuten konnte, meinte er, im Himmel zu sein.
An ihrer Hand folgte er ihr zum Empire State Building. Nur kurz stutzte er, als sie ihn in
die leere Eingangshalle zog. Doch als sie ihm aufmunternd zunickte, trabte er hinter ihr die
Stufen hinauf. Er keuchte, als sie endlich die Plattform erreicht hatten. Doch die atemberaubende Aussicht über das Häusermeer entschädigte ihn für die Anstrengung. Jessicas frisch
erblühter Körper lehnte sich verführerisch gegen seine Brust. Er legte seine Arme um sie
und zog sie noch fester an sich. Gerade beugte er sich über sie, um sie zu küssen, als sie ein
heiseres Lachen ausstieß.
„Für John und Marshall, die beiden Menschen, die ich geliebt habe!“, stieß sie hervor und
umklammerte seinen Brustkorb.
Cornelius zog verwirrt die Stirn in Falten. Bevor er begriff, was sie vor hatte, fühlte er, wie sie
sich mit aller Kraft gegen ihn stemmte. Er spürte das Eisengeländer im Rücken, während
ihre ineinander verkeilten Körper über den Rand glitten. Noch im Fallen fragte er sich, was
das alles zu bedeuten hatte.
Das Letzte, was er vor sich sah, waren ihre himmelblauen, weit aufgerissenen Augen. Er las
in ihnen Ruhe und Genugtuung. Dann war es vorbei ...
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Prolog
Töte den Stern, töte den Stern!
Das Wispern in Sophies Kopf wurde mit jedem Tag lauter.
Sophie saß am Straßenrand und bettelte. 20 Euro. Mehr hatte sie heute noch nicht zusammengebracht. Sie wusste nicht, was sie machen sollte. Seit Tagen ging es schon so.
„Wenn das nicht aufhört, werde ich noch verrückt!“
Sie presste die Fäuste gegen ihre Ohren, versuchte, sie zu ignorieren, doch die Stimmen
wurden immer lauter. Sie steckte eine Hand in die zerschlissene Jackentasche. Ihre Finger
bekamen die Münzen zu fassen, die ihr die wenigen Menschen hingeworfen hatten, die
nicht achtlos an ihr vorbeigelaufen waren.
„Wenigstens ein Säckchen sollte sich ausgehen“, dachte sie und rappelte sich zum Stehen
hoch. Sie war schon lange auf Drogen, doch seit die Stimmen wieder in ihrem Kopf aufgetaucht waren, war die Sucht stärker geworden. Sie wollte sich betäuben. Nichts mehr hören.
Doch die Stimmen gaben einfach nicht auf.
1. Kapitel
Sophie Eliston.
Töte den Stern!
Welchen Stern?, dachte Sophie, während sie sich die Weinflasche an ihre Lippen setzte.
Langsam leerte sie die Flasche mit großen Zügen. Ihr Kopf hämmerte, als wollte er zerspringen. Die Stimme in ihrem Inneren machte sie langsam wahnsinnig. Fast so schlimm,
wie der Hunger, der in ihren Eingeweiden rumorte und sie kaum noch schlafen ließ. Sophie
torkelte Richtung Innere Stadt. Während sie durch die engen Gassen schwankte, dachte
sie über ihre Vergangenheit nach: An ihren schrecklichen Adoptivvater und ihre immer
schlechtgelaunte Adoptivmutter. Darüber, wie sie misshandelt worden war und wie sie nach
dem Tod der beiden angefangen hatte, zu trinken und Drogen zu nehmen. Kurze Zeit ging
es ihr besser. Sie hatte eine eigene Wohnung gefunden. Und einen ordentlich bezahlten Job
in einem Supermarkt.
Verdammt nochmal! Sophie stolperte über eine achtlos weggeworfene Cola-Dose und kickte
sie mit einem kräftigen Tritt in den Rinnstein. Warum habe ich nur diese blöde Flasche
Champagner mitgehen lassen? Dabei wäre das denen sowieso nicht aufgefallen. Wenn nur
der neue Lehrling sie nicht verpetzt hätte. Aber die Personalchefin kannte kein Erbarmen.
Nicht einmal eine zweite Chance hatte sie bekommen. Kündigung. Fristlos. So schnell hatte
sie gar nicht schauen können, war sie aus der Wohnung geflogen. Kein Geld für Miete –
kein Dach über dem Kopf.
Seitdem lebte sie auf der Straße. Manchmal waren die Leute so hilfsbereit, dass sie auch
schon mal einen Fünf-Euro-Schein hergaben. Doch meistens hockte sie nur am Straßenrand und tat einfach nichts. Sah in die Luft und dachte an ihre leiblichen Eltern: ob sie wohl
noch lebten? Warum hatten sie Sophie weggegeben? Und kannten ihre Adoptiveltern ihre
echten Eltern? Fragen über Fragen – auf die sie niemals eine Antwort bekommen würde.
Sie verlangsamte ihre Schritte und schaute sich um. Sie war jetzt schon in der Kärntner
Straße angekommen, und die Menschen, an denen sie vorbei schlenderte, waren ihr fremd.
Wenigstens war der Rausch vom Alkohol so weit abgeklungen, dass sie wieder normal denken konnte. Da sah sie einen Mülleimer, wunderbar voll mit dem Rest von einem Hamburger, zwei angebissenen Schokoriegeln, fauligen Bananen, die schon eine schwarze Schale
hatten, einem angebissenen Apfel und einer halbgefüllten Tüte mit Pommes frites. Was die
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Leute so als Müll bezeichneten! Für Sophie war das ein Festmahl. Als sie ein welkes Salatblatt herausfischte und es gierig in den Mund stopfte, entdeckte sie einen zusammengefalteten Stadtplan, der sie magisch anzog. Ohne sich weiter Gedanken darüber zu machen,
wozu sie ihn brauchen könnte, steckte sie ihn ein. Sie war zufrieden. Mit schleppenden
Schritten schlurfte sie weiter durch die Straßen. Das ziellose Herumgehen hatte sie müde
gemacht. Über den Dächern der Stadt wurde es schon dunkel, also setzte sie sich neben
eine Hausmauer und beobachtete den Verkehr, der immer stärker wurde. Die Arbeiter fuhren nach Hause. Auch auf dem Gehsteig wurde sichtbar mehr gedrängelt. Alle hatten ein
Ziel. Eine Familie. Ein Zuhause. Sophie presste die Lippen aufeinander. Sie wollte nicht darüber nachdenken, wo sie die heutige Nacht verbringen würde. Oder ob sie morgen wieder
frieren müsste, weil ihr Unterschlupf bei der U-Bahn-Unterführung schon besetzt war. Ein
junger Mann ging an ihr vorbei, blieb kurz stehen und legte einen Euro in ihre hohle Hand.
Irgendetwas an ihm rief lang verdrängte Erinnerungen in ihr wach. Sophie holte tief Luft.
Noch einmal stieg ihr dieser Duft in die Nase. Mit einem Schlag war alles wieder da. Große
Wut breitete sich in ihr aus. Sie war wie elektrisiert. Magisch von dem Geruch angezogen,
erhob sie sich und folgte dem Mann.
2. Kapitel
Schon seit Stunden beobachtete sie ihn. Hannes. Hannes Müller. Rot-orange Locken umsäumten ein kindliches Gesicht mit Sommersprossen auf der Nase. Da bemerkte Sophie,
dass ein Fenster im ersten Stock ein wenig offen stand. Mühsam zwängte sie ihre knochigen Finger in den Spalt und drückte es auf. Leise knarrte das Fenster, das in die Küche
führte. Langsam schob sie ihren rechten Fuß in die Öffnung, und hievte sich geräuschlos
hinein. Die Küche war modern und alles roch noch nach Putzmittel.
Nimm das Messer und töte den Stern!!!
Sophie presste kurz die Augen zusammen und versuchte die Stimmen zu ignorieren, doch
sie gingen nicht weg. Die Stimmen waren in ihr. Die Stimmen waren zu einem Teil von ihr
geworden.
Sie sah sich in der Küche um. Auf der Theke stand ein großer Messerblock mit neun blank
geschliffenen Messern. Sophie nahm sich das Größte und schlich leise in den Flur. Die Tür
zum Bad stand offen und Sophie hörte das Wasser an die Wand der Duschkabine prasseln.
Plötzlich stoppte das Geräusch und die Tür der Kabine ächzte. Sophie sah durch den Türschlitz, wie Hannes sich den Bademantel umband und schwerfällig aus dem Raum stapfte.
Sophie trat aus dem Dunkel des Flurs und baute sich vor dem jungen Mann auf. Hannes
starrte sie fassungslos an und brachte keinen Laut heraus. Sie handelte schnell und stach
ihm mitten ins Herz.
Stille.
Nur Sophies Herz klopfte so laut, dass ihr Kopf dröhnte. Sie atmete tief ein und aus.
Der Stern! Der Stern! Er soll weiterleben!!!
Langsam begriff Sophie, was die Stimmen meinen könnten und ging in die Küche, um ein
Tuch zu holen. Mit wackeligen Beinen ging sie zum Opfer zurück und tränkte das Tuch in
seinem Blut. Ihr wachsamer Blick huschte durch den Raum und blieb an einem Bild hängen. Sie schlich zum „Sonnenaufgang mit Berg“ und nahm es vorsichtig ab. Mit zitternden
Händen malte sie einen verzerrten Stern auf die Wand. Ruhe. Endlich Ruhe.
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3. Kapitel
Marc Soon.
„Warte kurz Tante Alice, es ist jemand in der anderen Leitung…“
Ich drückte auf die Rufumschaltung, um den anderen Anruf entgegen zu nehmen. Überrascht saugte ich die Lippen zwischen die Zähne. Was wollte mein Chef um diese Zeit von
mir?
Verdammte Sch… - ein Mord war nicht gerade der Auftrag, um den ich mich riss. Noch
dazu, wo er so weit vom meinem Haus entfernt war, dachte ich, während ich eilig ein Butterbrot in meinen Mund stopfte und den Kaffee runter schüttete. Ein leiser Schrei entfuhr
mir, als die heiße Brühe in meiner Speiseröhre hinunter rann. So schnell ich konnte lief ich
zur Wohnungstür, schnappte mir den Autoschlüssel und sauste hinunter ins Parkhaus. Das
Auto sperrte ich mittels Fernbedienung auf und stieg außer Atem ein. Während ich zum
Tatort fuhr, schossen mir tausend Gedanken durch den Kopf. Wer war ermordet worden?
Wer hatte das getan? Und wieso musste genau ich über diesen Mordfall berichten?
Während ich im Stau stand, klingelt mein Telefon. Tante Alice schon wieder! Ich hatte nun
wirklich keine Lust, länger mit dieser griesgrämigen alten Hexe zu reden. Ich schaltete das
Telefon auf stumm und legte es zurück in meine Tasche. Das Haus zu finden, entpuppte
sich gleich darauf als ziemlich einfach, da die Polizei noch vor der Haustür stand. In einer
winzigen Parklücke stellte ich mein klitzekleines Automobil ab. Kaum war ich ausgestiegen, kam mir schon ein stämmiger Polizist entgegen.
„Wohin des Weges?“, fragte er mit tiefer Stimme.
„Nur in dieses Haus, ich muss über diesen Mordfall recherchieren“, antwortete ich ihm.
„Das können sie sich abschminken! Da kommt jetzt keiner rein … und schon überhaupt
nicht so ein dämlicher Journalist.“ Sein brummiger Gesichtsausdruck ließ meine Hoffnung
sinken, aber nach zähen Verhandlungen einigten wir uns darauf, dass ich für ein paar Minuten einen Blick hineinwerfen durfte.
„Aber nichts berühren, haben Sie verstanden?“, bellte der Polizist hinter mir her.
„Klar! Ich kenne die Regeln!“ Ich hob beruhigend die Hand und lief über die Straße zur
Eingangsstiege, vor der ein weiterer Polizist die Schaulustigen im Zaum hielt. Mit einer
knappen Kopfbewegung bedeutete er mir, dass ich passieren durfte. In der Wohnung, in
der der Mord passiert war, standen eine Menge Polizisten und Männer von der Spurensicherung herum. Ich ging hinein und sah mich zuerst mal um.
Wow! So ein Haus hätte ich auch gerne mal. Die Einrichtung war geschmackvoll, teuer und
modern … irgendwie wirklich männlich. Ich musste sehen, dass ich meine Fotos zusammen kriegte. Ich fotografierte die Bodenumrahmung der Leiche, das Haus und noch ein
paar Küchenmesser, die ich vorher in Ketchup getunkt hatte. Als ich mich umdrehte, bemerkte ich ein kleines Bild, das meine Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Es hing etwas schief
und ich wollte es gerade rücken. Während ich über den weiß-schwarz gestreiften Teppich
ging, erfasste mich ein mulmiges Gefühl. Keine Ahnung wieso, aber ich konnte einfach
nicht anders, als zu diesem Bild zu gehen. Etwas zog mich magisch an. Als ich knapp vor
dem Bild stand, entdeckte ich einen kleinen roten Fleck unter dem Bilderrahmen. Sehr
merkwürdig! Ich schob es ein wenig nach rechts - und als ich sah, was sich dahinter verbarg,
blieb mein Herz fast stehen.
Ein kleiner, mit roter Farbe gemalter, gut versteckter Stern.
War das etwa Blut? Wie krank musste ein Mensch sein, der einen Stern mit Blut an die
Wand malte? Mir wurde übel. Ich musste so schnell wie möglich aus diesem Haus raus!
Tausend Gedanken wirbelten mir durch den Kopf. Dass es vielleicht wichtig sein könnte,
die Spurensicherung von meiner Entdeckung zu informieren, war nicht darunter. In Panik
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lief ich aus dem Wohnhaus, sperrte mein Auto auf und hüpfte schnell hinein. Immer noch
total aufgewühlt fuhr ich in die Redaktion, um die Fotos auszuarbeiten.
4. Kapitel
Sophie Eliston.
Töte den Stern! Töte den Stern!
In Sophies Kopf bildete sich ein Stimmengewirr, das nur diese drei Wörter sprach. Der
Alkohol machte das Stimmengewirr etwas leiser. Doch der Rausch verschwand wieder. Der
Kater und die Stimmen machten sich bemerkbar.
Als würde jemand einen Presslufthammer in meinen Kopf schlagen, dachte Sophie.
Mit der Landkarte in der Hand schlenderte sie an den teuren Boutiquen der Mariahilfer
Straße vorbei und betrachtete sehnsüchtig die wertvollen Auslagen. Die Fußgängerzone war
mit einer Art „Walk of Fame“ gepflastert, eine billige Nachahmung des echten in Hollywood.
Die Rillen und Kanten der Sterne drückten unangenehm auf den Sohlen. Nach einer Weile
sah sie eine Mac Donalds-Schachtel auf den Boden liegen, in der herrliche, knusprig goldbraune Pommes lagen. Mit ihren abgemagerten Fingern versuchte Sophie die Schachtel
aufzuheben. Dabei überkam sie eine neue Welle des kaum verflogenen Rausches und der
Presslufthammer in ihrem Kopf meldete sich wieder. Sie taumelte. Alles drehte sich um sie.
Instinktiv streckte sie die Hände vor, um den Sturz abzufangen. Mit der Landkarte voraus,
die sie ständig bei sich trug, stürzte sie auf einen der Sterne, die im Gehsteig eingelassen
waren und auf denen Berühmtheiten ihre Hand- und Fußabdrücke hinterlassen hatten.
Ein paar Passanten bleiben stehen. Eine Frau beugte sich zu Sophie herunter und fragte
besorgt, ob sie sich verletzt hätte. Sophie schüttelte den Kopf. Nur nicht auffallen!, dachte
sie und rappelte sich so schnell sie es schaffte wieder hoch. Ihr Blick fiel auf die völlig zerknitterte Landkarte. Seltsam. Der Stern, auf den sie gestürzt war, hatte einen Abdruck hinterlassen. Sophie betrachtete die Straßenzüge eingehend. Mit einem kleinen Buntstift, den
sie am Boden fand, zeichnete sie gedankenverloren die durchgedrückten Stern-Konturen
nach. Eine plötzliche Idee schoss ihr durch den Kopf. Je länger sie darüber nachdachte,
desto sicherer war sie, dass ihr dieser Stern etwas sagen wollte. Sie hatte einen Auftrag, den
sie dringend in die Tat umsetzen musste …
Die gelbe Fassade des großen Hauses prangte Sophie schon vom weitem entgegen. Die
Sonne spiegelte sich in den großen weiten Fenstern und reflektierte das Licht in ihr Gesicht.
Schützend hob sie die linke Hand vor die Augen, doch ihr Gang wurde mit jedem Schritt
zielstrebiger. Zielsicher ging sie auf den Eingang zu. Die Karte hatte sie gut in einem der
stillgelegten Fahrhäuser versteckt, die am Rande der U-Bahn standen. Nur das Messer aus
Hannes‘ Haus hatte sie fest an sich gepresst. Mit großen Schritten stieg sie die Treppe hinauf und kam schnaufend an einer modernen Glastür an. Sie suchte eine Klingel, fand aber
nur eine Sprechanlage mit Kamera. Langsam drückte sie den Knopf des Gerätes. Ein schriller Ton kam ihr entgegen. Nach einigen Sekunden meldete sich die Stimme einer jungen
Frau. Sophie zuckte zusammen. Sie hatte einen Mann erwartet.
„Ja, bitte?“, fragte die Frau zögernd.
Seit Tagen hatte Sophie ihr zweites Opfer schon beobachtet. Alexander Mörth. Auch den
Satz, den sie jetzt sagte, hatte sie gut vorbereitet.
„Ich bin eine Freundin von Alexander, könnten Sie mich bitte hineinlassen?“
Die Frau meldete sich wieder zu Wort. „Ja sicherlich, ich komme gleich. Ich putze nur
schnell das Fenster fertig.“
- 33 -
Ah! Alexander hatte also eine Putzfrau. Sophie dachte darüber nach, ob sie es wagen sollte,
eine Zeugin am Leben zu lassen. Was, wenn sie sich an ihren Besuch erinnern würde?
Doch der Stern hatte nichts von einer Frau gesagt … Sie war noch zu keinem Ergebnis
gekommen, als sie bereits die Silhouette einer kleinen Frau hinter der Tür auftauchen sah.
Langsam öffnete sich die schwere Glastür und Sophie trat ein.
Eine zierliche Person mit dunkler Haut trat heraus. Sophie versuchte ein Lächeln, doch die
Putzfrau sah Sophie nicht ins Gesicht. „Entschuldigung, aber ich muss schnell weiter zum
nächsten Haus. Ich bin schon spät dran“, murmelte sie nur und drückte sich an ihr vorbei.
Sophie atmete erleichtert auf. Nein, von der Putzfrau hatte sie nichts zu befürchten. Die
würde nicht einmal wissen, was für Kleidung der fremde Besucher getragen hatte. Sophie
war froh, dass sie die Frau nicht umbringen musste …
5. Kapitel
Marc Soon.
Geht ein Serienmörder um?
Gestern wurde ein Mord an dem reichen Software-Entwickler Alexander M. (26) ausgeübt. Am
frühen Morgen fand ihn der Postbote Matthias K. Die Polizei steht vor einem Rätsel, denn in
der vergangenen Woche war ebenfalls ein Mord an dem jungen Hannes M. verübt worden. Beide
Opfer waren auf die gleiche Weise getötet worden. Sie wurden mit einem Messer erstochen. Mitten
ins Herz. Müssen wir mit weiteren Morden rechnen?
Die Polizei erbittet sachdienliche Hinweise an jede Polizeidienststelle ...
Begeistert lehnte ich mich in meinem Stuhl zurück. Der Bericht war mir gut gelungen! Ich
druckte die Seite aus, klappte den Laptop zu und machte mich auf den Weg zum Chefredakteur. Doch der kam mir schon mit federnden Schritten entgegen.
„Ola, Marc! Zu dir ich wollte gerade. Zeig mal her das gute Stück!“ Ich mochte seinen südländischen Akzent. Obwohl er für sein aufbrausendes Temperament gefürchtet war, fühlte
ich mich in seiner Nähe immer wie im Urlaub.
Nach einigen Minuten schaute er vom Blatt auf und setzte ein zufriedenes Lächeln auf.
„Marc du bist eine gute Mann, ich dich könnte glatt heiraten!“ Er drückte das Blatt an sich
und verschwand in seinem Büro. Aus den Blicken meiner Kollegen, mit denen sie mich
durchbohrten, sprach der pure Neid. So ein Lob hatte hier noch niemand bekommen. Nicht
in den vergangenen drei Jahren, die Pedro Ramos schon der Chef unserer Abteilung war.
Ich fühlte mich großartig. Sollten sie ruhig neidisch sein. Heute konnte mir nichts die gute
Laune verderben.
Wie von selbst dachte ich an Vanessa. Vor zwei Tagen hatte sie bei uns als Fotoredakteurin
angefangen und ich hatte auf den ersten Blick ein gutes Gefühl bei ihr gehabt. Ich dachte an
ihre schönen blauen Augen und ihr langes blondes Haar und ein wohliges Sehnen breitete
sich in meinem Bauch aus. Was für ein glücklicher Zufall, dass sie auf dem Gang in mich
hineingerannt war und sich unbedingt mit einem Kaffee revanchieren wollte. Bei unserem
Date habe ich erfahren, dass wir sogar im selben Haus wohnten! Sie hatte die Wohnung mir
gegenüber gemietet und ich konnte es kaum erwarten, sie wiederzusehen.
Für heute um Sieben hatten wir uns zum Essen verabredet und ich war selbst überrascht,
wie aufgeregt ich deswegen war. Schon gestern hatte ich meine schönsten Klamotten aus
dem Schrank geholt, die Schuhe geputzt und mein blitzblaues Hemd gebügelt. Ich wollte
unbedingt einen besonderen Eindruck auf sie machen! Doch dann ging einfach alles schief.
Zahnpasta spritzte aufs Hemd, der Schuhriemen riss ab und meine Haare sahen aus, als
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wäre ich eben erst aufgestanden. Als ich auf die Uhr sah, war es fünf Minuten vor Sieben.
Entnervt schlüpfte ich in das alte orange T-Shirt, riss die nächstbesten Schuhe aus dem
Schrank (natürlich hatte ich die ausgeleierten blauen Converse meiner Tante Alice erwischt)
und fummelte gerade an den Bändern, als es auch schon an der Haustür klingelte. Halb angezogen stolperte ich zur Tür und riss sie auf. Vanessa stand in einem zerknitterten T-Shirt
und Blue Jeans vor mir - und sah zum Anbeißen unwiderstehlich aus!
Wenigstens passten wir kleidungstechnisch zusammen, dachte ich und brachte kein Wort
heraus. Sie machte eine einladende Bewegung und ich folgte ihr zum Treppenhaus.
„In welches Café magst du gehen?“, fragte ich zögernd.
Sie lächelte mich von der Seite an. „Ich bin ja neu in der Stadt und kenne mich nicht so
gut aus. Was hältst du von Charlies´ Café?“, fragte sie und ich nickte nur wie ein Schaf. Ich
ärgerte mich über mich selbst. Wenn ich meine Aufregung nicht bald in den Griff bekam,
konnte der Abend ja noch heiter werden. Ich war doch sonst nicht auf den Mund gefallen.
Sie ignorierte aber meine aufsteigende Panik und hängte sich bei mir ein. Wir schlenderten
in Richtung Café und ihr fröhliches Geplauder entspannte mich langsam. An der Tür angekommen, verhielt ich mich wie ein Gentleman und hielt Vanessa die Tür auf. Vielleicht
konnte ich ja doch noch bei ihr punkten!
Mit schnellem Blick durchsuchte ich das Café, ob ein Platz frei war, damit wir uns hinsetzten konnten. In der hintersten Ecke fand ich ein kleines, knallrotes Sofa, das mir auf Anhieb
ins Auge stach. Auch Vanessa hatte das Sofa entdeckt und steuerte es zielsicher an.
Als die Kellnerin kam bestellten wir Café Créma und dazu jeder ein Früchtetörtchen und
begannen über unsere Berufe und Freizeit zu reden.
„Also…“, begannen wir beide gleichzeitig und Vanessa kicherte. Ein fröhliches Lachen. Ich
lächelte und ließ Vanessa den Vortritt.
„Ok. Ich bin eine Krankenschwester auf der Babystation im Wiener LKH und spiele in meiner Freizeit gerne Volleyball. Ähm … aber auch als Babysitterin jobbe ich am Wochenende
und sonst bin ich eigentlich immer zu Hause. Also wenn du willst, kannst zu mich einmal
besuchen kommen.“
Ich war beeindruckt. „Wow. Auf der Babystation und dann auch noch Babysitten? Werden
dir die kleinen Kinder denn nicht zu viel?“ Dass sie mich auch noch zu sich eingeladen
hatte, beschleunigte meinen Herzschlag massiv.
„Nein. Ich…“
Die Kellnerin unterbrach das Gespräch und stellte die Törtchen und die Getränke auf den
kleinen Tisch. Ich nahm einen Schluck von meinem Cappuccino und sah Vanessa auffordernd an.
„Ich liebe Kinder und möchte einmal selber welche haben.“ Sie lächelte vielsagend und ich
spürte, wie mir das Blut in den Kopf schoss. „Jetzt hab ich aber genug von mir gequasselt.
Erzähl du doch einmal etwas von dir.“
Ich war immer noch bei dem Kinder-Thema. Ob das eine Aufforderung war? Ich schob
den aufregenden Gedanken beiseite und startete stattdessen mit meinen Informationen.
Geschickt lenkte Vanessa das Gespräch und bald waren wir bei sehr persönlichen Themen
angelangt. „Manchmal besuche ich meine Tante Alice, denn die hat auf mich aufgepasst
als ich noch ein klein war.“ Ich konnte nicht fassen, dass ich plötzlich über meine nervige
Verwandtschaft erzählte!
„Und was ist mit deinen Eltern?“, fragte Vanessa. Sie schien ehrlich interessiert zu sein.
„Meine Eltern sind bei einem Autounfall ums Leben gekommen.“
Ihr fröhlicher Gesichtsausdruck änderte sich schlagartig. „Oh, das tut mir leid. Wenn du
irgendwen zum Reden brauchst, ich bin immer für dich da.“ Vanessa schlug die Augen
nieder und zupfte an der Tischdecke. Schließlich stach sie ein Stück vom Törtchen ab und
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schob es sich in den Mund. Ich nippte an meinem Cappuccino. Stille entstand zwischen
uns. Doch sie war nicht peinlich.
Ich sah Vanessa von der Seite an und eine wohlige Wärme stieg in mir auf. In meinen
Gedanken spürte ich bereits ihre Lippen auf meinen. Sollte ich es wagen oder nicht? Ich
kämpfte noch mit der Sorge, dass sie mich womöglich aufdringlich finden würde, als ich
warme Luft auf meinem Hals spürte und Vanessa sich zu mir beugte. War das ein Traum
oder wollte sie mich tatsächlich gerade küssen?
„So da ist die Rechnung. Das macht 8.50€.“ Die Kellnerin platzte mitten in die romantische
Atmosphäre. Ich hätte sie erwürgen können! Irritiert griff ich in meine Hosentasche und
wollte die Geldtasche herausholen. Da bemerkte ich, dass ich sie in der Eile auf meinem
Nachttisch hatte liegen lassen. Beschämt fragte ich Vanessa, ob sie die Rechnung bezahlen
könnte. Vor Peinlichkeit wäre ich am liebsten im Boden versunken.
Mit einem leisen Lachen bezahlte Vanessa die Rechnung und wir verließen gemeinsam das
Café. Am Gehsteig blieb Vanessa plötzlich stehen und zog mich hinter eine Hecke. Was
machte sie mit mir? Da spürte ich auch schon ihre Lippen auf meinen und ich schloss die
Augen, um diesen Moment zu genießen. Vielleicht würde es der einzige Kuss von Vanessa
bleiben. Bei dieser Frau wunderte ich mich über gar nichts mehr …
Als ich meine Augen wieder aufmachte, sahen wir uns einer Meute kleiner Kinder gegenüber, die Fußball gespielt hatten und uns nun neugierig anstarrten.
Du meine Güte! Wir waren in den Garten einer Familie geraten! So schnell wie möglich
schauten wir dazu, aus dem Garten zu kommen. Als wir wieder auf dem Gehsteig standen,
sahen wir uns in die Augen und brachen in Gelächter aus. Noch den ganzen Weg bis nach
Hause mussten wir immer wieder über den Gesichtsausdruck der Kinder kichern, die uns
beim Küssen erwischt hatten.
Vor ihrer Wohnungstür verabschiedeten wir uns mit einem langen Kuss und gingen jeder
in seine Wohnung.
In meinem Bauch tanzten tausend Schmetterlinge. Vanessa hatte mich total verzaubert.
Da läutete es an der Tür. Noch ganz in Gedanken ging ich zur Tür, fand aber nur eine
Schachtel mit Milka-Pralinen und einen Brief, der auf dem Boden lag. In einer schon geschwungenen Handschrift stand „Für Marc“ auf dem Umschlag. Mit zitternden Fingern
riss ich das Kuvert auf und entfaltete einen blassblauen Bogen Papier.
„Lieber Marc! Ich möchte mich für diesen schönen Tag mit dir bedanken und möchte ihn gerne
wiederholen. Also wenn du Lust hast… hier ist meine Nummer. 0664/4782341 Deine Vanessa.“
Atemlos ließ ich den Brief sinken. Was für ein Tag! Was für ein aufregendes Mädchen!
Ich musste mir eingestehen, dass ich dabei war, mich Hals über Kopf in meine geheimnisvolle Nachbarin zu verlieben …
6. Kapitel
7:00 Uhr. Mit einem schrillen Läuten riss der Wecker Peter Köther aus dem Schlaf.
„Schatz. Du musst aufstehen!“
Mit einem Gähnen rollte er sich zur Seite und küsste Lukas zärtlich auf die Wange.
Sie waren erst vor ein paar Monaten nach Wien in die kleine Wohnung im vierten Bezirk gezogen. Peter konnte sein Glück noch gar nicht so recht fassen. Mit Lukas hatte er die Liebe
seines Lebens gefunden, und dieser tolle Mann erwiderte seine Gefühle!
Dabei war er in seinem bisherigen Leben noch nie vom Glück verfolgt gewesen. Seine Mitschüler hatten ihn gemobbt, weil schnell klar war, dass er nicht so tickte wie die anderen
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Burschen in der Klasse. Seine halbherzigen Versuche, mit Mädchen etwas anzufangen, war
en in einem Desaster geendet und er hatte lange gebraucht, bis er sich selbst eingestand,
dass er sich zu Männern hingezogen fühlte. Erst als er Lukas auf einer Party begegnet war,
schaffte er es, sich zu seiner Homosexualität zu bekennen.
Lukas warf die Decke zurück und verschwand als Erster im Bad. Er hatte es in der Früh
immer eilig. Peter war das gewohnt. Lukas verschwendete nie viel Zeit auf sein Styling. Er
selbst legte hingegen großen Wert auf sein Aussehen. Manchmal verbrachte er mehrere
Stunden vor dem Spiegel. Erst wenn er mit sich zufrieden war, ging er aus der Wohnung
zur Arbeit. Er arbeitete als Schneider in einer Modefirma. Er hatte endlich gefunden, was
er für sich selbst immer erträumt hatte: Einen festen Freund, der ihn liebte, einen Job, der
ihm Spaß machte und eine Zukunft, die er sich nicht schöner ausmalen könnte. Sein Leben
war mehr als nur passabel.
Als er an diesem Abend von der Arbeit nach Hause kam, war Lukas noch nicht da. Peter
setzte sich vor den Fernseher und zappte durch die Programme. Plötzlich hört er aus der
Küche ein Rauschen und Klimpern. Irritiert drehte er den Ton vom Fernseher ab und drehte
sich um. Das letzte, was er sah, war ein dürres Wesen, das sich mit verzerrtem Gesicht auf
ihn stürzte …
Als Lukas nach Hause kam, stand die Eingangstür sperrangelweit offen.
„Hallo, ist jemand zuhause?“ Mit gerunzelter Stirn setzte er einen Fuß über die Schwelle.
Niemand meldete sich. „Peter? Schatz? Bist du da?“
Er ging zum Wohnzimmer und prallte an der Tür zurück. Peter lag tot auf dem Boden.
Lukas lief schnell zu ihm, aber er fühlte keinen Puls mehr. Mit zitternden Fingern wählte
er die Nummer von Polizei und Rettung. Als die Männer endlich hereinstürmten, kam jede
Hilfe zu spät.
Weil keine Einbruchspuren zu finden waren, sprach die Polizei von Selbstmord. Aber das
wollte Lukas nicht glauben. Peter hatte doch so eine schöne Zukunft vor sich. Ein Selbstmord war ausgeschlossen! Dazu gab es überhaupt keinen Grund! Nein, Peter war nicht der
Typ, der sich ein Messer in den Bauch rammen würde. Er war zärtlich und sanft. Lukas
wischte sich mit dem Handrücken die Tränen weg, die unaufhörlich über seine Wangen
liefen. Niemals hätte sein Freund sich das Leben genommen!
Lukas hielt es nicht länger in dem Raum aus, in dem ein Polizist gerade die Leiche in eine
Zinkwanne legte. Als er ins Vorzimmer flüchtete, bemerkte er einige rote Spritzer auf dem
Holzboden. Er ging der Blutspur nach. Mit klopfendem Herzen schob er die große Palme
zur Seite – und starrte entsetzt auf die Zeichnung, die er hinter der Topfpflanze entdeckte:
ein kleiner, mit dem Blut seines toten Freundes gemalter Stern …
7. Kapitel
Marc Soon.
Diese Mordberichte gehen mir schön langsam an die Nieren!
Eben hatte mich mein Chef vom nächsten Mord informiert. Kurze Zeit später parkte ich
meinen roten Mini Cooper direkt vor dem Haus ein. Der Tatort war nur einige Blöcke von
mir entfernt. Doch ich war nicht der einzige. Ich sah viele Polizeiautos und einige Polizisten,
die hektisch durch die Gegend rannten. Ich versuchte ins Haus zu kommen, doch bereits
bei der Haustür wollten mich wieder einmal die Leute von der Spurensicherung abwimmeln. Sie wollten keine Journalisten rein lassen und wurden sogar unhöflich. Doch ich war
zu müde, um mit den Idioten höflich zu reden, was zu einer wilde Diskussion führte, die
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aber wenig zielführend war. Ich wollte schon die Hoffnung aufgeben, als eine sehr attraktiv
aussehende junge Polizistin auf mich zukam. Offenbar hatte sie hier das Sagen, denn die
beiden Männer, die eben noch alles daran setzten, mich nicht in die Wohnung zu lassen,
gaben widerstrebend den Weg frei. Ich bedankte mich bei der Frau und konnte es mir nicht
verkneifen, den Typen noch schadenfroh zuzuzwinkern, bevor ich im Haus verschwand.
Meine ersten Schritte führten mich instinktiv in die Küche, die überaus renovierungsbedürftig aussah. Alles war schon sehr veraltet und einige Risse waren an den alten Mauern
zu erkennen, obwohl das Haus von außen gar nicht so alt schien.
In der Küche herrschte ein ziemliches Chaos. Ob es an den Bewohnern lag, oder das Durcheinander mit dem Mordfall zu tun hatte, konnte ich nicht auf den ersten Blick erkennen.
Eigentlich hatte ich auch viel mehr das Bedürfnis, diesen Ort so schnell wie möglich wieder
zu verlassen. Ich rümpfte die Nase und versuchte, nur flach zu atmen. Es roch äußerst
streng nach totem Tier. Aber das hatte wohl mit der - zum Glück nicht mehr hier vorhandenen - Leiche zu tun. Dankbar stellte ich fest, dass nur noch die Bodenmarkierung zu
erkennen war.
Mir fiel wieder der Bericht ein, den ich morgen früh beim Chef abliefern musste. Schnell
packte ich meine Kamera aus und schoss ein paar Fotos. Dabei fielen mir wieder diese
großen Risse auf, die sich quer über das Mauerwerk zogen. Ich folgte ihrem Verlauf und
sie führten mich an eine Stelle, die hinter einer riesigen Topfpflanze endete. Da sah ich ihn
wieder: diesen Stern, der mir doch schon bei den früher en Fällen begegnet war!
Auch auf dem Heimweg grübelte ich weiter darüber nach. Warum nur fand ich an jedem
Tatort immer diesen Stern? Was hatte er zu bedeuten? Das konnte doch kein Zufall sein,
oder? Und immer sah er frisch aufgemalt aus. Rot. Mit fünf zittrig gemalten Zacken. War
das ein neuer Trend? Und war er wirklich mit einer normalen Farbe aufgemalt worden?
Oder etwa …?
Mir lief mir ein kalter Schauer über den Rücken. War die Farbe womöglich das Blut der
Opfer gewesen? Was wäre, wenn hier ein Serienmörder sein Unwesen trieb und der Stern
quasi sein Kennzeichen war?
Ich musste darüber noch einmal schlafen. Aber wenn ich mit meiner Vermutung recht hatte, wäre das die Sensation, für die mich mein Boss wohl wirklich heiraten würde! Wobei er
mich mit einer Gehaltserhöhung durchaus noch glücklicher machen könnte …
8. Kapitel
Am nächsten Morgen setzte ich mich gleich in aller Früh an die Aufmacher-Story. Ich musste ganz sicher sein, bevor ich die Bombe platzen ließ. Wenn ich mit meinem Verdacht nicht
recht hatte, könnte ich mit solchen Gerüchten eine Massenhysterie auslösen.
Also holte ich nochmals alle Fotos von den Tatorten und legte sie nebeneinander auf dem
Schreibtisch auf. Ich war nicht überzeugt, ob die Sterne nicht vielleicht doch nur ganz
normale Wandverzierungen waren. Ich musste mich einfach noch einmal vor Ort davon
überzeugen, aus welchem Stoff die Farbe bestand. Blut konnte mit Luminol nachgewiesen
werden. Wenn das die Spurensicherung übersehen hatte, würde ich gleich zwei Fliegen mit
einer Klappe schlagen! Ich hatte nicht vergessen, wie überheblich mich die Männer gestern
behandelt hatten … und das nicht zum ersten Mal!
Als ich beim Haus des letzten Opfers ankam, stand die Eingangstür sperrangelweit offen
war. Mit anhaltendem Atem schlich ich hinein. Schlagartig bekam ich Gänsehaut. Ich hatte
das Gefühl, nicht allein in dem Raum zu sein. In diesem Augenblick erspähte ich im Nebenzimmer eine Frau. Sie schien etwas zu suchen. Rasch duckte ich mich hinter ein wuchtiges
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Sofa. Es roch nach Zigaretten und Staub. Mein Fuß begann einzuschlafen. Aber ich durfte
mich nicht bewegen, um die Frau nicht auf mich aufmerksam zu machen. Was suchte sie
hier? Gehörte sie vielleicht zur Familie? Und wie war sie hier hinein gekommen?
Ich versuchte, nicht an das Kribbeln in meinem Fuß zu denken und hoffte, dass sie mich
nicht entdecken würde. Sie kam mir bei ihrer Suche gefährlich nahe. Ob ich mich besser
irgendwo anders verstecken sollte. Vorsichtig versuchte ich mich möglichst geräuschlos zu
bewegen. Mein Fuß war inzwischen völlig gefühllos geworden. Ich verlor das Gleichgewicht
und kippte zur Seite um. Etwas raschelte unter meiner Hand. In meinen angespannten
Sinnen kam mir das Geräusch wie ein Donnerknall vor. Mein Herz klopfte wie verrückt.
Tausend Sachen gingen mir durch den Kopf. Hatte sie mich bemerkt. Was soll ich tun?
Tatsächlich, sie kam auf mich zu! In Panik suchte ich nach einem neuen Versteck. Mein
hektischer Blick blieb an einer riesigen Grünpflanze hängen. Das konnte mein Lebensretter
sein! Auf dem Bauch robbte ich hinter das dichte Gebüsch. Ich hielt die Luft an und betete,
dass sie mich nicht entdecken würde. Zum Glück war es im Haus ziemlich düster, weil die
Rollläden herunter gezogen waren. Die zierliche, kleine Frau blieb für einen Moment direkt
vor mir stehen. Mit stockte der Atem. Hatte sie mich etwa entdeckt? Dann aber drehte sie
sich weg und hastete hinaus.
Ich wartete noch eine Weile, bis ich sicher war, dass sie nicht mehr zurückkommen würde.
Offenbar hatte die Frau nicht gefunden, was sie suchte. Denn sie hatte nichts mitgenommen. Ich kämpfte mich zum Stehen hoch. Da fiel mein Blick auf die gekrakelte Zeichnung an der Wand. Der Stern! Dafür war ich ja eigentlich hergekommen! Schnell holte ich
das Fläschchen Luminol aus der Hosentasche und dankte im Stillen meinem umsichtigen
Boss, der uns Aufdecker-Journalisten mit so wichtigen Hilfsmitteln ausstattete. Schon nach
wenigen Augenblicken leuchtete die Kontur im Dämmerlicht auf. Ich hatte also tatsächlich
recht gehabt! Der Stern war mit Blut auf die Wand gemalt worden!
Die Erkenntnis ließ meine Knie weich werden. Wenn sich herausstellte, dass auch die Sterne an den anderen Tatorten mit dem Blut der Opfer gezeichnet worden waren – und ich
rechnete damit! – würde mein neuester Artikel eine Bombe hochgehen lassen! Erschöpft
ließ ich mich auf die Couch sinken. Den Adrenalin-Kick musste ich erst einmal verdauen!
Ich stampfte mit den Beinen auf den Boden, um meinen Blutkreislauf anzuregen. Da raschelte etwas unter meinen Füßen. Ich bückte mich und entdeckte die Landkarte, die mich
vorhin beinahe verraten hatte. Neugierig breitete ich sie auseinander. Da hörte ich Schritte
auf dem Gang. Erschrocken rappelte ich mich hoch, machte aber zuvor von meinem Fund
noch schnell ein Foto. Unter keinen Umständen wollte ich hier angetroffen werden! Weder
von der mysteriösen Fremden, noch von Leuten von der Polizei. Die würden noch früh
genug von meiner Entdeckung aus der Zeitung erfahren! Ich konnte mir das Grinsen nicht
verkneifen, als ich mir die Gesichter der Spurensicherer vorstellte, wenn sie lasen, wie sie
ihren Job verbockt hatten.
Ob ich Vanessa davon erzählen sollte? Es wäre eine einmalige Gelegenheit, Eindruck auf sie
zu machen. Nach meinen vergangenen Pannen wünschte ich mir nichts mehr, als dass ich
sie beim nächsten Treffen von meinen Qualitäten überzeugen konnte. Mit einem Lächeln
auf den Lippen machte ich mich auf den Heimweg. Ich konnte es fast nicht mehr erwarten,
meine Story gedruckt zu sehen.
9. Kapitel
Die Verabredung mit Vanessa hätte nicht besser laufen können. Wir trafen uns wieder in
Charlies Café und danach setzten wir uns in Vanessas Wohnung, um noch ein bisschen zu
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tratschen. Ich hatte mich entschlossen, von meiner Entdeckung doch noch nichts zu verraten. Der Knalleffekt würde viel größer sein, wenn sie die Story in der Zeitung sehen würde.
Noch am selben Abend machte ich mich an die Arbeit. Während ich meine Theorie über
den Stern und den Serienmörder ausarbeitete, fiel mir die Landkarte wieder ein. Zum Glück
hatte ich ein Foto gemacht! Ich verband das Handy mit dem Laptop und schaute mir die
Standorte, die auf der Karte verzeichnet waren, in Google an. Zog man eine Linie zwischen
den eingezeichneten Punkten, ergab sich ein eigenartiges Gebilde. Es erinnerte mich an
einen fünfzackigen Stern …
Schweiß brach mir aus allen Poren.
Diese Landkarte war nicht zufällig in der Wohnung des letzten Opfers gelegen! Die Frau …
die aufgemalten Sterne … und jetzt auch noch eine Karte mit Markierungen in Sternform …
Atemlos überprüfte ich noch einmal alle eingezeichneten Standorte. Drei der Punkte lagen
genau an den Stellen, an denen die ersten drei Morde passiert waren. Mein Finger fuhr zum
vierten der fünf Kreise. An der nächsten Zacke wohnte mein bester Freund Patrick. Und die
letzte Markierung lag genau … ich saugte die Luft ein und biss mir auf die Lippen.
Nein! Das durfte einfach nicht wahr sein! Die Spitze zeigte genau auf das Hochhaus, in dem
ich wohnte! Und Vanessa …
Wenn das wirklich stimmte, was ich glaubte, musste ich uns in Sicherheit bringen! Ich
musste Patrick warnen! Er würde mich für verrückt erklären. Aber das musste ich riskieren.
Ich würde ihm die Fotos und das Bild von der Landkarte zeigen und ihm von meinen Vermutungen erzählen. Er musste mir einfach glauben!
Zuerst aber musste ich meine Story abliefern. Aber was würde geschehen, wenn auch mein
Chef mir diese abenteuerliche Geschichte nicht abnehmen würde? Nach langer Überlegung
beschloss ich, die Sache über den Stern auf der Landkarte als Fantasystory zu schreiben. So
konnte mich niemand für völlig übergeschnappt halten. Sollte es aber einen Serienmörder
geben, würde der sich von der Geschichte wohl angesprochen fühlen. Und vielleicht würde
er an die Tatorte zurückkehren, um die Landkarte wieder an sich zu nehmen. Oder vielleicht
sogar, um seine Spuren zu verwischen … ich musste mich also dann nur noch auf die Lauer
legen und den Täter auf frischer Tat ertappen!
Ich war total stolz auf meinen Geistesblitz. Als ich die Geschichte fertig geschrieben hatte,
brachte ich sie sofort in die Redaktion und konnte Pedro Ramos tatsächlich davon überzeugen, welcher Sensation ich auf der Spur war. Morgen würde es jeder lesen können. Hoffentlich auch der Täter …
10. Kapitel
Sophie Elliston.
Am Morgen sah Sophie die Story in der Zeitung und wurde stutzig. Sie musste den Autor
ausfindig machen! Er hatte ihre Karte!
In der Zeitung war ein Bild von ihm, neben den Artikel. Sie wusste, dass sie ihn schon einmal irgendwo gesehen hatte. Es hatte etwas mit der Karte zu tun gehabt. Ein Gefühl trieb
sie zu den beiden letzten Adressen, an denen sie noch nicht den Auftrag des Sterns erfüllt
hatte. Bei der zweiten hatte sie Glück. Sie erkannte ihn sofort. Er kam näher und sie versteckte sich hinter ein paar Büschen. Als er vorbei gegangen war, nahm sie die Verfolgung
auf. Er näherte sich einem Haus, bei dem sie ebenfalls schon einmal gewesen war. Was er
wohl dort zu suchen hatte?
Er wirkte wütend, als er wenige Minuten später wieder aus der Haustür trat. Was hatte er
mit ihrem nächsten Opfer zu besprechen gehabt? Hatte er ihm von seinem Fund erzählt?
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Dieser Journalist und sein Freund wussten eindeutig schon viel zu viel. Sie musste rasch
handeln. Schneller, als die Stimmen in ihrem Kopf es ihr aufgetragen hatten. Aber jetzt würde sie sie beide auslöschen. Niemand durfte sich ihrem Auftrag in den Weg stellen. Sonst
würden die Stimmen niemals wieder schweigen! Das konnte sie nicht riskieren!
Nachdem dieser unverschämte Journalist seine Autotür zugeknallt hatte und mit aufheulendem Motor weggebraust war, näherte sich Sophie mit vorsichtigen Schritten dem Haus.
Sie ging einmal herum und sah, dass die Terrassentür offen stand. Leise schlüpfte sie hinein
und versteckte sich hinter der Küchentür. Der Bewohner musste im Nebenraum sein. Laute
Musik dröhnte von dort in ihr Versteck. Geräuschlos zog sie nacheinander ein paar Schubläden auf, bis sie diejenige gefunden hatte, in der Patrick die Messer aufbewahrte. Sie griff
nach dem Größten, das sie finden konnte. Es hatte eine scharfe Klinge und einen Holzgriff,
der gut in der Hand lag. Schnell huschte sie Richtung Schlafzimmer, wo sie den Mann auch
schon sah. Er sortierte gerade seine Wäsche und sang fröhlich zur höllisch lauten Musik.
Er wusste zu viel, sie musste es tun. Es gab keinen anderen Ausweg. Mit einem Ruck stach
sie ihm in den Rücken. Er gab einen lauten Schrei von sich und fiel zu Boden. Sophie starrte
den reglosen Körper mit zusammengeschobenen Brauen an.
Es war Notwehr! Ihr Geheimnis durfte niemand erfahren! Sie musste doch die Stimmen in
ihrem Kopf zum Schweigen bringen, bevor sie völlig verrückt davon wurde! Doch bevor ich
verschwand, musste sie wieder einen Stern malen. Aber wohin? Sie sah sich hektisch im
Zimmer um. Ihr Blick blieb auf dem Teppich hängen. Rasch beugte sie sich zu dem leblosen Körper hinunter, tauchte den Zeigefinger in die Blutlache, die sich langsam unter ihm
ausbreitete und war mit wenigen Schritten vor dem Teppich angelangt. Zielsicher hob sie
eine Ecke an und malte mit dem Finger die fünf Zacken auf den Parkettboden.
Als Sophie den Teppich wieder über ihr Kunstwerk sinken ließ, spürte sie, dass sie von
jemandem beobachtet wurde. Wie ein gehetztes Wild sprang sie hoch und hechtete zum
Ausgang. Marc aber stellte sich ihr in den Weg.
„Stehen bleiben!“, brüllte er und versuchte, sie an den Armen zu erwischen. Doch sie duckte sich wieselflink unter ihm durch und entwischte durch die offen stehende Balkontür.
11. Kapitel
Marc Soon.
Ich hatte sie nicht genau erkennen können, denn der Vorhang hatte mir die Sicht versperrt
und während des Kampfes ging alles einfach viel zu schnell, um sich etwas einzuprägen.
Ein paar Sekunden später war ich bei der Anlage und stellte die Musik ab. Der Lärm war
nicht auszuhalten! Da konnte man ja keinen klaren Gedanken fassen! Im nächsten Moment
hockte ich neben meinem, auf dem Boden liegenden Freund. Ich suchte nach seinem Puls.
Er war noch ganz schwach zu spüren. Aufgeregt versuchte ich ihn anzusprechen: ,,Hallo
Patrick, kannst du mich hören?“
Seine Augenlider zuckten. Er versuchte, etwas zu sagen. Ich beugte mich zu ihm hinunter,
bis sein Mund beinahe mein Ohr berührte. Trotzdem war fast nicht zu verstehen, was er
unter mühsamen Atemzügen hervor presste.
„Es war … die Bettlerin … von der Straße!“, flüsterte er mit leiser Stimme.
Noch einmal holte er rasselnd nach Luft. Dann fiel sein Kopf zur Seite. Es war zu spät. Ich
hatte ihn nicht retten können! Dabei hatte ich ihn gewarnt. Aber er hatte nicht auf mich
gehört. Ich war todtraurig. Er war nicht mehr unter uns. Ich konnte es nicht glauben. Er war
tot. Ich musste die Polizei rufen. Diese Frau musste ich hinter Gitter bringen. Und wenn es
das Letzte war, das ich tun würde. Das war ich meinem besten Kumpel schuldig.
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Nachdem ich die Polizei verständigt und meine Zeugenaussage zu Protokoll gegeben hatte,
durfte ich nach Hause fahren. Ein schrecklicher Gedanke begleitete mich und ließ mich
das Gaspedal durchtreten. Diese Frau hatte all die unschuldigen Menschen umgebracht.
Und als nächstes war jemand aus meinem eigenen Wohnhaus an der Reihe … Ob ich der
Nächste auf ihrer Liste war? Oder womöglich Vanessa?
12.Kapitel
Auch am nächsten Tag stand ich noch immer extrem unter Schock. Doch das war jetzt Nebensache, ich musste diese Mörderin der Polizei ausliefern. Ich muss sie finden und wenn
es sein musste, auch allein. Denn die Polizei brauchte mir zu lange. Vanessa war in Gefahr!
An etwas anderes konnte ich nicht mehr denken.
Die Bettlerin …
Welche Bettlerin? Wen hatte Patrick damit gemeint? Wir mussten ihr irgendwo begegnet
sein. Woher hatte er gewusst, dass sie eine Bettlerin war? Wir mussten gemeinsam unterwegs gewesen sein …
Ich zermarterte mir mein Hirn. Was hatten wir die letzten Tage miteinander unternommen?
Dunkel erinnerte ich mich an ein Bild. Eine kleine Frau. Zerlumpt. Mit einem unruhigen
Blick. Ein bisschen irre. Sie hatten ihr Geld gegeben. Wo war das nur gewesen? Ich erinnerte mich wieder! In der Innenstadt! Es musste auf der Kärntner Straße gewesen sein, als
er und Patrick nach einer neuen Hose gesucht hatten. Sie war zusammengekauert an einer
Straßenecke gesessen.
Sofort machte ich mich auf den Weg dorthin, wo wir sie zuletzt gesehen hatten. Tatsächlich! Da war sie wieder! Ich stellte mich unauffällig in ihre Nähe vor ein Schaufenster und
schaute über die Spiegelung zu ihr hinüber. Was machte sie da? Mir stockte der Atem. Die
Landkarte aus der Wohnung! Sie holte sie eben aus ihrer Jackentasche!
Beinahe hätte mich mein scharfes Keuchen verraten. Ich durfte jetzt keinen Fehler machen!
Sie war wirklich die Täterin! ich setzte mich in Bewegung und ging langsam an ihr vorbei.
Sicherheitshalber musterte ich aus dem Augenwinkel das zerknitterte Papier in ihren Händen. Es stimmte. Auf der nun aufgefalteten Karte waren die gleichen Punkte eingezeichnet,
wie auf der Fotografie, die ich damals gemacht hatte. Und der Stern war auch zu sehen.
Ein plötzlicher Windstoß riss ihr die Karte aus den Fingern. Das war meine Chance! Ich
hastete dem Papier nach und erwischte es ein paar Meter weiter mit dem Fuß. Gespielt
höflich brachte ich es ihr zurück und warf noch einen letzten Blick darauf. Jetzt war ich mir
endgültig sicher, dass sie die Mörderin war, denn die eingezeichneten Punkte und der Stern
waren deutlich sichtbar.
Doch was sollte ich jetzt nur tun?
Langsam setzte ich mich in Bewegung. Würde sie mir folgen?
Als ich bei einem Rosenstand stehen blieb, sah ich, wie sie sich hinter einem der Müllsäcke
versteckte, und so tat, als suchte sie etwas.
„Die roten Rosen sind schön. Aber die weißen sind auch schön. Welche soll ich jetzt nehmen?“ Ich dachte an Vanessa. Ich wollte ihr eine Freude machen. Und einen Grund haben,
um sie zu Hause zu besuchen. Irgendwie musste ich sie in Sicherheit bringen!
„Ich könnte Ihnen einen Strauß mit weißen und roten Rosen machen.“
Ich nickte, bezahlte und machte mich mit dem Rosenstrauß auf den Weg nach Hause.
Aus dem Augenwinkel versicherte ich mich, dass die Bettlerin mir tatsächlich folgte.
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Vanessa war zu Hause. Gott sei Dank! Ihr war noch nichts passiert!
Sie freute sich über mein Blumengeschenk und bat mich in ihre Wohnung. Ich wollte sie
nicht beunruhigen. Ganz kurz war ich mir plötzlich nicht mehr sicher. War mir die ganze
Sache zu Kopf gestiegen? Hatte ich mich selbst in die Geschichte hineingesteigert, weil ich
von meiner eigenen Story so begeistert war? War diese Bettlerin einfach nur eine arme Frau
ohne Zuhause und ohne Zukunft? Was wäre aber, wenn ich es mir nicht eingebildet hatte
und die Mörderin schon auf dem Weg zu ihnen war?
Entsetzt fiel mir ein, dass ich vergessen hatte, meine Wohnungstür abzuschließen.
„Bleib bitte in deiner Wohnung und lass außer mir niemanden herein!“ Beruhigend legte
ich eine Hand auf Vanessas Arm, weil sie aufgeschreckt war und mich mit fragendem Blick
anschaute. „Ich komm gleich wieder …“ Dabei lächelte ich ihr zu, bevor ich nach draußen
auf den Gang trat, der Vanessas und meine Wohnung trennte.
Erschrocken saugte ich die Luft zwischen die Zähne. Meine Tür stand weit offen. Ich hatte
ein mulmiges Gefühl. Besser, ich rief die Polizei an! Da ich aber nicht warten wollte, bis sie
eintraf, schlich ich in meine Wohnung …
Da stand sie! Mitten im Wohnzimmer! Sie starrte mich mit ihrem irren Blick an. In der Rechten hielt sie ein riesiges Messer. Wirre Bilder rasten durch meinen Kopf. Mein schlimmster
Albtraum wurde wahr! Sie kam auf mich zu. Das Messer hoch erhoben, bereit, es in meinen
Körper zu rammen.
Ich versuchte, sie zu überwältigen und schrie um Hilfe. Ob Vanessa mich hörte? Sie durfte
sich auf keinen Fall in Gefahr bringen! Ich musste mich selbst gegen diese Wahnsinnige
wehren! Sie war stärker, als ich erwartet hatte. Heftig keuchend rangen wir miteinander.
Endlich hörte ich laute Schritte. Gott sei Dank! Die Polizei! In meiner Erleichterung war ich
für einen kurzen Moment abgelenkt.
Den nutzte sie und stach zu. Mir wurde schwindlig und ich stürzte auf die Knie. Ein stechender Schmerz durchzuckte meinen Bauch.
„Polizei! Legen sie das Messer weg, oder ich schieße!“
Die bellende Stimme des Beamten waberte wie durch einen Wattebausch an mein Ohr.
Endlich die Polizei. Sie kam, um mich zu retten.
Ich hatte keine Kraft mehr, mich zu wehren. Todesangst und nacktes Grauen erfasste mich,
als sie sich wieder zu mir drehte und ein weiteres Mal zustach. Schmerz explodierte in meinem Brustkorb. Dann wurde mir schwarz vor Augen …
13. Kapitel
„Ich hole dich, Marc … Stern … töte ihn … Landkarte … Stern … Stern …“
Schweißgebadet schrak ich aus meinen Traum auf, und zitterte am ganzen Körper. Eine
schemenhafte Gestalt ging auf mich zu und rüttelte mich leicht an der Schulter. Ich brauchte eine Weile, bis ich kapierte, dass es Vanessa war. Sie hatte ihr blondes Haar zu einem
Kranz hochgesteckt und ihre blauen Augen glitzerten, als hätte sie gerade geweint. Auch
ihre Wangen hatten rote Flecken. Ich sah mich um: weiße Wände, ein weißer Stuhl stand in
einer Ecke und ein silbernes Nachtkästchen stand neben meinem Bett. Jetzt erst wurde mir
bewusst, dass ich nur mit einem sehr knappen Krankenhaus-Nachthemd bekleidet war. Um
meinen Brustkorb und den Bauch waren dicke Verbände gewickelt und in meiner Armbeuge steckte eine Infusionsnadel.
„Was ist passiert? Bin ich im Himmel?“ Meine Stimme hörte sich komisch an und meine
Kehle war trocken und rau.
- 43 -
Vanessa lachte unter Tränen und schüttelte wie wild den Kopf. „Nein, mein Schatz! Du bist
im Krankenhaus.“ Sie griff nach meiner Hand und drückte sie. „Diese Wahnsinnige wollte
dich umbringen, aber jetzt bist du in Sicherheit.“
„Vanessa …“, setzte ich an, aber mein blonder Engel beugte sich über mich und gab mir
einen zärtlichen Kuss auf den Mund.
Am nächsten Tag kam Pedro zu mir auf Besuch. Mit einem breiten Grinsen legte er mir
die neueste Ausgabe der „Daily News“ auf die Bettdecke. „Du hättest es bestimmt besser
geschrieben, aber diese Sensation konnte ich mir nicht entgehen lassen.“ Er klopfte mir auf
die Schulter, entschuldigte sich aber gleich, weil ich vor Schmerz leise aufschrie.
Neugierig linste ich auf die Schlagzeile.
„Serienmörderin gefasst!
Dank des heldenhaftes Einsatzes unseres Top-Reporters Marc Soon konnte der irren Mörderin
endlich das Handwerk gelegt werden!
Frau Sophie Eliston hat mit lebenslänglicher Haft zu rechnen. Sie ermordete Alexander Mörth,
Patrick Winter, Hannes Müller und Peter Köther und verletzte den Reporter Marc Soon schwer.
Schon früher war sie amtsbekannt geworden. Wegen Diebstahls und einigen Drogendelikten hatte
sie bereits zwei Vorstrafen auf Bewährung. Sie wurde vom Gerichtsarzt als psychisch instabil
erklärt und wird somit im Gefängnis jeden Tag zum dort stationierten Psychiater gebracht.“
Epilog
Einige Monate nach dem Anschlag von Sophie fühlte ich mich schon besser. Ganz besonders, nachdem ich endlich aus dem Krankenhaus entlassen worden war.
Sophie wurde für immer in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher gesteckt und
ich konnte endlich wieder neu durchstarten. Nach den beeindruckenden Berichten über die
Mordfälle wurde ich zum neuen Chefredakteur ernannt.
Aber nicht nur das veränderte mein Leben.
Heute wird Vanessa bei mir einziehen und ich bin der glücklichste Mensch der Welt. Meine
Trauer über den Tod meines besten Freundes Patrick packt mich zwar immer wieder an,
doch es wird von Tag zu Tag besser. Und sollte ich einen Rückfall erleiden, weiß ich, dass
Vanessa mich immer unterstützt. Vielleicht werden Vanessa und ich schon bald nicht mehr
nur zu zweit sein … Wer weiß? Bei dieser Frau ist alles möglich! Und ich freue mich auf
alles, was noch kommen mag …
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Katharina Fleck
Falsches
Spiel
Kapitel 1
Es war düster. Nur leise Schreie drangen aus dem Tunnel, vor dem ich stand. Schweißperlen rannen mir über das Gesicht, als ich ganz langsam das Tunnellabor des verrückten
Wissenschaftlers betrat. Es wurde immer dunkler, bis ich zu einer Abzweigung kam. Links
von mir brannten gelb-orangefarbene Lichter, und rechts ging es einfach dunkel und schauderhaft weiter. Also entschied ich mich für die rechte Abzweigung. Immerhin konnte ich ja
wieder zurück, wenn der Weg falsch war.
„Du bist wirklich gekommen, meine Liebe“, sagte der Professor.
„Naja, wenn Sie mir so viel Geld geben ...“
Mit einem skeptischen Blick betrachtete der Professor mich. „Na dann, herzlich willkommen in meinem Labor“, meinte er, doch seine nächsten Worte erschreckten mich. „Ich
zeige dir dann mal die Genmaschine.“
Bitte was? Von einer Genmaschine war nie die Rede! Ich war doch nicht so was, wie ein
Versuchskaninchen, ich war ein Mensch. Misstrauisch ging ich ihm nach. Langsam öffnete
er eine schwere Metalltür und spähte hinein. Als ob er Angst hätte, dass ich etwas sah, was
eigentlich niemand sollte. „Gut, alles in Ordnung“, murmelte er leise.
Hinter der Metalltür befand sich eine riesige Maschine, an der sehr viele Stromkabel und
Lichter angeschlossen waren. Doch er führte mich nicht zu dieser merkwürdigen Maschine, von der ich sehr sicher war das, dass dies die Genmaschine war. Er führte mich zu
einem leer stehenden Stuhl, an dem Lederriemen angebracht waren.
„Da muss ich mich aber nicht draufsetzten, oder?“, sagte ich ängstlich.
„Ich dachte, das wäre selbstverständlich?“ Bevor ich noch etwas sagen konnte, nahm er mich
schon und setzte mich auf den Stuhl. Für einen Holzstuhl war er gar nicht so unbequem,
ganz im Gegenteil, es fühlte sich so an als ob er gepolstert war. Trotzdem klopfte mein Herz
bis zum Hals. Was hatte ich mir bloß dabei gedacht? Ich war gefangen genommen worden!
Er machte die Lederriemen enger, sodass ich meine Arme und Beine nicht mehr bewegen
konnte. Ich wollte schreien, doch ich konnte nicht. Es war so, als hätte ich meine Stimme
verloren. Ich bekam eine richtige Gänsehaut, als er mir einen metallartigen Hut aufsetzte.
Das war ein elektrischer Stuhl! Ich fand meine Stimme wieder und schrie ihn an, dass er
mich nicht umbringen solle. Doch er betätigte den Hebel und ein Stromschlag durchfuhr
meinen Körper. Auf einmal wurde mir schwarz vor den Augen und ich sackte zusammen.
Ich wachte mit leichten Kopfschmerzen auf. Der Raum, in dem ich mich wiederfand, war
fensterlos und hatte weiße Wände. In der Mitte stand ein kleiner runder Tisch mit einem
einfachen Holzstuhl. Langsam näherte ich mich dem Tisch, auf dem ein Glas Wasser und
ein Salat war. „ Ich hoffe es schmeckt dir“, sagte eine Stimme aus der Dunkelheit. Selbstbewusst erwiderte ich: „Wenn, dieser Salat vergiftet ist, dann …“
„Dann, was? Du hast doch keine Chance gegen mich! Du bist doch nur ein kleines dummes
Kind, das wegen Geld zu einem Mann kommt, den sie gar nicht kennt.“
Er hatte Recht. Ich hätte nicht zu ihm kommen müssen, ich hätte nicht einmal den Brief
öffnen müssen, den er mir vor die Tür gelegt hat.
„Iss doch, mein Kind, du brauchst Vitamine für den Test im Wasserbecken“, sagte der Professor ruhig.
Angst überkam mich. Worauf hatte ich mich nur eingelassen? Was war das für ein Test?
War das mit dem Stuhl auch schon einer? Hatte ich ihn bestanden? Trotz allem knurrte
mein Magen heftig. Gegen jede Vernunft stürzte ich mich auf den Salat. Gerade legte ich
meine Gabel wieder weg, als eine Frau mit schulterlangem, rotem Haar hereinkam.
„Bringen sie mich jetzt zum Wasserbecken?“, fragte ich. Doch sie gab keine Antwort, sondern nahm mich beim Arm und führte mich durch einen hellbeleuchteten Raum. Wir
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hielten vor einer Metalltür. Sie klopfte dreimal dagegen und wie von Zauberhand öffnete
sie sich. Tausende von Gedanken schossen mir durch den Kopf. Ob ich in diesem Becken
schwimmen soll? Vielleicht will er mich darin ertränken? Ich wusste es wirklich nicht, was
auf mich zukam.
„Da bist du endlich. Ich dachte schon, du wärst abgehaut.“
Der Professor wirkte, als wäre er völlig in seinen Gedanken versunken. „Was soll ich denn
jetzt genau machen?“, fragte ich etwas ängstlich.
„Das wirst du schon noch erfahren. Mach einfach, was man dir aufträgt.“ Sein Ton war
schroff. Der fürsorgliche Anflug war einer merklichen Anspannung gewichen.
Ich hatte seine Worte noch nicht verdaut, als eine Frau auf mich zukam. Sie hatte ihre
schwarzen Haare zu einem straffen Pferdeschwanz zusammen gebunden und ihr Gesicht
wirkte bleich wie das einer Leiche. Das konnte aber auch davon kommen, dass sie ihren Eyeliner balkendick aufgetragen hatte. Sie packte mich ahrt an den Handgelenken und zerrte
mich zu einem Stuhl, an dessen Lehnen ich Lederriemen erkennen konnte. Erschrocken
zuckte zurück. Ungerührt stieß sie gegen meinen Brustkorb, dass ich rücklings in den Sessel kippte. Ich bekam es immer mehr mit der Angst zu tun. Inzwischen war mir das Geld
völlig egal. Ich wollte nur noch lebendig hier raus!
Plötzlich ging eine Sirene los und eine tiefe Männerstimme schrie: „Lassen Sie das Mädchen frei! Und wagen Sie keine dummen Tricks, Professor. Sonst stürmen wir die Bude!“
Die Polizei! Meine Rettung!
Ich fasste wieder neuen Mut. „Sie haben es gehört, lassen Sie mich frei!“, schrie ich und
zerrte an den Lederriemen.
Zu meiner Überraschung nickte der Professor. „Los, hau ab, Kindchen.“ Er näherte sich
einer Holztür, die sich hinter ihm befand und die ich bisher noch gar nicht bemerkt hatte.
„Aber pass gut auf dich auf. Ich will dich gesund wiederhaben - für die restlichen Tests.“ Mit
einem irren Lachen öffnete er die Tür und war verschwunden.
Im selben Moment stürmten Polizisten den Raum. „Geht es dir gut?“, erkundigte sich einer
der Männer. Ich nickte langsam. „Wir bringen dich hier raus!“ Der Mann nahm mich am
Unterarm und half mir auf. „Setz die hier auf!“, sagte er mit Nachdruck. Er reichte mir eine
dunkelgrüne Gasmaske. Vorsichtig befestigte ich den Gummizug bei meinen Ohren. „Folge mir“, sagte der Mann. Er nahm mich wieder beim Arm und zog mich hinter sich her. Es
war zu nebelig, um irgendetwas zu erkennen.
Kapitel 2
Nach etwa zehn Minuten öffnete sich eine graue Stahltür vor mir und ich erkannte das Gesicht meiner besten Freundin Sabrina. Ich sah ihr an, wie erleichtert sie war, doch irgendwie
kam sie mir auch traurig vor. Doch das bildete ich mir sicher nur ein. Ihr Gesicht wirkte
bleicher als normal. Sie schwang geschickt ihren dunkelblonden rückenlangen Haare zurück und schloss mich in ihre Arme. Ein paar Tränen stiegen mir in die Augen.
„Was dachtest du dir dabei, Süße? Du hättest umkommen können!“ Ihr Ton war scharf.
Doch ich hörte vor allem Sorge heraus. „Du kommst jetzt ein paar Tage zu mir!“
Ich war zu müde, um ihr zu widersprechen. Und außerdem – ein paar Tage in netter Gesellschaft konnten doch nicht schaden. Ergeben willigte ich ein.
Ich war überrascht. Hatte Sabrina nicht gesagt, sie würde allein zu Hause sein? In ihrer
Wohnung brannte Licht. Als hätte ich laut gedacht, antwortete Sabrina: „Das ist vermutlich
eine meiner Mitbewohner.“ Sie drückte den Klingelknopf.
„Hast du deinen Schlüssel vergessen?“ Sabrinas Verhalten kam mir immer seltsamer vor.
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„Nein, ich habe nur keine Lust, in meiner Tasche danach zu suchen“, sagte Sabrina. Eine
hübsche Rothaarige öffnete die Tür. „Na? Wen schleppst du da denn schon wieder an?“,
fragte sie und lehnte lässig im Türrahmen.
Sabrina ging nicht näher auf ihre spitze Bemerkung ein. „Danke, Lucy“, sagte sie nur und
verdrehte die Augen, bevor sie sich an ihr vorbeidrückte. Ich folgte ihr. „Du kannst deine
Sachen hier bei der Garderobe ablegen“, meinte sie.
Ich zog meine Schuhe aus und stellte sie unter einen Kleiderhaken.
„Gehen wir zu mir.“ Ich folgte Sabrina in ihr Zimmer. Sabrina war immer für eine Überraschung gut. Bei jedem meiner Besuche sah ihr Zimmer anders aus. Dieses Mal hatte sie es
grün mit großen violetten Punkten angepinselt. Die Vorhänge passten perfekt zu ihrer rotorangen Bettdecke. Und ihr Hochbett hatte schwarze Metallstangen. Es gefiel mir bei ihr.
„Ich hab Hunger“, sagte ich. Insgeheim hoffte ich, dass mir Sabrinas dritter Mitbewohner
Bastie zufällig über den Weg lief.
„Dann schau doch mal in den Kühlschrank. Du kannst dir gerne nehmen, was du findest.“
Ich ging in die Küche und wer stand da? Bastie! Doch was sollte ich nur zu ihm sagen? Mein
Herz begann zu rasen, als ich mich dem Kühlschrank näherte, wo mein Traumprinz lässig
stand. Er trank gerade eine Cola … und sah zum Anbeißen aus!
Ich musste wohl noch von seinem Anblick umnebelt gewesen sein, sonst hätte ich nie und
nimmer das Dümmste getan, was man jemals in so einer Situation tun konnte!
„Kann ich deine Nummer haben?“ Entsetzt hörte ich meine Stimme, die diese peinlichen
Worte sagte. Scheiße, scheiße, scheiße! War ich total übergeschnappt?
Er lachte mich an, holte einen Stift, nahm mein Handgelenk und schrieb eine Nummer darauf. „Hier, Süße!“ Dazu grinste er, dass mir das Herz bis zum Hals schlug. „Wenn du mal
was unternehmen möchtest …“ Er zwinkerte mir zu, bevor er die Küche verließ.
Oh mein Gott! Es hatte funktioniert! Mir war ganz schwindlig. Ich musste mich an der
Küchenplatte festhalten. Nach so langem Warten und Hoffen und Sehnen hatte ich endlich
seine Nummer!
Auf einmal tauchte Lucy vor mir auf. Ihr Gesicht war fast so rot wie ihre Haare. Sie erinnerte
mich an die rothaarige Frau, die bei diesem Professor arbeitete. Tatsächlich sah sie ihr zum
Verwechseln ähnlich. „Was schmeißt du dich an meinen Freund ran?“, schrie sie mich an.
Sie musste das Gespräch zwischen mir und Bastie belauscht haben.
„Wenn er dein Freund ist, hätte er mir doch wohl nicht seine Nummer gegeben.“ Ich wollte mich nicht einschüchtern lassen, obwohl sie mich bedrohlich anfunkelte. „Zumindest
nicht, wenn er dich wirklich liebt.“, setzte ich noch nach.
Spiel, Satz und Sieg, das hatte gesessen! Sie schluckte hörbar. „Wir sind erst am Anfang
unserer Beziehung!“ Doch ihre Augen zuckten nervös. Ich hatte sie tatsächlich getroffen!
„Aha, sollte ,am Anfang eurer Beziehung‘ vielleicht heißen, dass Bastie noch gar nichts
davon weiß?“
Lucy verdrehte die Augen und stampfte wütend weg.
Ich kicherte vergnügt. Na, der hatte ich es gezeigt. Das würde sie so schnell nicht vergessen.
Ich fühlte mich großartig.
Jessica, kommst du mit zum Mc Donalds?“ Ich war so in Gedanken, dass ich erst gar nicht
mitbekam, was mich Sabrina fragte.
„Nö, keine Lust auf Fast Food. Ich schaue lieber fern“, gab ich zurück. In Wahrheit wollte ich
einfach noch ein bisschen allein sein. Und in der Erinnerung an Basti schwelgen.
Sabrina drehte mir den Rücken zu. „Wie du willst“, sagte sie, bevor sie ihren Mantel nahm
und nach draußen ging.
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Kapitel 3
„Ich komme gleich wieder, mach du es dir gemütlich.“
Bastie hatte mich angerufen und zu sich eingeladen. Dass er sich so schnell melden würde,
hatte mich überrascht. Und mein Herz wie wild zum Klopfen gebracht. Jetzt saß ich in
seiner Bude und schaute mich um. Sein Zimmer sah aus, als wäre er ein Künstler. Eine
Zimmerwand war mit grünen Farbklecksen bedeckt, die andere mit blauen und pinken
Punkten. Ich fand das superduperaffengeil. Die Tür öffnete sich und Bastie trat mit zwei
Gläsern Sekt herein. Vorsichtig stellte die Gläser auf den weißen Tisch vor uns, bevor er
sich neben mich hin setzte.
„Du bist wirklich das Mädchen meiner Träume.“ Rr blickte mir tief in die Augen … und
dieses Mal waren sie Grün.
Ich war irritiert. Bastie hatte doch blaue Augen, oder täuschte ich mich? Nein, ich war mir
hundertprozentig sicher. Aber vielleicht trug er diesmal Kontaktlinsen.
Er nahm sein Glas und trank es gierig aus. Ich machte es ihm nach und nahm ebenfalls
einen großen Schluck.
Seine Stimme war ganz nah an meinem Ohr. „Komm, mach deine Augen zu …“, flüsterte
er. Es war das Letzte, das ich noch aus Basties Mund hörte, bevor meine Augen zufielen. Ich
fühlte mich, als hätte ich eine Vollnarkose bekommen. „Nur einen Augenblick schlafen …“,
dachte ich bei mir. Dann verlor ich mich im Dunkeln.
Als ich aufwachte, lag auf einer Art Metallplatte. Sie war warm und etwas feucht. Ich sah
mich um, doch niemand war zu sehen. Also rappelte ich mich auf und tappte durch die
Finsternis einfach gerade aus.
„Keine Angst, es wird dir nichts passieren. Geh einfach immer weiter“, sagte eine Stimme
zu mir. Diese Stimme kam mir irgendwie bekannt vor. Doch ich konnte sie nicht zuordnen.
Meine Schritte wurden wie von selbst immer schneller, bis ich plötzlich gegen irgendwas
Hartes rannte und mir meinen Kopf anstieß. Vorsichtig tastete ich die Wand mit meinen
Fingern ab. Sie fühlte sich sehr glatt an. Auf einmal wurde es hell und der schwarze Raum
verwandelte sich in ein buntes Zimmer. Ich sah mich neugierig um. Die grünen Wände
trafen voll meinen Geschmack. Es gab sogar ein Himmelbett. Dieses war Rosarot - so wie
ein Bett von einer Prinzessin. Es gab auch noch ein violettes Bücherregal. Und einen hellbraunen Schreibtisch mit einem rosafarbenen Stuhl. Nur eine Sache gefiel mir gar nicht:
Im ganzen Raum fand ich kein Fenster. Ich ließ meinen Blick weiterwandern und stutze.
Es gab auch keine Tür!. Wie war ich dann hier herein gekommen? Ich konnte ja nicht gut
durch Wände gelaufen sein? Oder? Ein hysterisches Kichern stieg mir die Kehle hoch. Das
wäre dann schon was ganz Neues! Aber wirklich daran glauben konnte ich nicht.
Auf einmal bekam ich einen harten Schlag auf meinen Hinterkopf und klappte zusammen.
Als ich aufwachte sah ich anfangs nur verschwommen. Mir brummte der Schädel. Mühsam
drückte ich mich zum Stehen hoch. Das Erste, das mir in die Augen stach, war eine riesige
Maschine, an der hunderte von Kabeln befestigt waren. Zu der Maschine führte eine Holztreppe hinauf. Neugierig näherte ich mich dem Gebilde. Durch ein rundes Fenster wagte
ich einen Blick hinein. Ich konnte nicht viel erkennen. Außer einem Ledersessel war die
Kammer leer.
„Willst du mal reingehen?“
Ich zuckte erschrocken zusammen, als ich die Stimme des Professors hinter mir hörte.
„Sind sie nicht eingesperrt?“, fragte ich mit zittriger Stimme. Ich bekam nur ein Lachen als
Antwort. Plötzlich schoss mir ein Gedanke durch den Kopf, den ich gar nicht mochte. Sollte
das etwa seine neue Genmaschine sein? Niemals würde ich da hinein steigen!
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Doch meine Beine setzten sich ganz von alleine in Bewegung und ich marschierte geradewegs auf den schwarzen Ledersessel zu. Langsam setzte ich mich hin und schaute den
Professor erwartungsvoll an.
„Bleib einfach ganz ruhig sitzen, schließe deine Augen und denk an etwas Schönes. Wie
zum Beispiel an Kätzchen. Ganz kleine süße Babykätzchen.“
Folgsam machte ich meine Augen zu. Plötzlich verspürte ich einen Stromschlag. Kurz danach einen Zweiten. Vor meinen Augen bildeten sich bunte Farbkreise. Dann verschwanden sie in tiefem Schwarz …
Kapitel 4
Als ich wieder aufwachte, fand ich mich in einem Krankenhausbett wieder. Und ich stellte
fest, dass ich an eine Menge Kabel angeschlossen war.
Was zum Teufel machte ich hier? Und wer hatte mich hier hergebracht? Der Professor?
Meine Gedanken schwirrten unkontrolliert durch meinen angeschlagenen Kopf. Eigentlich
war der Professor doch viel zu jung, um schon dreimal im Knast gewesen zu sein. Er war
sowieso zu jung, um ein verrückter Wissenschaftler zu sein. Eigentlich sah der Typ doch
ganz normal aus. Naja, abgesehen von seinem schrillen Auftreten, seinen verrückten Reden
und dem Gen-Ding, von dem er dauernd sprach. Ich fragte mich, ob er eine Freundin hatte.
Vielleicht eine von seinen hübschen Angestellten? ...
„Wie geht es Ihnen?“ Eine etwas stärkere Krankenschwester betrat den Raum und riss mich
aus meinen wirren Gedanken. Ihre blaugrünen Augen gingen zur Tür, als Sabrina das Zimmer betrat.
Sabrina setzte sich auf mein Bett, schwang ihre langen Haare zurück und sah mir tief in die
Augen. „Wieso bist du wieder zu dem Wissenschaftler gegangen? Du weißt doch genauso
gut wie ich, dass dieser Typ verrückt ist!“, sagte Sabrina energisch.
Ich hatte keine Ahnung, warum ich wieder in dem Labor gelandet war. Das Letzte, woran
ich mich erinnern konnte, waren Basties Augen ... die plötzlich eine grüne Farbe angenommen hatten. Doch das konnte ich Sabrina unmöglich erzählen! Sie würde glauben, ich sei
verrückt geworden! Und sie würde versuchen, mir meine Schwärmerei für Bastie auszureden. Alos suchte ich nach einer anderen Erklärung, die sie mir abnehmen würde. „Du weißt
genauso gut wie ich, dass ich dringend Geld brauche!“ Ich versuchte, besonders energisch
zu klingen, damit sie nicht merkte, dass ich etwas ganz anderes vor ihr verbergen wollte.
Sabrina wirkte wütend und traurig zugleich. „Ich möchte keine geldgierige Freundin haben.
Du weißt doch, dass ich dir immer helfen würde.“ Sie stand auf und schlug die Tür hinter
sich zu.
Unglücklich rückte ich mein Kissen zurecht. So eine Scheiße! Meine Lüge war nach hinten los gegangen! Trotzig drückte ich den Rücken durch. Dann musste ich eben ohne sie
klar kommen. Wenn ich nur endlich hier wieder herauskam. In diesem Moment betrat die
Krankenschwester wieder den Raum. „Ein Herr Bastian Temiz hat nach Ihnen gefragt.“
Bastie? Mein Herz begann wie wild zu klopfen. Hatte er etwas mit dem Professor zu tun?
Wenn ja, was? Mir wurde bei dem Gedanken regelrecht übel. Ich wollte ihn auf keinen Fall
sehen! Als sie mich endlich entließen, nahm ich den Bus zur WG. Ich war nervös, wie Sabrina darauf reagieren würde, wenn ich plötzlich vor ihrer Tür stand.
Ich bekam gar keine Gelegenheit zu klingeln. Lucy hielt mir schon die Tür auf und warf mir
einen vorwurfsvollen Blick zu. „Du hast vielleicht Nerven! Was bildest du dir überhaupt ein,
hier wieder aufzutauchen?“ Ich ignorierte Lucy und betrat den Vorraum der WG. Mein Kopf
brummte und ich hatte Hunger. Doch als ich mir gerade ein Müsli machen wollte, klingelte
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es an der Tür. Mit einem Seufzer ging ich zur Tür und öffnete sie ruckartig. „Ja?“, fragte ich
genervt. Ich ärgerte mich, dass niemand anderer es der Mühe wert fand, die Tür zu öffnen.
„Begrüßt man so seinen Chef?“ Der Professor stand grinsend vor mir. Bevor ich noch wusste, wie mir geschah, schlang er einen Arm um meine Hüfte, warf mich über seine Schulter
und rannte mit mir davon.
Ich schrie wie am Spieß. „Lassen Sie mich sofort runter! Hilfe, ich werde entführt!“
Als Antwort bekam ich nur ein schäbiges Lachen vom Professor. Er brachte mich zum Wagen und schnallte mich auf den Beifahrersitz fest. Mit Vollgas fuhr er los. Schweißperlen
standen mir auf der Stirn. Unauffällig tastete ich nach meiner rechten Hosentasche. Gott sei
Dank! Ich hatte mein Handy eingesteckt. Jetzt konnte ich wenigstens versuchen, um Hilfe
zu rufen. Aber wenn er mich nicht aus den Augen ließ, hatte ich ein ernsthaftes Problem.
„Mist!“, hörte ich ihn fluchen. „Wir haben kein Benzin mehr!“ Er drehte sich zu mir um.
„Du bleibst schön hier sitzen. Bastian passt in der Zwischenzeit auf dich auf.“
Bastian? Also doch …? Meine Gedanken überschlugen sich.
„Überrascht mich zu sehen?“ Sein Gesicht tauchte zwischen den Vordersitzen auf. Er grinste mich schelmisch an.
„Ja, allerdings!“, stieß ich tonlos hervor. Er wollte mir durch die Haare streichen doch ich
wich ihm aus. „Was hast du mit dem Professor zu tun? Steckst du mit ihm unter einer
Decke?“
„Blitzkneißer! Du merkst auch alles.“ Er lachte spöttisch. „Ich arbeite für ihn. Du bist wirklich naiv. Mein kleines, dummes, verwirrtes Kind!“ Aus seiner Stimme troff Verachtung.
Da spürte ich, dass sich die Fesseln an meinen Händen gelockert hatten. Ich nutzte den
Überraschungseffekt und trat mit dem Fuß das Fenster ein. Bevor Bastian reagieren konnte, kletterte ich schnell durch das entstandene Loch. Dabei riss eine Scherbe meine linke
Wade bis zum Knochen auf. Ich schrie vor Schmerz. Trotzdem durfte ich nicht stehen bleiben. Humpelnd lief ich die Straße entlang, bis ich endlich an einen Supermarkt kam.
„Kann mir bitte irgendjemand helfen? Ich … ich blute!“
Die Frau an der Kassa lief sofort um den Ersthilfe-Kasten und kniete sich vor mir hin.
Geschickt legte sie einen Druckverband an. „Das sollte fürs Erste halten“, meinte sie und
betrachtete mit zusammengezogenen Augenbrauen ihr Werk. „Das ist ein ziemlich tiefer
Schnitt. Du solltest es in einem Krankenhaus nähen lassen. Wie ist denn das passiert?“ Aus
ihren grünblauen Augen sprach so viel echte Sorge, dass ihr am liebsten alles erzählen wollte. Wie ich zu dem Professor gekommen war, er mich entführt und ich schließlich aus dem
Auto geflüchtet war. Doch dann hatte ich wieder Angst. Was wusste ich schon, wer sonst
noch mit dem Verbrecher gemeinsame Sache machte? Basties Vertrauensbruch machte mir
schrecklich zu schaffen.
„Ich bin ausgerutscht und auf eine Glasscheibe gefallen“, flunkerte ich stattdessen. Die
Frau sah mich nur verdutzt an und bevor sie noch weiter etwas fragen konnte, bedankte
ich mich und verschwand aus dem Laden. Mir wurde erst jetzt bewusst, dass ich seit einer
halben Ewigkeit nichts Ordentliches mehr gegessen hatte. Also humpelte ich zur nahe gelegenen Bushaltestelle und studierte den Fahrplan. Mist! Der nächste Bus ging erst in einer
halben Stunde. Was soll ich jetzt nur machen? Ich war kurz davor, zu heulen, als mich
plötzlich jemand an meiner Schulter berührte. Ich fuhr herum.
„Sabrina!“ Mir stiegen Tränen in die Augen. Ich war so glücklich, sie zu sehen. Jetzt konnte
sie mir bei meiner Flucht vor dem Professor und Bastie helfen. Ich fiel ihr glücklich um
den Hals.
„Was machst du hier?“ Sabrina warf mir einen fragenden Blick zu.
„Ich erklär dir alles später. Jetzt müssen wir erst einmal schleunigst hier fort!“, antwortete
ich hektisch. Ich nahm sie beim Handgelenk und schleifte sie in das nächstbeste Geschäft.
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„Was ist jetzt los? Ich will sofort eine klare Antwort von dir!“ Sabrina stemmte sich gegen
meinen Versuch, sie weiter zu zerren und machte sich von mir los.
Ich schaute mich nervös um und seufzte. „Also gut. Der Professor und Bastie stecken unter
einer Decke. Sie wollten mich zurück ins Labor bringen, um mit mir diese Tests durchzuführen. Ich bin aber abgehauen. Jetzt suchen sie mich!“, erklärte ich ihr. „Wir müssen
verschwinden, bevor sie mir auf die Spur kommen!“
Ihr verblüfftes Gesicht zeigte mir, dass sie mir nicht glaubte. „Bastie?? Nie und nimmer!
Ich kenne ihn. Er ist der süßeste Typ, den es auf dieser Welt gibt! Der tut doch keiner Fliege
etwas zuleide!“ Sie runzelte die Stirn und sah mich an, als wäre ich völlig übergeschnappt.
„Du willst dich doch nur interessant machen!“
Ich konnte ihre Reaktion voll verstehen. Ich würde mir auch nicht glauben. Trotzdem musste ich zusehen, dass ich so schnell wie möglich hier weg kam. So weit weg, dass Bastie und
der Professor mich nicht mehr finden konnten. Ich hatte keine Zeit mehr, Sabrina davon
zu überzeugen, dass ich ihr kein Märchen auftischte. Ich lief aus dem Geschäft und ließ
Sabrina einfach stehen. Sie war bestimmt stocksauer auf mich, aber ich hatte keine andere
Wahl. Ich sah auf die Uhr. Noch fünf Minuten, bis der Bus kam. Ich drückte mich in die
hinterste Ecke des Wartehäuschens und schaute mich immer wieder nach allen Seiten um.
Zu meinem Glück war niemand zu sehen. Als der Bus endlich kam, kletterte ich schnell
hinein. Außer mir gab es keine weiteren Fahrgäste. Ich setzte mich auf einen Platz in der
hintersten Reihe und sah aus dem Fenster. Irgendetwas stimmte hier nicht. Es war nur so
ein Gefühl im Bauch und weil nichts Außergewöhnliches passierte, beruhigte ich mich wieder. Bestimmt waren meine Nerven einfach nur überreizt. Kein Wunder, nach allem, was
mir in den letzten Stunden so zugestoßen war!
Ich stieg an der Endstation aus. Der Ort kam mir irgendwie bekannt vor. Wieder schrillten
alle Alarmglocken im mir. Gerade in dem Augenblick, als mir klar wurde, wo ich dieses
Schmiedeeisentor zuletzt gesehen hatte, packte mich jemand von hinten an den Oberarmen. Ich fuhr herum. Der Busschofför stand hinter mir, die Mütze tief in die Stirn gezogen.
Doch ich erkannte ihn trotzdem: Es war Bastie! Bevor ich reagieren konnte, bekam ich
einen Schlag auf den Hinterkopf und alles um mich herum wurde schwarz.
Als ich wieder erwachte, lag ich festgezurrt auf einem Metalltisch. Rund um mich stieg grüner Rauch auf, der mich einhüllte, bis ich nichts mehr sehen konnte. Aus der Dunkelheit
ertönte ein einzelner Schuss. Dann folgte ein zweiter. Mir stockte der Atem. Eiskalte Angst
packte mich und ließ mein Herz rasen. Ich wollte noch nicht sterben! Doch dann keuchte
ich vor Erleichterung auf. Aus dem Nebel schälte sich das vertraute Gesicht meiner Freundin. „Sabrina!“, rief ich aus und rüttelte am Bettgestell.
Ein erleichtertes Lächeln ging über ihr Gesicht und sie war mit einem Schritt bei dem
Metalltisch, an den ich festgebunden war. „Ich hab doch gesagt, dass du dich auf mich verlassen kannst“, stieß sie keuchend hervor, während sie an den Verschlüssen meiner Fesseln
zerrte. Sie hatte eben meine Arme befreit, als ein weiterer Schatten hinter ihr auftauchte.
Ich schrie erschrocken auf. „Sabrina! Hinter dir …!“ Doch da legte sich schon eine warme
Hand auf meinen Mund und dämpfte mein Gebrüll zu einem erstickten Keuchen. Ich erkannte ihn sofort, obwohl er die Haare anders trug als vorhin noch und die Schofförs-Mütze
gegen eine lässige Kappe getauscht hatte. Verzweifelt bäumte ich mich mit aller Kraft auf.
Ich biss Bastie in die Hand, sodass er überrascht seinen Griff mit einem leisen Schmerzschrei lockerte. „Sabrina …!“, würgte ich hervor und riss verzweifelt an meinen Fußfesseln.
Doch Bastie hatte mich schon wieder unter seine Kontrolle gebracht. Mit seinem ganzen
Gewicht legte er sich auf mich und machte mich bewegungsunfähig. Warum griff Sabrina
nicht ein? Ich sah, wie sie mit einem Grinsen daneben stand und ihre Hände in den Ho- 52 -
sentaschen vergrub. Tränen der Verzweiflung schossen mir in die Augen. Hatte auch meine
beste Freundin mich verraten? Basties Mund war ganz nah an meinem Ohr. Sein Atem
erzeugte eine Gänsehaut auf meinem Hals.
„Sch sch sch …“, flüsterte er und wiegte mich beinahe sanft hin und her. Erst als ich erschöpft meinen Widerstand aufgab, lockerte er ganz vorsichtig seinen Griff um meine
Handgelenke. „Ich bin’s doch, Bastie …“
Seine warme Stimme ließ mir einen wohligen Schauer über den Rücken laufen. War ich
jetzt völlig übergeschnappt? „Ich weiß, wer du bist!“, stieß ich gehetzt hervor und drehte
mich unter seinem Griff zur Seite.
Er aber strich mir sanft meine schweißnassen Strähnen aus der Stirn. „Es ist nicht so, wie
du denkst“, sagte er leise und warf Sabrina einen verschwörerischen Blick zu. Die nickte
und ihre Lippen zogen sich noch mehr in die Breite, sodass ich ihre geraden Zähne sehen
konnte. Ich verstand gar nichts mehr. Bastie aber streichelte mir sanft über die Wange, während er weitersprach. „Das war nicht ich, der dich entführt und misshandelt hat, sondern
mein böser Zwillingsbruder.“
Ich riss die Augen auf. Verarschte er mich jetzt?
Doch Sabrina bestätigte seine Worte mit einem neuerlichen Nicken. „Zum Glück habe ich
nicht glauben können, dass du plötzlich so durchgeknallt warst. Ich habe Bastie gesucht
und er hat mir von seinem Zwilling erzählt, der im Alter von sechs Jahren entführt worden
und nie mehr wieder aufgetaucht war. Wir haben eins und eins zusammen gezählt und
waren gerade noch rechtzeitig hier her gekommen, um das Schlimmste zu verhindern …“
Sie bückte sich und hob eine Pistole auf, die unter das Bett gerutscht war, auf dem ich jetzt
völlig bewegungsunfähig lag.
Doch als Bastie sich vorbeugte und mir einen Kuss auf die Lippen hauchte, kam wieder
Leben in meinen Körper. Ich schloss die Augen und gab mich dem warmen Gefühl hin, das
mich plötzlich erfasste. Erst später ließ mich ein plötzlicher Gedanke hochfahren und ich
schob Bastie auf Armlänge von mir weg. „Habt ihr … habt ihr den anderen Zwilling …“ Ich
wagte nicht auszusprechen, was mich so plötzlich mit Schrecken erfüllt hatte. Mit geweiteten Augen schaute ich von Bastie zu Sabrina und wieder zurück. Beide nickten nur und
Sabrinas Augen wichen zur Seite. Ich folgte ihrem Blick und sag schemenhaft einen Körper
in der Dunkelheit liegen. Ich schluchzte auf. Aber es war mehr Erleichterung als Entsetzen,
das mich erfasste. „Und der Professor?“, fragte ich nach einer kurzen Pause. Bastie setzte
sich zu mir auf die Pritsche und legte einen Arm um meine Schultern. „Kein Angst. Der
wird auch niemandem mehr Schaden zufügen.“
Sabrina setzte sich an meine andere Seite. „Dank deiner Aussage hat die Polizei endlich
genug Beweise gegen ihn.“ Sie lächelte mir aufmunternd zu. „Da werden wohl schon die
Handschellen geklickt haben“, ergänzte sie.
Mit einem tiefen Seufzer lehnte ich meinen Kopf an ihre Schulter, während meine Finger
nach Basties warmer Hand suchten. „Danke“, wisperte ich und schloss erleichtert die Augen. Mit diesen Freunden an meiner Seite konnte mir nichts mehr passieren …
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Thomas Berghofer,
Luca Güsser,
Manuel Kulmer,
Jakob Marterer,
4 minus 1
(Entführung in den Tropen)
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Kapitel 1
Es war düster, als Fabian sich auf seinen Nachhauseweg machte. An einem Brunnen machte er Halt, um seinen Durst zu löschen. Ein Fremder, in einen schwarzen Mantel gehüllt,
stand plötzlich wie aus dem Nichts hinter ihm. Fabian zuckte zusammen.
„So ein Schwachsinn“, versuchte er sich selbst zu beruhigen, „dunkle Kleidung hat doch
nicht automatisch etwas Böses zu bedeuten.“ Trotzdem schlug ihm das Herz bis zum Hals.
Der Mann stellte sich knapp neben ihn. Fabian beobachtete aus dem Augenwinkel, wie der
Typ prüfend die Straße und die anliegenden Häuser scannte.
Irgendwas stimmte mit dem nicht! Fabian konnte vor Angst kaum atmen.
Erst als der Mann ihm zunickte und einen geheimnisvollen Koffer in die Hand drückte,
löste sich seine Erstarrung. In panischer Angst ließ er den Koffer fallen und rannte davon.
Doch er musste feststellen, dass auch der Mann sich in Bewegung gesetzt hatte. In Fabians
Körper breitete sich Adrenalin aus. Seine Beine bewegten sich wie von selbst.
Schneller! Schneller!
Seine Lungen schmerzten bei jedem Atemzug. Trotzdem brüllte er mit voller Kraft: „Hilfe!
Hilfe! Ich werde verfolgt!“
Er rannte die nasskalte Gasse, wild mit den Händen fuchtelnd, entlang. Nach einem geschätzten Kilometer drehte er sich um und blickte in die Dunkelheit. Der Junge dachte, er
hätte seine Verfolger abgehängt, doch er wurde das Gefühl nicht los, noch immer verfolgt
zu werden. Mit zitternden Fingern schrieb er eine SMS an seinen Cousin. Fabian drückte
gerade auf „Senden“, als er hinter sich etwas hörte. Er drehte sich blitzschnell um und
konnte noch gerade das verbeulte und hässliche Gesicht eines Mannes sehen, als Fabian
etwas von hinten durchbohrte. Ein stechender Schmerz breitete sich in seinem Körper aus.
Er fiel auf die Knie, blickte noch einmal verzweifelt den Mann an und fragte sich in den
letzten Sekunden seines Lebens, wer wohl sein Mörder war.
Kapitel 2
Schon am frühen Morgen brannte die Sonne von einem wolkenlosen Himmel. Die vier
Freunde Jakob, Manuel, Luca und Thomas machten sich bereit. Heute war es so weit! Das
lang ersehnte Radrennen durch den Dschungel Brasiliens, für das sie sich schon monatelang vorbereitet hatten, sollte in wenigen Minuten starten. Jakob überprüfte gerade noch
einmal die optimale Sitzhöhe, als sein Handy vibrierte. Er riskierte einen kurzen Blick auf
das Display, um zu sehen von wem die SMS war.
Fabian? Seit Monaten hatte er von seinem Cousin, der in Ungarn lebte, schon nichts mehr
gehört. Was wollte er gerade jetzt von ihm? Er staunte nicht schlecht, als er las, dass Fabian
von einem Drogendealer verfolgt wurde.
Aufgeregt tippte er Thomas auf die Schulter, der ihm gerade am nächsten stand.
Thomas kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf. „Glaubst du das echt? Fabian
meint das sicher nicht ernst. Du kennst ihn doch. Der verbreitet oft Blödsinn.“
Jakob biss sich auf die Lippen. „Wahrscheinlich hast du Recht“, meinte er schließlich und
beachtete die SMS nicht länger.
Start. Das Rennen begann. Jakob, Thomas, Manuel und Luca starten voll durch und setzen
sich sofort an der Spitze der vielen Spitzenradfahrer ab. Auch wenn sie sich zu hundert
Prozent auf das Radrennen konzentrieren sollten, hatten die vier Freunde ein mulmiges
Gefühl. Alles wegen Fabian! Es lenkte sie ab, denn sie mussten immer wieder an Jakobs
Cousin denken und so fielen sie mit der Zeit immer weiter zurück. Erst als sie den ersten
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Kontrollpunkt passierten, wurde ihnen klar, dass sie nicht einmal mehr zu den Top Ten des
Rennens gehörten.
Die vier Freunde befanden sich am Ende des zweiten Kontrollpunkts, als Thomas bemerkte,
dass sie niemanden von anderen Teilnehmern mehr sehen konnten. Als Jakob auch noch
bemerkte, dass sein Handy nicht mehr in der Rucksacktasche war, wo er es zuvor hineingetan hatte, bekamen sie es mit der Angst zu tun. Hatten sie sich verfahren? Aber sie waren
doch genau der Streckenkarte nachgefahren!
„Scheiße, Leute! Wir sind da mitten im Nirgendwo! Wo ist die verdammte Strecke?“ Thomas sprang vom Rad und ließ es achtlos auf den staubigen Boden fallen. Hektisch blickte er
sich um. Aber außer Bäumen und einer unendlich scheinenden staubigen Landschaft war
weit und breit nichts zu sehen. Sie blieben stehen und versuchten sich zu orientieren, aber
ohne Erfolg. Sie wollten nicht aufgeben und suchten immer weiter, bis dann endlich Manuel rief: „Hier, seht mal!“ Die anderen drei liefen schnell zu Manuel, der gerade versuchte,
einen Busch aus dem Weg zu räumen. Endlich schaffte er es und legte ein altes verbeultes
Schild frei. Beinahe gleichzeitig lasen die vier die Buchstaben, die auf dem Schild standen:
G…o…f…f…s.
Plötzlich wurde Thomas’ Gesicht ganz bleich und er starrte das Schild an, als wäre gerade
eine Maus über seine Leber gelaufen.
Jakob, der nichts mit diesem Namen anfangen konnte, und nur darüber spottete, bemerkte
den Gesichtsausdruck seines Freundes. Beängstigt fragt er: „Alles OK bei dir, Thomas?“
Thomas drehte seinen Kopf nur ganz langsam in Jakobs Richtung. Er starrte Jakob an,
sodass dieser Angst bekam, danach stottert Thomas: „W…w…weißt du w...was G...G...Goffs
ist?“
„Nein“, sagte Jakob, „was ist damit?“
Thomas, der auch manchmal sehr abergläubisch war, antwortete: „Ich hab mal über diese
Stadt gelesen und …“ Er schluckte. „… und das war ne Geisterstadt!“
Luca bemerkte gelangweilt: „Ja, und? Du glaubst doch nicht ernsthaft an so einen Humbug!?“
Thomas sagte darauf nichts mehr. Er starrte nur unbewegt in die Luft.
Manuel, der eher der Typ fürs Praktische war und von der Theorie nicht viel hielt, tat so, als
hätte er das Wort Geisterstadt überhört und schlug den unebenen Schotterweg ein, der nach
Goffs zu führen schien.
Da Rennräder für den Asphalt gedacht waren und nicht für Schotterwege, mussten sie ihre
Räder zurücklassen, um Schäden zu vermeiden. Ihre Schuhe machten komische Geräusche
beim Auftreten, fast wie Schischuhe. Natürlich wussten die Vier, warum das so war: Ihre
Schuhe waren Spezialschuhe, die man in die Tretpedale der Fahrräder verankern konnte,
um nicht abzurutschen. Um den Weg, auf dem die Jugendlichen gingen, lag ein Nadelwald.
„Ich schätze, das sind Brasilkiefern“, bemerkte Thomas. Doch auch ihm war nicht nach
Reden zumute. Schweigend setzten sie ihren Weg fort. Nach ein paar hundert Metern Fußmarsch sahen sie eine Art Tor, auf dem geschrieben stand:
Bem-vindo ao Goffs
„Wahrscheinlich bedeutet das so viel wie Willkommen in Goffs“, vermutete Manuel.
Er und seine Freunde durchquerten der Tor und blieben stehen. Thomas versuchte cool zu
wirken und sich nicht in die Hose zu machen, weil er solche Angst hatte. Er konnte sich
noch genau an die Bilder im Buch erinnern, in dem er über diese Stadt gelesen hatte. Es war
alles komplett gleich. Das Rathaus, die Kneipe, der Saloon und das Lebensmittelgeschäft
- nichts hatte sich verändert. Überall klapperten die Rollos, Papierfetzen flogen durch die
Gegend und ein warmer Wind blies den vier Jungen um die Ohren. Thomas fiel auf, dass
diese Stadt aussah, wie eine aus dem wilden Western und nicht wie eine aus Brasilien. Das
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Dorf war vermutlich schon vor längerer Zeit verlassen worden. Die Fensterläden hingen
schief in den Angeln und irgendwo schlug eine Tür im Wind gegen einen Holzrahmen. Als
die vier Freunde schon am Ende ihrer Hoffnung waren, doch noch etwas Brauchbares zu
entdecken, fand Jakob am Rand der Geisterstadt eine alte, rot schimmernde und schon halb
verrostete Telefonzelle. Er glaubte nicht, dass sie noch funktionierte, aber einen Versuch
war es wert. Er rief seine Freunde zu sich. Sie alle beschlossen, dass Jakob in die Telefonzelle
rein gehen sollte, um die Polizei anzurufen.
Jakob wählte eine Nummer, die er als einziger von den Vieren kannte. Fabian hatte sie bei
seiner mysteriösen Nachricht mitgeschickt.
Luca fragte zweifelnd: „Wen rufst du bitte an?“
„Keine Ahnung“, antwortete Jakob, „ich hoffe einfach, dass jemand abhebt.“
Und wirklich, es klappte. Am anderen Ende der Leitung sprach ein Mann. Leider konnten
die Vier ihn nicht verstehen. Thomas wusste aber, von wo der Mann her kam, denn Thomas
hatte die Sprache des Mannes erkannt und behauptete, dass es ein Chinese war. Ein Pech,
dass keiner der vier Freunde chinesisch konnte. Die Person sprach auch kein Deutsch, denn
Jakob versuchte, sich auf Deutsch mit ihm zu verständigen, aber der Mann schwafelte immer etwas auf Chinesisch. Sie probierten es auch auf Englisch, doch auch das klappte nicht.
Jakob legte auf und seufzte. Plötzlich läutet das Telefon. Sie sahen überrascht zum Hörer.
Manuel nahm den Hörer ab und fragte:„ Ja, wer ist da?“
Die Person am anderen Ende der Leitung sagte mit einer rauen, tiefen Stimme: „Ihr seid
verloren! Ihr vier Bengel kommt hier nicht mehr fort. Ich krieg euch schon! Hahahahaha!“
Dann war die Leitung tot.
Jakob, Manuel, Thomas und Luca sahen sich verängstigt und fragend an. Hatte der Mann
sich bloß verwählt? Vielleicht wollte er doch sie fangen? Was sollten sie jetzt machen? Keiner konnte es glauben, was gerade geschehen war. Plötzlich fuhren die Vier auf und sprangen aus der Telefonzelle. Kann das sein, kann das wirklich sein? Sie glaubten es einfach
nicht. Sie glaubten es einfach nicht, dass sie ein Motocross auf sich zufahren hörten.
Jakob rannte voller Angst aus der Telefonzelle, die aus irgendeinem Grund mitten im Urwald von Brasilien stand. Da sah er einen Motocrossfahrer auf sich zukommen. Er fuchtelte
mit den Armen durch die Luft. “Hier sind wir! Bleiben Sie stehen!“ brüllte er aus Leibeskräften. Erst als er bemerkte, dass irgendetwas nicht stimmte, verstummte er. Als der Mann
zehn Meter vor Jakob noch immer nicht stehen blieb, war es eindeutig: Die Person auf dem
Motocross wollte weder anhalten noch die vier Rennradfahrer retten. Jakobs Herz pochte
immer schneller. Er musste irgendetwas tun, sonst erwischte der unbekannte Mann ihn
noch. Er warf sich zur Seite – keine Sekunde zu früh! Im nächsten Augenblick knatterte die
Maschine haarscharf an seinem Körper vorbei. Jakob spürte, wie seine Muskeln versagten.
Er wollte weglaufen, aber er konnte keinen Muskel bewegen. Der Fahrer hatte bereits umgedreht und raste wieder auf Jakob zu, der noch immer schockgelähmt war. Noch ein paar
Meter und der Motocross Fahrer hätte ihn erwischt. Da raste er auch schon wieder an Jakob
vorbei, der gerade noch von Manuel gerettet werden konnte.
„Schnell, komm!“, schrie Manuel, und lief davon. Jakob nickte nur und rannte Manuel hinterher. Wieder hatte der Mann umgedreht und verfolgte nun beide Freunde. Jakobs und Manuels Beine wurden von Schritt zu Schritt immer schwerer. Es kam ihnen vor, als würden
sich ihre Beine nach und nach in Blei verwandeln.
„Wir müssen ihnen irgendwie helfen!“, stieß Thomas aus und lief dem Mann mit der Maske
hinterher. Luca folgte ihm, aber es war zu spät. Luca bekam gerade noch mit, wie der Motocross-Fahrer Jakob am Arm packte und danach in der Staubwolke eintauchte, die die Räder
seiner Maschine aufwirbelte. Im Vorbeifahren rempelte der Mann Manuel an, sodass er das
Gleichgewicht verlor und auf die Knie fiel. Luca, der Thomas inzwischen überholt hatte,
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lief an Manuel vorbei, Jakob hinterher. Inzwischen war sein Kopf vor lauter Anstrengung
knallrot. Luca gab nicht auf. Nein, er hatte noch nie aufgegeben. Weder bei den Wettläufen
noch bei den Schwimmwettbewerben, bei denen er sich immer unter den zehn besten Teilnehmern befand. Trotzdem war er zu langsam für ein Motocross. Luca musste einsehen,
dass er den Mann nicht einholen konnte.
Kapitel 3
Nachdem der Fahrer mit Jakob nicht mehr zu sehen war, wusste keiner der drei Freunde,
was sie jetzt tun sollten. Manuel wollte mit seinem Handy die Polizei rufen, doch er hatte
keinen Empfang. Luca rannte ein Stück hinter den Reifenspuren her, die sich im Straßenstaub abzeichneten, bis er sich erschöpft ins dürre Gras fallen ließ.
Thomas aber war ihm gefolgt. Aufmunternd legte er Luca eine Hand auf die Schulter. „Die
Idee ist gar nicht schlecht. Wenn wir Jakob retten wollen, müssen wir der Spur folgen. Irgendwo muss der Typ ja mit ihm hingefahren sein.“
Luca hob den Kopf und sah den Freund zweifelnd an. Thomas aber nickte mit mehr Überzeugung, als er in sich fühlte. „Irgendwann wird ihm der Sprit ausgehen. Und außerdem
werden sie bestimmt irgendwo eine Pause machen.“ Er streckte Luca die Hand hin, bis der
Freund sie ergriff und sich von ihm zum Stehen hochziehen ließ.
„Wir lassen Jakob nicht im Stich!“, rief er und auch Manuel schien neuen Mut gefasst zu
haben.
„Wir sind Freunde! Er würde dasselbe für uns versuchen. Wir werden ihn finden und befreien.“
Keiner von ihnen wollte sich anmerken lassen, wie viel Angst sie eigentlich hatten. Sie alle
verdrängten den beängstigenden Gedanken, dass sie nur drei Jungs waren - allein im Urwald von Brasilien.
Erschöpft blieben sie stehen. „Verdammt!“, schimpfte Luca sehr außer Atem, obwohl er der
sportlichste seiner Freunde war.
„Oh mein Gott, was sollen wir jetzt machen?“, stieß Manuel verzweifelt aus, „Jetzt ist alles
aus!“
Luca sagte dazu gar nichts, aber sein Gesichtsausdruck sagte mehr als hundert Worte.
Nur Thomas jammerte nicht um Jakob. Stattdessen dachte er angestrengt nach. Schließlich
hockte er sich auf seine Fersen und deutete auf den Boden vor ihm. „He Leute, ich habs!
Hier ist alles voller Schlamm. Wenn man mit einem Motocross über so einer Oberfläche
fährt, hinterlässt man eine Spur!“, rief er und schaute die Freunde von unten an.
„Und was bringt uns das?“, fragte Manuel mit einem zweifelnden Gesichtsausdruck.
„Na, das zeigt uns, wie wir Jakob verfolgen und retten können!“, antwortete Thomas.
Luca bemerkte mit sorgenvoller Miene: „Wir sollen ihn retten?“
„Ja“, meinte Thomas, „aber sicher.“
„Ok, aber wie sollen wir das anstellen?“, fragte Manuel.
„Wir folgen erst mal diesen Reifenspuren“, antwortete Thomas, „Und dann, dann retten wir
ihn eben.“
„Und wie sollen wir retten? Ich glaube kaum, dass der Mann Jakob uns ausliefert, wenn wir
rufen: „WIR SIND GEKOMMEN UM DICH ZU RETTEN, JAKOB!“, nörgelte Luca.
„Ja, ja. Eines nach dem anderen. Wie wir ihn dann retten, können wir uns auf dem Weg
überlegen.“ Thomas wartete nicht länger ab, wie seine Freunde sich entscheiden würden.
Entschlossen ging er der Reifenspur nach.
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Kapitel 4
Nach einem schier endlosen Lauf durch den Urwald verloren sie die Hoffnung darauf, Jakob noch irgendwo finden zu können. Aber Thomas hatte wieder einmal eine gute Idee.
„Einer von uns sollte auf einen hohen Baum klettern. Vielleicht war ja von weiter oben ein
Weg aus dem Dickicht zu sehen.“
Sein Mut und sein Überlebenswille schenkte auch den anderen wieder neue Hoffnung. Sie
beschlossen, dass Luca, der athletischste der drei verbliebenen Freunde, auf den nächsten
Baum klettern sollte, um sich umzusehen.
Luca war anfangs nicht unbedingt begeistert, dass er auf einen 40 Meter hohen Baum klettern sollte, aber Thomas und Manuel waren dafür nicht sportlich genug. Also ließ er sich
schließlich breitschlagen und machte sich auf den Weg zu dem Baum, den Thomas ausgesucht hatte. Kraftvoll begann er voller Energie zu klettern. Eigentlich war Jakob noch besser
als er, aber der war ja leider nicht da. Schritt für Schritt versuchte Luca Halt zu finden und
zog sich immer weiter hoch, bis er oben angekommen war.
„Und“, fragte Thomas, „was siehst du?“
„Äääähhhhmmm“, überlegte Luca, „ich sehe da drüben einen… aaaaaaaaaaahhhhhhhhhhh!“
Die Freunde hörten ein Krachen, gleich darauf plumpste etwas auf den Boden. „Ist dir etwas
passiert, geht es dir gut?“ Hektisch rannten Thomas und Manuel zu der Stelle, aus der das
Geräusch gekommen war.
„Was soll mir schon passiert sein, wenn ich von einem Baum falle“, knurrte Luca und klopfte sich den Staub von der Hose, „Dieser blöde Ast muss wohl schon morsch gewesen sein.“
„Oh, oh“ Thomas hatte Lucas Hosenbein hochgeschoben und tastete seinen Fuß ab. „Siehst
du diesen Fleck da? Ich glaube das ist’n Bluterguss am rechten Knöchel.“
„Verdammt! Lass den Blödsinn! Du tust mir weh!“, schimpfte Luca.
Manuel half Luca auf die Beine. „Und? Hast du wenigstens was gesehen?“
„Ja“, murmelte Luca und zeigte nach Süd-Westen, wo eine feine Rauchfahne zu sehen war.
„Hier hinten muss wohl das Lager des Entführers sein. Dort finden wir bestimmt auch
Jakob!“
Entschlossen drückte Thomas sich zum Stehen hoch: „Na gut, dann auf in diese Richtung!“
Luca humpelte zwar noch ein wenig, aber Manuel und Thomas stützten ihn, damit er nicht
umfiel. So kamen sie langsam voran.
„Seht ihr das? Es dämmert bereits“, sagte Thomas.
„Ja“, meinte Manuel, „du hast recht.“
„Wir sollten uns schleunigst einen Unterschlupf für die Nacht suchen.“ Luca schaute sich
ängstlich um. „Ob es hier wilde Tiere gibt?“
Sie teilten sich auf, damit sie bessere Chancen hatten, einen Platz für die Nacht zu finden.
Manuel ging nach rechts, Luca gerade aus und Thomas nach links.
Manuel wanderte über Wurzeln und Dreck und sah sich nach allen Seiten um, aber alles,
was er sah, waren Bäume über Bäume. Die Drei hatten ausgemacht, dass sie sich nicht zu
weit voneinander trennen sollten, und so musste Manuel wieder umkehren.
Bei Thomas lief es ein wenig besser. Auch er musste durch Dreck wandern und sah nur
Bäume. Das Superhirn, wie Thomas manchmal von seinen Kollegen genannt wurde, fand
aber ein kleines Bächlein. Er lief sofort zurück, um den anderen zu berichten, was er gefunden hatte.
Luca entdeckte zuerst auch nichts Besonderes. Doch nach ein paar Minuten fand er eine
Felswand, in der eine Höhle eingelassen war. Und das war noch nicht einmal das Beste!
Etwa 100 Meter neben der Höhle entdeckte Luca auch noch eine Quelle, von der sie trinken
konnten. Er lief zurück zum Ausgangspunkt.
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Thomas und Manuel warteten bereits auf ihn.
„Und, habt ihr etwas gefunden?“, fragte Manuel.
„Jap“, sagte Thomas, „ich hab einen Bach gefunden, und ihr?“
„Ich hab leider nichts gefunden“, murmelte Manuel, „und du, Luca, hast du etwas gefunden?“
Luca berichtete mit breitem Grinsen von seiner genialen Entdeckung.
Die anderen waren begeistert. „Dann lasst uns hingehen“, meinte Thomas.
Luca wusste den Weg noch genau und konnte seine Freunde so direkt ohne Umweg zur
Höhle führen, die er gefunden hatte. Luca checkte, ob die Höhle nicht doch von einem
wilden Tier oder so bewohnt war, während Manuel und Thomas ihren Mund vor lauter
Staunen nicht mehr zu brachten. Er gab Entwarnung und die Freunde richteten es sich in
ihrem Nachtlager ein.
„Jetzt brauchen wir nur noch was zum Essen“, stellte Luca fest und schaute fragend in die
Runde.
„Das überlasst mal mir!“ Manuel ging los in Richtung dunklen Wald. Er nahm einen langen
Stock, der auf dem Boden lag, und brach ihn mit einem schnellen und starken Tritt in zwei
Hälften. Danach nahm er sein Taschenmesser, das er einmal von seiner Oma zu Weihnachten bekommen hatte, aus einem seiner vielen Säckeln an seinem Fahrradtrikot und spitzte
damit einen der beiden Stöcke zu. Mit schnellen Schritten, die Waffe in der rechten Hand,
lief er leichtfüßig in den dunklen Wald hinein. Manuel hatte ein Ziel vor Augen: erstens
wollte er Jakob retten, zweitens Nahrung für diese Nacht finden und drittens Spaß haben
auf der Jagd nach Nahrung.
Thomas hatte gemeint, er sollte etwas Nahrhaftes fangen. Manuel überlegte, ob er vielleicht
eine Eidechse aufspüren sollte, entschied sich dann aber dagegen. „Die ist ja viel zu klein!
Davon werden wir nicht alle satt. Suchend ging er tiefer in den Wald. Er wollte einen Fisch
fangen - oder ein Eichhörnchen! Die konnte man grillen und damit dafür sorgen, dass ihre
hungrigen Mägen für eine Nacht - und vielleicht noch den ganzen nächsten Tag - gefüllt waren. Es war das erste Mal, dass er vor einer solchen Aufgabe stand. Er hatte keine Ahnung,
wie er sich als Jäger anstellen würde.
Luca und Thomas sammelten inzwischen Feuerholz und bereiteten den Schlafplatz vor. Sie
legten den Boden der Höhle mit vielen und vor allem großen Blättern aus, die sie unterhalb
eines Bananenbaumes fanden. Damit würde der kahle Felsen nicht so hart sein und außerdem würden sie auch ein bisschen wärmen. Thomas holte auch noch Decken aus Blättern.
Zu guter Letzt ging er Früchte sammeln, falls Manuel nicht genug Tiere fangen würde, was
Thomas insgeheim befürchtete.
Inzwischen baute Luca eine Feuerstelle vor der Höhle auf. Er holte Steine und legte sie
zu einem Kreis zusammen. Nachdem er dürres Feuerholz gesammelt hatte, türmte er die
Äste hoch auf. Dank dieser Technik würde der Glutkegel größer werden, und wenn Manuel
wirklich ein Tier erlegen würde …
Luca hatte gerade seinen Feuerturm fertig, da kam Manuel langsam aus dem Wald. In der
linken Hand hielt er seinen Stock, die rechte Hand zog er etwas am Boden. Luca lief ihm
entgegen und traute seinen Augen kaum: Manuel hatte tatsächlich ein Reh erlegt!
Gleich darauf kam Thomas mit ein paar Früchten angerannt und staunte: „Wow, wie hast
denn das hingekriegt?“
„Alter, das Fleisch reicht bestimmt für einige Tage“, meinte Luca.
Manuel grinste über das ganze Gesicht voller Stolz.
Die drei bereiteten sich auf die Nacht vor. Sie aßen die Früchte, tranken ihr letztes Wasser
und unterhielten sich. Nach ein paar Minuten, in denen alle ihren Gedanken nachhingen,
fragte Thomas schließlich mit leiser Stimme: „Glaubt ihr, können wir Jakob überhaupt noch
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retten?“
Luca nagte gerade am letzten Rest seiner Frucht. Erst nach einer längeren Pause antwortete
er: „Hoffen wir es. Wenn nicht, sieht es nicht nur für Jakob schlecht aus. Auch für uns wäre
es dann nicht viel besser.“
Wieder einmal wurden sie von den lauten Geräuschen der Tiere gestört, die aber nicht
näher zu kommen wagten, denn ihr Feuer brannte vor dem Höhleneingang und das Brennholz sollte noch für die ganze Nacht reichen. Schließlich rollte sich Thomas auf dem Steinboden zusammen und zog seine Jacke enger um die Schultern. „Wir sollten jetzt eine Runde
schlafen. Wir müssen morgen früh los.“
Die Freunde versuchten, seinen Rat zu befolgen, doch es wollte ihnen nicht wirklich gelingen. Zu ungewohnt war die Umgebung und die Angst davor, was sie am nächsten Morgen
erwarten würde, raubte ihnen die Ruhe. Und auch die Tiere wurden nicht leiser. Trotzdem
hielten alle ihre Augen fest geschlossen und jeder lauschte auf den Atem des anderen. Nur
manchmal fluchte einer der drei, weil er endlich schlafen wollte.
Kapitel 5
Jakob saß immer noch im dunklen Verhörraum der Männer die ihn entführt hatten. Er war
hungrig und noch schlimmer war der Durst, der ihm die Zunge an den Gaumen klebte.
Aber niemand gab ihm etwas zu essen oder zu trinken. Obwohl er kaum noch Hoffnung
auf Rettung hatte und seine Stimme immer leiser wurde, schrie er immer wieder um Hilfe.
Endlich flog die Tür auf und der Mann, der ihn auf das Motorrad gezerrt hatte, streckte den
Kopf herein. Seine Miene verriet, dass Jakobs Geschrei ihm grässlich auf die Nerven fiel.
„Was soll das Gejammere! Das hält ja keiner aus! Was muss ich dir geben, damit du Ruhe
gibst?“
Jakob schöpfte neue Hoffnung. “Ich habe Hunger und Durst! Gib mir Wasser und irgendwas zu essen. Sonst will nichts!“
Der Mann starrte ihn minutenlang unbewegt an, bevor er erwiderte: „Wenn du mir die gewünschte Information gibst, lass ich dich auch nicht verhungern.“
Jakob schüttelte verzweifelt den Kopf. “Was soll ich dir denn verraten? Ich hab doch überhaupt keine Ahnung, was du von mir wissen willst!“ Seine Stimme nahm einen verzweifelten Klang an.
Der Mann kniff die Augen zusammen und fixierte ihn aus den Augenschlitzen. „Du bist
doch der Cousin von Fabian. Verrate mir alles, was du über ihn und den verschwundenen
Koffer weißt.“
Jakob biss die Lippen so fest zusammen, dass auch diese bald zu bluten begannen. Er zuckte bei jedem Schlag, den er einstecken musste, ein wenig zusammen. Er wollte sich kleiner
machen, um weniger Angriffsfläche zu haben aber es half absolut nichts. Sein Peiniger
traf fest und hart. Jakob schrie auf, doch das produzierte noch mehr Schläge. Er blutete am
ganzen Körper und auch das Auge war schon ganz angeschwollen, sodass er nur mehr eingeschränkt sehen konnte. Jakob hielt die Schmerzen nicht mehr aus, er gestand alles, was
im gerade einfiel. Doch auch das brachte ihm nicht die gewünschte Erleichterung.
„Sei still und erzähl mir nicht so einen Quatsch!“, blaffte ihn der Mann an. Wieder klatschte
seine Faust gegen Jakobs Gesicht. Er glaubte ihm anscheinend nichts.
Der Mann wurde immer wütender. Man sah schon die Adern in seinem Gesicht. Er fing
an zu erklären: „Der Veranstalter des Radrennens, mein Geschäftspartner, hat mich beauftragt, euch vier auszuschalten denn ihr wüsstet über unseren Handel mit Dopingmitteln
Bescheid. Deshalb bist du jetzt hier und wenn du nicht ausspuckst, was du weißt, wirst du
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bald tot zu sein.“ Jakob entgegnete mit zittriger Stimme: „Aber ich weiß gar nichts über
einen Drogenhandel …“
Der Mann schlug ihm neuerlich ins Gesicht. „Ich weiß, dass du etwas über uns weißt! Mein
Informant ist zuverlässig. Er hat mich darüber informiert, dass dieser Junge uns bei unserem Geschäft beobachtet hat … dieser Fabian.“
Kapitel 6
Die Sonne kam schon hell leuchtend über den Horizont herauf. Als hätte ein Wecker sie
aus dem Schlaf gerissen, wachten die Freunde gleichzeitig auf. Schnell packten sie alle Sachen, die sie noch hatten und setzten die Suche nach ihrem vermissten Freund fort. Es war
schon einen ganzen Tag her gewesen, als Luca, Thomas und Manuel den Rauch entdeckt
hatten. Ihre Hoffnung, Jakob zu finden und überhaupt lebend aus diesem Urwald heraus
zu finden, wurde mit jedem Schritt kleiner. Doch aufzugeben und hier im tiefsten Urwald
zu verrecken war keine Option. Alle hatten sich die Richtung, in die sie gehen sollten, um
ihren Freund zu retten, gut eingeprägt. Dank Thomas hatten alle gut schlafen können und
Lucas Fuß tat auch nicht mehr weh. Nur Manuel klagte über Rückenschmerzen.
Gähnend traten sie aus ihrer Höhle ins Freie. Der Rauch war verschwunden und Thomas
und Manuel wussten nicht mehr, wohin sie gehen sollten. Luca hatte sich aber die Richtung
eingeprägt und ging voraus. Dabei machte Luca der Dschungel selbst Angst. Doch er versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen.
Während sie so vor sich hin trotteten, dachten sie über ihre Situation nach.
Plötzlich sagte Thomas: „Können wir uns nicht einfach nur hier hinsetzen und auf Hilfe
warten?“ Manuel schüttelte den Kopf. „Niemand würde uns finden. Wenn wir aufgeben,
werden wir sterben.“ Thomas streckte den Rücken durch. „Okay. Dann gehen wir einfach
weiter.“ Er schluckte trocken. Wenn er schon sterben musste, dann wollte er bestimmt nicht
tatenlos darauf warten.
Die Füße brannten. Mit jedem Schritt wurden die Schmerzen größer. Man konnte es den
Füßen und Schuhen bald ansehen, wie weit sie schon gelaufen waren. Nach gut fünf Kilometern entdeckten die drei Jungs plötzlich etwas Unglaubliches. Da waren tatsächlich die
Reifenspuren des Motocross am Boden! Aufgeregt folgten sie den Spuren und fanden kurz
darauf eine verlassene Feuerstelle.
Thomas streckte die Hand vorsichtig aus und berührte den schwarz gefärbten Boden. „Die
Asche ist kalt“, stellte er fest. „Das heißt, sie sind schon mehrere Stunden weg von hier.“
Sie sahen sich an der Feuerstelle noch ein bisschen um, aber alles, was sie fanden, war ein
Baumstamm, der als Sitzgelegenheit diente und Blut, das an einem Baum klebte.
„Ob das von Jakob stammt?“, fragte Luca mit banger Stimme.
„Ist er womöglich …?“ Thomas wollte den Satz nicht beenden, doch alle drei Freunde sahen
sich betreten an.
„Das kann nicht sein“, warf Manuel ein. „Dann müssten wir doch irgendwo seinen Körper
finden. Oder?“ Er drehte sich einmal um die eigene Achse. „Daran dürfen wir gar nicht
einmal denken!“
Trotzdem machte sich Hoffnungslosigkeit breit. Als die Drei niedergeschmettert auf dem
Baumstamm saßen und mit einem Stock, den Luca neben dem Feuer gefunden hatte, Kreise in die feuchte Erde zeichneten, hörten sie von weitem einen Lärm. „Das ist ein Motocross!“, rief Manuel und riss damit auch die anderen Zwei aus ihrer Versunkenheit. „Von
hier kommt der Fahrzeuglärm!“ Er deutete in die Richtung, aus der das Geräusch zu hören
war. Alle sprangen vom Sitzen hoch. Ohne irgendetwas auszuhandeln oder zu überlegen,
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starteten sie in die Richtung. Luca lief voran und gab das Tempo an.
Die Sonne stieg immer höher und brannte unbarmherzig auf das trockene Land herunter.
Thomas’ Magen knurrte so laut, dass Manuel, der hinter Thomas ging, es deutlich hörte,
auch er hatte schon mächtigen Hunger. Es war ja nicht viel, was sie gegessen hatten. Es
musste schon bald Mittag sein, die Sonne stand hoch am Himmel und leuchtete unbarmherzig auf alle. Da blitzte es hinter einem verdorrten Busch. Manuel schob die dürren Äste
weg, die mit einem leisen Krachen zerbrachen. Darauf zog Thomas ein Motocross heraus.
Aufgeregt schaute er sich um, ob nicht noch irgendjemand in der Nähe war, der das Gefährt
hier versteckt hatte. Doch es war aber weit und breit niemand zu sehen oder zu hören. Thomas untersuchte das Motorrad. Bis auf einige dünne Äste, die noch in den Speichen hingen,
schien es in Ordnung zu sein. Wer mag es wohl zurückgelassen haben? Und warum hatte
er es versteckt?
„Mit dem Motorrad könnten wir viel schneller unterwegs sein!“ Thomas hievte das blitzende Gefährt zum Stehen hoch.
Luca war auch sofort Feuer und Flamme. „Und außerdem ist es nicht so anstrengend wie zu
Fuß“, rief er und versuchte, sich auf den Sattel zu schwingen.
„Genau! So könnten wir Jakob viel schneller finden!“ Manuel klatschte vor Begeisterung
in die Hände. Gleich darauf war ihre Hoffnung aber zerstört, als sie bemerkten, dass kein
Benzin mehr im Tank war. „Jetzt wissen wir auch, warum die Männer es hier liegen gelassen haben.“
Enttäuscht ließen sie es im Gestrüpp zurück und machten sich wieder zu Fuß auf den Weg.
Es war hart, die Hoffnung auf einen fahrbaren Untersatz zu begraben. Aber es half nichts.
Das nutzlose Motocross mitzunehmen, wäre unsinnig gewesen. Sie benötigten die Kraft,
um den Fußmarsch zu schaffen. So gingen sie weiter. Nach gefühlten sechs Stunden kamen
sie erschöpft und müde an einem breiten Fluss an. Da sie keine Brücke fanden, gingen die
drei Kumpel den Fluss entlang. Voll Freude entdeckten sie ein gestrandetes Boot. Natürlich
sprangen sie sofort hinein und konnten kaum glauben, was sie da sahen: Überall waren
Lebensmittel verstreut. Die meisten waren zwar schon verdorben, doch es gab auch welche,
die man noch essen konnte. Sie füllten in einen Rucksack alles Nützliche, was zu fanden:
drei Flaschen Mineralwasser, einige Dosen Sardinen, eine Packung fast steinharter, alter
Semmeln und eine Stange Salami. Danach stiegen alle drei hintereinander in das Boot und
fuhren voller Erwartungen los.
Nach einiger Zeit bemerkte Manuel ein seltsames Rauschen, das er am Anfang nicht besonders ernst nahm. Doch als es immer lauter wurde, fragten sich die Freunde, was das sein
könnte. Thomas war am Anfang nicht ganz sicher, aber schließlich war er davon überzeugt,
dass sie mit ihrem Boot auf einen Wasserfall zusteuerten. Hektisch versuchten sie, sich
ans Ufer zu retten, aber die Strömung riss sie immer weiter mit – unaufhaltsam kamen sie
dem Wasserfall näher. Sie schafften es einfach nicht, gegen die Strömung anzukommen.
Je mehr sie dagegen ankämpften, desto schneller ging ihnen die Kraft aus und so riss sie
die Strömung unaufhörlich Richtung Wasserfall zu. Je näher sie auf das Gefälle zutrieben,
umso lauter klatschte das Wasser auf die Felsenschlucht. Hilflos wurden sie vom Strom
erfasst und stürzten schließlich kopfüber hinab in einen See.
Prustend undkeuchend tauchte einer nach dem anderen wieder an der Oberfläche auf. Hektisch kämpften sie sich schwimmend ans Ufer und ließen sich erschöpft auf die Böschung
fallen. Zum Glück war keiner von ihnen verletzt worden! Sie konnten es noch gar nicht richtig fassen, dass sie den Sturz über den Wasserfall in den See überlebt hatten und zitterten
vor Kälte und Angst. Einige Zeit lagen sie noch atemlos am Schlammufer da, ohne etwas
sagen zu können. Dann rafften sie sich auf und wanderten abwärts entlang des Flusses. Es
war anstrengend, durch den Schlamm zu waten und sehr bald waren sie ganz außer Atem.
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Erst das Schwimmen und nun der Lauf am Ufer entlang forderten die letzten Kraftreserven
von ihnen. Plötzlich hörte Thomas ein seltsames Geräusch. Obwohl sie nicht herausfanden,
was die Ursache dafür sein könnte, beschlossen sie, dem geheimnisvollen Lärm zu folgen.
Vielleicht war es ja eine Spur zu Jakob!
Bald schon war klar, dass es sich um Stimmen handeln musste. Schon konnten sie einzelne
Worte: verstehen. Da rief jemand um Hilfe! Und die Stimme klang, obwohl sie schon ein
wenig heiser zu sein schien, vertraut. Entgeistert stoppten sie und starrten einander an. Das
war eindeutig Jakob!
Kapitel 7
Die drei liefen mit ganzer Kraft auf ihn zu, denn sie wollten Jakob um jeden Preis retten.
Der Faustschlag traf Luca völlig überraschend aus dem Hinterhalt. In ihrer Freude, Jakob
lebend gefunden zu haben, hatten sie nicht wahrgenommen, dass der Entführer sie längst
kommen gehört hatte. Dem ersten Schlag konnte Luca dank seiner schnellen Reflexe noch
ausweichen. Doch beim nächsten war er chancenlos. Es stand drei gegen drei – denn auch
die Entführer waren zu dritt. Doch die Jungs waren entkräftet und von ihrer abenteuerlichen Verfolgungsjagd erschöpft. Die Männer hatten ein leichtes Spiel mit ihnen. Einer der
Entführer schlug Thomas ein blaues Auge, wodurch dieser zu Boden ging. Manuel bückte
sich gerade, um ihn mit beiden Händen hochzuziehen, da bekam er einen so heftigen Tritt
gegen sein Schienbein, dass er laut aufschrie. Auch Luca wehrte sich mit seiner ganzen
Kraft. Doch sein Angreifer kam mit einem Seil und schließlich waren alle Vier gefangen genommen. Sobald einer flüchten wollte und einen großen Schritt machte, riss er die anderen
dabei zu Boden. Am Ende ihrer Kräfte waren sie mit roten und blauen Flecken übersät und
lagen bewegungsunfähig am Boden.
Der Mann, der gerade die letzte Fessel festmachte, begann auch gleich mit seinem Verhör.
„Ich kann euch nur raten, euch kooperativer zu zeigen, als euer Freund hier.“ Er trat Jakob
gegen die Seite, der sich mit einem heiseren Schrei krümmte.
Thomas, Luca und Manuel rissen erschrocken die Augen auf. „Aber wir wissen doch überhaupt nichts!“, stammelte Luca und versuchte dem Schlag auszuweichen, der augenblicklich auf seinen Ausruf folgte.
„Dieser kleine Idiot … wie hieß er noch einmal? Fabian? Der hat euch doch eine SMS geschickt!“ Der Mann baute sich drohend vor den Freunden auf. „Er hat euch doch alles von
unseren Plänen verraten!“
Weil die Freunde kein Wort sagten, schrie sie der Mann an: „ Los, jetzt redet schon! Oder soll
ich euch abknallen wie die kleine verräterische Ratte!“
Die vier duckten sich und sahen einander ratlos an.
Auf einmal entdeckte Luca ein kleines Taschenmesser auf dem Boden. Er versuchte es zu
erwischen. Aber so sehr er sich streckte, er kam trotzdem nicht ran. Doch während der
Mann herumschrie und mit seiner Waffe vor ihnen herumfuchtelte, hatte Jakob die Gelegenheit, um nach dem Messer zu greifen. Jakob schnitt vorsichtig seine Fesseln durch, ließ
aber die Hände trotzdem noch hinter dem Rücken, um nicht aufzufallen. Als der Mann
kurz wegging, nutzte er die Chance. Er sprang den Entführer von hinten an und rammte
ihm das Messer in den Rücken. Der Mann fiel wie ein Baum auf den Boden und Jakob
rannte zu seinen Freunden, um ihnen die Fesseln durchzuschneiden. Dabei schaute er sich
hektisch nach den anderen Entführern um, die aber nirgendwo zusehen waren.
Der Mann lag immer noch am Boden und Jakob nutzte die Chance und rannte mit seinen
Freunden auf das Geländefahrzeug zu, das am Straßenrand geparkt war. Schon sahen sie
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die anderen Entführer auf sich zu rennen. Luca sprang in das Fahrzeug und deutete den
anderen, auch einzusteigen. Der Schlüssel steckte! Hektisch löste er die Handbremse und
drehte den Zündschlüssel um. Ein paar Mal hatte er schon mit Großvaters altem Lastwagen eine Runde drehen dürfen. Ob er allerdings dieses Hightech-Gerät lenken konnte, war
eine andere Frage! Aber er musste es wenigstens versuchen! Sie wollten nicht schon wieder
gefangen genommen werden! Diesmal würden sie nicht mit dem Leben davon kommen!
Davon waren alle vier Freunde überzeugt.
Der Wagen machte einen Sprung nach vorne. Dann starb der Motor ab. Thomas schrie auf
und auch Manuel stöhnte auf. Jakob war von den Schlägen noch viel zu benommen, um
etwas mitzubekommen. Er lag nur zusammengekrümmt und stöhnend auf dem Rücksitz.
Luca fluchte. Die Kupplung war einfach ganz anders als bei Opas Klapperkiste! Im Rückspiegel sah er, dass seine Verfolger das Auto beinahe erreicht hatten. In der Sonne blitzten
ihre Waffen, die sie bereits auf sie gerichtet hatten.
Endlich sprang der Motor stotternd wieder an. Luca legte den ersten Gang ein und trat
gleichzeitig das Gaspedal durch. Der Motor heulte auf. Gleichzeitig drehten die Räder durch
und wirbelten eine Sandfontäne auf. Die Männer waren in eine Staubwolke gehüllt. Luca
hörte sie laut fluchen. Er hatte ein paar wertvolle Sekunden gewonnen! Noch einmal trat
er aufs Gas und ließ das Kupplungspedal los. Der Wagen schoss los und Luca schrie auf.
Mit einem Jubelruf lenkte er das Fahrzeug auf die Straße und raste in irgendeine Richtung
davon.
Kapitel 8
Wie durch ein Wunder stießen die vier Freunde auf die Radrenntruppe, die sie vor einer
gefühlten Ewigkeit aus den Augen verloren hatten. Luca trat auf die Bremse und die vier
Freunde rannten, wild mit den Armen fuchtelnd, in Richtung Ziellinie.
Im Zielraum warteten schon jede Menge Zuschauer auf die Ankunft der Teilnehmer des
Radrennens. So wurden auch die Streckenposten auf die ungewöhnliche Truppe aufmerksam. Besorgt liefen sie ihnen entgegen und nahmen die erschöpften Jungs in ihre Obhut.
Als ihre Verfolger ebenfalls dort ankamen, wurden sie schon von Polizisten erwartet. Nach
einem hart geführten Verhör gestanden die Männer ihre Taten und verrieten auch ihre Auftraggeber. Daraufhin nahm die Polizei den Veranstalter des Rennens auch gleich in Haft.
Luca, Thomas, Manuel und Jakob hatten das Rennen zwar verloren, waren aber glücklich,
mit dem Leben davon gekommen zu sein. Ihre teuren Rennräder blieben allerdings im
Dschungel verschwunden …
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Prolog
Es ist kalt. Langsam wache ich auf und starre an die Decke eines kahlen Raumes. Ich bin
verwirrt. Geschockt sehe ich meine Hände und Beine, die mit einem Stück Stoff gefesselt
sind. Ein Traum? Nein, die pure Realität. Verzweifelt rufe ich um Hilfe. Ich höre Schritte,
die immer näher kommen. Es muss eine Frau mit High Heels sein, die wütend die schwere
Tür hinter sich zuschlägt.
„Hallo?“ rufe ich ängstlich. Ein dunkler Schatten erhebt sich vor mir. Angestrengt versuche
ich, die Person zu erkennen, aber es ist zu dunkel.
„Na, wie gefällt es dir denn hier, Zara?“ spricht sie.
In dem Moment läuft mir ein kalter Schauer über den Rücken, denn die Stimme ist mir
sehr bekannt.
„Du!? Wie kannst du mir das nur antun …?“
Aber statt einer Antwort bekomme ich nur ein Tuch auf den Mund gepresst …
Kapitel 1
Es war Winter. Zara Montepellier saß mit einer Schüssel Obstsalat zugedeckt auf der neuen
Designercouch vor dem Fernseher.
„… Und wir freuen uns auch schon darauf, Ihnen morgen die Modenshow der neuen Winterkollektion von H&M präsentieren zu können. Als Höhepunkt wird das berühmte Model
Zara Montepellier auftreten“, hörte man den Moderator von Punkt12 sprechen. Zara lächelte
in den Fernseher, während sie einen Bissen von der Banane nahm. Ihr Chihuahua Gina
wedelte mit dem Schwanz. Plötzlich hüpfte sie mit Schwung auf Zara, der vor Schreck die
Schüssel ins Gesicht klatschte.
*RING RING*.
Auf dem Desktop ihres Laptops, den sie auf ihrem Schoß stehen hatte, tauchte eine Videobotschaft von ihrem Freund Marco auf. Sie bewegte ihren Finger auf dem Touchpad zum
Botton „annehmen“ und klickte ihn an.
„Hallo Maus. Ich wollte dich nur schnell daran erinnern, dass heute noch die Generalprobe
für deinen morgigen Auftritt ist.“
Zara lächelte. „Ich weiß. Der Bericht bei Punkt12, den ich gerade gesehen habe, hat mich
daran erinnert.“ Wie süß, dass er daran gedacht hatte. Zara liebte Marco für seine Aufmerksamkeit. „Tschüss bis morgen!“, flötete sie und suchte dabei seinen Blick.
„Tschüss, und Zara!? Du hast da noch etwas an der Wange!“ Jetzt lächelte er.
„Nein, wirklich?“ Hektisch wischte sie mit dem Handrücken übers Gesicht. Dieses Biest!
„Frage doch Gina diesen Bengel ... äähm, ich meine Engel, warum.“ Zara konnte es nicht
leiden, nicht perfekt zu sein. Zorn stieg in ihr hoch und sie drückte den Knopf, um das
Gespräch zu beenden. Als nächstes schupfte sie Gina von ihrem Schoß, die es sich gerade
gemütlich gemacht hatte. Wütend verließ sie den Raum und begab sich ins Bad, um sich
den Obstsalat vom Gesicht zu waschen.
Mit offenen Haaren ging Zara auf ihren Lieblings-High-Heels aus dem Hotel. Ihr Chauffeur hielt ihr bereits die Tür der Limousine offen.
„Hi Jenny!“ Zara und Jenny gaben sich rechts und links ein Küsschen. „Wie gefallen dir
meine Haare?“
„Hallo Zara. Wie immer: TRAUMHAFT! Da kann ich nicht mithalten!“, antwortete Jenny
leicht genervt.
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„Danke. Aber deine sind auch nicht schlecht.“
Jenny griff nach dem bereits vorgekühlten Champagner und schenkte sich und Zara ein Glas
ein. Nach 10 Minuten Fahrt hielt die Limousine vor der großen Modelfirma MarLena&Co
stehen und der Chauffeur öffnete ihnen die Tür. Bein vor Bein gingen die beiden Richtung Eingang. Hinter den Topmodels hörte man nur den Lärm der vorbeifahrenden Autos.
Marco wartete schon vor der Eingangstür und empfang Zara mit einem zärtlichen Kuss.
Jenny warf den beiden neidische Blicke zu. Mit verkniffenen Lippen folgte sie dem Paar in
die Garderobe, wo schon die Klamotten für den morgigen Auftritt bereit lagen.
„So, ich geh und schau, ob ich Marlene und Lena, die Organisatoren, treffe, um ihnen Bescheid zu geben, dass wir schon hier sind“, sagte Marco zu Zara.
„Okay, tu das. Bis dann!“ antwortete sie.
Jenny und Zara gingen in die Garderobe und zogen sich um. Alles lief super, doch plötzlich
nahm Jenny das Kleid, das eigentlich für Zara bestimmt war.
„Ähm, kannst du mir bitte das Kleid geben?“ fragte Zara verwundert.
„Nein! Das passt viel besser zu meinen Typ. Übrigens genauso wie Marco. Ein Wunder, dass
er dich genommen hat!“ Jenny fauchte wie eine Wildkatze auf der Jagd.
„Was bitte?“ Mit Tränen in den Augen sprang Zara auf und klatschte ihr zornig eine Ohrfeige ins Gesicht. „Spinnst du komplett? Du hast Glück, dass ich jetzt auf die Bühne muss.
Aber da ist das letzte Wort noch nicht gesprochen!“, schrie sie ihre beste Freundin an und
verließ die Garderobe.
Kaum war sie vor der Tür, packte sie schon das schlechte Gewissen.
„Oh Gott, was hab ich getan? Sie hat das wahrscheinlich nicht so gemeint. Und ich? Ich
verpasse ihr eine Ohrfeige! Sobald sie wieder hier ist, entschuldige ich mich bei ihr“, dachte
Zara. Erschüttert ging sie in ihre Garderobe, wo sie sich umziehen wollte. Erschrocken stieß
sie einen lauten Schrei aus. „Fritz, was machst du hier? Hab ich dir nicht klar und deutlich
gesagt, dass ich nichts mehr von dir will. Das war ein einmaliger Ausrutscher! Und jetzt
RAUS!“ Zaras Stimme überschlug sich förmlich.
„Du wirst schon noch sehen, was du an mir verloren hast. Das wird dir eines Tages leid tun
und du wirst zu mir zurück gekrochen kommen, aber nicht mit mir. Ich werde dir nicht
noch einmal helfen!“ sagte Fritz aufbrausend.
Zara jedoch blieb hart und zeigte mit ihrer Hand Richtung Tür. Mit seinen großen Goldketten und einer schwarzen Lederjacke ging der Mann aus der Garderobe. „Verrückt muss
man sein.“ redete Zara vor sich hin, als sie gerade das letzte Kleid anzog. Mit den Gedanken,
wie sie sich bei Jenny entschuldigen solle, versuchte sie, den Reißverschluss zu schließen.
Doch irgendetwas störte ihre Gedanken. Es waren Schritte, die nur jemand verursachen
konnte, der flache Schuhe trug. „Hallo, ist da jemand?“, rief Zara mit ängstlicher Stimme.
Doch sie bekam keine Antwort. Ein Quietschen, das in ihren Ohren Schmerzen verursachte, war zu hören. Voller Angst drehte sie sich hin und her. Zara konnte niemanden sehen.
Nochmals rief sie Hallo, aber sie bekam keine Antwort. Sie sah zur Seite. „Da! Hier hat sich
etwas bewegt. Kommen Sie raus, wer auch immer Sie sind!“ Sie nahm einen Schuhlöffel
und näherte sich der Bewegung.
Plötzlich spürte sie einen harten Griff auf ihren Lippen. „Mmmmmmmh!“ wimmerte Zara,
als sie zu schreien versuchte. Mit den Füßen trat sie nach hinten, verzweifelt versuchte sie
sich zu wehren. Der Angreifer drehte ihr die Hände nach hinten. Sie spürte ein feuchtes
Tuch, das auf ihren Mund gepresst wurde. Als Zara nach Luft rang, stieg ihr ein bitterer,
nach Schnaps riechender Duft in Nase und Lungen. Sie wurde auf einmal müde. Trotzdem
strampelte sie weiter. Doch ihre Kräfte ließen nach. Müder und müder und müder und ...
ihre Augen schlossen sich. Ihr Körper wurde schwer und sie stürzte in eine unendliche
Tiefe. Bevor sie auf dem Boden aufschlug, fühlte sie sich von kühlen Händen auffangen.
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Kapitel 2
Jenny lugte hinter den Vorhang. Draußen im Publikum wurde unruhig getuschelt. Die Gäste sahen sich fragend um, denn dem Zeitplan nach sollte Zara schon längst aufgetreten
sein. Doch Zara war verschwunden. Nun musste jemand anderes für sie auftreten. Doch
das war nicht so einfach, Zara war nämlich das Topmodel schlecht hin. An ihren Auftritt
heranzukommen, schaffte so schnell nicht jemand. Jenny zog den Vorhang wieder zu, der
sie von den neugierigen Blicken der Zuschauer schützte und ging hinter der Bühne auf und
ab. Obwohl sie vor Anspannung ganz kribblig war, holte sie sich erst einmal ein Glas Wasser. Sie hatte gerade angesetzt um zu trinken, als Barbara, die Sekretärin, auf ihren hohen
Stöckelschuhen angaloppierte und mit gehetztem Blick vor ihr stehen blieb.
„Jenny, du bist die Einzige, die die Show noch retten kann! Sonst hat keiner dieselbe Größe
wie Zara! Ich flehe dich an! Ich weiß, dass du schon einen Auftritt hattest und deswegen
sicher schon erschöpft bist, aber du bekommst dann natürlich auch das doppelte Geld für
deinen Auftritt. Nun schau mich doch nicht so an und sag etwas, du redest doch sonst auch
immer so viel!“
Jenny konnte es kaum fassen, dass Babsi sie fragte. Sie fühlte so ein gewaltiges Glücksgefühl, dass ihr das Glas fast aus der Hand gerutscht wäre. Wie angewurzelt stand sie da und
überlegte, was sie wohl tun sollte.
Aber Barbara ließ ihr nicht lange Zeit und schrie hysterisch: „ Menschenskind, du hast vielleicht Nerven, rede doch mit mir, sonst frage ich eben Lydia, wenn du nicht willst. Unsere
Schneiderin wird zwar in der kurzen Zeit nicht alles so ändern können, dass Lydia in Zaras
Kleidungsstücke passt, aber zur Not müsste es dann eben so gehen …!“
Das wirkte. Jenny riss sich von ihren Gedanken los. „Ach Babsi, krieg doch nicht gleich die
Krise. Natürlich werde ich mir die Zeit für einen zweiten Auftritt nehmen. Es ist doch mein
Beruf …“ Weiter kam sie nicht, denn Barbara hatte sie schon in die Garderobe gezerrt und
redete unentwegt von der Chefin und wie stolz sie auf ihre Mädels sein würde.
Die Chefin war beunruhigt, seit sie auf das Verschwinden von Zara hingewiesen worden
war, und hatte die Polizei verständigt. Nun stand sie gerade auf der Bühne und sprach mit
ihrer Kollegin über den Vorfall.
Jenny wartete in der Garderobe und betrachtete Zaras Kleider. Ohne Zweifel, Zara hatte viel
mehr Kleider als sie - und teurer schauten sie auch noch aus. Sie konnte ihr Glück kaum fassen. Sie würde heute das Schönste selber tragen und Zara konnte sich inzwischen auf ihren
Untergang in der Modewelt gefasst machen! Ja, sie, Jenny, würde ihren Platz einnehmen!
Ein schwaches blaues Licht blinzelte hinter dem dunklen Tannenwald hervor. Gleich darauf
ertönte das ohrenbetäubende Heulen eines Signalhorns. Für ein paar Sekunden glotzten
die Gäste perplex auf das Polizeiauto, aus dem vier uniformierte Männer sprangen. Diesem
Auto folgten weitere zehn.
„Das Gelände ist abgesichert! Bewahren Sie Ruhe und verlassen Sie geordnet das Gebäude!“
Blechern schallten die Befehle aus Lautsprechern durch den Saal.
Nur zwei blieben noch hinter der Bühne. Jenny und Marco. Marco durchwühlte Zaras
Umkleideschrank nach Hinweisen auf ihr Verschwinden. Doch er fand nur ein rotes mit
Diamanten besetztes Kleid, ein dutzend Paar Schuhe und viele andere teure Sachen, die
Zara gehörten. Eines nach dem anderen flog aus dem Schrank, doch Marco konnte nichts
finden, das ihm weiterhelfen könnte. Gerade als er unter dem Schreibtisch ein weißes Tuch
hervorholte, kam Jenny lässig die Tür hereinspaziert und lehnte sich gegen die Tischkante.
Blitzschnell steckte er das Tuch in seine Hosentasche.
Marco fixierte sie mit zusammengekniffenen Augen. „Was willst du hier? Ich kann deine
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Hilfe nicht gebrauchen!“
Jenny zog einen Schmollmund. „Ach, ich bin doch genauso traurig wie du, dass Zara verschwunden ist“, säuselte sie.
„Ach ja, natürlich, und das soll ich dir jetzt glauben? Du hast sie noch nie gemocht. Das
Theater kannst du dir sparen!“, fuhr er sie zornig an.
Jenny drückte auf die Tränendrüse und schon liefen erste Tropfen die Wange hinunter. Es
wirkte. Marco tat seine schroffe Reaktion sofort leid. Er nahm sie in den Arm und flüsterte
ihr ein paar tröstende Worte ins Ohr.
Jenny hielt ihn bei der Schulter fest: „Bitte, lass mich mitkommen.“
Als Marco nickte, hauchte Jenny ihm einen Kuss auf die Wange, rauschte aus dem Zimmer
und rief ihm noch zu: „ Wir treffen uns in zehn Minuten.“
Marco schaute ihr verdattert hinterher. Hatte er ihr gerade erlaubt mitzukommen? Er drehte
sich um und sah eine Flasche, die in einem Handtuch eingewickelt war. Er erkannte das
Fläschchen und wusste sofort, was es war: Ein Betäubungsmittel! Wie bei einem Puzzle
fügten sich die Teile zu einem Bild zusammen. Er konnte sich die Entführung bildlich
vorstellen. Marco nahm das Tuch, das er vorhin in seine Hosentasche gegeben hatte und
betrachtete es genauer. Als er das Stückchen umdrehte sah er, dass auf der anderen Seite
ein kleiner Teil eines Seidenschals klebte. Dieser Fund passte nicht ganz zu seiner Vision.
Marco wollte zuerst gar nicht, dass Jenny ihn begleitete, aber sie konnte manchmal so richtig nerven. Wenn sie etwas wollte, bekam sie das auch. Früher, als sie noch klein war, wollte
sie unbedingt Model werden, doch ihr Vater ließ das anfangs nicht zu. Denn er bestand
darauf, dass seine einzige Tochter, die alles für ihn bedeutete, einen richtigen Beruf erlernt.
Aber sie bearbeitete ihn solange, bis er einwilligte – auch wenn es einige Jahre brauchte.
Und jetzt war sie eines der berühmtesten Models.
Das gleiche wie bei ihrem Vater versuchte sie nun also auch bei Marco. Doch der erwies sich
als widerstandsfähiger, als Jenny erwartet hatte. Egal was sie tat, ob sie ihn mit ihren süßen
Hundeaugen ansah, oder solange redete bis sie keine Luft mehr bekam, er ließ sich nicht
überreden. Doch schließlich musste er einsehen, dass er so oft nein sagen konnte wie er
wollte, sie würde nicht aufhören, bis sie ihren Willen hatte.
„Na endlich! Ich dachte schon du würdest nie nachgeben.“ Erleichtert fiel sie ihm um den
Hals. Marco schüttelte sie grob ab. So eine Behandlung war Jenny nicht gewöhnt. Sie holte
tief Luft und zickte los, bis Marco ihr mit einer ungeduldigen Handbewegung das Wort
abschnitt.
„Jenny, jetzt halte endlich mal die Luft an! Schon vergessen? Wir müssen so schnell wie
möglich Zara finden! Was ist, wenn ihr in diesem Augenblick etwas angetan wird?“
Er packte sie an den Schultern und schüttelte sie, weil sie immer noch nicht zuzuhören
schien. Erst als er ihr den Rücken zukehrte und ohne ein weiteres Wort die Zimmertür
ansteuerte, wurde ihr bewusst, dass ihr Gezeter bei Marco nicht die erwünschte Wirkung
hatte. Sie lief ihm nach und hängte sich bei ihm ein. „Wo gehst du hin? Sei nicht böse auf
mich! Ich komme ja schon!“ Mit ihrem berühmten Augenaufschlag lächelte sie ihn an und
boxte ihn mit gespielter Entrüstung gegen den Oberarm, als er hörbar aufseufzte, ihr dann
aber doch die Tür aufhielt, um sie vor ihm hinaus zu lassen.
Marco saß am Steuer und starrte gerade aus. Der Gegenverkehr rauschte an ihnen vorbei
und blendete ihn in den Augen. Er blinzelte und warf einen Seitenblick auf Jenny. Wie
gut, dass er nun doch nicht alleine nach Zara suchen musste und sie ihn begleiten wollte.
Schnell lenkte er seinen Blick auf die Straße zurück, als sie merkte, dass er sie anstarrte. Ihre
Augen blitzten auf, als ein Auto nur wenige Zentimeter entfernt an ihnen vorbeirauschte.
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Jenny stöhnte: „Ach Marco, ich weiß, dass du dich schlecht fühlst, aber bitte schau auf die
Straße, wenn du keinen Unfall bauen möchtest!“
Marcos Blick pendelte weiter zwischen ihr und der Straße hin und her. Eine Weile fuhren
sie schweigend durch einen dunklen Wald. Auf einmal fing Jenny an zu jammern: „Marco,
ich habe Angst. Es hätte genauso gut auch mich treffen können. Was ist, wenn es dieser
Attentäter vielleicht auch auf mich abgesehen hat?“
Marco reagierte nicht sofort, aber schließlich antwortete er in einem angespannten Ton:
„Komm schon, ich werde schon aufpassen.“ Als er bemerkte, dass er nicht sehr überzeugend geklungen haben musste, fügte er sanfter hinzu: „Natürlich brauchst du keine Angst
zu haben. Ich beschütze dich.“
Jennys erleichtertes Lächeln bestätigte ihm, dass er das Richtige gesagt haben musste. Nach
einer Weile fing sie wieder zu reden an: „Wenn ich dir helfe, Zara zu finden, bin ich immer
bei dir, damit du mich beschützen kannst!“
Marco zog die Augenbrauen hoch und trat augenblicklich fester aufs Gas. Dennoch antwortete er: „Okay. Wenn es dir dann besser geht … aber steh nicht blöd im Weg herum.“
Jenny klappte den Mund auf, klappte ihn aber gleich darauf wieder zu. Wenn sie ihn begleiten wollte, musste sie auf ihn hören, so viel war klar. Sie bogen auf eine holprige Landstraße
ein und nun funkelten ihnen nur noch die Sterne entgegen. Jenny nahm ihre Handtasche
und kramte darin herum. Als sie endlich gefunden hatte was sie suchte, schloss sie die Tasche und stellte sie wieder auf den Boden des Autos. Marco blickte wieder zu ihr rüber, und
sah einen Lippenstift in ihrer Hand. Als sie gerade ihre Lippen nachzog, machte er einen
Schlenker mit dem Auto und sie malte weit über ihre Lippen hinaus. Er grinste und warf ihr
noch einen Blick zu. Als sie beleidigt drein schaute, erwiderte er schnell: „Du siehst müde
aus, da hilft schminken auch nichts.“
„Ähm, danke?“ sagte Jenny sarkastisch.
„Entschuldige Jenny, das habe ich so nicht gemeint. Aber du musst mich verstehen, ich bin
schon den ganzen Tag auf den Beinen und bin extrem müde. Ich mach mir einfach Sorgen
um Zara. Was ist, wenn ihr etwas passiert ist?“ Marco sah ehrlich besorgt aus.
„Lass uns doch zu mir nach Hause gehen. Ich wohne gleich um die Ecke“, schlug Jenny vor.
Fünf Minuten später parkten sie in der Tiefgarage. Ohne ein Wort miteinander zu reden,
gingen sie in Jennys Wohnung. Sie war sehr modern eingerichtet. Im Wohnzimmer hatte
man einen tollen Ausblick auf den Eifelturm und es roch nach dem Parfum, das Jenny
immer trug.
„Okay, dann mach ich mich mal auf den Weg nach Hause. Tschüss und Danke für alles!“,
sagte Marco und wollte die Tür hinter sich schließen.
Doch Jenny stemmte ihren Fuß gegen die Tür. „Willst du denn nicht hier bleiben? Du siehst
fertig aus und könntest einen Espresso vertragen!“ Jenny lächelte ihn verführerisch an.
Nach kurzem Zögern stimmte Marco zu.
„Mach es dir gemütlich und fühl dich wie zu Hause!“ Jenny machte sich auf den Weg in
die Küche. Während sie Kaffeewasser zum Kochen brachte, schraubte sie eine kleine Flasche auf, die sie aus dem Schränkchen über dem Herd genommen hatte, und tropfte drei
Tropfen in den Kaffee. Ein Gefühl sagte ihr, dass es nicht richtig sei, ihm die k.o.-Tropfen zu
geben. Musste sie ihn denn wirklich betäuben, um ihn ins Bett zu bekommen? Sie musste
doch nur ihre Reize einsetzen … Trotzdem rührte sie weiter sorgfältig mit einem polierten
Teelöffel aus Silber um, damit alles gut verteilt war. Mit einem Lächeln stellte sie ihm den
Kaffee auf den Tisch. Nervös zog sie an ihrer Baumwollweste und setzte sich schließlich
neben Marco. „Möchtest du nicht einen Schluck trinken?“ Sie beobachtete Marco genau, ob
er wirklich alles hinunterschluckte.
Plötzlich wurde ihr schlecht. „Entschuldige mich!“ sagte sie und lief ins Badezimmer, wo
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sie die Tür hinter sich zuschloss. Sie setzte sich hin und lehnte ihren Körper gegen die Tür.
Irgendwie bereute sie es, was sie getan hat. „Warum? Warum bin ich nur so blöd!“, dachte
sie. Eine innere Stimme sagte ihr, dass sie es Marco erzählen sollte.
„Alles in Ordnung?“, fragte Marco von außen.
„Ja, ich dachte nur, dass ich mich übergeben muss!“ Sie stand auf und öffnete die Tür. „Aber
ich habe mich wohl getäuscht!“ Sie sah, wie Marco sie erleichtert ansah. Da schnürte ihr das
schlechte Gewissen die Kehle zusammen. Sie musste es ihm einfach sagen!
„Was ist denn jetzt los? Hast du etwas zu beichten?“ Marco lächelte sie an.
„Ja, habe ich“, antwortete sie. Marco sah sie verwundert an.
„Marco, im Kaffee, den du getrunken hast, waren …“
Doch noch bevor sie ihren Satz beendet hatte, kippte Marco vom Sofa.
„Mir ist so … schwindelig ich, ich ...“ Marco griff sich mit der Hand an die Stirn. Er wollte
noch etwas sagen, aber in diesem Moment brach er bewusstlos zusammen.
Jenny packte ihn unter den Armen und schleppte ihn ins Gästezimmer. Behutsam breitete
sie eine Decke über ihn, schaltete das Licht aus und schloss die Tür hinter sich.
Kapitel 3
Es war früher Morgen. Als Marco von merkwürdigen Geräuschen aus einem bleiernen
Schlaf gerissen wurde, hatte er keine Ahnung, wo er war. Was war geschehen? Hatte er
gestern zu viel getrunken? Er konnte sich nicht erinnern, wie er ins Bett gekommen war.
Geschweige denn, was er dort sonst noch alles gemacht haben könnte … Verwundert rieb er
sich die Augen. Wer hatte das Geräusch von sich gegeben? Er schaute neben sich, konnte
aber niemanden sehen. War er etwa immer noch in Jennys Wohnung? Er hat doch wohl
nicht … Leichte Panik stieg in ihm auf. Das Letzte, was er tun wollte, war, Zara zu betrügen.
Noch dazu mit ihrer besten Freundin!
War sie etwa schon aufgestanden? Er lauschte nach Geräuschen aus dem angrenzenden
Badezimmer, hörte aber nur einen tropfenden Wasserhahn. Als er dann auch noch eine
Berührung an seinem Unterschenkel spürte, bekam er es mit der Angst zu tun. Entsetzt
sprang er aus dem Bett. Er sah, dass sich etwas unter seiner Bettdecke bewegte. Zitternd
wich er ein paar Schritte zurück. Was zum Teufel war das bloß? Als er noch ein paar Schritte
weiter zurück ging, stieß er gegen einen Schuhkasten. Seine Hand schloss sich um einen
alten Kerzenständer. Immer noch zappelte etwas unter der Decke. Auf Zehenspitzen näherte sich Marco wieder dem Bett. Auf einmal hob „die Kreatur“ die Bettdecke an. Mit ganzer
Kraft schlug Marco mit seinem Kerzenständer auf die gewölbte Stelle ein. Ein dumpfer
Schmerzensschrei drang gedämpft zu ihm. Dann war es totenstill. Mit klopfendem Herzen
hob Marco die Bettdecke an. Entsetzt sah er Jenny ausgestreckt auf dem Leintuch liegen.
Eine kleine Blutlache breitete sich neben ihrem Kopf aus.
Scheiße! Habe ich Jenny etwa umgebracht? Hektisch tastete er nach ihrem Puls. Gott sei
Dank! Seine Finger spürten das zarte Klopfen ihrer Halsschlagader. Immerhin war sie noch
am Leben! Auch wenn er sich große Sorgen machte, weil sie so bewusstlos vor ihm lag.
Vorsichtig tastete er die Stelle an ihrem Kopf ab, aus der immer noch Blut sickerte. Das
würde eine hässliche Narbe geben. Jenny bringt mich um, wenn sie das sieht! , dachte er bei
sich. Die Vorstellung, wie Jenny eine ihre berühmten Heulszenen vor ihm abziehen würde,
jagte ihm eine Gänsehaut über den Rücken. Er musste schnellstens dazu sehen, dass die
Blutung endlich gestoppt würde.
Eilig holte Marco Verbandszeug und einen Rasierer. Er schnitt Jenny ein paar Haare am
Kopf weg und legte einen Druckverband an. Dann setzte er sich an die Bettkante und hoffte,
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dass sie bald wieder zu sich kommen würde.
Zwei Stunden später schlug Jenny endlich die Augen auf. An ihrem verwirrten Gesichtsausdruck konnte Marco leicht ablesen, dass sie keine Ahnung hatte, was passiert war. Als er ihr
gestand, dass er ihr zappelndes Bein für ein böses Monster gehalten hatte, schnappte sie
erst nach Luft und legte dann wie befürchtet so richtig los.
„Hast du sie nicht mehr alle? Hättest du nicht wenigstens vorher nachschauen können, bevor du mir mit dem Kerzenhalter eine überziehst? Und dann hast du mir auch noch meine
seidenweichen Haare abgeschnitten? Wie sehe ich denn jetzt aus? So kann ich doch nicht
auftreten! Was denkst du dir eigentlich dabei? Weißt du überhaupt, was du tust? Wenn du
jetzt meine Karriere ruiniert hast, dann …“
Jenny hätte bestimmt noch stundenlang weitergeschimpft, doch Marco beugte sich vor und
verschloss ihre Lippen mit seinem Mund. Zu seiner Überraschung erwiderte Jenny den
Kuss. Immer intensiver küssten sie sich, bis Marco plötzlich zu weinen anfing.
„Hey, was ist denn los?“ Jenny drückte sich ein Stück von ihm weg und runzelte irritiert
die Stirn. Marco gab keine Antwort. Immer noch rannen Tränen über seine Wangen und er
machte sich keine Mühe, sie abzuwischen.
Als Jenny schließlich ins Bad ging, um sich frisch zu machen, griff er schnell nach seiner
Hose und war bereits angezogen, bevor sie wieder kam. Hastig suchte er seine Sachen
zusammen, als er bei Jennys Tasche einen Schal liegen sah. Irgendwo hatte er dieses Stoffmuster schon einmal gesehen. Aber er konnte sich nicht erinnern, wo das war. Während
er noch überlegte, zeigte sein Handy den Eingang einer neuen SMS an. Als er das Handy
aus der Tasche holte, fiel gleichzeitig der Stofffetzen heraus, den er in Zaras Garderobe
gefunden hatte. Während er die Nachricht las, dass er am Nachmittag ein Interview geben
sollte, hob er gedankenverloren das Tuch vom Boden auf. Da wusste er plötzlich, wo dieses
Stoffstück her war: es war ein Teil von Zaras Schal …
Marco stolperte die Stiege hinunter. Die Sonne blendete ihn im Gesicht und er hielt sich
die Hand vor die Augen. Hinter ihm stand Jenny und grinste breit. Sie schien ihm vergeben
zu haben und stieß einen langgezogenen Seufzer aus. In den Händen hielt sie zwei Tassen
mit Kaffee und strahlte ihn an: „Sorry, mein Liebling, ich hatte keinen Honig mehr, aber der
Kaffee ist währenddessen fertig geworden. Ich hab mir gedacht, Marmelade tut’s auch!“ Sie
setzte sich auf den Sessel beim Küchentisch und nahm einen kräftigen Schluck von ihrem
Kaffee.
Marco war mit einem Satz neben ihr und riss sie zum Stehen hoch. „Wo ist sie?“, fuhr er
Jenny wütend an.
Jenny quietschte erschrocken auf. „Wer?“, fragte sie mit schriller Stimme. Es war ihr anzusehen, wie nervös sie plötzlich war.
„Tu nicht so scheinheilig!“ Marco hatte keine Geduld mehr. Er würde jetzt von Jenny die
Wahrheit erfahren. Und wenn er sie aus ihr heraus prügeln musste! „Du hast dafür gesorgt,
dass Zara ihren Auftritt verpasste! Und du warst es auch, die sie entführt hat!“ Jetzt schrie
er sie ungehemmt an.
„Was bildest du dir ein? Ich bin doch ihre beste Freundin. So etwas würde ich nie tun!“
Aber Jennys gespielte Entrüstung war nicht sehr überzeugend. Sogar ein Blinder hätte gemerkt, dass Jenny etwas mit der Sache zu tun hatte. Marco machte einen weiteren Schritt
auf Jenny zu und wirkte, als ob er sie im nächsten Moment erwürgen wollte.
Jenny wich immer weiter zurück, bis sie gegen die Wand stieß. Blitzschnell packte Marco
sie an den Schultern und drückte Jenny gegen die raue Mauer. Seine Hand war groß und
reichte leicht um den zarten Hals von Jenny. Fest quetsche er ihren Hals, sodass sie bald
keine Luft mehr bekam. „Wo ist sie!“, brüllte Marco, „sag mir sofort wo sie ist!“
Jenny spürte einen schrecklichen Druck in ihrer Lunge. Hektisch versucht sie nach Luft zu
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schnappen.
Obwohl das Stück Schal Jenny eindeutig verraten hatte, konnte Marco einfach nicht glauben, dass Jenny so etwas gemacht haben konnte. Sie war die ganzen Jahre doch so nett
gewesen. Aber die Beweise waren eindeutig.
Diese Betrügerin! Es war schwer, Jenny hochzuheben und sie gleichzeitig nicht aus dem
Griff zu verlieren. Jenny war nicht gerade ein Fliegengewicht. Marco fragte sie mit zorniger
Stimme: „ Wo hast du Zara versteckt? Ich weiß das du sie entführt hast!“ Sein Zorn verlieh
ihm ungeahnte Kräfte. Erst als er einsah, dass Jenny lieber sterben würde, als ihm irgendetwas zu verraten, ließ er sie hinunter, hielt sie aber weiter bei den Schultern fest. Er wiederholte den Satz zum zweiten Mal doch Jenny gab keinen Laut mehr von sich.
Jenny lehnt keuchend an der Wand und schnappt nach Luft. Wütend funkelte sie zurück.
Mist, das durfte doch wohl nicht wahr sein! Er war hinter ihr schreckliches Geheimnis gekommen, aber freiwillig würde sie ihm nichts sagen. Seufzend ließ sie sich zu Boden gleiten und starrte ihn weiter an. Ein stechender Schmerz zog sich vom Hals bis zur Schulter
hin. Sie fasste sich an den Hals und stöhnt erneut auf. Sie rang um Luft und sagte nur ein
einziges Wort: „Wieso?“
Marco ging inzwischen wild im Raum auf und ab. Er konnte es immer noch nicht fassen,
was er herausgefunden hatte. Immer hatte sie so getan, als würde sie alles schrecklich bedauern, aber in Wirklichkeit hatte sie mehr damit zu tun, als ihr oder ihm lieb war. Wütend
fuhr er sie an: „Du fragst, wieso? Ich frag dich mal was! Wieso hast du mich angelogen?
Wieso hast du etwas mit dem plötzlichen Verschwinden meiner Freundin zu tun? Und wieso sagst du mir nicht, wo sie ist?“ Er hob seine Hand und funkelte sie wütend an. „Sag mir
die Adresse! Sag sie mir!“ Aber dann ließ er sie wieder sinken. Tagelang hatte er ihren Lügengeschichten Gehör geschenkt und sie auch noch geglaubt. Er hätte sich selbst anbrüllen
können. Aber jetzt war es das Wichtigste, herauszufinden, wo Zara steckte. Niedergeschlagen ließ er sich auf den nächstbesten Stuhl fallen und räumte mit einer Handbewegung
eine Vase und einen Stapel Bücher vom Sessel. Jenny gab immer noch keinen Laut von sich.
Marco hatte keine Idee, was er jetzt tun sollte.
„Tja, am besten, ich bring dich zur Polizei. Die werden es sicher aus dir herausbringen.“
Diese Worte hatten mehr Wirkung, als er sich erhofft hatte. Alle Farbe wich aus ihrem Gesicht und sie fing schlagartig zu zittern an. Jenny richtete sich auf und fiel bei diesem Versuch fast um. Ihr Fuß war eingeschlafen, während sie auf dem kalten Fliesenboden gehockt
hatte. Sie taumelte gegen die Wand.
Marco flüsterte so leise, dass er seine Worte selbst kaum hören konnte: „Sag mir doch endlich, wo sie ist.“ Eine plötzliche Leere breitete sich in seinem Herz aus. Was, wenn Zara
womöglich schon tot war? Vielleicht wollte Jenny deswegen nichts sagen. Ein brennender
Schmerz durchfuhr ihn. Wie benommen schloss er die Augen und stöhnte auf. Was zum
Teufel war bloß in Jenny gefahren?
„Wenn du mich gehen lässt, sag ich es dir, wo Zara steckt.“
Marco riss die Augen auf. War Jenny nun doch zur Vernunft gekommen? Hatte sie eingesehen, dass sie den Kampf verloren hatte? Er nickte. Erst musste er seine Freundin finden.
Dann war immer noch Zeit, sich darum zu kümmern, dass Jenny für ihre Tat zur Rechenschaft gezogen wurde.
„Sie ist in der Hütte meiner Eltern in den Bergen. Erinnerst du dich? Wir waren letzten
Sommer gemeinsam dort …“
Marco schaute sie durchdringend an. „Und woher weiß ich, dass du mich nicht wieder
anlügst?“, fragte er.
Sie zuckte nur mit den Schultern. „Indem du hinfährst und nachsiehst“, gab sie kurz ange- 75 -
bunden zurück.
Marco zögerte. Dann öffnete er seine Faust, die er immer noch um ihre Handgelenke geschlossen hielt und stieß sie von sich weg. Aus schmalen Augenschlitzen fixierte er Jenny,
die ihm einen unergründlichen Blick zuwarf, bevor er sich von ihr wegdrehte und aus dem
Zimmer hastete.
Marco beobachtete Jenny, wie sie aus dem Haus eilte und in ihr Auto stieg. Gehetzt sah sie
sich um, bevor sie den Zündschlüssel ansteckte und aufs Gas drückte. Augenblicklich drehte Marco, sicher verborgen hinter einer Hausecke, startete seinen Wagen ebenfalls. Jenny
war jetzt sicher auf den Weg, um nach Zara zu sehen. Sie hatte ihm garantiert nicht die richtige Adresse gegeben. Als er das Haus verlassen hatte, war er in sein Auto gestiegen und aus
der Einfahrt gefahren. Er hatte Jenny gesehen, wie sie ihn durchs Fenster beobachtet hatte.
Sie wollte wohl sicher gehen, dass er wirklich wegfuhr. Aber Marco war nur einmal um den
nahegelegen Park gekurvt und hatte sich dann hinter eine Hausecke geparkt, von wo er das
Haus wunderbar beobachten konnte.
Jenny bog aus der Einfahrt, schlug den Weg Richtung Kirche ein und hielt an einer roten
Ampel. Marco fuhr ihr hinterher. Eine Werbetafel lenkte seine Aufmerksamkeit kurz ab. In
letzter Sekunde sah er, dass die Ampel wieder grün geworden war. Er fluchte, denn Jennys
Wagen war aus seinem Blickfeld verschwunden. Wo war sie bloß hingekommen? Wütend
riss er am Lenkrad und vermied es gerade noch, in einen Baum zu fahren. Er brachte das
Auto zum Stehen und atmete ein paar Mal heftig durch. Wenn er nicht besser aufpasste,
würde er sich noch selbst umbringen!
Da bog Jennys Wagen um die Ecke. Schnell startete Marco den Wagen und konzentrierte
sich wieder auf die Fahrbahn. Noch einmal würde er nicht so viel Glück haben, dass sie von
selbst wieder vor ihm auftauchte.
Jenny sah gehetzt auf die Uhr und erstarrte. So spät schon? Sie hatte fast zwei Stunden mit
Marco gekämpft. Sie warf einen Blick auf ihre Handtasche und zog eine Augenbraue hoch.
Mord… Sie hasste dieses Wort, wollte es nicht tun. Aber wenn sie Zara aus dem Weg geschafft hatte, würde sie ein paar Jahre im Exil verbringen. Gut versteckt auf irgendeiner Urlaubsinsel. Und wenn sie zurückkam, würde keiner mehr von Zara reden. Dann konnte sie
sich wieder voll und ganz auf ihre Karriere konzentrieren, und sich einen Freund suchen.
Nie wieder musste sie Angst haben, irgendwann aus der Modelbranche zu fliegen, wenn sie
sich einen Fehler erlaubte. Ja. Zara musste aus dem Weg.
Mord… Sie wollte es doch nicht. Aber es gab keine andere Möglichkeit.
Mord…
Wütend stieg sie aufs Gas. Irgendwie kam es ihr so vor, als hätte sich die ganze Welt gegen
sie verbündet. Dabei wollte sie doch auch nur einmal Erfolg haben. Sogar Zara hatte lang
daran arbeiten müssen, um so erfolgreich zu sein. Dabei war sie ein Naturtalent. Jenny
würde das nie schaffen, solange Zara noch im Geschäft war. Zara wäre nicht die Erste, die
von einer Konkurrentin aus dem Weg geräumt wurde. Und trotzdem. Das Blut von jemand
an den Händen kleben zu haben, war eine grausige Vorstellung.
Mord…
Schluss jetzt, dachte Jenny und rieb sich über die Stirn. Ihr schlechtes Gewissen würde
sie noch total verunsichern. Das durfte nicht passieren. Gab es denn wirklich keine andere
Möglichkeit?
Nein … Marco wusste noch nicht genug, um etwas gegen sie ausrichten zu können. Aber
Zara schon.
Sie wollte endlich ihr Ziel erreichen! Grimmig lächelte sie vor sich hin und brachte ihr Ge- 76 -
wissen zum Schweigen.
Dennoch spukten die Worte klar in ihrem Kopf herum.
… Mörderin … jeder ist seines Glückes Schmied … du kannst einem anderen nicht das Leben wegnehmen … wenn du einmal damit anfängst, wird an deinen Händen das Blut von
noch mehr Menschen kleben … Mord …
Kapitel 4
Es war nebelig und Marco wartete hinter einer Ecke. Als er Jenny erblickte, hatte sie schwarze High-Heels, eine schwarze Lederhose und dazu eine schwarze Bluse an. „Wenn ich nicht
wüsste, was sie alles getan hat, würde ich sie richtig scharf finden.“ Marco schüttelte den
Kopf. Er setzte einen Hut und eine Sonnenbrille auf, damit er nicht so leicht erkannt werden konnte, startete seinen Motor. Er ließ ein paar Sekunden verstreichen, bis er sicher war,
dass sie ihn nicht mehr sehen konnte. Mit halsbrecherischem Tempo fuhr er hinter Jenny
her. Sie rasten durch einen Wald und dann gleich darauf in die Innenstadt. Marco fiel auf,
dass Jenny jedes Mal, wenn sie an einer Ampel anhalten musste, in den Rückspiegel blickte.
Sie wirkte zornig und nervös. „Kein Wunder“, dachte Marco. Er war immer noch fassungslos darüber, was er über sie erfahren hatte. Für einen Augenblick war er unaufmerksam. Sie
hatte angehalten und er rollte in ihr Blickfeld. Verdammt! Sie hatte ihn gesehen! Obwohl die
Ampel Rot zeigte, raste sie los. Marco wollte ebenfalls hinterher. Aber im diesem Moment
trat eine alte Dame auf den Zebrastreifen, um die Straße zu überqueren. Er musste warten,
trommelte nervös mit den Fingern aufs Lenkrad und drückte schließlich auf die Hupe.
Doch die Alte drohte ihm nur mit ihrem Stock und humpelte quälend langsam weiter. Als
die Straße endlich frei war, hatte er Jenny aus den Augen verloren. Schon wieder!
Doch er gab nicht auf. Er durfte nicht! Es ging schließlich um Zaras Leben! Kreuz und
quer fuhr er durch die Stadt, um irgendwo Jennys Auto zu finden. Plötzlich sah er einen
etwas dickeren Mann die Straße entlang gehen. Marco stoppte das Auto und lies die Scheibe hinunter. „Entschuldigen Sie! Haben Sie zufällig einen rotes Mercedes Sportcoupé hier
vorbeifahren gesehen?“, fragte Marco den Herrn auf gut Glück. Die Wahrscheinlichkeit war
nicht hoch, aber er durfte nichts unversucht lassen! Höflich nahm er die Sonnenbrille ab.
Der Mann musterte ihn neugierig. Dann ging ein Strahlen über sein Gesicht. „He, ich kenne Sie doch. Sind Sie nicht Marco Vousètes? Der aus der Schuhwerbung? Warten Sie mal
... Ist ihre Freundin Zara Montepellier nicht entführt worden?“ Er blinzelte ihn ein wenig
nervös durch seine Augengläser an.
Marco nickte ungeduldig. „Ja, darum geht es jetzt auch! Ich habe eine heiße Spur!“, drängte
er. Der dicke Mann, der ihn immer noch sensationslüstern anstarrte, machte ihn kribbelig.
Irgendwo hatte er ihn schon einmal gesehen, aber er kam nicht drauf, wo. Bei einer Modeschau? Eine Erinnerung blitzte auf. Ein Mann mit Goldkette und fetter Uhr am Handgelenk
… ein Riesenstrauß Rosen in Zaras Garderobe … und Zara hatte ihm nicht in die Augen
sehen können, als er sie gefragt hatte, von wem die waren …
„Das rote Sportcoupé, nach dem Sie suchen – gehört das nicht Jenny? Hat sie etwas mit der
Entführung zu tun?“ Der dicke Mann wischte sich mit einem Stofftuch über den Mund.
„Ich wusste es doch! Diese falsche Schlange!“ Er fasste in seine Hosentasche und zog einen
Zettel heraus. „ Geben Sie mir einen Stift“, stieß er kurzatmig hervor.
Marco reichte verwundert seinen teuren Montblanc-Füller aus dem Seitenfenster und sah,
wie der Mann eine Adresse aufschrieb. Hatte er womöglich auch etwas mit der Sache zu
tun? Wieviel wusste er von Jenny?
Der Mann reichte ihm den Stift und den Zettel durchs Fenster und schlug ihm kumpelhaft
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auf die Schulter. „Grüßen Sie Zaraq von mir, wenn Sie sie gefunden haben“, meinte er und
grinste.
Der Ausdruck, den der Mann dabei in den Augen hatte, ging Marco unter die Haut. Der
Dicke hatte irgendein Geheimnis, davon war Marco überzeugt. „Von wem soll ich sie denn
grüßen?“, fragte er zurück.
Doch der Mann war schon einen Schritt in die Dunkelheit zurückgetreten. Marco hörte ihn
nur noch leise sagen: „Sie wird sich an mich erinnern … Ich habe ihr gesagt, dass sie mich
noch einmal brauchen wird … Ach ja, und mich haben Sie nie gesehen!“
Marco runzelte die Stirn. Er verstand nur Bahnhof. Wer war denn das? Aber dann zuckte
er mit den Schultern. Es war jetzt nicht wichtig. Er gab die Adresse, die der Mann ihm auf
den Zettel geschrieben hatte, in sein Navi ein. Denn sein Bauch sagte ihm, dass er dort Zara
finden würde. Im Stillen dankte Marco dem etwas zu dick geratenen Mann noch einmal, bevor er losstartete. Der hilfsbereite Herr sollte ihn noch retten, doch Marco ahnte zu diesem
Zeitpunkt noch nichts davon.
Er bog nach einer Weile in eine nicht asphaltierte Straße ein. Sie führte zur alten Fleischerei, die schon seit Jahren leer stand. Auch das Gasthaus, das dazu gehörte, hatte schon lange
dicht gemacht.
Marco parkte seinen Wagen in einem sicheren Abstand, damit Jenny ihn nicht bemerkte.
Er schloss ab und schlich leise durch den kleinen Wald, der die Fleischerei umgab. Die
Blätter unter seinen Füßen raschelten und es war eisig kalt. Nur vereinzelt lag Schnee, denn
es hatte in den letzten Tagen nicht viel geschneit und die vielen Bäume machten es fast
unmöglich, dass die wenigen Schneeflocken, die gefallen waren, bis zum Boden durchgedrungen waren.
Als er nach geschätzten fünf Minuten das große Gebäude erreichte, entdeckte er Jennys
kleinen Flitzer vor der Hintertür. Zuerst war er erleichtert, dass sie hier war. Doch dann fiel
ihm wieder der eigentliche Grund ein, warum er hier war. Jenny hatte Zara entführt! Bei
dem Gedanken daran wurde Marco wütend und traurig zugleich. Jenny war doch ihre beste
Freundin gewesen, aber anscheinend hatten sich alle in ihr getäuscht.
Langsam und sehr vorsichtig näherte Marco sich dem Teil des Gebäudes, in dem sich früher
das Gasthaus befunden hatte. Er schlich an die kalte Wand gedrückt zur Eingangstür. Einige
Schritte davor blieb er stehen. Seine Blicke wanderten zum Fenster, vor dem er jetzt stand.
Marco bückte sich, denn hinter diesem Fenster entdeckte er Jenny, die gerade vor sich hin
fluchte.
„Verdammt, verdammt, verdammt! Wo ist bloß diese beschissene Pistole? Ich hab sie doch
vor kurzem hier in den Küchenschrank gelegt …“ Sie bemerkte Marco nicht.
Diese einmalige Gelegenheit ergriff Marco sofort und drückte leise die Tür auf. Nun war er
in der ehemaligen Gaststube. Um ihn herum standen noch ein paar alte Sessel und Tische,
die niemand mitgenommen hatte, als das Gasthaus geschlossen wurde. Er malte sich gerade aus, wie es damals wohl hier ausgesehen haben könnte, als er wieder Jennys Stimme
hörte. Nur eine Tür trennte die beiden. Er überlegte, welche es sein könnte, da sprang ihm
ein Schild in die Augen. KÜCHE stand darauf in Großbuchstaben. Marco schnappte sich
einen Stuhl und versperrte damit die Tür, auf der das Schild angebracht war.
„Na, endlich! Da ist sie ja!“ Jenny nahm die Pistole an sich, die sie vor einigen Tagen in der
Küche des ehemaligen Gasthauses versteckt hatte.
Als Marco die Entführung aufgedeckt hatte, bekam sie schreckliche Angst und wollte Zara
endgültig vernichten. Deshalb hatte sie Marco die falsche Adresse gegeben und sich auf den
Weg zur Fleischerei gemacht, in der sie Zara versteckt hatte. Doch was sie nicht ahnte war,
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dass Fritz Marco an der Kreuzung, an der sie glaubte, ihn abgehängt zu haben, die richtige
Adresse gegeben hatte. Genau das würde sie gleich bemerken. Denn als sie die Tür in den
Gastraum öffnen wollte, ging diese einfach nicht auf. Was sie auch versuchte, sie klemmte
irgendwie. Da dämmerte ihr, dass etwas nicht stimmte. Ob Marco ihr doch gefolgt war?
Ok, Punkt Eins seines Plans war abgeschlossen. Er hatte Jenny eingesperrt und konnte
damit in Ruhe Punkt Zwei ausführen … nämlich sich auf die Suche nach Zara zu machen.
„Und den Schlüssel hab ich auch schon!“ Marco sprach leise vor sich hin, als wollte er sich
selbst Mut machen. Da hörte er ein leises Jammern aus einem Raum. War das Zara? Oder
ein Tier? Da war es wieder! „Das muss sie sein!“ Aufgeregt lief er durch den langen Gang,
in dem überall Spinnweben hingen.
WUMM!
Marco fiel mit voller Wucht auf den kalten Fliesenboden. Gleichzeitig rutschte der Schlüssel zu Zaras Tür weg ... „Verdammt!“ Was war das gewesen? Hatte ihm jemand ein Bein
gestellt? Oder war er so schnell unterwegs gewesen, dass er ausgerutscht war? Er drehte
sich um, doch er konnte nichts sehen. Langsam krabbelte er auf dem Boden weiter und
tastete im Dunkeln nach dem Schlüssel. Nochmals hörte er einen Schrei, der gedämpft an
sein Ohr drang. Er war so nahe, dass es ihm kalt über den Rücken lief. „Zara, bist du das?“,
wisperte Marco und hielt sein Ohr an die Tür. Er glaubte so etwas wie ein Ja zu hören. „Zara
... ich komme und rette dich, hast du gehört? Halte durch.“ Er hatte nur ein Problem … Er
konnte den verdammten Schlüssel nicht finden! Da half nur eines: Er ging ein paar Schritte
zurück, nahm Anlauf und rammte mit seiner Schulter gegen die Tür. Mit einem Knall gab
sie nach und Marco lag am Boden. Die Tür war nur angelehnt gewesen! „Was bin ich doch
für ein Idiot!“ Marco rieb sich die schmerzende Schulter. „Und ich nehm noch Anlauf!
Dabei hätte ich nur ausprobieren müssen, ob die Tür überhaupt verschlossen ist.“ Plötzlich
hörte er ein Stöhnen aus einer Ecke. Er drehte sich um …
Zara! Endlich! Er hatte seine Zara wiedergefunden!
Kapitel 5
„Zara, du bist es wirklich! Du weißt gar nicht wie erleichtert ich bin!“ Marco beugte sich über
mich und gab mir einen zärtlichen Kuss auf die Stirn. Vorsichtig löste er das Klebeband, das
meinen Mund verklebte. Ich war unglaublich glücklich und erleichtert, dass Marco mich
gefunden hatte. Was hätte mich sonst noch hier erwartet? Jenny, dieses Miststück ,hätte
mich hier verrotten lassen. Sie hätte kein bisschen Mitleid gehabt. Ich spürte einen starken
Schmerz in meinen Händen, dass ich nur mit Mühe einen Schrei unterdrücken konnte, als
Marco mir die Handfesseln löste.
„Mir ist so kalt.“ Klappernd schlugen meine Zähne auf einander.
Marco zog fürsorglich seine Winterjacke aus und legte sie mir um die Schultern. „Ich hole
dich hier raus! Mach dir keine Sorgen“, antwortete er und strich mir sanft über die Wange.
„Marco!“ Entsetzt schrie ich auf, dass man es durch das ganze Haus hören konnte.
Irritiert runzelte Marco die Stirn. Er verstand nicht gleich, was ich ihm sagen wollte. Erst
als er das kalte Metall an seinem Hinterkopf spürte, wusste er, wovor ich ihn warnen wollte.
Jenny stand mit einer Pistole hinter ihm und drückte sie in seinen Nacken.
Nein, das durfte nicht geschehen!
Ich merkte, wie Marco von einem Schauer geschüttelt wurde. Seine Arme waren von einer
Gänsehaut überzogen. Jennys Hände zitterten.
Ich war sicher, dass sie das alles nicht wirklich tun wollte. Sie hatte eine böse Seite, das
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musste ich in den letzten paar Tagen bitter am eigenen Leib erfahren - aber jemanden erschießen? Nein, soweit würde sie nie gehen. Oder doch? Was würde sie alles tun, nur wegen
ihrer Karriere? Ich fühlte mich so hilflos, ich konnte Marco nicht helfen. Er hat so viel für
mich getan und ich saß hier vor ihm und sah zu, wie Jenny ihm eine Pistole auf den Hinterkopf drückte. Tränen standen mir in den Augen. Ich musste mir etwas einfallen lassen,
statt einfach nur loszuheulen.
Ich musste versuchen, sie in ein Gespräch zu verwickeln und damit Zeit gewinnen. „Jenny,
was ist bloß los mit dir?“ fragte ich sie ängstlich.
„Wer redet schon mit dir? Halt deine Klappe.“ Jenny starrte mich an. In ihren Augen suchte
ich vergeblich nach der Freundin, die ich einmal zu kennen glaubte. „Ich hätte das Ganze
schon vorher machen sollen. Ja, schade, dass du noch lebst. Ich kann dich nicht mehr sehen.
Du hast dich immer vorgedrängt, nie gefragt wie es mir dabei geht. Immer nur Zara, Zara,
Zara. Ich werde dir das Leben zur Hölle machen, so wie du es mir die ganze Zeit gemacht
hast.“ Sie lachte irre. „Wie schaut’s aus? Könntest du auch ohne deinen Freund leben?“
Panik schnürte mir die Kehle zu. Was hatte sie vor?
“Kannst du nicht, wetten? Ich weiß, was Marco dir bedeutet. Und deswegen muss er jetzt
leiden. Nur wegen dir!“
Jetzt schrie Jenny mich richtig an. Ich hatte Angst, ja Angst von meiner besten Freundin.
Wie konnte sie so etwas nur machen? Marco sah mich mit glasigen Augen an. Ich hatte das
Gefühl, dass er jetzt genauso losheulen könnte wie ich. So niedergeschlagen hatte ich ihn
noch nie gesehen.
POOF!!
Ein Schuss zerriss die angespannte Stille. Ich zitterte am ganzen Körper. Mein Herz klopfte
so hart, dass es sich wie Schmerz anfühlte. Marco sah mich verzweifelt an. Er schloss die
Augen und presste seine Lippen fest aneinander.
Nicht Marco! Ich wollte schreien, doch ich brachte keinen Ton heraus. Eine einzelne Träne
rann an meiner Wange hinunter zum Kinn. Meine Hände ballten sich zu Fäusten zusammen. Ich öffnete eine Faust und griff nach Marcos Hand. Er drückte sie fest. Nicht einmal
eine Minute hatte ich an Jenny gedacht oder sie angesehen.
WOOM.
Ich schloss die Augen, weil ich es nicht sehen wollte, wie Marco zu Boden fiel. Aber Marco
hielt immer noch meine Hand fest. Langsam öffnete ich wieder meine Augen. Das war
nicht Marco, der auf dem Boden lag, sondern Jenny. Seltsam verdreht hielt sie ihre Hand auf
ihrem Rücken. Langsam bewegte sie die Finger. Alles war voll Blut. Ihr weißer Angorapullover färbte sich nach und nach Rot. In ihren Augen stand blanker Hass, unendlicher Neid.
Sie drehte ihre Augen nach oben und ihr Körper sackte in sich zusammen. War sie etwa tot?
Ich sah zu Marco hinüber, der geschockt auf eine Stelle hinter mir starrte. Ich drehte meinen Kopf dorthin, wo er mit seinen Fingern hinzeigte. Ein Mann mit einer Pistole stand im
Türrahmen. Da erkannte ich ihn: es war Fritz! Der Fritz, der mich vor meiner Entführung
noch in der Garderobe belästigt hatte. Er lehnte sich an die Mauer und stammelte: „Ruft
einer von euch bitte die Polizei und die Rettung?“
Mit zitternden Fingern holte Marco sein Handy aus der Hosentasche und tippte die Nummer 133 ein. Alle Anspannung wich mit einem Mal von mir. Mit einem Schluchzen ließ ich
meinen Körper gegen die kühle Wand sinken und holte tief Luft.
Dann weinte ich. Endlich. Während Marco seine Arme um mich schloss, fiel all die Angst
und Anspannung der vergangenen Stunden von mir ab und ich ließ mich in seine Brust
sinken. Endlich war ich in Sicherheit. Und Marco war bei mir …
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Prolog
Der Schlag war präzise. Blut tropfte aus meiner einst perfekt geformten Nase. Als ich aufsah, blickte ich in seine Augen. Grüne Augen, die schön gewesen wären, würde nicht Hass
und Abscheu aus ihnen sprechen. Doch das war nicht das Schlimmste. Das Schlimmste
war, dass ich nicht fliehen konnte. Dieser Mensch hatte mein Leben Tag für Tag zur Hölle
gemacht. Er war die Ursache. Ich hege gegen keinen Menschen dieser Welt so viel Hass wie
gegen ihn.
Meinen Stiefvater.
1. Kapitel
Grace.
Als mein Wecker klingelte, schaltete ich ihn sofort wieder aus, schlug die Augen auf und
merkte, dass meine Katze auf meinem Schoß lag. Sie blickte mich mit ihren giftgrünen
Augen an und ich sah ihr kohlrabenschwarzes Fell im Sonnenlicht, das durch das Fenster
schien, schimmern. Zart streichelte ich ihr über das seidige Fell, worauf sie zu schnurren
begann. Sanft hob ich sie von meinem Schoß und setzte sie neben mir ins Bett. Seufzend
warf ich einen Blick auf den leeren Platz neben mir: Mein Freund musste wie so oft nachts
arbeiten. Langsam stand ich auf und strich mir meine Haare aus dem Gesicht. Mein hellblaues Nachthemd flatterte in der leichten Brise, die durch das gekippte Fenster strich. Verschlafen blickte ich auf meinen Wecker und stellte erschrocken fest, dass es bereits halb
acht war. Ich griff nach ein paar Klamotten, eilte ins Badezimmer und machte mich fertig.
Zähne putzen, notdürftig mein langes Haar kämmen, Make-up auflegen ... es musste heute
schnell gehen! Auf dem Weg nach draußen nahm ich noch schnell einen Umweg in die Küche und stürzte ein Glas Wasser herunter. Schon halb im Flur, schlüpfte ich gleichzeitig in
meine neuen Louis Vuitton Schuhe und in meinen schwarzen Mantel. Meine beste Freundin Liz wartete bereits beim Sturbucks, wo wir uns normalerweise immer zum Frühstück
trafen, bevor wir uns auf den Weg zur New York University, machten, auf der wir beide Jura
studierten.
Als ich nach einem langen Tag auf der Uni wieder zu Hause ankam, war niemand da. Darren würde wohl auch heute erst wieder später nach Hause kommen. Ich zuckte zusammen,
als mein Freund plötzlich herein stürmte, die Tür zuknallte, und sich gleich darauf vor mir
aufbaute. Seine grünen Augen funkelten mich wütend an.
„Darren, Liebling, was ist denn passiert?“ Ich wollte auf ihn zugehen, doch er reagierte abweisend. Ich hatte keine Ahnung, was mit ihm los war, doch offensichtlich wollte er nicht
mit mir reden. Traurig ging ich schon bald zu Bett. Ich las noch ein bisschen, doch als ich
merkte, das Darren noch länger nicht ins Bett kommen würde, schaltete ich das Licht aus
und legte mich schlafen.
In der Früh verließ ich schnell die Wohnung. Ich hatte ein paar Besorgungen zu machen
- aber vor allem wollte ich Darren nicht sehen. Dieser mies gelaunte Darren war nicht der
Mann, den ich kannte und mochte. Ein zufälliger Blick auf meine Armbanduhr ließ mich
erschrecken. Ich hatte bei all meinen Tätigkeiten völlig die Zeit vergessen! Ich beschloss,
dass ich mich nicht ewig vor ihm verstecken konnte, und begab mich auf den Weg nach
Hause.
Seufzend öffnete ich meine Wohnungstür, und ließ sie hinter mir ins Schloss fallen. Ich
war hungrig und müde. Was gäbe ich jetzt für einen Schluck Milch! Gähnende Leere erwartete mich, als ich den Kühlschrank öffnete.
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„Darren!“ Hatte er sich schon wieder nicht an unsere Vereinbarung gehalten! „Wenn du
schon wie ein Schwarm Heuschrecken über meine Vorräte herfällst, könntest du wenigstens dafür sorgen, dass das Wichtigste im Haus ist?“ Doch ich erhielt keine Antwort.
Er wusste, wie er mich auf die Palme bringen konnte. Aufgebracht eilte ich ins Wohnzimmer. Mein Blick fiel auf Darren, der mit einer Zeitung auf dem Sofa saß und mich ignorierte. Ich riss ihm die Zeitung aus der Hand. „Wieso hast du nicht eingekauft, obwohl du
es versprochen hast?“ Darren starrte mich nur wütend an und nahm die Zeitung mit einer
raschen Bewegung wieder an sich. Dann fuhr er damit fort, mich zu ignorieren. Ich zog an
der Zeitung, aber keiner wollte nachgeben, bis sie schließlich in zwei Teile riss. Ohne mich
eines Blickes zu würdigen stand er auf, holte ein Buch aus dem Regal direkt neben dem
Fenster und setzte sich wieder auf das Sofa. Jetzt platzte mir der Kragen. „Was ist denn bloß
mit dir los?“, schrie ich ihn an.
Diesmal antwortete er. „Was geht dich das an? Aber wenn du es unbedingt wissen musst, ich
habe es immer noch nicht geschafft!“ Er verschränkte die Arme und las gleichzeitig weiter.
Ich verstand kein Wort und öffnete gerade den Mund, um eine weitere Frage zu stellen, als
ich seine Augen sah. Seine grünen, wunderschönen Augen sahen mich an, aber in seinem
Blick lag keine Spur von Liebe. Nein, ganz im Gegenteil, sie waren voller Hass, dunklem,
tiefen Hass. Mit rasendem Herzklopfen sah ich weg. Als ich ihn wieder ansah, waren sie
wieder da: die schönen, blattgrünen Augen in die ich mich damals verliebt hatte. Trotzdem,
ich konnte diesen Blick von vorhin nicht vergessen. Ganz im Gegenteil, er brannte sich tief
in mein Bewusstsein. Ich kannte diesen Blick. Ich kannte ihn sogar sehr gut. Es war ein
Blick, den ich sehr lange nicht mehr gesehen hatte, und trotzdem nie vergessen werde. Ich
hatte versucht, ihn zu vergessen. Viele tausend Mal, aber immer wenn ich ihn verdrängt
hatte, tauchte er wieder auf. Es ging einfach nicht.
Langsam löste ich meinen Blick von seinen Augen und verließ äußerlich ruhig das Wohnzimmer. In mir drinnen aber krümmte sich meine Seele wie ein tödlich verletztes Tier ...
Nachdem ich die Wohnung verlassen hatte, wählte ich mit zitternden Fingern Liz‘ Nummer.
„He Liz, kann ich heute bei dir übernachten?“ Ein dunkler Plan nahm in meinem Hirn
Gestalt an.
„Ja klar“, dröhnte es aus dem Lautsprecher, „Warum?...“
Ich hatte diese Frage erwartet, trotzdem starrte ich auf das Handy in meiner Hand. Ich hatte
Angst davor, was mit mir geschah. Weil ich Darren einfach nicht mehr ertragen konnte, in
seinem ganzen Sein. Nicht, nachdem ich sein wahres Wesen gesehen hatte. Seine Augen ...
„Grace, bist du noch da?... Grace?“ Liz Stimme weckte mich aus meinen schwarzen Gedanken, doch ich legte einfach auf und machte mich auf den Weg zu ihr. Sie konnte mich später
auch noch mit Fragen durchlöchern.
Als ich bei ihr ankam, stand sie schon vor der Tür und wartete auf mich. Wir gingen in ihre
Wohnung, und ich ließ mich wie ein Kartoffelsack auf ihre Couch fallen. Ich bemerkte ihren fragenden Blick und seufzte: „Bitte jetzt nicht…!“
„Okay, fühl dich wie zu Hause. Bin gleich wieder da, muss nur noch ein paar Besorgungen
erledigen.“ Mit diesen Worten verließ sie die Wohnung, und meine Gedanken nahmen
mich wieder voll in Besitz.
Nach einer Weile bekam ich Hunger. Ich ging in die Küche und machte mich Lade für Lade
öffnend auf die Suche nach etwas Essbarem. Mein Blick fiel auf ein großes Messer, das ich
nicht an meiner Kehle spüren wollte. Ich fuhr mit meinem Finger die Klinge entlang. Ein
kleiner Tropfen Blut quoll aus dem Schnitt heraus. Ich zuckte zusammen. Genau mit so
einem Messer war er damals auf mich losgegangen. Wenn ich mich nicht geduckt hätte,
wäre ich heute tot. So streifte die Klinge nur meine rechte Schulter. Meine Finger tasteten
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instiktiv nach der etwa drei Zentimeter langen Narbe. Damals hatte ich behauptet, ich hätte
mich mit einer Glasscherbe geschnitten. Doch heute bereute ich, dass ich ihn nicht verraten
hatte. Bei diesem Gedanken fasste ich einen Entschluss. Ich umwickelte das Messer mit Küchenpapier und packte ich es in meine Handtasche. Meinen Hunger hatte ich vollkommen
vergessen.
Als ich am nächsten Tag aufwachte, war Mittag längst vorbei und Liz war wieder zurück.
„Gut geschlafen, Morgenmuffel?“, begrüßte sie mich freundlich. Mich packte die Panik.
Hatte sie das Fehlen des Messers bemerkt? Nichts deutete darauf hin. Scheinbar ruhig
wünschte ich ihr auch einen schönen Morgen, stand auf und lächelte sie an. Der Duft von
Lasagne stieg mir in die Nase. Oh Mann, hatte ich einen Hunger. Ich folgte Liz in die Küche.
„Bedien‘ dich ruhig!“ Liz nickte in meine Richtung. Das musste sie nicht zweimal sagen!
Voll Heißhunger stürzte ich mich auf die Lasagne. Erst als ich mir zufrieden den Bauch
rieb, erinnerte ich mich wieder daran, welchen Entschluss ich gestern gefasst hatte. Sollte
ich das wirklich machen? Immerhin konnte er nichts dafür, was mein Stiefvater einst getan
hatte. „Nein!“, sagte ich zu mir selbst, „Jetzt ja nicht weich werden!“ Laut sagte ich: „Soll ich
uns einen Kaffee bei Starbucks holten?“
„Liebend gern“, antwortete Liz, von meinem Vorschlag hellauf begeistert. Und so verließ
ich die Wohnung, meine Handtasche mit dem Messer fest umklammert. Als ich um die
Ecke gebogen war, verfiel ich in einen Laufschritt, später begann ich zu rennen.
Keuchend erreichte ich meine Wohnung. Die Sonne war bereits untergegangen. Der Kaffee
war nur ein Vorwand gewesen, um aus dem Haus zu kommen. Ich würde ihn später holen.
Anstatt meine Schlüssel zu benutzen, versuchte ich, mit einer Haarspange das Schloss zu
knacken. Ich hatte das einmal in einem Film gesehen und wollte es immer schon einmal
selbst ausprobieren. Überraschend schnell ging die Tür auf. Wie es aussah, hatte ich gerade
ein neues Talent von mir entdeckt. Ich hörte ein lautes Poltern aus der Küche und daraufhin
ein Fluchen. Schnell eilte ich in die Küche: „Warte, ich helfe dir“, brachte ich gerade noch
heraus als ich Darren erblickte, dann begann ich zu heulen. „Es tut mir so leid! Du hattest
Recht, ich hätte nicht so neugierig sein sollen. Es tut mir leid…so leid…leid…“. Ich schniefte
ein letztes Mal, dann hörte ich auf zu weinen. Als ich wieder klar sehen konnte, bemerkte
ich, dass Darren vor mir stand.
Ein verlegenes Grinsen umspielte seine Lippen: „Bin gleich wieder da“, sagte er. Dann rannte er zur Toilette. Das war meine Chance. Ich zog das Messer aus meiner Handtasche und
befreite es von der Küchenrolle. Griffbereit legte ich es neben den Herd und stellte mich
so hin, dass er das Messer nicht sehen konnte. Gerade noch rechtzeitig war ich in Position,
denn schon kam Darren wieder zurück.
„He, es tut mir auch leid. Ich hätte nicht so wütend reagieren sollen. Friede?“ Man sah ihm
an, dass ihm diese Entschuldigung nicht leicht über die Lippen kam. Wir umarmten uns.
Sein Mund suchte meinen, und als er ihn gefunden hatte, küssten wir uns leidenschaftlich.
Ich schloss die Augen und wollte immer in dieser Position verharren. Fast hätte ich vergessen, warum ich eigentlich hier war, aber nur fast. Mit der rechten Hand fischte ich nach dem
Messer und bekam es zu fassen. Noch immer küssten wir uns, ich war schon ganz außer
Atem. Bald würden wir uns voneinander trennen - schon allein, um nicht zu ersticken.
Doch so lange durfte ich nicht warten. Ich rammte ihm das Messer in den Rücken. Direkt
zwischen die Rippen. Darren erstarrte, seine Fingernägel bohrten sich krampfhaft in meine
Haut. Seine Augen verloren an Glanz. Diese Augen, die ich so geliebt und gleichzeitig so
gehasst hatte. Jetzt empfand ich bei ihrem Anblick gar nichts.
Ohne einen weiteren Laut sackte er vor meinen Füßen zusammen.
Blut klebte an meinen Händen. Das Blut meines Freundes, der tot vor mir auf dem Boden
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lag. Es war so frisch, dass ich noch die Wärme, die davon ausging, spüren konnte. Steif
stand ich da und starrte auf den Leichnam meines Freundes herab. Erst jetzt merkte ich,
dass mir Tränen über meine Wangen liefen. Ich wollte sie abwischen, doch zu meinem Entsetzen bemerkte ich Blut an meinem Gesicht. Schnell nahm ich noch ein Taschentuch und
drehte den Wasserhahn auf. Eine Ewigkeit ließ ich Wasser auf meine Hände fließen, bis sie
kalt und gefühllos waren. Jetzt erst realisierte ich, was gerade passiert war.
Mein Freund war tot. Und ich war sein Mörder.
Ich nahm die Gummihandschuhe, die immer für den Abwasch neben dem Spülbecken bereitlagen, und streifte sie mir über. Mit einem Ruck zog ich das Messer aus Darrens Rücken,
hielt es unter das fließende Wasser und rubbelte solange mit einem Lappen daran herum,
bis alles Blut abgewaschen war. Dann wickelte ich die Waffe in das blutbefleckte Tuch. Ich
musste mir einen guten Trick einfallen lassen, damit man mir den Mord nicht anhängen
konnte!
Ich lief zum Thermostat und programmierte die Temperatur so, dass es die nächsten zwei
Stunden in der Küche eiskalt werden würde, bevor die Heizung wieder ansprang. Um Gina
zu schützen, sperrte ich sie ins warme Wohnzimmer. Anschließend packte ich entschlossen
das Bündel mit dem Messer und steckte es in meine Jackentasche.
Hilfsinspektor Thomas.
Das Leben als Hilfsinspektor war nicht immer leicht. Am schwersten war es, weil mich Inspektor Hunter noch immer zum Kaffee holen schickte oder Bambino nannte. Dabei war ich
jetzt schon seit drei Jahren hier. Doch heute konnte ich ihm endlich beweisen, was in mir
steckte. Mein erster Job als Leiter der Morddiagnose. Na ja, man hatte mir diesen Job nur
gegeben, weil Inspektor Hunter und fast die Hälfte des restlichen Teams krank waren. Aber
ich würde diese Chance nützen! „Inspektor, sollen wir die Kleidung auf Fingerabdrücke
untersuchen?“ brachte mich die Stimme von Mr. Gabe wieder in die Wirklichkeit zurück.
„Äh….was?“
„Die Leiche … untersuchen!“ Um Gabes Lippen spielte ein herablassendes Grinsen.
„Ja, natürlich! Das wollte ich auch gerade vorschlagen.“ Ich hörte ihn „Anfänger“ murmeln,
doch ich tat so, als hätte ich seine Rede überhört. Was würde Inspektor Hunter in diesem
Fall tun? Bericht erstatten lassen - richtig! Ich suchte unter den Mitarbeitern den Beamten,
der dafür zuständig war. „Mac Lee, was können Sie mir über die Leiche sagen?“
„Es handelt sich um Darren Anderson, hellhäutig, männlich, 23 Jahre alt. Nach dem Autopsie Bericht wurde er mit einem Messer erstochen. Die Klinge bohrte sich zwischen die
Rippen und durchstach einen Lungenflügel. Es gibt Hinweise darauf, dass eingebrochen
wurde, aber es wurde nichts als gestohlen gemeldet. Das lässt auf Rachemord schließen.
Er starb zwischen vier und fünf Uhr nachmittags. Seiner Freundin hat ihn gefunden.“ Er
warf einen kurzen Blick auf seine Notizen. „Grace Cally Stone. Sie wohnten seit zweieinhalb
Jahren in dieser Wohnung zusammen.“
„Und wo war sie, als er erstochen wurde?“
„Nach eigener Aussage verbrachte sie nach einem Streit die letzten zwei Tage bei einer
Freundin nicht weit von hier, weiteren Aussagen nach wollte sie sich mit ihm versöhnen,
als sie die Leiche fand.“
„Und wo ist sie jetzt?“
Mac Lee deutete stumm auf einen Tisch im Nebenzimmer, wo Taylor gerade versuchte, eine
heftig weinende junge Frau zu beruhigen. Ich versuchte, so gelassen wie möglich zu wirken
und ging auf die zwei zu. Mit einer schnellen Handbewegung griff ich nach einem Stuhl
und nahm vor ihr Platz. „Mrs. Stone, ich bin Inspektor Parker, und ich weiß, dass es im
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Moment sicher sehr schwer für Sie ist, aber bitte erzählen Sie mir, was passiert ist.“
Sie sah mich mit ihren verweinten braunen Augen an und schluchzte: „Ich weiß es doch
selber nicht, ich und Darren hatten einen Streit. Ich war sauer und habe beschlossen, für
gewisse Zeit Abstand von ihm zu halten. Also ging ich zu meiner Freundin. Heute wollte
ich mich entschuldigen und fand ihn so in der Wohnung.“ Sie deutete mit der Hand auf die
Küche, wo im Moment die Leiche ihres Freundes von meinen Beamten untersucht wurde.
Mein Blick folgte ihrer Hand und schweifte dann wieder zu ihr.
„Worum ging es bei diesem Streit?“
Sie sah weg. „Es war dermaßen lächerlich. Ich hatte mich geärgert, dass er schon wieder
nichts eingekauft hatte, und wir schrien uns an.“ Sie bekam einen Weinkrampf.
„Gab es irgendwelche Personen, die ihren Freund nicht mochten oder ihm etwas Böses
wollten?“
„Es gab sicher Leute, die Darren nicht besonders gut leiden konnten. Aber mir fällt niemand
ein, der ihn so hasste, dass…“ Bei diesen Worten brach sie wieder ihn Tränen aus. Die Frau
tat mir wirklich leid. Ich hasste es, aber ich musste ihr die nächste Frage stellen. „Mrs.
Stone, wo waren Sie zwischen vier und fünf Uhr nachmittags?“
„Was?“ Sie blickte verwirrt auf. „Verdächtigen Sie mich etwa, Darren umgebracht zu haben?
Ich habe ihn geliebt, nicht getötet!“
Verlegen schaute ich auf meine Hände. „Dessen bin ich mir sicher, Mrs. Stone. Trotzdem
müssen Sie die Frage beantworten.“
„Ich war bei meiner Freundin, Sie können sie ja fragen, sie war auch dort!“
„Wie lautet der Name ihrer Freundin?“
„Elisabeth Hudson.“ Sie fing wieder zu heulen an.
Ich stand vom Sessel auf und war mir zu hundert Prozent sicher, dass dieses verstörte
Mädchen niemals die Mörderin gewesen sein konnte. Die arme Frau hatte schon viel
durchgemacht. Trotzdem war mir ihre Spange aufgefallen. Sie wirkte etwas verbeult. Ob
ich paranoid war? Schnell warf ich einen Blick über meine Schulter und sah, dass sie den
Haarschmuck auf den Tisch gelegt hatte. Ich gab Taylor ein Zeichen, dass Mrs. Stone nicht
zu den Verdächtigen zählte, wir sie später aber noch einmal genauer verhören mussten.
Unauffällig nahm ich die Spange an mich. Kurzerhand verglich ich sie mit dem Schloss,
und tatsächlich, sie passte. Das konnte natürlich auch ein Zufall sein, aber der Sache würde
ich auf jedenfalls auf den Grund gehen - allerdings ohne meinen Kollegen etwas davon zu
berichten. Ich wollte meinem Boss endlich beweisen, dass ich kein Nichtsnutz war und es
verdiente, endlich zum Inspektor ernannt zu werden.
Grace.
Es war der 10. Dezember 2000, genau zehn Jahre zuvor. Durch Zufall fand ich den Weg
in das Büro meines Stiefvaters. Doch als ich hereinkam, spritzte er sich gerade etwas in
seinen Arm. Ich war noch jung, doch da ich in New York aufwuchs, war ich nicht blöd. Ich
war zutiefst schockiert, das mein Stiefvater sich in seinem Büro, in unserem Haus, Heroin
spritzte. Ich konnte mich noch genau erinnern - an das Ticken der Uhr in der Kürze dieses
Augenblicks, an die fünf Männer, alle in seinem Alter, die um ihn herumstanden. Sie bemerkten mich, und ein korpulenter Mann mit Schnauzer zog mich zu sich. Mein Stiefvater
fragte jeden der Männer, ob er nicht so etwas kaufen möchte, doch keiner antwortete. Alle
fixierten sie mich mit ihren Blicken.
10. Dezember 2010. Der gleiche Ort, der gleiche Raum. Nur etwas war anders. Ich war
bewusst in diesen Raum gekommen, ich war gekommen um zu stehlen. Keine Menschenmenge umrundete mich, ich war allein, und das war gut so. Ich steuerte geradewegs auf
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einen kleinen Schrank zu. Er war mit einem Zahlenschloss versperrt, doch ich kannte die
Kombination. Ernüchternd musste ich aber kurze Zeit später feststellen, dass die Kombination geändert worden war.
Ich musste da aber unbedingt rein! Dann musste ich die Kombination eben erraten.
Ich probierte es als erstes mit dem Hochzeitstag von ihm und meiner Mutter. Fehlanzeige.
Dann fiel mir etwas ein. Vielleicht war es etwas verrückt, doch ich musste es probieren.
2 – 11 – 2005.
Klick. Da waren sie. Geldquellen, höchst Illegal und potentiell tödlich. Es war alles dabei.
Speed, Kokain, Ecstasy und so weiter. Doch ich suchte nach etwas ganz bestimmten. Mit
meinen behandschuhten Händen suchte ich danach. Gleich darauf stellte ich fest, dass das
natürlich auch vorhanden war. Weiter hinten entdeckte ich noch etwas. Eine Paketbombe.
Die würde ich gut gebrauchen können, dachte ich mir und nahm sie heraus. Ich steckte das
Pulver und die Bombe in meine neue Gucci – Tasche, die ausreichend Stauraum bot. Sofort
verschloss ich den Schrank wieder und ging leise aus der Wohnung. Als ich an der Straße
angelangt war, rief ich ein Taxi und begab mich auf den Weg nach Hause. Ich hatte heute
Beute gemacht, jetzt musste ich sie nur noch irgendwie einsetzen.
Bronx passte perfekt zu einem Arschloch wie meinem Stiefvater. Ich stand vor der Kneipe,
in der er sich immer besonders gern besoff. Schnell vergewisserte ich mich, dass die Pille
noch in meiner Hosentasche war. Mein Blick fiel auf die Tür, ich öffnete sie und ging hinein. In dieser Spelunke fand man alles - von miesen Kleinverbrechern bis zu Räubern und
Junkies. Ein paar von diesen Gaunern pfiffen mir hinterher, als ich an ihnen vorbei an die
Bar ging, und einer besaß sogar die Frechheit, mir auf den Hintern zu klopfen. Ich bestrafte
ihn mit einem tödlichen Blick und setzte mich auf einen der Hocker. Langsam ließ ich meinen Blick über die Leute schweifen, bis ich ihn erblickte. Sein Anblick erregte so viel Wut
und Hass in mir, dass ich am liebsten aufgesprungen wäre, zu ihm rüber gerannt und ihn
erwürgt hätte. Aber ich musste mich noch ein wenig gedulden. Eine Kellnerin sprach mich
an: „Was darf´s denn sein, Süße?“ Ich sah sie an. Sie hatte rote, gelockte, hochgesteckte
Haare, knallpinke Lippen und war etwa Mitte Fünfzig. Sie war eine Kneipen-Kellnerin, wie
sie im Buche stand. „Ein kleines Bier, bitte.“
Kurz sah sie mich an und meinte: „Du bist nicht von hier, stimmt’s?“
„Woher wissen Sie das?“, antwortete ich mit einer Gegenfrage.
Sie lächelte mich an: „Weil du, bitte‘ sagst!“
Ich drehte mich in Richtung meines Stiefvaters um, achtete aber sorgfältig darauf, nicht erkannt zu werden. Hinter mir hörte ich die Kellnerin sagen: „Bring das zum alten Dursley!“
Der Kellner, der das Bier zu meinem Stiefvater trug, hatte noch drei andere Gläser, deshalb
war es zu riskant, die Pille in eines dieser Gläser zu geben. Es könnte den Falschen treffen,
auch wenn ich seine Freunde ebenso hasste. Ich musste warten, bis das Glas auf seinem
Tisch stand. Meine Chance zeigte sich, als er aufstand, um auf die Toilette zu gehen. Schnell
folgte ich ihm, nahm die Pille aus meiner Tasche und tat so, als ob ich auch auf die Toilette
müsste. Mit Absicht stieß ich gegen seinen Tisch und ließ die Pille in sein Glas fallen. Einer
seiner Freunde grollte mich an: „ Pass doch auf, du dämliche Schlampe!“
„Entschuldigung“, murmelte ich und ging auf die Damentoilette. Dort wartete ich dreißig
Sekunden, bevor ich mich wieder auf meinen Hocker begab. Mein Stiefvater war noch nicht
zurück, doch das Bierglas war komischerweise schon leer. Ich sah noch, wie sich der fetteste
Freund meines Stiefvaters den Bierschaum vom Schnurrbart leckte: „Scheiße“, flüsterte ich.
Als mein Stiefvater wieder zurückkam, schrie er den Fetten an: „Hast du Fixer etwa mein
Bier ausgetrunken?“ Als dieser gerade denn Mund öffnete, um etwas zu erwidern, brach er
auf einmal zusammen. Alle Kellner liefen zu ihm und auch ein paar der Leute. Erst jetzt
bemerkte ich, dass mein Bier bereits auf der Theke stand. Ich nahm einen Schluck, legte
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etwas Geld daneben und verschwand, während alle abgelenkt waren. Das war definitiv nicht
nach Plan gelaufen! Auch wenn dieser Mann es verdient hatte, da war ich mir sicher. Meinen Stiefvater musste ich mir nun wohl ein andermal vornehmen.
Ich schritt den schmalen Korridor entlang. Zufällig traf ich auf den blonden Mark, der sich
in meiner Nähe immer komisch verhielt. Ich fasste den Entschluss, einfach weiterzugehen
und ihn zu ignorieren, als er plötzlich auf mich zukam und mich begrüßte. Ich grüßte
freundlich zurück. „Wie geht’s“, erkundigte er sich. Ich antwortete kurz angebunden. Wir
redeten noch weiter über belangloses Zeug wie das Wetter, als er mich plötzlich fragte, ob
ich mit ihm mal was trinken gehen möchte. Das schockierte mich.
„Nur als Kumpels“, meinte er, als er meinen Gesichtsausdruck sah.
Mir war bewusst, dass da mehr dahinter steckte, also lehnte ich etwas gereizt ab: „Ist es nicht
ein bisschen dreist, mich zu fragen, schließlich ist mein Freund vor Kurzem gestorben.“
„Naja, ehm… Das wusste ich nicht..“, stotterte er.
Offensichtlich überraschte ihn das. Verdutzt sah ich ihn an. Er sagte nichts. Sekunden vergingen. Plötzlich kam ein Mann vorbei. Der dunkelhaarige junge Mann klopfte ihm kumpelhaft auf die Schulter.
„Kommst du jetzt?“, fragte der junge Mann etwas grob.
Mark entschuldigte sich und ging mit ihm davon.
Hilfsinspektor Thomas.
Bald hatte ich es geschafft. Ich konnte es immer noch nicht fassen. Ein so schönes junges Mädchen sollte jemanden umgebracht haben? Aber alle Indizien sprachen gegen Mrs.
Stone. Nachdem ich die Spange gefunden hatte, hatte ich auf eigene Faust ermittelt. Ich
war später allein wieder gekommen, und hatte das Schloss noch einmal genau mit der
Spange verglichen. Leider ließ sich nichts Genaues feststellen. Um hier den nötigen Beweis zu finden, müsste ich die Spange ins Labor schicken. Aber so schnell wollte ich nicht
aufgeben. Darum kaufte ich mir eine gleiche Haarspange und bestellte das gleiche Schloss
über das Büro. So erregte es kein Aufsehen, und ich musste weiterhin niemandem von der
Haarspange erzählen. Dann versuchte ich, mit der neuen Spange das nagelneue Schloss zu
knacken. Ich brauchte fast fünfzehn Minuten dafür, aber für jemanden, der geübt ist, wäre
das in fünf Minuten zu schaffen. Die Spuren auf meiner Spange waren eindeutig zahlreicher, als auf der von Mrs. Stone. Allerdings konnte das auch damit zu tun haben, dass ich
viel länger gebraucht hatte. Denn einige Spuren waren auf jeden Fall dieselben. Trotzdem
konnte ich mit so mickrigen Beweisen niemanden festnehmen. Also ermittelte ich weiter.
Jetzt waren bereits mehr als drei Wochen vergangen und ich befand mich wieder am Tatort.
Unter normalen Umständen, wäre das nach so langer Zeit vollkommen nutzlos gewesen,
allerdings glaubte ich immer mehr daran, etwas Entscheidendes übersehen zu haben. Nur
was?
Ich nahm alles gründlich unter die Lupe: Nichts! Sie musste doch irgendwo Spuren hinterlassen haben! Neben der Suche nach Beweisen hatte ich noch eine andere Frage: Mrs.
Stone sah für mich nicht wie eine Einbrecherin oder gar Mörderin aus. Trotzdem deutete
die kurze Zeit, die sie brauchte, um das Schloss zu knacken, darauf hin, dass sie ein Profi
in diesem Fach war. Allerdings wurde in letzter Zeit nirgendwo mit einer Spange eingebrochen. Und dann war da noch die Tatzeit. Für die Zeit, in der der Mord stattfand, hatte Mrs.
Stone ein sicheres Alibi. Sogar Nachbarn ihrer Freundin Liz hatten sie gesehen. Doch ich
hatte eine weitere nützliche Entdeckung gemacht. Liz hatte mir erzählt, dass Grace ungewöhnlich lange dazu gebraucht hatte, Kaffee zu holen. Wenn man sich also am Tatzeitpunkt
geirrt hätte, dann…
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Oh, ja! Das musste es sein. Irgendwie hatte Mrs. Stone es geschafft, den Todeszeitpunkt zu
verändern. Und genau danach musste ich jetzt Ausschau halten. Aber ich hatte doch schon
überall gesucht? Die plötzliche Hoffnung, die mich soeben befallen hatte, verwandelte sich
in Hilflosigkeit. Ich war eben doch ein Versager. Wie es aussah, musste ich diesen Fall den
Erfahrenen überlassen. Ich seufzte tief. Dann eben nicht.
Grace.
Nur mit Mühe konnte ich verhindern, in Panik auszubrechen. Was wollte der Bulle noch
hier? Hatte er Verdacht geschöpft? Dabei war ich mir sicher, alle Beweise vernichtet zu haben. Aber wie es aussah, musste ich irgendetwas übersehen haben. Er hatte mich aus dem
Zimmer geschickt - angeblich, um in Ruhe ermitteln zu können. Nun, er hatte nicht gelogen, allerdings hatte er mir nicht verraten, was er sich zu finden erhoffte. Jetzt wusste ich es:
er sammelte Beweise gegen mich! Was hatte ich vergessen? Es traf mich wie ein Blitzschlag.
Ich fasste mir an Kopf und dachte: „Meine Spange!“ Nach dem ersten Verhör gleich am Tatort, hatte ich sie am Tisch liegen gelassen. Oh mein Gott, mir wurde übel. Gleich würde ich
mich übergeben. Ich rannte ins Badezimmer und kotzte mir die Seele aus dem Leib. Wenn
ich noch länger hier bleiben müsste, würde es aus sein mit meiner Selbstbeherrschung.
Dabei hatte ich mich schon in Sicherheit gewogen. Ich hatte sogar schon versucht, meinen
Stiefvater umzubringen. Oh mein Gott, was sollte ich nur tun?
Ich atmete tief ein und aus. Erstens durfte ich mich nicht durch auffälliges Verhalten verraten. Vielleicht stand es noch gar nicht so schlecht um mich. Zweitens musste ich den
Polizisten aus der Wohnung bringen. Und drittens… Es blieb mir nichts anderes übrig. Ich
musste es tun, einen Versuch war es wert. Vielleicht wusste wirklich niemand außer ihm,
was ich getan hatte. Falsch, verbesserte ich mich: Vielleicht ahnte wirklich niemand außer
ihm, was ich getan hatte.
Ich nahm kaum war, dass Mr. Parker aus der Wohnung ging. Nun Problem zwei hatte sich
erledigt. Problem eins gab es im Moment nicht. Also blieb nur mehr Problem drei. Sollte
ich es gleich jetzt tun? Nein, das wäre nicht gut. Ich hatte noch keinen blassen Schimmer,
wie ich es tun würde, und überhaupt war es bereits viel zu spät. Mr. Parker würde jetzt nicht
mehr zur Polizeiwache zurückgehen.
Gestern als Mr. Parker gegangen war, und ich bereits im Bett gelegen hatte, hatte ich den
Entschluss gefasst. Mr. Parker wusste zu viel. Er musste eliminiert werden. Über das Telefonbuch hatte ich seine Adresse herausgefunden. Nun stand ich ein paar Stufen über seiner
Wohnungstür und verschaffte mir einen Überblick. Es war wie für mich gemacht. Ich befand mich im siebenten Stockwerk. Die Stiege hatte kleine schmale Stufen und sah gefährlich aus. Die nächste Ebene befand sich etwa zwei Meter unter mir und war sehr schmal. Sie
konnte einen Sturz schwer bremsen. An einem Ende dieser Plattform fehlte das Geländer.
Wenn man unglücklich fiel, konnte man durch das Loch im Geländer zirka zehn Meter in
die Tiefe fallen. So etwas überlebte man nur mit einer Riesenmenge Glück. Mr. Parker würde kein Glück haben. Ich hatte ein paar Stufen unter mir eine Schnur quer über die gesamte
Länge gespannt. Wenn er die Treppe hinunterging, würde er über die Schnur stolpern. Im
selben Moment wollte ich ihm einen Schubs geben. Natürlich mit Handschuhen, aber das
war doch selbstverständlich. Doch jetzt hieß es, Geduld zu haben und dann genau im rechten Moment zuzuschlagen. Es kam mir vor, als wäre eine halbe Ewigkeit vergangen, als sich
endlich die Tür öffnete. Mr. Parker sah schrecklich aus. Seine Augen waren blutunterlaufen,
seine Lippen hatten einen ungesunden Blauton, und ich konnte darauf schwören, noch
nie eine so rote Nase gesehen zu haben. Seine offensichtliche Krankheit würde mir einen
weiteren Vorteil verschaffen. Ein kranker Mr. Parker war mit Sicherheit leichter zu Fall zu
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bringen, als ein gesunder. Fiebernd wartete ich auf den richtigen Augenblick. Doch der kam
nicht. Mit einem Stöhnen hob Mr. Parker die Zeitung auf, murmelt etwas und verschwand
wieder hinter der Tür. Meine Freude verwandelte sich in Zorn. Wie konnte es sich dieser
trottelige Hilfsinspektor einfallen lassen, krank zu werden? Aber ich beruhigte mich schnell
wieder. Mir würde schon noch etwas anderes einfallen. Ich musste nur scharf nachdenken.
In Gedanken verließ ich das schäbige Haus. Wenn ich mich recht erinnerte, musste man,
wenn man länger als einen Tag krank war zum Arzt, um eine Krankheitsbestätigung einzufordern. Und selbst wenn nicht - Mr. Parker sah so aus, als ob er morgen auf jeden Fall
zum Arzt gehen würde. Morgen würde ich es noch einmal probieren, und dann würde es
mir gelingen.
Hilfsinspektor Thomas.
„Hatschi“ Umständlich schnäuzte ich mich in ein Taschentuch. Ich fühlte mich hundsmiserabel. Mir war schwindelig - ein weiterer Grund, um zum Arzt zu gehen. Ich trat in
das Treppenhaus und machte mich auf den Weg nach unten. Hinter mir nahm ich eine
schemenhafte Gestalt wahr. Wahrscheinlich Mrs. Pumpanikel, die sich wegen was weiß ich
beschweren wollte. Mit ihrem rosa Lippenstift und den mindestens fünfzehn Zentimeter
hohen Absätzen versuchte sie, von ihrer riesigen Schweinchennase ablenken. Trotz meines
Zustands schnaubte ich verächtlich.
Plötzlich stolperte ich. Was machte eine Schnur im Treppenhaus? Ich versuchte, mich am
Treppengelände festzuhalten. Auf einmal bekam ich einen Stoß von hinten. Mit dem Kopf
voran krachte ich auf eine Stufenkante und überschlug mich. Blut rann mir in die Augen
und versperrte mir die Sicht. Alles, was darauf folgte, erlebte ich wie in Zeitlupe. Vor mir
sah ich durch einen Blutschleier das Geländer auftauchen. Ich streckte meine Hand aus,
um mich festzuhalten, doch ein weiterer Schlag ließ mich auf das Loch im Geländer zuhalten. Mit dem Handrücken wischte ich mir das Blut aus meinen Augen. Endlich konnte ich
wieder vernünftig sehen. Neben mir konnte ich die Gestalt meines Verfolgers erkennen.
Es war nicht Mrs. Pumpanikel, die Gestalt war viel zu schlank dafür. Ich erkannte weizenblonde, lange Haare, eine zierliche aber schiefe Nase und große haselnussbraune Augen.
Ich kannte diese junge Frau. Grace Kelly Stone war gerade dabei, mich umzubringen! Diese
Tatsache wiederholte ich in Gedanken immer wieder, bis Panik über mich hereinbrach. Nur
noch ein paar Zentimeter trennten mich von dem tödlichen Loch, ein paar Sekunden Leben. Was sollte ich tun? Noch einmal versuchte ich mich festzuhalten, dann gab ich auf. Ich
fiel, wollte schreien, doch es ging nicht. Kein Ton kam über meine Lippen. Der Boden kam
immer näher und näher. Zehn Meter, wie sollte ich das überleben? Dann schlug ich auf.
Wilder Schmerz durchzuckte meine Glieder. Einige Rippen bohrten sich in meine Lunge.
Ich bekam keine Luft mehr, spuckte Blut. Dieser Schmerz… er war unerträglich, ich wollte,
dass er aufhört. Leise begann ich zu wimmern. Verschwommen konnte ich erkennen, dass
Grace an mir vorbeilief, sorgsam darauf bedacht, nicht in mein Blut zu treten. Wo blieben
die Nachbarn? Warum kam niemand? Dann erinnerte ich mich daran, wie spät es war.
Viel zu früh, um zur Arbeit zu gehen. Wieder spuckte ich Blut. So höllische Schmerzen.
Schließlich hörte der Schmerz auf. Vollkommene Schwärze und Stille umgab mich. Und
dann war nichts mehr…
Grace.
Heute war Weihnachten. Ich würde den Tag mit Sarah Parker verbringen. Sie hatte ein paar
weitere Freunde eingeladen. Eigentlich wollte ich nicht kommen. Ich fühlte mich elend
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und musste ständig daran denken, was ich gestern getan hatte … so kurz vor Weihnachten!
Aber da niemand sonst mit mir feiern konnte, hatte ich mich meinem Schicksal ergeben.
Eigentlich hätte ich längst dort sein sollen, immerhin hatte ich Sarah versprochen, ihr bei
den Vorbereitungen zu helfen. Schließlich überwand ich mich, klopfte an und trat ein. Der
verführerische Duft von selbstgebackenen Lebkuchen schlug mir entgegen. Obwohl ich es
Sarah nie zugetraut hätte, war sie die beste Köchin, die ich kannte. Sie hatte ein wunderschönes Puppengesicht mit großen saphirblauen Augen. Obwohl sie gern und gut aß, war
sie spindeldürr. Abgesehen vom Kochen bestand ihre Lieblingsbeschäftigung darin, Shoppen zu gehen. Und selbstverständlich hatte sie die High School als Prom Queen verlassen.
„Hi, ich bin da!“, rief ich in die Wohnung hinein.
„Wird aber auch Zeit! Du bist so spät wie immer …“, tönte es aus dem Nebenzimmer, in dem
sich die Küche befand.
„Was soll ich machen?“
„Wohnzimmer dekorieren!“
„Wird erledigt, Boss!“ Irgendwie war ich froh, mit Sarah einen leichten Ton anzuschlagen.
Es würde mir helfen, meine grässliche Tat zu verdrängen. Im Wohnzimmer erwartete mich
solch ein Durcheinander, dass ich am liebsten kehrt gemacht hätte. Aber die Vorstellung, allein in der Wohnung zu sein, in der Darren gestorben war, hielt mich davon ab. Stattdessen
machte ich mich an die Arbeit.
Das Schrillen der Haustürklingel ließ mich aufschrecken. War es denn schon so spät? Ich
hörte, dass Sarah die Tür öffnete und die ersten Besucher überschwänglich begrüßte. Neugierig ging ich ins Vorzimmer. Zwei Personen standen in der Tür, einen erkannte ich sofort:
Mark! Meine schlimmsten Befürchtungen waren wahr geworden. Ich konnte den Typ nicht
leiden. Er konnte zwar nichts dafür, dass er mit mir zum ungünstigsten Moment ausgehen
wollte und ich war vielleicht etwas nachtragend. Aber Mark war nicht der Mann, mit dem
ich Weihnachten feiern wollte. Auch die Gestalt hinter ihm erkannte ich. Der junge Mann
war ein Freund von Mark, ich hatte ihn einmal zusammen mit ihm gesehen.
„Grace, darf ich dir Kevin vorstellen? Kevin, das ist Grace.“ Mark deutete zwischen mir und
dem jungen Mann hin und her.
„Schön dich kennen zu lernen, Mark hat mir viel von dir erzählt“, begrüßte mich Kevin. Er
hatte ein süßes Lächeln. Wie es aussah, war der junge Mann ziemlich nett. Seine Anwesenheit versöhnte mich mit dem Umstand, dass ich so gar nicht in Weihnachtsstimmung war.
Vielleicht würde es doch noch ein halbwegs brauchbarer Abend werden …
3. Kapitel
Grace.
Es war eisig kalt. Ich wartete auf den Schulbus, der sich wegen der Schneemassen wieder einmal verspätete. Bis auf den Wind, der trotz des altmodischen Wartehäuschens mein
Haar zerzauste, war es mucksmäuschenstill. Durch den dichten Nebel konnte ich die dunklen Umrisse einiger Häuser erkennen. Dann plötzlich tauchte ein Licht auf. Bewegte es
sich auf mich zu? Kamm jemand zu mir? Waren das Schritte? Nein, das hatte ich mir sicher
nur eingebildet. Die Scheinwerfer des Autos waren bereits verschwunden. Es musste ein
Auto gewesen sein, oder etwa nicht? Ich erkannte die Silhouette eines Mannes - keinen
Meter entfernt von mir. Ich bekam eine Gänsehaut, wollte schreien. Es ging nicht. Kein Ton
kam über meine Lippen. Zitternd drückte ich meine Jacke noch fester an mich. Auf einmal
wurde es hell, so hell. Ich sah nichts mehr. Dann plötzlich ein lautes Hupen. Ich kannte
dieses Hupen. Mein Schulbus, endlich. Schnell schnappte ich mir meine Schultasche und
stieg ein. Als der Bus sich wieder in Bewegung setzte, erkannte ich, dass das, was ich für
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den Mann gehalten hatte, nur ein kleiner Baum war. Erleichtert ließ ich mich in meinen
Sitz fallen.
Genau so musste Melanie sich jetzt fühlen. Der Nebel, der Wind, die Dunkelheit - alles war
wie damals. Nur würde ihre Geschichte nicht so gut enden. Sie würde sterben. Bei diesem
Gedanken lächelte ich. Melanie war die Tochter meines Stiefvaters aus erster Ehe. Mit ihr
war viel Böses aus meinem einstigen Leben verbunden. Es war mein gutes Recht, sie umzubringen.
Ich hatte alles genauestens geplant. Bis die Feuerwehr die Straße von den querliegenden
Bäumen freigelegt hätte, würde Melanie längst hängen. Drei Meter trennten mich noch
von ihr, jetzt musste ich leise sein. Ich nahm den Strick fester in meine behandschuhten
Hände und kam weiter auf sie zu. Nun stand ich direkt hinter ihr, trotzdem hatte sie mich
noch nicht bemerkt. Blitzschnell legte ich den Strick um ihren Hals. Melanie wollte schreien, aber ich hielt ihr mit der linken Hand den Mund zu. Währenddessen bastelte ich mit
meiner Rechten einen Henkerknoten mit sechsfacher Umschlingung. Mit nur einer Hand
und um den Hals eines sich sträubenden Mädchens war das gar nicht so einfach. Aber
ich hatte fleißig geübt. Schließlich hörte das Mädchen auf, sich zu wehren und begann zu
wimmern. Vorsichtig nahm ich meine Hand von ihrem Mund. Sie schrie nicht. Wie es aussah, war sie in eine Schockstarre verfallen. Das war ausgezeichnet. So war es viel leichter.
Geschickt band ich das andere Ende an einem Querbalken des Wartehäuschens fest. Er lag
so hoch, dass ich mich auf die Zehenspitzen stellen musste, um ihn zu erreichen. Mit der
anderen Hand hob ich Melanie hoch. Sie war ungewöhnlich leicht. Als der zweite Knoten
ebenfalls fertig war, ließ ich Melanie los. Dreißig Zentimeter vor dem Boden blieben Melanies Füße in der Luft hängen. Ihr Hals dehnte sich und sie begann zu röcheln. Mein Blick
fand ihre Schultasche, ich öffnete sie und suchte nach ihrem I Phone. Als ich es gefunden
hatte suchte ich auf Google eine Seite, wo der von mir angewendete Henkerknoten genau
beschrieben war. Ich legte das Handy auf die Sitzbank und ließ die Seite geöffnet. Danach
eilte ich um das Wartehäuschen herum und begann die großen Steine, die dort lagen, zu
Melanie zu tragen. Unter ihren Füßen baute ich damit einen kleinen Turm aus Steinen.
Ich achtete darauf, dass die obersten Steine am wackeligsten und kleinsten waren. Dann
nahm ich Melanies Füße und schupfte sie hin und her. Einige Steine fielen von dem Turm.
Genau diesen Effekt wollte ich erzielen. Schließlich ging ich ein paar Schritte zurück und
begutachtete mein Werk: Melanie hatte einen Steinhaufen zusammengetragen, war hinaufgestiegen, hatte sich den Strick um den Hals gelegt und durch das Gezappel ihrer Beine war
der Steinhaufen umgefallen.
Alles sah wie Selbstmord aus. Ich war zufrieden. Eilig machte ich mich auf den Weg zu
Taxistand. Und plötzlich durchfuhr mich ein Schock: Melanie war unschuldig.
Ich stieg aus dem Taxi aus und bezahlte. Ich bekam nur am Rande mit, welche Summe mir
der Fahrer nannte. Es handelte sich dabei um einen korpulenten Mann der meiner Schätzung nach zu urteilen so um die 50 war, aber genau konnte ich das nicht sagen, denn ich
war nicht gut im Schätzen des Alters von fremden Leuten,. Danach knallte ich die Tür des
quietschgelben Taxis zu und machte mich auf den Weg. Wohin, wusste ich selbst nicht genau. Ich ging meine Optionen durch: ich konnte erstens nach Hause gehen, was ich auf keinen Fall wollte, mich zweitens der Polizei zu stellen, was auf eine Katastrophe hinauslaufen
würde, drittens wieder bei einer Freundin zu übernachten, was auch nicht ziemlich erfreulich enden würde oder viertens mich irgendwo zu verkriechen, wofür ich mich letztendlich
auch entschied. Auf der Taxifahrt war mir bewusst geworden, dass ich gerade ein elfjähriges
Kind umgebracht hatte, das ich zu allem Überfluss auch noch ziemlich gut leiden konn- 92 -
te. Es hatte keinen Zweck, ich konnte zwar jedem, wirklich jedem etwas vormachen, die
Polizei in die Irre führen, meine Freunde täuschen, jeden Mord vertuschen, doch da war
eine Person, die es immer wissen würde, und diese Person war ich. Mich selbst konnte
ich nicht täuschen, so sehr ich es mir auch einredete, so sehr ich mich auch anstrengte,
es funktionierte einfach nicht. Ich konnte es nicht einfach vergessen, das Gefühl des toten
Körpers unter meinen Fingern oder der Rausch, das Hochgefühl -, das war etwas, das ich
mit Alkohol einfach nicht erreichen konnte. Das hatte ich schon versucht. Dennoch waren
da die Schuldgefühle, die Scham nur wenige Stunden danach, wenn mir bewusst wurde,
dass mein Machwerk falsch war und dass die Gefühle, die ich danach empfand, genau die
Gefühle waren, die ich empfinden musste. Es war ein Teufelskreis, den ich nicht beenden
konnte - und zu meiner Überraschung auch nicht beenden wollte. Es tat mir gut, ohne
jedwede Erinnerung an meinen Stiefvater zu leben. Da war noch das Problem, dass mein
Stiefvater selbst noch immer ungestört durch die Gassen und Straßen der Bronx wandern
konnte, ohne dass auch nur irgendjemand bemerkte, welch grausame Machenschaften er
verübte. Es ekelte mich an! Der Versuch, ihn zu töten, war gescheitert. Und das würde
noch eine Zeit lang so bleiben. Es sollte sich ja kein Muster dahinter verstecken. Es ist noch
vieles zu erledigen, und durch den Mord an Melanie hatte ich mir bewiesen, dass ich keine
Angst davor hatte, mir die Finger schmutzig zu machen. Ich konnte skrupellos handeln,
was ziemlich gut für den weiteren Verlauf war.
Aber nun wanderte ich mit diesem Wissen durch die Straßen New Yorks, bis mich eine
Welle der Trauer übermannte. Es war zu meiner Verwunderung nicht die Trauer, die man
einfach unterdrücken konnte, wenn man wollte. Es war die Sorte, die einen verschluckte,
die einem den Atem raubte und mit der man nicht so leicht fertig wurde. Mir war bewusst,
dass ich nicht weiter durch die Straßen gehen konnte, ohne Aufmerksamkeit zu erregen.
Ich wusste überhaupt nicht, wo ich war, also entschied ich, mir erst mal ein Straßenschild
zu suchen, an dem ich mich orientieren konnte. Ich war in Brooklyn. Das war gut. Und es
war ein Park in der Nähe, was auch gut war.
Ich ging geradewegs auf den Park zu, ging hinein und betrachtete ihn erst mal. Es war
ein Park mittlerer Größe mit mächtigen Bäumen, die kreuz und quer verstreut standen,
vermutlich alle hunderte Jahre alt. Letztendlich entschied ich, mich auf eine Parkbank zu
setzen, die tief hinter ein paar alten Bäumen verborgen lag. Das weiß gestrichene Holz roch
nach Haselnuss. Das lag wohl daran, dass die Parkbank direkt neben einem Haselnussbaum stand. Aus der leichten Schneedecke lugten ein paar Spitzen grünes Gras heraus.
Obwohl es schon spät war, war es noch nicht vollkommen dunkel. Ich setzte mich auf die
Parkbank, kauerte mich zusammen, zog die Beine an meine Brust und horchte auf das
Schluchzen, das in unregelmäßigen Abständen aus meiner Kehle kam. Ich sah mich um
und schaute wieder auf den Schnee, der nun, da sich meine Augen mit Tränen füllten, undeutlich davor verschwamm. Als ich merkte, dass mich das nicht beruhigte, konzentrierte
ich mich auf meinen Atem. Doch auch das konnte mich nicht beruhigen, aber ich konnte
wenigstens anfangen, nachzudenken. warum hatte ich Melanie umgebracht? Warum hatte
ich überhaupt mit dem Töten begonnen? Warum musste Darren sterben? Es waren Fragen,
auf die ich keine Antwort wusste. Ich wusste auch nicht, warum ich überhaupt anfing, Fragen zu stellen. Was wusste ich dann eigentlich noch? Ich wusste nur, dass ich eigentlich so
gut wie gar nichts wusste. Das Schluchzen war immer noch da, genauso wie die Tränen, die
unaufhaltsam meine Wange hinunterliefen und auf meine Jacke tropften. Mittlerweile hatte
ich einen leichten Salzgeschmack im Mund, der mich aber nicht weiter störte. Was mich
aber störte, regelrecht aufregte, war die Tatsache, dass ich keine Antworten fand. Aber ich
musste welche finden, ich musste es wenigstens versuchen.
Ich hatte Melanie umgebracht, weil sie mich an meinen Stiefvater und seine grauenhaften
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Schläge erinnerte, wobei jeder Schlag erniedrigender war als der andere, und danach litt ich
Höllenqualen, mit denen ich immer lange nach den Schlägen noch zu kämpfen hatte. Ich
hatte mit dem Töten begonnen, weil mich Darren an meinen Stiefvater erinnerte und diese
Erinnerung mich einfach zu sehr schmerzte.
Auch wenn diese Antworten keine Lösung des Problems waren, konnte ich es nun deutlich
spüren: Da war ein Monster, eine dunkle Seite in mir, die Rache wollte. Aber da war auch die
Erkenntnis, dass es nicht richtig war. Ich spürte das Verlangen danach, es einfach hinter mir
zu lassen. Aber dazu war ich nicht in der Lage, ich musste beenden, was ich begonnen hatte. Außerdem wurde mir bewusst, dass ich auch körperlich spüren konnte. Es war absurd,
doch irgendwie half es mir, die Wahrheit zu realisieren.
Ich sah ein, dass das Nachdenken nicht half und dass es wohl am einfachsten war, mich
wieder dem Schluchzen zu widmen. Und genau das war es, wonach ich suchte: Den einfachsten Weg. Ich starrte auf den Schnee, den ich noch immer nicht klar sehen konnte,
bemühte mich, nicht laut zu sein, doch es half alles nichts. Ich konnte das soweit eindämmen, das ich die Schritte auf dem Gehweg hörte, der nicht weit von mir entfernt lag, durch
den Haselnussbaum konnte ich aber nicht sehen, wer sich auf dem Gehweg herumtrieb. Es
war Mischung aus High Heels und Männerschuhen. Ich hielt den Atem an. Gott sei Dank!
Die Schritte entfernten sich wieder, bis ich sie nicht mehr hören konnte. Es war inzwischen
schon längst dunkel, und ich schaute hinauf in den Nachthimmel, konnte keine Sterne aber
dafür einen fast Vollen Mond entdecken. Ich war nicht abergläubisch, aber der Vollmond
machte mich immer ganz kribbelig. Ich hatte mich normalerweise gut im Griff, aber bei
Vollmond konnte ich mich nur schwer kontrollieren.
Da waren sie wieder! Die Schritte! Sie kamen näher. Ich ließ mich von der Bank gleiten und
duckte mich hinter die Querbalken. Von dort hatte ich einen guten Blick auf eine andere
Parkbank, die ebenfalls aus weißem Holz war. Eine Frau setzte sich. Ihre Haut schien im
blassen Mondlicht aschfahl. Sie trug eine Hose, deren Farbe ich nicht definieren konnte
und einen giftig grünen Cardigan Die Sorte Grün, die man nicht in der Natur findet. Ihr
Haar war lockig und die Farbe ähnelte der ihres Gesichtes: aschfahl. Ihre Haarmähne hing
ihr bis zur Taille über den Rücken hinab. Sie kramte in ihrer riesigen Tasche, die mit dem
karmesinroten Farbton gar nicht auffälliger hätte sein können. Die Frau schaute sich fast
panisch nach allen Seiten um, und als sie mich erblickte erschrak sie. Ich kroch hinter der
Bank hervor und tat so, als würde ich sie nicht beachten. Es funktionierte, denn sie schaute
wieder weg. Sie kramte wieder in ihrer Tasche und holte nach einigen Augenblicken etwas
heraus.. Nach einiger Zeit hörte ich wieder Schritte, diesmal entfernten sie sich, doch sie
kamen gleich darauf zurück. Zu meinem Entsetzten sah ich, dass eine große männliche
Gestalt direkt auf mich zuging. Ich war in Panik, doch ich entschied, der Gestalt einfach
keine Beachtung zu schenken. Aber als ich ihren Schatten über mir sah, wusste ich nicht,
was ich tun sollte. Ich hatte einfach nur Panik. Panik, die alles überstieg. Jedes Gefühl, das
ich bisher in meinem Leben gefühlt habe, war nicht so stark wie die Panik, die ich fühlte.
Das einzige, was meine Angst noch übertraf, war der Hass auf meinen Stiefvater. Mit zusammengekniffenen Augen sah ich zu der Gestalt auf.
Kevin.
Wie immer wanderte ich nachts, wenn ich von einem langen Tag an der Uni nach Hause
kam, gleich durch den Park. Doch irgendetwas war heute anders. Ich sah mich nach allen
Seiten um, konnte aber nichts entdecken. Ich horchte, und da war es: Das Geräusch, so
voller Schmerz, dass das bloße Horchen schon Folter war. Es war ein Schluchzen, das von
weiter hinten kam. Ich drehte mich um, doch da war nichts. Ich ging hinter die Bäume,
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und da war es: Der Ursprung des Schluchzens. Ein Mädchen, oder besser gesagt eine Frau.
Soviel ich erkennen konnte, war sie nicht viel jünger als ich. Und bei genauerem Hinsehen
erkannte ich das Mädchen, das mir mein bester Freund gezeigt hatte, das Mädchen, das er
wegen ihrer Stärke so unheimlich mochte. Doch nun saß sie da, offensichtlich verletzt, und
ich konnte nicht anders, als zu ihr hinzugehen, mich neben sie zu setzen und sie einfach
nur anzusehen. Ich musterte sie und war mir auf einmal sicher, dass sie es war. Ich räusperte mich und fragte sie, was los war. Sie gab keine Antwort, das Schluchzen wurde noch
herzzerreißender. Ich nahm ihre Hand und suchte ihren Blick. Sie sah auf und sah mir
direkt in die Augen. Selbst der Medizinstudent in mir, der Menschen begutachtete, ohne
dabei etwas zu empfinden, konnte keinen einzigen Makel entdecken.
Sie schien mir zu vertrauen. Ihre haselnussbraunen Augen musterten mich, bevor sie wieder geradeaus in den matschigen Schnee schaute. „Ich weiß nicht genau, warum ich dir das
jetzt erzähle. Aber es wäre schön, wenn du ein Weilchen bei mir sitzen bleiben könntest.“
Sie lächelte unsicher. Mein Herz machte einen Sprung. Ich nahm wieder ihre zierliche
Hand und sie legte den Kopf an meine Brust. Wir saßen eine Ewigkeit so. Ich weiß nicht,
wann ich mich zuletzt so vollkommen glücklich gefühlt hatte. Erst als die Kälte der Märznacht nicht mehr länger zu ignorieren war und meine Hände schon ganz steif gefroren
waren, nahm ich seufzend den Arm von ihrer Schulter. „Ich glaube, du solltest langsam
nach Hause. Ich könnte dich bringen, wenn du willst“, sagte ich.
Ihre Augen leuchteten im Mondlicht. „Ja, das wäre lieb“, antwortete sie schließlich. Wir
standen auf und machten uns auf den Weg. Grace. Was für ein zauberhafter Name. Und wie
passend für dieses Mädchen aus Manhattan. Ich konnte es fast nicht glauben, dass dieser
Engel sich bei mir eingehängt hatte, und ich im Gleichschritt mit ihm über das Straßenpflaster schwebte. Ursprünglich hatte ich nur nach Hause gewollt, um unter die Decke zu
schlüpfen und endlich einmal auszuschlafen. Doch jetzt spielte es keine Rolle mehr, dass
Brooklyn in der entgegengesetzten Richtung lag. Ich hätte noch stundenlang mit ihr durch
die Stadt laufen können, ohne müde zu werden.
„Nun komm ich schon allein zurecht“, sagte sie, als wir schließlich vor ihrem Haus angelangt waren.
Ich wollte nicht, dass sie wieder so einfach aus meinem Leben verschwand. „Okay, aber wir
sollten und wieder sehen“, stotterte ich.
Sie lächelte. „Auf jeden Fall. Ich gebe dir meine Telefonnummer“, sagte sie und nahm ein
Stück Papier und einen Stift aus ihrer Tasche. Sie schrieb ein paar Ziffern darauf und reichte es mir. Sie wandte sich zum Gehen und ich tat dasselbe. Als sie schon fast verschwunden
war rief ich: „Ich ruf dich an!“ In Gedanken fügte ich noch hinzu: Und das sicher so bald
wie möglich.
4. Kapitel
Grace.
Ich war einfach nur happy. Es würde nicht lange dauern, dann würde es klingeln und ich
würde ihm mit einem strahlenden Lächeln in die Arme fallen. Wir wollten heute ins Kino
und er würde den Film aussuchen. Ich hoffte auf einen Actionfilm. Mit diesen Liebesschnulzen konnte ich nichts anfangen.
Das Klingeln riss mich aus meinen Gedanken. Ich rannte zur Tür, schaute auf dem Weg
dorthin nochmal schnell in den Spiegel und checkte, ob alles richtig saß. Dann riss ich die
Tür auf und da war er: Kevin. Medizinstudent, super Aussehen, … und doch war er nur ein
Freund. Wir umarmten uns, ich griff nach meiner Tasche und meinen Schlüsseln und dann
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machten wir uns auf den Weg. Wir quatschten über unseren Tag und ich merkte, dass heute
etwas an ihm anders war. Als er beim Hinausgehen aber nach meiner Hand fasste, hatte ich
den Gedanken gleich wieder vergessen. Wir nahmen uns ein Taxi. Kevin wollte mir zu meinem tiefsten Bedauern nicht sagen, welchen Film wir anschauten. „Überraschung!“, lachte
er und zwinkerte mir zu. Hatte er vergessen, wie sehr ich Überraschungen hasste? Einmal
hatte er mich auf der Straße gesehen und mir zum Spaß die Augen zugehalten. Ich hatte
nach ihm getreten und ihn voll erwischt, und zwar genau an der richtigen Stelle. Tja, … für
ihn war es wohl die falsche … Auf jeden Fall konnte er fast eine Stunde lang nicht aufrecht
gehen. Da half es auch nicht viel, dass ich mich gefühlte hundert Mal dafür entschuldigte.
Arm in Arm betraten wir den Kinosaal und setzten uns auf unsere Plätze. Es dauerte nicht
lange, da lief der Vorspann an. Ich war zutiefst schockiert, als das Wort Titanic groß auf der
Leinwand erschien. Der Film war fast zu Ende, als Kevin den Arm um mich legte. Ich hatte
gar nicht gemerkt dass ich zitterte, aber es war eben so traurig. Ich schaute Kevin an, unsere
Gesichter näherten sich langsam und dann plötzlich lag sein Mund auf meinem und es
war das schönste Gefühl der Welt. Wehmütig entfernten wir uns wieder voneinander und
er setzte ein verschmitztes Lächeln auf. Also, wenn ich geglaubt hatte, Darren könnte gut
küssen, hatte ich mich gewaltig getäuscht. Als der Film aus war, gingen wir Hand in Hand
aus dem Kino, und als er meine Hand kurz drückte, machte mein sowieso schon gemartertes Herz noch einen kleinen Sprung. Kevin schlug vor, noch eine Pizza essen zu gehen, was
mich sehr freute, denn ich hatte ihm vor Kurzem gesagt, dass mein Lieblingsessen Pizza
ist. Das bezeugte, dass er aufmerksam zugehört hatte. So machten wir uns auf den Weg.
Wir fuhren mit der U-Bahn zu Luigis, einem kleinen Italiener in der East 22nd Street. Das
Lokal war ein Geheimtipp und wie erwartet gesteckt voll. Ich hatte keine Hoffnung, noch
einen Platz zu bekommen. Doch Kevin hatte einen Freund, der dort arbeitete, und so bekamen wir einen Tisch in der hintersten Ecke des Lokals. Als mir Kevin den Mantel abnahm
und ich mich auf den Stuhl setzte, stieg mir der Duft von Lasagne und Oregano in die Nase.
Eine junge Kellnerin kam zu uns und nahm unsere Bestellung auf.
„Die hat ganz schön was auf den Hüften, findest du nicht?“, flüsterte ich Kevin ins Ohr und
beugte mich dabei zu ihm über den Tisch. Kevin zwinkerte mir zu. „Es kann ja nicht jeder
so eine makellose Figur haben wie du.“ Er grinste und ich spürte, wie Hitze in meine Wangen schoss, als sein Blick für einen Moment an meinem Ausschnitt hängen blieb. Rasch
lehnte ich mich zurück und vertiefte mich angestrengt in die Speisekarte.
Kevin bestellte Cola und Spaghetti Bolognese. „Lasagne und ein Glas Wasser, bitte“, krächzte ich hinter der Menükarte und räusperte an dem Frosch, der mir im Hals saß. Kevins Finger schlossen sich warm um meine Hand, während er einen Aperitif orderte. „Ein Gläschen
Sekt hilft bestimmt!“ Ich hörte deutlich das Lachen in seiner Stimme. Als wir an unserem
Orangensaft-Sekt Getränk nippten, kam ich mir irgendwie seltsam vor. Vor gerade einmal
einer halben Stunde hatten wir uns geküsst, und nun tat er so, als wäre nie etwas gewesen.
Als die rundliche Kellnerin unser Essen brachte, fragte ich: „Wie fandest du denn den Kinobesuch so?“. Die erwartete Antwort kam nicht, er zog sich nur ganz dreist seine Spaghetti
in den Mund. Ich ließ meine dampfende Lasagne noch ein bisschen stehen, aus Angst, mir
die Zunge zu verbrennen und mich vollkommen zu blamieren. Als ich schließlich nach ein
paar Minuten ein Stückchen probierte, zerging sie wie ein Feuerwerk der Geschmäcker in
meinem Mund. Als wir aufgegessen hatten, bestellten wir uns noch einen Eisbecher. Die
Kellnerin teilte uns mit, dass sie nur mehr über das Eis für einen Eisbecher verfügten. Kevin
fragte mich sofort, ob wir uns nicht den Eisbecher teilen wollten. Dieses Angebot nahm ich
natürlich dankend an, und wir bestellten. Als sie uns dann unser Eis mit den zwei Löffeln
brachte, war ich etwas skeptisch. Als ich gerade einen Löffel Schokoeis in den Mund nehmen wollte, bemerkte ich, dass Kevin mich anstarrte. Ich erstarrte in meiner Bewegung und
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fragte Kevin, was denn los sei. Sein Blick schmolz dahin, und es schien fast so, als wäre er in
einer anderen Welt. Ich sah in kurz an, bevor ich mich wieder von ihm abwandte, nur um
kurze Zeit später zu fragen, was denn los sei. Ich bekam lange keine Antwort. Doch als ich
dann die verlegene Antwort: „Tja, du faszinierst mich einfach“ erhielt, war es um mich geschehen. Ich konnte nicht umhin zu fragen, was da im Kino los gewesen war, und warum er
sich jetzt so komisch benahm. Als ich lange keine Antwort erhielt, sah ich zu ihm auf, nur
um erneut zu bemerken, dass er mich mit seinen haselnussbraunen Augen ansah. Es regte
mich mittlerweile schon ziemlich auf. Er schwieg die ganze Zeit, und hatte nichts Besseres
zu tun, als mich die ganze Zeit anzustarren. Da ich nichts Besseres zu tun hatte, starrte ich
zurück. Nichts regte sich. Es schien, als wäre die Zeit stehen geblieben. Ich wusste nicht,
wie lange wir so dasaßen, alles was ich sagen konnte war, dass das Eis geschmolzen war.
Die Kellnerin kam, und nahm das Eis mit, es regte sich jedoch keiner von uns. Es war zwar
ziemlich schwer, nichts zu sagen, denn es brannten mir tausend Fragen auf der Zunge.
Es wurde schon fast unheimlich, mittlerweile kannte ich jeden seiner Gesichtszüge, weil
wir uns schon so lange anstarrten. Später meinte ich eine Regung in seinem Gesicht zu
erkennen, doch ich hatte mich wohl getäuscht. Das war nicht mehr normal, dachte ich und
stand auf. Ich ging zum Tresen, bezahlte meinen Teil der Rechnung, holte meine Jacke und
ging. Ich drehte mich noch einmal um, doch es war noch immer keine Regung in seiner
Miene zu erkennen. Folglich drehte ich mich wieder um und ging aus dem Restaurant. Da
es schon sehr spät war, entschied ich mich, ein Taxi zu rufen. Doch als sie alle an mir vorbeifuhren, und es schon mitten in der Nacht war, rief ich den Taxiservice an, und bestellte
ein Taxi. Das Taxi würde wohl noch eine Weile brauchen, dachte ich, doch ich blieb entschlossen stehen, trotz der klirrenden Kälte, die langsam anfing, meine Glieder zu lähmen.
Plötzlich hörte ich Schritte hinter mir. Ich schätzte meine Chancen ab, wegzurennen, doch
als mir bewusst wurde, dass ich keine Möglichkeit hatte, blieb ich stehen. Zielsicher drehte
ich mich um, bereit, zum Schlag auszuholen, doch überrascht musste ich feststellen, das
Kevin mit erhobenen Händen hinter mir stand. Ich drehte mich wieder Richtung Straße
und beachtete ihn gar nicht, was eindeutig funktionierte. Als mein Taxi kam, stieg ich ein
und nannte dem Fahrer die Adresse. Zu meinem Entsetzen, stieg Kevin auch mit ein. Ich
ließ mir nichts anmerken. Kevin probierte oft, mich anzusprechen, doch ich hielt an meiner
Strategie fest. Ich ließ mir weiterhin nichts anmerken, doch in meinem Inneren brodelte es.
Tausend Gedanken schwirrten mir im Kopf herum. Unter anderem fragte ich mich, ob er
mir überhaupt noch in die Augen sehen konnte, ob ich ihm überhaupt noch in die Augen
sehen konnte. Es war schwer, ihm nicht an die Gurgel zu gehen, denn im Moment nervte er
mich. Es war nicht mehr weit bis Manhattan, bis ich wieder in den engen Gassen mit den
grellen Lichtern war. Kevin bemerkte, dass sich ein Lächeln auf meinem Gesicht ausbreitete. Ich wollte ihn nicht dazu veranlassen, noch etwas zu sagen, also starrte ich aus dem
Fenster. Schon bald sah ich die Fassade meines Wohnhauses, es konnte nicht mehr weit
sein. Als ich ausstieg stieg Kevin, wie nicht anders zu erwarten, ebenfalls aus dem Taxi. Ich
wollte dem Taxifahrer schon das Geld geben, als Kevin schnell einen Schein zückte und ihm
dem Fahrer wortlos zusteckte. Es waren nur noch ein paar Schritte bis zum Eingang, doch
als ich gehen wollte, hielt mich Kevin am Ärmel fest. Ich drehte mich zu ihm um, wollte
mich wehren, doch er war stärker. Er nahm mich nun in seine Arme und küsste mich. Er
küsste Leidenschaftlich und, natürlich, hervorragend. Ich wollte mich erst nicht von ihm
lösen, musste mir aber dann doch sagen, dass ich morgen eine Vorlesung hatte und dass
ich nicht zu spät kommen durfte. Also löste ich mich wehmütig von ihm. Ohne ein Wort
aber mit einem strahlenden Lächeln rannte ich in meine Wohnung, ich wusste, er würde
anrufen. Tja, dieser Tag lief ein bisschen anders als gedacht.
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5. Kapitel
Grace.
Ich ging die Straße entlang, mein Ziel vor Augen, die Kreditkarte in der Tasche, so wie jede
normale Frau es auch machen würde. Doch war mein Ziel ein anderes. Ich hatte diese ekelhafte Frau, die meinen Stiefvater verführt hatte, schon immer verabscheut. Nun ging ich auf
Barneys zu und hatte nur ein Ziel: Terri, die frühere Affäre meines Stiefvaters, würde dieses
Geschäft nicht lebend verlassen. Den Lärm der Straße bekam ich nicht mit, ich war zu
fixiert auf das, was nun auf mich wartete. Ich entdeckte sie sofort, als ich den Laden betrat.
Mit ihren Pink gefärbten Haaren war Terri selbst in der Menge nicht zu übersehen. Ich
schaute ganz unauffällig die Schuhe an, wobei ich einige Paare entdeckte, die ziemlich
hübsch aussahen. Ich nahm ein beliebiges Paar mit und sah mich noch weiter um, wobei
ich meine High Heels musterte. Sie waren von Dolce & Gabbana, etwa zehn Zentimeter
hoch und blau. Sie waren schlicht, unauffällig und wunderschön. Ich entschied mich, sie
zu kaufen, da sie auch extrem verbilligt waren. Doch vorher hatte ich noch etwas zu erledigen. Terri stand etwas abseits und sag sich giftgrüne Gucci Pumps an. Ich steuerte auf
sie zu, doch als ich eine etwas ältere, stämmige Frau auf sie zugehen sah, blieb ich abrupt
stehen. Anscheinend wollte die Frau die gleichen Schuhe wie Terri, doch als diese sie nur
anschrie schnappte sich die Frau einen beigen Gucci High Heel, den eine Blondine neben
ihr in der Hand hatte und schlug ihn Terri direkt auf den Kehlkopf. Danach ging alles ganz
schnell. Viele Frauen rannten in Panik aus dem Geschäft, ich ging schnell weiter, schnappte
mir noch ein zweites Paar Schuhe, ging unauffällig zur Kassa und bezahlte. Ich bekam
noch mit, dass Terris Mörderin verhaftet und mit Handschellen abgeführt wurde. Ich hörte
noch das Geräusch des davonfahrenden Polizeiwagens, dann ging ich unauffällig aus dem
Geschäft, jedoch nicht, ohne mich noch einmal umzudrehen. Terri lag am Boden, Blut rann
ihr über die Brust und klebte in ihren Pink gefärbten Haaren. Sie war ganz weiß, sogar ihre
Lippen hatten die Farbe von Schnee. Doch das kümmerte mich nicht weiter, ich drehte mich
wieder um und verließ das Geschäft.
Da hatte mir diese verrückte Psychopathin aber eine Menge Arbeit erspart. Und dieses Mal
musste ich die Frau nicht einmal selbst umbringen.
„Tja, ich bin echt fein raus“, dachte ich, als ich auf dem Gehsteig neben der Straße entlangging. Als alle anderen sahen, dass die Frau tot war, waren sie wie eine Bande erschreckter
Hühner herumgelaufen, bis sie raus aus dem Laden waren. Auch ich hatte mich schnell verdrückt. Alles, was ich noch wahrnahm, war die Verkäuferin, die schnell die Rettung anrief.
Es hatte keinen Sinn mehr, sie war tot. Dass musste ich schließlich wissen, denn ich hatte
genug Leichen gesehen, um es zu wissen. Dabei hatte ich ihnen bei meinen Morden nie
wirklich ins Gesicht gesehen. Nur der schlaffe Körper, wie er mit blutgetränkter Kleidung
am Boden lag, der kam mir bekannt vor. Es war ein erschreckender Anblick, in ihre glasigen
Augen zu sehen. Doch das alles tat jetzt nichts mehr zur Sache. Die Hauptsache war, dass
sie tot war.
Seltsam. Ich fragte mich, ob ich darüber enttäuscht war, meinen ursprünglichen Plan nicht
mehr ausführen zu können. Ich hatte vor dem hochstöckigen Autohaus warten wollen, bis
sie auftauchte. Dann hätte ich ihr mit einem Taschentuch, das in Beruhigungsmittel getränkt war, Mund und Nase zugedrückt. Unfähig, sich zu wehren, hätte ich sie über die
Halterung in die Tiefe geworfen. Ein paar ihrer Sachen hätte ich ihr nachgeworfen und den
Rest neben ihrem Auto stehen gelassen. Dann hätte es so ausgesehen, als ob es ein für New
York ganz gewöhnlicher Unfall gewesen wäre.
Aber so war alles natürlich viel einfacher. Jetzt würden sie die Verrückte einsperren. Das war
ein Sieg für mich - und die Gesellschaft. Mit schnellen Schritten ging ich weiter. Ich nahm
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nichts um mich herum wahr. Etwas, das mir noch zum Verhängnis werden sollte. Denn als
ich gerade dabei war, die Straße zu überqueren, hörte ich ein lautes Hupen und das letzte
was ich sah, war die rote Karosserie eines Wagens. Stechender Schmerz durchzuckte mich,
ich nahm wahr, wie mein Körper über das Autodach geschleudert wurde. Der Aufprall auf
dem Boden nahm mir den Atem. Jeder einzelne Knochen in meinem Körper fühlte sich wie
zertrümmert an. Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, bis es endlich schwarz wurde und ich
von den Schmerzen erlöst war.
Der Schlag war präzise. Blut tropfte aus meiner einst perfekt geformten Nase. In diesem
Augenblick wurde es mir klar: Gegen keinen Menschen empfand ich so viel Hass wie gegen
ihn. Wir hatten uns vorher gestritten. Der eigentliche Grund des Streits ging im Eifer des
Gefechts verloren. Er prügelte auf mich ein. Ich hatte Schmerzen. Höllische Schmerzen,
die meinen Körper lähmten und mich nur ein Gefühl empfinden ließen: Hass. Noch mehr
Schmerzen. Dann war Leere.
Schweißgebadet wachte ich auf. Alles um mich herum war Weiß. Wo war ich? Langsam
lichtete sich der Nebel in meinem Kopf. Ich sah Kevin, der neben meinem Bett stand und
besorgt aussah.
„Wo bin ich“, stammelte ich. Es fiel mir immer noch schwer, einen klaren Gedanken zu
fassen.
„Im Krankenhaus“, antwortete Kevin. „Wie geht’s dir?“ Er sah besorgt aus.
Meine Antwort war kaum hörbar. „ Geht so … Was ist passiert?“ Ich konnte mich beim
besten Willen nicht erinnern. Das Letzte, was ich wusste, war, dass ich auf dem Weg nach
Hause war.
Kevin nahm meine Hand vorsichtig in seine. “Du bist fast überfahren worden!“ In seinen
Augen konnte ich sehen, wie schockiert er immer noch war.
„Und woher weißt du das?“ Ich blickte immer weniger durch. Warum war Kevin hier im
Krankenhaus?
„Ich arbeite hier.“
Aber natürlich! Er ist ja Medizinstudent. Das war logisch. Ich hatte Schmerzen. Kevin gab
mir ein Schmerzmittel und ich döste sofort ein.
Von Schmerz gezeichnete Tage vergingen. Nur langsam ging es aufwärts. An einem Mittwoch kam dann plötzlich Kevin in mein Zimmer.
„Hast du heute keine Schicht?“, fragte ich.
„Ich hab mir frei genommen, denn du darfst nach Hause.“
Erfreut blickte ich ihn an. Eifrig packte ich meine Sachen zusammen. Doch ich wurde enttäuscht. Stunden um Stunden vergingen. Ich fragte Kevin, ob er nicht fragen könnte, warum das so lange dauerte.
„Natürlich kann ich das machen.“ Mit einem Lächeln verschwand er aus dem sterilen Zimmer. Kurze Zeit später kam er wieder herein. „Die haben gerade einen Unfall hereinbekommen. Es herrscht Hochbetrieb. Das mit deiner Entlassung könnte noch ein bisschen
dauern.“
„Aber warum muss denn eine Schwester diese Entlassungspapiere bringen? Warum kannst
du das nicht machen?“
„Das kann ich machen, aber nur, wenn ich im Dienst bin. Und ich möchte dir doch helfen,
deine Sachen nach Hause zu bringen.“
„Warum braucht man überhaupt solche Papiere? Das ist doch total sinnlos.“
„Wenn man solche Papiere nicht hätte, würde jeder Kommen und Gehen, wann er will. Stell
dir mal vor, was dann im Krankenhaus los sein würde.“
Irgendwie hatte er ja Recht. Trotzdem fand ich es doof, so lange hier drin zu sitzen und
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nichts tun zu können. Endlich brachte eine Schwester die Entlassungspapiere. Im Taxi
nahm ich verlegen seine Hand.
„Du siehst aber heute besonders gut aus“, bemerkte er.
Ich lächelte ihn an. „Danke. Bestimmt weil ich wieder gesund bin.“
Wir fuhren mit dem Taxi bis zu meiner Wohnung. Ich bezahlte und er nahm meinen Koffer
mit nach oben. An der Tür blieben wir verlegen stehen. „Bleibst du noch etwas?“ Ich hatte
Sehnsucht nach seiner Nähe und wollte heute in der Wohnung nicht allein sein.
Sprachlos nickte er …
Als ich aufwachte spürte ich seinen warmen Atem an meiner Stirn. Mein Kopf lag auf seiner
Brust, ich hörte sein Herz schlagen. Wenn es mir nur möglich gewesen wäre, für immer in
diesem Augenblick zu verweilen. Ich zeichnete mit dem Finger sanft seine perfekt geformte
Brust nach. Zart küsste ich ihn. Das weckte ihn auf.
„Gut geschlafen?“, fragte er.
„Es könnte nicht besser gewesen sein“, bemerkte ich.
Langsam stand ich auf. Das gefiel ihm gar nicht. „Was ist, Liebling? Geh nicht weg!“ Sein
Blick war noch vom Schlaf gefangen. Als er mich so zärtlich ansah, schnürte sich mein
Herz zusammen. „Wir müssen reden“, antwortete ich verlegen.
Er sah mich fragend an.
„Tja, ich weiß nicht, wie du das siehst, aber der Status ‚Nur Freunde‘ ist meiner Meinung
nach nicht mehr gültig für uns.“
„Also nach letzter Nacht ganz sicher nicht“, sagte er lachend.
Meine Beine zitterten. Schnell setzte ich mich aufs Bett. „Was empfindest du für mich?“
Er sah mich lange an. Offensichtlich fehlten ihm die Worte. Mir ging es da ganz ähnlich.
„Ich mag dich. Sehr.“, sagte er schließlich, ohne mich aus den Augen zu lassen.
„Naja, dann… Sind wir jetzt zusammen, oder?“, fragte ich schüchtern.
„Ja, das sind wir.“ Er beugte sich vor und besiegelte unsere junge Liebe mit einem Kuss.
6. Kapitel
Kevin.
Mit schnellen Schritten ging ich von Bryans Wohnung zu meinem Auto, bevor mir seine
Umzugskiste herunterfiel. Bryan war ein guter Freund, aber er brabbelte noch mehr als ein
Wellensittich. Bronx ist meiner Meinung nach ein gefährlicher Ort. Ich verstand, warum
Bryan hier weg wollte. Hier also hatte Grace den größten Teil ihrer Kindheit verbracht. Die
Straßen waren grau und die Gassen verdreckt. Und da erblickte ich ihn. Ein fetter Kerl mit
schäbigen, schwarzen Hosen und einem braunen Shirt. Ein Mistkerl, wie er ihm Buche
stand. Ich wusste sofort, wer da vor mir stand. Es war Graces Stiefvater. Er sah genauso aus,
wie auf dem Foto, das Grace mir gezeigt hat. Ich schluckte schwer. Wut kochte in mir hoch.
Der Kerl, der meine Freundin jahrelang geschlagen hatte, stand keine drei Meter von mir
entfernt.
Er sah zu mir herüber, wir sahen uns direkt ins Gesicht. „Hey, du da! Hast du ein Problem?“, blaffte er mich an.
„Ja, dich!“ Ich konnte mich kaum zurückhalten.
„Was?“ Jetzt kam er direkt auf mich zu.
„Grace!“, sagte ich mit sicherer Stimme.
Er blieb geschockt stehen. „Was?“ Man konnte ihm geradezu ansehen, wie erschüttert er
war.
- 100 -
„Kannst du dich nicht mehr an deine eigene Tochter - oder besser gesagt Stieftochter erinnern? Das Mädchen, das du jahrelang geschlagen hast!“
Er kam noch einen Schritt näher. „Woher kennst du Grace?“
„Sie ist meine Freundin!“
Er sah an mir herunter. „Ich habe mir schon gedacht, dass die Mistschlampe nichts Besseres als so eine Schwuchtel wie dich abkriegt!“ Er lachte höhnisch und spuckte vor mir aus.
Jetzt war das Maß voll. Ich trat ihm in den Schritt und er jaulte auf. Mit der Faust gab er
mir eins aufs Auge und ich stolperte zurück. Er war gerade dabei, auf mich loszugehen, als
Bryan mir zu Hilfe kam. Bryan war einen Kopf größer als das Arschgesicht und konnte so
manchen einschüchtern.
„Was ist hier los?“, brüllte er und baute sich vor dem Mann auf.
Der Kerl drehte sich um, um etwas zu erwidern, bis er Bryan sah. Sein Blick wischte kurz
zu mir und dann wieder zu Bryan bevor er Reißaus nahm. Bryan streckte mir die Hand hin,
um mir aufzuhelfen. Ich nahm sie und mit einem Stöhnen, richtete mich auf und fasste
mir ans Auge. In einem Fenster spiegelte sich mein Gesicht wieder. Ein blaues Auge würde
sich nicht vermeiden lassen. Ich fragte mich, was Grace wohl zu dieser Geschichte sagen
würde. Wenn ich es ihr überhaupt erzählte…
Zielstrebig schlenderte ich auf das Sardi‘s zu. Ich hatte eine dunkle Sonnenbrille auf. Als ich
das Sardi’s betrat, saß Grace bereits an unserem Tisch. Misstrauisch blickte sie auf meine
Sonnenbrille. Ich legte meinen Mantel ab. Schnell kam eine Kellnerin. Ich bestellte ein Bier,
Grace eine Cola. Ich merkte, wie Grace mich musterte. Zunächst sagte sie nichts. Die Kellnerin stellte geschickt unsere Getränke auf den Tisch. Danach bestellten wir unser Essen.
„Warum hast du noch immer deine Sonnenbrille auf“, fragte sie endlich.
„Keine Ahnung“, antwortete ich gereizt. Sie beugte sich vor, als wollte sie mich küssen, doch
mit einer geschickten Bewegung zog sie mir die Sonnenbrille vom Gesicht. Grace saugte
hörbar die Luft ein. „Was ist denn passiert?“
Nun war es passiert, was ich um jeden Preis vor ihr fernhalten wollte. „Dein Stiefvater …“
„Was?“ Es war ihr anzusehen, wie schockiert sie war.
„Gestern hab ich ihn getroffen.“
„Was?“ Ihre Stimme kippte gefährlich.
„Er ist handgreiflich geworden.“
„Kann ich mir denken.“ Ihr Gesichtsausdruck ließ erkennen, dass sie darüber nicht erfreut
war. Dann kam das Essen, und ich war froh, denn Grace hatte von nun an nicht mehr so
viele Chancen, weitere Fragen zu stellen. Als wir aufgegessen hatten, war es allerdings
vorbei mit der Ruhe.
„Was hat er dir denn angetan?“ In ihren Augen spiegelte sich Besorgnis.
„Wir hatten ’ne Auseinandersetzung.“
„Aber …“
„Du, ich muss jetzt leider noch einmal weg.“
„Was? Wieso denn? Du kannst mich jetzt doch nicht einfach so stehen lassen? Wir müssen
das besprechen! Mein Stiefvater ist …“ An Weggehen war bei ihrem Temperament nicht zu
denken. Sie war auf hundertachtzig.
„Naja, ich wollte mit Mark noch was trinken …“ Ich war ein schlechter Lügner, Grace durchschaute mich ohne viel Mühe.
„Und dafür versetzt du mich?“ Sie hatte mich enttarnt, sie war ja nicht blöd.
Ich stand auf, ging zum Tresen und bezahlte die Rechnung. Mit schnellen Schritten war
ich wieder bei Grace, gab ihr einen ausgedehnten Kuss, ehe ich flink verschwand. Diese
Diskussion würde ein anderes Mal zu Ende geführt werden.
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Grace.
Genau konnte ich mich daran erinnern, wie Katherine sich immer über mich lustig gemacht hat. Sie hat die schlimmsten Sachen zu mir gesagt, und mich immer herunter gemacht. Die anderen standen nur da und lachten. Und das alles nur, weil ich nicht so wohlhabend und hübsch wie sie war. Persönlich fand ich mich immer hübscher - etwas, das ich
ihr nie gesagt hatte, weil ich wusste, was dann auf mich zugekommen wäre. Ich war damals
ihr Opfer und jetzt ist sie meins.
Den ganzen Morgen hatte ich vor ihrem Haus hinter ein paar Büschen gewartet, bis sie
endlich herauskam. Sie trug ein rosa Top und einen Minirock. Wie immer. Ein paar weitere
Minuten wartete ich darauf, dass sie mich auch sicher nicht entdeckte, bis ich ihr weiter
nachschlich. In der Hand hielt ich das lange Stück Holz, einem Baseballschläger vergleichbar. Nach einiger Zeit gingen wir an einem Wald vorbei, der perfekte Ort, sie umzubringen.
Und als ob es das Schicksal so gewollt hätte, blieb sie kurz stehen, um ihren Rock ein wenig zurechtzurücken. Das war meine Chance! Jetzt oder nie! So leise ich konnte, schlich
ich mich näher, bis ich sie fast an den Haaren ziehen konnte. Ich konnte es beinahe nicht
fassen, dass die blöde Schlampe mich bis jetzt noch nicht bemerkt hatte. Dann allerdings
fiel mir auf, dass sie Ohrstöpsel hatte. Kein Wunder, dass sie mich nicht hören konnte. Die
Musik drang bis zu mir vor. „So Emotional“ von Glee.
Dass wir beide die Serie mochten, war wohl das einzige, was wir gemeinsam hatten. Ich hob
den Stock mit beiden Händen und ließ ihn auf ihren Kopf herunter sausen. Sofort brach
sie mit einem Schmerzensschrei zusammen. Den Knüppel fest in der Hand schlug ich so
oft auf sie ein, bis ich sicher war, dass sie tot war. Erst als sie sich nicht mehr rührte, machte mich daran, ihren toten Körper tiefer in den Wald schleifen. Unterwegs ließ ich noch
die Mordwaffe verschwinden und machte ihren Mp3 Player aus. Das wimmernde Gedudel
machte mich krank. Außerdem durfte sie nicht zu früh gefunden werden. Dafür dass sie
so schlank aussah, war sie ziemlich schwer. Ich packte sie mit beiden Händen am Bein und
zog sie in den Wald, immer tiefer, aber nicht so tief, dass ich mich verlief. Denn das Letzte,
was ich wollte, war, mit der Leiche des Mädchens, das ich gerade umgebracht hatte, in einem Wald festzusitzen. Sorgfältig versteckte ich sie unter ein paar Sträuchern und Blättern.
Denn Rest würden hoffentlich die Tiere für mich übernehmen.
Schnell rannte ich zurück zur U-Bahn Station. Ein Hochgefühl machte sich in mir breit. Ich
würde jetzt nach Hause fahren und ein bisschen fernsehen, während Katherine im Wald
verrottete.
Hand in Hand schlenderten wir nebeneinander her. Wir redeten nicht viel. Es war warm
für die Jahreszeit.
„Also wegen dem Treffen …“ Ich musste es einfach wissen.
„Ja?“ Ihm war anzumerken, dass ihn das nicht besonders erfreute.
„Was hat er nun genau gemacht?“ Ich fühlte mich schwach. Meine Verletzungen machten
mir wieder etwas zu schaffen, denn wir gingen schon eine ganze Weile in der Sonne.
Kevin ging schweigend neben mir her. „Hey, was hast du eigentlich auf deine letzte Prüfung?“, sagte er plötzlich, als hätte er vergessen, worüber wir eben gesprochen hatten.
Mann, der ließ sich echt nicht kleinkriegen.
„Tja, eine zwei … minus, wieso?“ Was er konnte, konnte ich schon längst.
„Wollte es einfach nur wissen.“
„Klar.“ Glaubte er, ich wäre so blöd?
„Leider hab ich die nächste schon in ein paar Tagen.“ Dann spielte ich eben sein Spiel, was
machte das schon.
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„Hast du schon fleißig gelernt?“
„Natürlich. Das wird eine schwere Prüfung.“ Wie lange wollte er sein Spiel noch durchziehen? Langsam merkte ich ein leichtes Schwindelgefühl. Es hielt an, und wieder wurde alles
schwer. Der Boden kam gefährlich nahe, doch bevor ich aufprallen konnte, hielten starke
Hände mich ganz fest. Sanft legte er mich auf den Boden, danach war es dunkel.
Langsam öffnete ich die Augen. Ich lag auf einem Bett, neben mir stand eine Lampe. Mir
war hundeelend zumute. Mein Kopf dröhnte und mein Bewusstsein war umnebelt. Am
Rand des Bettes konnte ich eine Gestalt erkennen. Es war Kevin. Ich befand mich bei mir zu
Hause. Ruckartig setzte ich mich auf. Sofort wurde mir schwindelig und ich ließ mich wieder auf mein Bett fallen. Verzweifelt versuchte ich, nicht wieder die Besinnung zu verlieren.
Mit Erfolg. Nochmals setzte ich mich auf, diesmal aber langsamer. Kurz wurde mir schwarz
vor den Augen, doch dann hatte ich mich wieder unter Kontrolle.
„Nun, haben wir uns wieder unter die Lebenden gesellt?“, fragte Kevin mich spöttisch. Doch
seine Stimme hatte einen besorgten Unterton. „Was hat unsere Prinzessin denn so aufgeregt, dass sie es vorzog, in Ohnmacht zu fallen?“
Solche kleinen Neckereien waren nichts Besonderes. Wir ärgerten uns oft gegenseitig, aber
diesmal machte es mich wütend. „Hat der Herr Medizinstudent denn nichts Wichtigeres zu
tun, als mich zu verarschen?“ Meine Antwort war wohl etwas überraschend, auf jeden Fall
starrte mich Kevin erst einmal wie vom Donner getroffen an.
Dann begann er vorsichtig zu lachen. „Ja wirklich sehr lustig, haha… eh…“
Doch ich stimmte nicht ein, sondern gab noch einen drauf. „Warum hast du den Abschluss
fast nicht geschafft? Ich habe es leider vergessen, kannst du mir auf die Sprünge helfen?“
Kevin konnte es nicht leiden, wenn man Witze über seine beinahe nicht bestandene Abschlussprüfung riss. Das brachte ihn zur Weißglut. Sein Kopf wurde knallrot, er presste
die Lippen aufeinander. Ich stellte fest, dass er kurz davor stand, wie ein der Vulkan zu
explodieren.
Ich grinste ihn herausfordernd an. „Hast du eine Lernschwäche?“, spöttelte ich. Ich war
sicher, das würde ihm den Rest geben. Und tatsächlich stürmte er aus der Wohnung. Er
rannte die lange Treppe hinunter, durch die Tür hinaus und auf die Straße. Als ich ihm
nachsah, bereute ich sofort wieder, was ich gesagt hatte, aber ich war viel zu stolz, um das
zuzugeben, geschweige denn, ihm hinterher zu rennen und um Entschuldigung zu bitten.
7. Kapitel
Grace.
Seit Tagen hatte ich nichts mehr von Kevin gehört. Ich war fix und fertig. Schon oft hatte ich
mit dem Gedanken gespielt, Kevin anzurufen. Heute war Valentinstag. Dieses bedrückte
Gefühl erschwerte mir das Denken. Ein Gedanke war in meinem Kopf: Ruf ihn an. Dann
hast du keine Schmerzen mehr. Ich wollte gerade zum Handy greifen, als es an der Tür
klingelte. Schweren Herzens stand ich auf. Vorsichtig lugte ich durch den Spion und war
erstaunt. Rasch öffnete ich die Tür. Kevin blickte mir in die Augen.
„Es tut mir ja so leid. Ich hätte mich nicht so affig benehmen dürfen.“, sagte ich reumütig.
„Da hast du aber Glück – ich liebe Äffchen!“ Seine Stimme war voller Fürsorge. Ich konnte
nicht anders, ich musste ihn umarmen. „Hey, mal langsam mit den jungen Pferden.“
„Damit musst du eben rechnen“, sagte ich neckisch und schaute ihn von unten an.
Sanft schob er mich von sich weg. Geschickt zog er etwas aus seiner Hosentasche. Mein
Herz klopfte mir bis zum Hals. Zuerst sah ich nur eine rote Rose, die er mir in die Hand
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drückte. Danach drehte er mich um und hantierte mit seinen zärtlichen Fingern am Verschluss einer Kette, die er mir um den Hals legte. Verdutzt drehte ich mich um. Lächelnd
blickte er auf mich herab. Ich drehte das filigrane goldene Herz zwischen den Fingern und
musste lächeln. Danach stellte ich mich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen langen,
ausgedehnten Kuss, der alle unausgesprochenen Fragen beantwortete.
Kevin betrat daraufhin die Wohnung, und wir machten es uns gemütlich …
Schon früh wurde ich wach. Nach der allmorgendlichen Routine, bestehend aus Zähneputzen, Frühstücken, Anziehen, Kämmen, Make-up auftragen und Katze füttern ging ich aus
dem Haus. Es war acht Uhr am Morgen. Die Vorlesung begann um zehn. Ich entschied,
mich in den Aufenthaltsraum der Uni zu begeben. Es würde sich schon eine Tätigkeit finden. Ich setzte mich in einen bequemen Sessel, und schon bald war ich tief in Gedanken
versunken …
Ich hatte eine heftige Auseinandersetzung mit meinem Stiefvater gehabt, die in einer saftigen Ohrfeige endete. Das brachte das Fass zum Überlaufen. Ich wollte nicht länger sein Box
Sack sein, also schloss ich mich in meinem Zimmer ein und griff nach meinem iPhone,
das auf meinem Nachtkästchen lag. In meinen Kontakten war eine Nummer gespeichert,
die zu einer jungen Frau gehörte, die ich vor langer Zeit auf einer Klassenfahrt kennengelernt hatte. Cassidy und ich hatten uns damals angefreundet, und sie hatte mir versichert,
dass ich sie jederzeit anrufen könnte - und das tat ich. Ich wollte weg. Weg von meinem
Stiefvater. Weg von dieser Stadt, an die ich nur schlechte Erinnerungen hatte. Ich konnte es nicht fassen, aber Cassidy stimmte tatsächlich zu. Ich musste ihr nicht einmal die
ganze Geschichte erzählen, ein paar Andeutungen hatten gereicht. Schon bald buchte ich
online ein Zugticket nach San Francisco. Der nächste Morgen war kalt. Es war der Morgen
des 2.11.2005, mein 16. Geburtstag. Draußen regnete es. Meine Koffer waren gepackt. Sie
enthielten nur das Nötigste, sowie mein gesamtes Gespartes. Es war sehr früh, ich war unfreiwillig aus dem Schlaf gerissen worden. Ich entschied mich mit meinen Koffern aus dem
Haus zu schleichen, jedoch nicht, ohne vorher etwas zu essen. Eine halbe Stunde später
war ich am Bahnhof von New York angelangt. An die anschließende dreitägige Fahrt nach
San Francisco erinnerte ich mich nur noch bruchstückhaft. Die Ankunft in San Francisco
war von gemischten Gefühlen begleitet. Ich sah Cassidys wallendes rotes Haar, noch bevor
ich ihr Gesicht entdeckte. Später war ich in Cassidys Wohnung, einem Loft. Sie verdiente
dem Anschein nach mehr, als sie mir erzählt hatte. San Francisco war für mich seitdem
immer ein Zufluchtsort gewesen, obwohl ich danach nicht mehr oft dort war.
Das alles war vor fünf Jahren passiert. Ich war in San Francisco geblieben, bis ich mich
schließlich dazu entschloss, nach New York zurückzugehen, um zu studieren. Als ich auf
meine Armbanduhr sah, musste ich erschreckt feststellen, dass es schon kurz vor zehn war.
Ich musste mich beeilen, wenn ich nicht zur Vorlesung zu spät kommen wollte.
8. Kapitel
Kevin.
Dieses Wochenende besuchte ich meine Verwandten in Suburbs. Ich war bereits am Freitag gekommen, jetzt war Sonntag und als Abschluss dieses schönen Wochenendes machte
ich mit meinem Lieblingsonkel Steve einen Spaziergang im Wald. Es war nicht sonderlich
kalt. Onkel Steve und ich redeten über dies und das, als uns plötzlich ein modriger Geruch
auffiel. Mein Onkel meinte, dass das der Geruch eines Kadavers wäre. Wir wollten das tote
Tier nicht so liegen lassen. Also suchten wir nach dem Ursprung des Geruches. Schließlich
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nahm ich etwas unter einem Gebüsch wahr. Hier stank es bereits barbarisch. Ich trat näher
und schob einige Äste zur Seite, um mir alles genauer anzusehen. Als ich erkannte was da
unter dem Busch lag, fuhr ich entsetzt zurück. Das war nicht der Kadaver eines Tieres, sondern der eines Menschen! Ich machte auf dem Absatz kehrt und rannte in die Richtung, aus
der ich gekommen war - direkt in die Arme meines Onkels, der - von meinem hysterischen
Geschrei alarmiert - auf mich zukam. Er stand direkt neben mir, und an seinen Mundbewegungen konnte ich erkennen, dass er irgendetwas sagte, doch in meiner Panik konnte
ich nichts hören. Endlich drang seine Stimme zu mir durch. „Junge, Junge beruhige dich.
Wir sehen uns das jetzt gemeinsam noch einmal an. Vielleicht hast du dich geirrt, und es
ist doch nur ein Tier.“ Obwohl ich beleidigt war, dass mir mein Onkel, trotz meines Medizinstudiums nicht zutraute, einen Tierkadaver von einem Menschenkadaver unterscheiden
zu können, fasste ich mich wieder. Zusammen mit Onkel Steve ging ich noch einmal zu
dem Gebüsch, obwohl alles in mir von dem schrecklichen Fund fern bleiben wollte. Als wir
die Äste auseinander schoben, merkten wir, dass ich mich nicht geirrt hatte. In dem Busch
lag eine junge Frau. Mein Blick wanderte von ihren Füßen aus immer weiter aufwärts. Fast
am gesamten Körper fehlte die Haut, überall sah ich verfaultes Fleisch. Und als ob das
nicht schon schlimm genug gewesen wäre, krabbelten hunderte von widerlichen Maden
über ihren Körper - und aus unzähligen Löchern aus ihm heraus. An manchen Stellen war
bereits Leichenflüssigkeit ausgetreten, aber am schlimmsten war ihr Gesicht! Denn als ich
in ihre Augen sehen wollte, sah ich nur mehr leere, blutige Höhlen. Die Maden hatten ihre
Augen vollständig aufgefressen! Trotz meines Medizinstudiums hatte ich noch nie zuvor
etwas so Schreckliches wie diese Leiche gesehen. Ein würgender Reiz schnürte mir die
Kehle zu. Hilfesuchend schaute ich mich nach dem nächsten Busch um, zwang mich dann
allerdings, nicht in Panik zu verfallen. Ich war ein angehender Arzt, verdammt! Eine Leiche
durfte mich nicht derartig aus der Fassung bringen. Ich holte mein Handy aus meiner Tasche und übergab es Onkel Steve. „Ruf die Polizei!“
Onkel Steve nickte. Obwohl dieser Anblick ekelerregend war, gewann das medizinische Interesse an dem Leichenfund die Oberhand. Während Onkel Steve telefonierte, sah ich mir
die Leiche der Frau noch einmal genauer an.
Grace.
Ich saß auf der Couch, trank Tee und las ein Buch, als mich plötzlich das Klingeln des Telefons aus meinen Gedanken riss. Mit der einen Hand stellte ich die Tasse auf den Wohnzimmertisch, während ich mit der anderen nach dem Hörer griff.
„Grace!“, dröhnte mir Kevins Stimme entgegen.
„Oh, hey Kevin, wie ist es bei deiner Familie?“
„Jaja, schön, aber hör mir kurz zu.“ Er sprach mit gehetzter Stimme.
„Du klingst aufgebracht, ist irgendwas?“ Sein angespannter Ton ließ meine Alarmglocken
schrillen.
„Das versuche ich dir ja die ganze Zeit zu erklären! Ich habe gerade mit Onkel Steve einen
Spaziergang im Wald gemacht. Auf einmal drang ein widerwärtiger Gestank aus dem Gebüsch. Es roch nach verwestem Fleisch. Und weißt du, was wir entdeckt haben?“
Eine schreckliche Ahnung schoss mir durch den Kopf und ich betete, dass sie nicht zutraf.
„Keine Ahnung ... ein totes Tier?“
Kurz blieb es am Hörer still, als ob er sich beruhigen müsste: „ Es war ein toter MENSCH!
Onkel Steve und ich haben bereits die Polizei alarmiert.“
Ein Schauer durchfuhr mich wie ein Blitz. Obwohl ich es schon vermutet hatte, war ich
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trotzdem geschockt. Wie groß waren die Chancen, dass mein eigener Freund die Leiche von
einem der Menschen fand, den ich umgebracht hatte? Denn dass es Katherine war, daran
zweifelte ich keinen Augenblick. Ich meine, wie viele Leichen lagen denn noch in diesem
verdammten Wald?
„ Grace … Grace bist du noch dran?“ Kevins erstaunlich ruhige Stimme holte mich aus meinen beunruhigenden Gedanken in die Wirklichkeit zurück.
„I..i..ch..“ I meinem Reflex legte ich auf und warf den Hörer ans andere Ende der Couch.
Nachdem ich aufgelegt hatte, fühlte ich mich irgendwie mies. Es war jemand, den ich umgebracht hatte, denn ich wusste, wo dieser Wald war. Nun war es raus. War es das, was ich
wollte? Die Todesstrafe? Nein, denn so viel wusste ich nun. Ich wollte meinen Stiefvater
töten. Aber wie? War das überhaupt möglich? Es waren Fragen, deren Antworten irgendwo
verborgen lagen. Doch es lief nur auf eines hinaus: Ich musste Wallace töten. Doch würde
das meine Probleme lösen? Konnte ich mit einem einzigen Schnitt alle meine Probleme
eliminieren? Und würde diese Eliminierung meiner Probleme so einfach funktionieren?
Das wusste ich nicht. Aber würde ich es denn je herausfinden, wenn ich es nicht versuchte? Nein, denn so viel war mir klar. Ich wollte nicht nur dasitzen, ich musste es zumindest
probieren. Nur wie? Das war eine der vielen Fragen, deren Antworten ich nicht wusste. Nun
würde ich alles daran setzten, Antworten auf diese Fragen zu finden. Das war nicht einfach.
Ich war am Ende. Da klingelte plötzlich das Telefon. Verzweifelt hoffte ich, dass es Kevin
war, doch ich wurde mit einem Blick auf das Display nur wieder enttäuscht. Ich hob ab.
„Hallo“, sagte ich etwas bedrückt.
„Hi“. Es war Liz, die am anderen Ende der Leitung war.
„Was willst du?“
„Eigentlich nur reden. Aber was ist los mit dir?“
Nun war ich in einer Zwickmühle. „Kevin … ähm … Wir haben uns gestritten.“
„Oh. Wie blöd! Kann ich etwas für dich tun?“
„Nein, es geht schon.“
„Naja, wenn du was brauchst, ruf einfach an.“
„Werde ich. Bye.“
„Tschüss!“ Die Leitung war unterbrochen. Ich war niedergeschlagen. Ich wusste, dass ich
unter diesen Umständen nicht schlafen konnte, also schluckte ich eine Schlaftablette und
fiel in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
9. Kapitel
Grace.
Mit allergrößter Vorsicht klebte ich das bewegungsmeldende Modul an die Oberfläche des
Paketes. Alles, was ich jetzt noch zu tun hatte, war, den Deckel zu schließen und ihn zuzukleben. Ich hatte mir alles genau vorgestellt: dieser miese Bastard würde den Deckel meines
Paketes öffnen und - Boom! Das würde ihn endgültig lehren, jungen Mädchen nicht unter
den Rock zu fassen. Das alles würde ich nicht nur aus Rache machen. Ich beschützte all die
anderen Mädchen, die er belästigt hatte oder noch belästigen würde.
Nur zu genau erinnerte ich mich noch an diesen Mistkerl, wie er mir an den Busen gegrabscht hatte und mir unter den Rock gefahren war, als niemand hingesehen hatte. Und
niemals würde ich den verhängnisvollen Tag vergessen, an dem ich noch länger in der
Schule war, um in der Bibliothek etwas für ein Referat vorzubereiten. Ich war gerade auf
dem Weg zur Toilette gewesen, als er mich auf einmal von hinten gepackt und versucht hatte, mich in die Abstellkammer zu zerren. Ich schrie aus voller Kehle aber ich wusste, dass
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das nichts nützen würde, da nur er und ich in der Schule waren. Er drückte mich an die
Wand und versuchte mir die Bluse aufzureißen. Doch ich wehrte mich, kratzte ihn und traf
ihn mit meinem Schuh zwischen die Beine. Er klappte zusammen und stürzte zu Boden
und ich rannte aus der Schule. Ich hielt nicht an, bis ich mir ganz sicher war, dass er mich
nicht verfolgte. Zuhause kassierte ich Schläge, weil ich so spät kam, doch ich sagte nichts.
Ich wusste, dass mir niemand zuhören würde. Also ging ich weiter in die Schule und sorgte
dafür, dass ich nie mehr alleine unterwegs war.
Doch heute war der Tag der Abrechnung gekommen. Zufrieden starrte ich auf das Paket vor
mir. Es war zu gefährlich, das Paket an der Poststelle abzugeben, also fuhr ich mit dem Bus
nach Bronx und machte mich auf dem Weg zu seinem Haus. Da stand ich nun, vor dem
Haus des Mannes, der vor nicht allzu vielen Jahren versucht hatte, mich zu vergewaltigen.
Mit schnellen Schritten rannte ich die paar Stufen zu seinem Haus hoch und legte das Paket
ab. Ich klingelte nicht. Er würde es schon finden und wenn es explodierte, war ich schon
längst wieder in New York City.
An diesem Abend schaltete ich den Fernseher ein, um mir die Nachrichten anzusehen.
Mein Herz klopfte aufgeregt, als der Nachrichtensprecher sagte: „Eine Tragödie ereignete
sich heute in Bronx, als eine Explosion die Bewohner der Yates Avenue in Aufruhr versetzte.
Mehrere wurden verletzt und es gab auch einen Toten. Bei dem Mann handelte es sich um
den Lehrer Alan Smith, dem das Haus gehörte, vor dem sich die Explosion ereignete. Es
wird noch immer nach der Explosionsursache gesucht. Die Polizei arbeitet bereits fieberhaft
an dem Fall.“
Ich schaltete den Fernseher aus und lehnte mich zufrieden zurück. Das lief ja wie am
Schnürchen. Ich hatte allen Mädchen an dieser Schule einen Gefallen getan. Jetzt konnte
ich beruhigt den Rest des Tages genießen.
Der Morgen begann wie jeder andere auch. Kevin las Zeitung, ich frühstückte gemütlich.
Als ich gerade einen Schluck von meinem Kaffee nahm, stupste mich Kevin an, und ich
verschüttete den heißen Kaffee auf meinen Pyjama. Ich wollte gerade aufstehen, doch Kevin
hielt mich zurück.
„Du musst dir da was ansehen, Grace.“
„Sorry, aber ich muss mir was anderes anziehen.“
Ich ging schnell in meinen begehbaren Kleiderschrank und schlüpfte in die erstbesten Klamotten. Als ich wieder zurück zum Esstisch kam, war Kevin schon ganz hibbelig. Er legte
die Zeitung vor mir auf den Tisch und ich begann laut zu lesen:
„Mörder von junger Frau aus den Suburbs gefunden. Es war der Abend des 7.2.2011 der für
Katherine H. tödlich endete. Der Hergang der Tat …“ Diesen Teil überflog ich, denn den
kannte ich ja bereits. „Aufgrund von Fingerabdrücken an der Leiche konnte der Mörder
überführt werden, es war ihr 26jähriger Ehemann Julian Hooper.“
Ich erschrak. Oh mein Gott! Nun wurde meinetwegen jemand unschuldig verhaftet. Wer
weiß, vielleicht würde gegen ihn sogar die Todesstrafe verhängt! Das ertrug ich nicht länger.
Ich schob Kevin die Zeitung wieder hin.
„Schlimm, nicht?“, fragte er mich.
„Ja, schrecklich!“, gab ich zurück. Er wusste ja gar nicht, wie schrecklich das war! Ich sprang
auf. Irgendetwas musste ich tun, um den Mann zu entlasten. Auch wenn ich keine Ahnung
hatte, was das sein könnte. „Schatz, ich hab jetzt leider keine Zeit, ich habe heute schon
ziemlich früh eine Vorlesung, die ich nicht verpassen darf.
Kevin hob fragend die Brauen, schaute mich dann aber liebevoll an. „Oh, ja dann tschüss
und viel Spaß! Sehen wir uns heute Abend?“
„Verlass dich nicht drauf“, antwortete ich mit einem verschmitzten Lächeln und war sogleich zur Tür hinaus.
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Kevin.
Überrascht starrte ich Grace hinterher. Sie musste zur Uni? Na aber sicher! Irgendetwas
stimmte nicht mit ihr. Sie verbarg etwas vor mir. Die Frage war nur, was? Nun, jetzt war der
Zeitpunkt gekommen, es heraus zu finden. Schnell machte ich mich an die Arbeit. Und
nach einiger Zeit glaubte ich im Wohnzimmer nichts mehr zu finden, und ging durch die
Küche in den Flur, von dort trat ich in ihr Schlafzimmer, das an ihrem begehbaren Kleiderschrank grenzte. Im Kleiderschrank begann ich vorsichtig ein Kleidungsstück nach dem
anderen heraus zu nehmen und auf Merkmale zu durchsuchen. Warum genau die Kleider,
wusste ich auch nicht genau. Es war ebenso ein Gefühl…
Da ich bemerkte, dass ich mit meiner Methode nicht weiter kam, begann ich darüber nach
zu denken, wo ich etwas verstecken würde, was niemand sehen sollte. Natürlich ganz hinten im Kleiderschrank. Also kämpfte ich mich bis ans hintere Ende durch, was gar nicht
so einfach war, da Grace weder ein Ordnungsfreak war, noch unbedingt wenige Kleidungsstücke besaß. Als ich endlich am hinteren Ende angekommen war, machte ich mich weiter
auf die Suche. Aber bis auf eine schwarze Hose mit einigen alten Flecken fand ich nichts.
Also alles um sonst durchsucht. Und zu allem Überfluss musste ich jetzt auch noch aufräumen. Nach einer guten Stunde, die mir wie eine halbe Ewigkeit vorkam, war mein Werk
vollbracht. Mit einem erleichterten Seufzer ließ ich mich auf das Bett fallen. Ich wollte nicht
schlafen, aber ich war so müde…
Schweißgebadet erwachte ich. Mein Albtraum war entsetzlich, oder musste es zumindest
gewesen sein. Ich konnte mich nicht mehr daran erinnern. Schlaftrunken sah ich auf den
Wecker, gleich neben der Tür. Oh mein Gott, es war bereits nach acht Uhr abends. Selbst
wenn Grace nicht in der Uni war, würde sie bald nach Hause kommen, sie mochte keine
Bars. Eilig packte ich meine sieben Sachen und verließ die Wohnung. Kurz bevor ich um die
Straßenecke bog, drehte ich mich nochmal um und glaubte Grace zu erkennen.
Grace.
Heute war ein anstrengender Tag. Ich schloss die Wohnung auf. Auf den ersten Blick war
alles wie immer. Langsam schritt ich durch die Wohnung und legte meine Tasche ab. Ich
zog die Vorhänge zur Seite und ließ das matte Abendlicht herein. Danach ging ich in die
Küche. Dort bestätigte sich, was ich auch im Wohnzimmer schon gesehen hatte. Die Müslischüssel, die ich heute Morgen so achtlos auf der Arbeitsplatte stehen gelassen hatte, war
abgewaschen und sorgfältig eingeräumt. Ich konnte es nicht gewesen sein, denn ich wollte
mich gerade an die Arbeit machen, die Küche aufzuräumen. Außerdem war Ordnungsliebe
nicht mein Ding. Meine Gedanken gingen zu Kevin. Normalerweise regte ich mich immer
darüber auf, dass er sein Geschirr nicht wegräumte. So ordentlich war er also gewiss auch
nicht. Aber vielleicht wollte er nur nett sein. Schließlich hatte er heute Vormittag keine
Vorlesung gehabt.
Vielleicht aber hatte er ja Verdacht geschöpft. Ich musste einfach besser aufpassen. Kevin
war nicht blöd. Vielleicht führte er ja etwas im Schilde. Zuzutrauen war es dem cleveren Kevin allemal. Was ich brauchte, waren Beweise. Ich brauchte einen Plan. Nur mit Beweisen
konnte ich Kevin konfrontieren. Ich setzte mich auf das schwarze Ledersofa. Ich brauchte
ein System. Was wollte Kevin? Wollte er etwas finden, mit dem er mich ausliefern konnte?
Vielleicht fand er mein Verhalten komisch.
Ich musste mich normaler verhalten. Wenn er bis jetzt nichts gefunden hatte, würde er weiter in meinen Sachen herumwühlen. Wahrscheinlich wollte er es mich nicht merken lassen
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und räumte deswegen alles wieder sorgfältig auf. Aber das waren alles nur Vermutungen.
Was ich brauchte, war eine Strategie, um meine Theorie zu beweisen. Und mir schwebte
da schon etwas vor …
Am nächsten Tag hatte ich die Gelegenheit, die ich brauchte. Es war ein sonniger Morgen
in New York. Für den Moment war ich allein in der Wohnung. Kevin wollte beim Bäcker um
die Ecke unser Frühstück holen. Er würde etwas länger aus sein, da er gerade erst aus der
Wohnung gegangen war. Das war der richtige Zeitpunkt. Schnell schnappte ich mir meine
Lieblingsvase. Ich hatte sie einmal von Darren bekommen. Sie war mit Glitzersteinchen
besetzt und ein Geschenk zu meinem Geburtstag gewesen. Normalerweise war ihr Platz
an dem massiven Esstisch aus Eichenholz. Nun stellte ich sie auf meinen Schreibtisch,
ganz ungewohnt und offensichtlich, denn auf meinem Schreibtisch hatten normalerweise
nur ein Block, ein Stift und meine zahlreichen Lehrbücher etwas zu suchen. Kevin wusste
das, aber ich dachte nicht wirklich, dass ihn das in diesem Moment interessieren würde.
Danach nahm ich eine kleine Leselampe, die normalerweise auf meinem Nachttisch stand
und stellte sie mitten auf den Esstisch. Das sollte fürs Erste genügen. Kaum war ich fertig
kam auch schon Kevin herein …
Als ich nach meiner Vorlesung wieder nach Hause kam, bestätigte sich mein Verdacht. Die
Vase war wieder auf dem massiven Küchentisch, die Leselampe auf dem Nachttisch. Ich
hatte die Informationen, die ich brauchte. Nun musste ich nur etwas damit anfangen.
Ich sammelte alles, was ich bisher wusste: Kevin suchte etwas. Er suchte Beweise dafür,
dass ich eine Mörderin war. Doch er hatte die Rechnung ohne mich gemacht. Kevin würde
nichts finden. Denn ich war eine gute Schauspielerin. Ich konnte Leute gut manipulieren.
So würde ich es auch mit Kevin machen. Ich war sicher, dass ich Erfolg haben würde. Zur
Not würde er Darrens Schicksal teilen. Auch wenn der Gedanke daran mir einen schmerzhaften Stich ins Herz versetzte. Denn so viel war mir klar: Ich konnte nicht mehr zurück.
Zu viel Schreckliches war inzwischen schon geschehen. Ich wusste, was zu tun war, damit
Kevins Verdacht nie bestätigt würde…
10. Kapitel
Grace.
Ich stand am Ufer und blickte hinaus auf den See. Der Wind strich mir die Haare aus dem
Gesicht und kräuselte das Wasser. Schon seit geraumer Zeit war ich nicht mehr im Central
Park gewesen. Mein Blick schweifte über das Wasser auf die gegenüberliegende Wiese, wo
mehrere Kinder Fangen spielten. Mit einem Lächeln auf den Lippen sah ich ihnen zu und
hörte ihr Lachen. Für kurze Zeit war es so, als ob gar nichts passiert wäre. Als ob ich ein
ganz normaler Mensch unter der Menge wäre. Aber ich wusste, dem war nicht so, denn tief
in mir kannte ich die Wahrheit. Ich hatte mehrere Menschen ohne mit der Wimper zu zucken getötet. Ich hatte Pläne geschmiedet, um die besten Wege zu finden, sie umzubringen.
Es reichte. Das alles musste jetzt ein Ende haben.
Mit bedächtigen Schritten entfernte ich mich von der Brücke und setzte mich auf eine nahe
gelegene Parkbank. Mit entschlossenem Blick starrte ich in den Himmel. Ich musste endlich mit meiner Vergangenheit abschließen. Aber dafür war noch ein allerletzter Mord notwendig. Das Unheil hatte mit ihm angefangen und es würde mit ihm aufhören. Ich musste
meinen Stiefvater umbringen. Es war die einzige Möglichkeit, die mir blieb. Im Endeffekt
war doch auch alles seine Schuld. Wenn er mich besser behandelt hätte, wäre das alles nie
passiert, und jetzt musste er den Preis bezahlen.
Mein Gespräch vom letzten Abend mit Kevin fiel mir wieder ein. Ich war gerade dabei ge- 109 -
wesen, das Essen zu machen, als er in die Küche gekommen war und eine kleine Flasche
sowie eine Spritze auf den Tisch legte.
„Was ist das denn?“, hatte ich ihn gefragt.
„Oxycodon!“, hatte er mit ernster Chefarztstimme geantwortet Er ging davon aus, dass ich
keine Ahnung hatte, was das denn sein sollte.
Ich sah kurz zu ihm. „ Hä?“
Mit belustigtem Blick sah er mich an, als ihm mein Unwissen Freude machen würde: „ Das
setzt man bei starken Schmerzen als Schmerzmittel ein.“
„Aha!“, war alles, was ich dazu sagte.
„Weißt du, “ fuhr er fort „das ist ein ziemlich wichtiges Kapitel. Wenn man eine Überdosis
spritzt, kann es zu Atemlähmung kommen!“
Ich fixierte weiter das Schneidbrett vor mir, auf dem ich Tomaten in dünne Scheiben schnitt,
bis er endlich realisierte, dass mich das kein bisschen interessierte. In Wirklichkeit hatte ich
mir alles genau eingeprägt. Diese Information war überaus nützlich! Mein Freund hatte mir
die perfekte Mordwaffe frei Haus geliefert. Irgendwie tat es mir leid, ihn so auszunützen,
aber wenn das bedeutete, dass dieser Horror endlich ein Ende hatte, war es mir das wert.
Zufrieden stand ich auf und beschloss, nach Hause zu gehen. Ich wusste jetzt, wie ich
Carlos ermorden konnte. Ich musste mir noch überlegen, wann und wo es am besten sein
würde. Aber darum würde ich mich später kümmern. Im Moment wollte ich einfach nur
nach Hause.
Kevin.
Mein Professor war krank, deshalb hatte ich heute keine Vorlesung. Ich war auf dem Nachhauseweg. Als ich in meine Straße einbog, sah ich ein Mädchen, das Grace verdammt ähnelte. Bald bemerkte ich, dass es wirklich Grace war. Ich entschied, ihr hinterher zu spionieren,
denn ich hatte ja noch immer keine Beweise für meine Theorie, dass Grace eine Mörderin
war. Unauffällig schlich ich hinter ihr her. Ich erkannte, dass sie auf die Bronx zuhielt.
Als ich ihr näher kam, wurde deutlich, dass sie eine schäbige Kneipe ansteuerte. Plötzlich
erkannte ich, welche Kneipe das war. Gleich in der Nähe hatte Bryan gewohnt. Aus dieser
Kneipe war Graces Stiefvater gekommen, um mich zu verprügeln. Ich ahnte Übles und
rannte auf sie zu. Als ich sie erreicht hatte, packte ich sie am Arm. Bei näherem Hinsehen
sah ich eine meiner Spritzen. Mein Professor hatte sie mit Oxycodon, einem Nervengift,
das bei Überdosis zu Atemlähmung führt, gefüllt. Er hatte sie mir zu Forschungszwecken
gegeben. In der Spritze war genug Gift, um einen erwachsenen Mann zu töten. Und auf
einmal fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Grace war in meine Wohnung eingedrungen, hatte die Spritze gestohlen und wollte nun Wallace, ihren Stiefvater töten. Ich fasste sie
fester und zwang sie, mir in die Augen zu sehen. Ihre haselnussbraunen Augen waren mit
Hass und Abscheu gefüllt. Doch bei genauem Hinsehen meinte ich, auch Angst darin zu
erkennen. Stumm starrten wir uns an.
Grace.
Halb trug, halb zog er mich. In dem ganzen Gefecht war ich wie hypnotisiert. Ich machte
keine Anstalten zu fliehen, aber ich wollte ihm auch nicht folgen. So hatte er große Mühe,
mich in die U-Bahn, und dann schließlich in meine Wohnung zu zerren. Irgendwie schaffte
er es dann doch. Er drückte mich auf das Sofa im Wohnzimmer und forderte mit drohen- 110 -
der Stimme eine Erklärung. Und plötzlich packte mich die Panik. Ich erwachte aus meiner
Trance und sprang auf. Doch bevor ich die Tür erreichte, bekam er mich zu fassen und stieß
mich mit einem kräftigen Ruck auf das Sofa zurück. Noch einmal versuchte ich zu fliehen.
Wild um mich schlagend, beißend und tretend, kämpfte ich mich bis zu Küche durch. Doch
als mich Kevin dort mühelos überwältigte, wurde mir wieder einmal klar, wie durchtrainiert
er war. Nun sah ich endlich ein, dass ich auf diese Weise keine Chance hatte und gab auf.
Ich atmete mehrere Male tief durch, um mich zu beruhigen. Denn ich wusste, dass ich hier
nur mit einem klaren Kopf weiterkommen würde. Erst jetzt nahm ich meine Umgebung
wieder wahr. Ich befand mich auf dem Sofa, Kevin stand davor und blickte auf mich herab.
Nun drang auch seine Stimme wieder zu mir durch.
„Grace! Grace? Graaaace…! Also, was wolltest du mit dieser Spritze voll Oxycoton?!“
„Ich wollte ihn loswerden.“ Ich sagte es kurz und bündig. Es hatte keinen Zweck mehr, es
zu leugnen, er wusste es ohnehin. Denn er war nicht auf den Kopf gefallen. Leider. Aber den
Rest, den konnte ich noch leugnen, und das hatte ich auch vor.
„Wen?“
„Denjenigen, der mich Tag und Nacht quälte. Denjenigen, den ich mehr als alles andere
auf dieser Welt hasse. Denjenigen, der mich eines Nachts fast umgebracht hätte. Ihn und
keinen anderen wollte und will ich loswerden. Ich will die Welt von diesem Monster befreien. Dieses Schwein verdient es nicht zu leben.“ In meinem Redeschwall vergaß ich alle
Vorsicht. „Ich habe schon einmal versucht ihn zu töten, aber einer seiner Scheißfreunde hat
sein Bier mit der Droge einfach ausgesoffen. Es hat den Falschen getroffen.“
„Es hat den Falschen getroffen?!“
„Du weißt schon: Krrrg“, dabei machte ich eine aussagende Geste. Ich erschrak über den
Klang meiner Stimme. Sie klang irre, vollkommen verrückt. War ich etwa verrückt? Nein,
so durfte ich gar nicht erst anfangen. Das wäre der Anfang vom Ende.
„Du hast einen Menschen um… Nein, das ist unmöglich! Du würdest doch niemals jemanden töten? Das würdest du doch nicht?!“ Seine Stimme hatte einen ängstlichen Unterton.
Stille breitete sich im Raum aus. Ich konnte es im nicht sagen. Er klang wie ein ängstlicher
Schuljunge, der sich vor Schlägen fürchtete. Aber wusste er es denn eigentlich nicht schon
längst? Trotzdem, ich wollte ihm nicht seine letzte Hoffnung nehmen. Er hatte eine Mörderin zur Freundin!
„Du hast ihn umgebracht!“ Diesmal war eindeutig keine Frage zu erkennen.
„I…I…Ich wollte es nicht! Es war ein Versehen. Seine Freunde sind scheiße, aber ich wollte
sie nicht umbringen. Okay … meinen Stiefvater schon, aber, aber…“
„Es reicht! Grace! DU HAST EINEN MENSCHEN UMGEBRACHT!“
„Ich weiß …“
Und dann begann ich zu schluchzen. Am Anfang vorsichtig, aber dann immer lauter. Und
auf einmal tat Kevin etwas vollkommen Unerwartetes: Er setzte sich neben mich auf die
Couch und nahm mich in die Arme. Er versuchte tatsächlich mich zu trösten! Obwohl er
wusste, dass ich einen Menschen umgebracht hatte.
„Hasst du mich jetzt?“, fragte ich zaghaft.
„Äh, ich weiß nicht… Sollte ich wohl…“ Offenbar wurde ihm gerade klar, dass er eine Mörderin in den Armen hielt, denn plötzlich stieß er mich abrupt von sich.
„Wirst du mich jetzt der Polizei ausliefern?“ Erst jetzt wurden mir die Ausmaße meines
Tuns bewusst. Wenn Kevin mich wegen Mordes und versuchten Mordes anzeigen würde,
könnten sie mich deshalb zu Tode verurteilen? Wenn nicht, dann spätestens dann, wenn sie
weitere Nachforschungen machen würden. Sie würden entdecken, dass ich eine Serienkillerin war, und dann würde ich durch einen gezielten Schuss sterben. Ohne die Spur einer
Chance zu überleben. War es mein Schicksal, zu sterben?
- 111 -
„Ich weiß nicht. Oh Mann, Grace. Ich liebe dich, aber du hast einen Menschen ermordet.
Was soll ich bloß machen … Hätte ich doch nie versucht hinter dein Geheimnis zu kommen! Dann müsste ich mich jetzt nicht entweder dazu entscheiden, meine Freundin dem
Tod auszuliefern, oder selbst zu so etwas wie einem Mörder zu werden. Oh Scheiße!“ Dann
verstummte er. Bestand noch Hoffnung für mich? „Grace“, ertönte seine Stimme erneut,
„Ich muss darüber nachdenken. Ich meine … du könntest sterben!“ Er holte tief Luft. „Okay
Grace, ich werde jetzt nach Hause gehen und darüber in Ruhe nachdenken.“
Panisch schaute ich auf. Als ob er mich beruhigen wollte, sagte er: „Ich verspreche dir was:
wofür immer ich mich entscheiden werde, ich werde ich es dir vorher sagen.“ Dann verließ
er die Wohnung und ich war allein.
11. Kapitel
Grace.
Ich wusste, er würde mich verraten. Zwei Tage waren vergangen, seit ich Kevin erzählt
hatte, dass ich eine Mörderin war. Zwar hatte ich ihm nicht die ganze Wahrheit erzählt,
trotzdem war die halbe Wahrheit auch schon schlimm genug. Es konnte sich nur mehr um
Stunden handeln, bis er sich gegen mich entscheiden würde. Wenigstens war ich nicht so
blöd, um an sein Versprechen zu glauben: Natürlich würde er mir nichts sagen, bevor er zur
Polizei ging. Das wäre vollkommen verrückt.
Immerhin war ich im Moment noch frei, jetzt konnte ich noch tun, was ich wollte. Aber
dieser Moment war mir zu wenig, ich brauchte die Freiheit. Seltsam. Erst jetzt fiel mir auf,
dass ich in all den Jahren nur in einer scheinbar glücklichen Welt lebte. Alles war nur ein
Trugbild. Mein Leben war Scheiße gewesen. Ich hatte meinem Stiefvater die Schuld dafür
gegeben - und er war ja auch wirklich Schuld daran. Trotzdem. Es war meine freie Entscheidung gewesen, all diese Morde zu begehen. Dabei war das, was ich wirklich brauchte, doch
nur Freiheit. Die Freiheit, alles zu tun, was ich wollte. Und zwar dann, wenn ich es wollte.
Aber diese Freiheit hatte ich nie gehabt. All die Morde, die ich begangen hatte, gaben mir
nur scheinbar das Gefühl, zu leben.
Nein, ich durfte nicht wieder damit anfangen. Aber vielleicht war das meine einzige Möglichkeit? Musste ich noch einen, nein, zwei Morde begehen, um endlich glücklich sein zu
können? Es wäre so leicht. Und auch sie mich erwischen würden, konnte meine Situation
auch nicht schlechter werden. Denn Kevin würde mich verraten, er hatte ein viel zu reines
Gewissen, um das Geheimnis für sich zu behalten. Auch wenn er es versuchte … Ich musste
ihn töten, und wenn er erst tot war, würde ich meinen Stiefvater ein für alle Mal ausschalten
können. Und dann hätte ich endlich Ruhe. Dann würden die Alpträume aufhören, all die
bösen Gedanken… Ich würde mich nicht mehr jedes Mal ducken, wenn mir jemand seine
Hand entgegen strecken würde. Ich würde nicht jedes Mal, wenn ich jemanden sah, der
meinem Stiefvater ähnelte, fast in Panik ausbrechen.
Das war die Lösung!
„Nein, Grace, so darfst du gar nicht erst denken!“, rügte ich mich selbst in Gedanken. „Du
musst dagegen ankämpfen!“ Und als ich so mit mir kämpfte, begriff ich plötzlich, warum
ich mordete. Warum ich noch andere Menschen als meinen Stiefvater ermordet hatte: Ich
war süchtig. Auch wenn ich wollte, ich konnte nicht mehr aufhören. Es war wie eine Droge!
Mit meinem neuen Wissen als Hilfe kämpfte ich noch entschlossener gegen die Versuchung an. Langsam verschwand sie. Ich hatte gesiegt. Und jetzt wusste ich nur mehr eines:
Mein Leben lag in Kevins Händen.
- 112 -
Kevin.
Ich rannte planlos durch die Straßen. Seit ich erfahren hatte, dass meine Freundin eine
Mörderin war, war vieles passiert. Tausende Gedanken schwirrten in meinem Kopf herum,
und gleichzeitig war er doch leer. Trotz der Vielfalt meiner Gedanken kamen für mich nur
zwei infrage. Der erste lautete: Grace war eine Mörderin, brutal und unberechenbar. Sie war
eine tödliche Gefahr.
Der zweite war sanfter, naiver: Grace war die Liebe meines Lebens. Sie mordete aus einem
plausiblen Grund und ich wollte wieder zu ihr zurück.
Das waren die Optionen, die ich hatte, und ich wusste, ich musste eine davon wählen.
Ohne dass ich es wahrnahm, trugen mich meine Füße immer weiter, bis ich schließlich an
einem Park in Brooklyn angelangt war. Als mir klar wurde, wo ich war, traf mich fast der
Schlag. Das war der Park, in dem ich Grace zum ersten Mal getroffen hatte. Ein schwaches
Mädchen, weinend auf der Parkbank. Den Grund ihrer traurigen Stimmung hatte ich bis
heute nicht erfahren. Doch ich konnte es mir denken … Auch wenn ich es nicht wahrhaben
wollte. Hatte sie noch andere Menschen umgebracht? Doch was änderte das schon? Ein
Mord oder mehrere, was war da der Unterschied? Ich wurde blass. Es änderte sogar sehr
viel. Vor Gericht … bei mehrfachem Mord gab es keine Gnade … sie würde zum Tod verurteilt werden.
Nein, ich konnte Grace nicht anzeigen! Aber würde ich mit dieser Schuld leben können?
Waren die Morde, die sie verübt hatte, nicht auch in gewisser Hinsicht meine Morde, wenn
ich einfach so über sie hinwegsah?
Sollte ich sie einfach nur verlassen, ohne der Polizei etwas zu sagen? Aber war nicht ich der
Anker, an den sie sich klammern konnte? Würde sie nicht den Halt verlieren, vielleicht in
die Drogenszene abrutschen oder, schlimmer noch, sich selbst umbringen, wenn ich ihr
nicht mehr zur Seite stand?
Mir lief ein eisiger Schauer über den Rücken. Nein, das durfte nicht geschehen. Ich musste
mich entscheiden: anzeigen oder zurückkehren. Die dritte Möglichkeit, einfach nichts zu
sagen und sie trotzdem zu verlassen, war nicht einmal vorstellbar. Außerdem musste ich an
mich denken, ich war es ja schließlich, der mit der Entscheidung leben musste. Grace hatte
diese Menschen nicht ohne Grund umgebracht. Na ja, manche zumindest. Ich hasste sie
dafür nicht, denn ich kannte ihre Geschichte, und die war alles andere als nett oder einfach.
Erschöpft ließ ich mich auf „unserer“ Bank nieder.
Ich liebte Grace. Das war die einzige Gewissheit, die ich hatte, denn das hatte sich nicht
verändert, trotz der vielen Morde, die Grace verübt hatte. Doch wie viel war mir Grace wert?
War sie es wert, all das auf mich zu nehmen? Vielleicht … Mit diesem einen Gedanken nickte ich langsam ein und glitt unaufhaltsam hinüber in die Welt der Träume.
Erschrocken wachte ich auf. Etwas war anderes. Ich brauchte ein paar Sekunden, bis ich
wieder vollkommen zur Besinnung kam, doch dann war alles glasklar. Der Nebel, der mir
die ganze Zeit die Sicht auf die Entscheidung versperrt hatte, war wie weggeblasen. Ich
wusste, was ich zu tun hatte.
Grace.
Ich war am Boden zerstört. Seit Tagen konnte ich an nichts anderes mehr denken. Alle paar
Sekunden starrte ich auf das Handydisplay. Nichts. Plötzlich klingelte es an der Tür. Ich
stürmte ins Vorzimmer und riss sie auf. Kevin stand davor. Ich war gleichzeitig erleichtert
und verzweifelt. Was erwartete mich jetzt? Nervös drehte ich sein Kettchen zwischen den
- 113 -
Fingern. Er musterte mich.
„Hör mal …“, begann er, „Ich habe lange darüber nachgedacht. Ich will es nochmal mit uns
versuchen. Wenn du einverstanden bist …“
Ich starrte ihn sprachlos an. Die angespannte Stille war mit Händen zu greifen. Als ich
mich endlich wieder soweit im Griff hatte, begann ich stotternd zu sprechen: „Das… willst
du w-wirklich?“ Es kam mir vor, als würde die Sonne durch eine dicke Nebeldecke brechen.
„Klar will ich das…“ Ich konnte kaum glauben, dass sein Angebot ernst gemeint war.
„Aber unter einer Bedingung.“
Ich ahnte Böses.
„Du solltest dir darüber im Klaren sein, wie du damit fertig wirst. Ich meine, ich kann auch
nicht so mir nichts, dir nichts ein paar Leute umbringen und drei Wochen später ist es so,
als wäre nie etwas gewesen …“
„Willst du mich jetzt anzeigen?“ Meine Angst war unüberhörbar.
„Nein, ich will nur nicht, dass ich eines Tages nach Hause komme, und dich wie damals
auf der Parkbank vorfinde - so schwach und zerbrechlich. Wer weiß, wohin das alles führen
könnte …“
Ich nickte. Ich wusste nur zu genau, was er damit sagen wollte. „Darüber habe ich natürlich
auch schon nachgedacht. Aber als du nicht da warst, fand ich einfach keinen Grund, mich
besser zu fühlen. Denn ohne dich ist mein Leben verdammt leer.“
Kevin blickte mich an, als könnte er mir direkt ins Herz sehen. „Grace, das verstehe ich
natürlich. Manche Leute reagieren sich beim Boxen ab, aber wenn ich nur daran denke,
deinen zarten Körper im Ring zu sehen, wird mir übel.“
„Ich habe selbst auch schon darüber nachgedacht. Denn ich hoffte jeden Tag, dass du zurückkommen würdest, und für diesen Fall wollte ich vorbereitet sein. Ich habe mich erkundigt. Ich werde mich gemeinnützig beim Catholic Club of New York engagieren. Gestern
habe ich dort angerufen. Morgen soll ich da mal reinschnuppern.“
„Das ist ja großartig! Und wenn du damit glücklich bist, dann bin auch ich glücklich.“
Ich spürte ein erleichtertes Kichern im Hals. Er brachte mich einfach immer wieder zum
Lachen. Leidenschaftlich schmiegte ich mich an ihn. Hand in Hand gingen wir in die Wohnung. Kevin schloss die Tür hinter sich. Lachend küssten wir uns …
Am nächsten Morgen stand ich schon früh auf. Ich gab Kevin einen langen Kuss. Dann
machte ich mich fertig. Heute war ein wichtiger Tag. Mein Frühstück nahm ich für unterwegs mit, ich musste schon früh dort hin. Mit der U-Bahn war ich rasch bei dem Catholic
Club of New York. Dort empfing mich eine Frau mit grau melierten Haaren. Sie war beherrscht und ihre Art ließ sie etwas kühl wirken.
„Hallo und willkommen“, begrüßte sie mich.
Mir war etwas unbehaglich zumute. „Hallo. Ich bin Grace Stone.“
„Ah ja. Ich habe Sie schon erwartet. Folgen Sie mir bitte.“
„Sie können ruhig du zu mir sagen, Miss…“
„Hawk. Mariella Hawk. Aber für dich bin ich Mary.“ Der Anflug von einem Lächeln kam
über ihre Lippen. Ihre Haut wurde, wenn überhaupt möglich, noch ein bisschen faltiger.
„Okay, Mary. “ Wir gingen in einen hohen Raum, der sehr alt war.
„Vor jedem Treffen gehen wir zum Beten in diesen Raum. Du kannst ein Gebet deiner Wahl
in Stille beten. Danach geben wir Essen an Bedürftige aus.“ Ihre Stimme hallte von den
Wänden des Raumes wieder.
Ratlos drehte ich mich zu ihr. „Ich bin zwar katholisch, doch Gebete habe ich nie gelernt.
Meine Familie ist nicht so gläubig.“
„Ah, ich verstehe.“ Sie gab mir einen Zettel, auf dem ein Gebet stand.
„Das Vaterunser“, belehrte sie mich.
- 114 -
Dankbar lächelte ich sie an und ließ die anschließende Stille auf mich wirken. Der Tag verlief gut. An der Essensausgabe hatte ich Kontakt mit den Menschen. Es war interessant, ihre
Schicksale zu erfahren. Von nun an ging ich regelmäßig zum Catholic Club of New York.
12. Kapitel
Grace.
Kevin und ich saßen auf der Couch, er starrte mich ununterbrochen an, als wollte er gar
nicht aufhören, bis er schließlich den Mund aufmachte: „ Ich glaube, die beste Möglichkeit,
mit deiner Vergangenheit abzuschließen, ist, deinen Stiefvater anzuzeigen. Schließlich ist
er die Ursache für das ganze Dilemma!“
Ich blickte ihn an und meinte: „ Du hast ja recht, ich schätze, ich habe einfach Angst davor,
dass mir die Polizei nicht glaubt und er sich nachher an mir rächen wird!“
„ Wenn er das versucht, kann er was erleben!“, sagte Kevin mit einem schmalen Lächeln
auf den Lippen.
Kurz lächelte ich auch, doch dann wurde ich wieder ernst: „Würdest du mit mir gehen … du
weißt schon … zur Polizei? Ich habe fürchterliche Angst, da alleine hinzugehen. Immerhin
hab auch ich Menschen … na ja, du weißt schon …“
„Fang nicht schon wieder davon an. Ich warne dich!“ Er stand auf und reichte mir die Hand:
„Ich gehe dahin, wo du hingehst!“
Dankbar nahm ich sie an und stand auf. „Lass uns jetzt sofort gehen!“ Mein Ton war selbstsicherer, als ich mich fühlte. Doch dann hätte ich es endlich hinter mir.
Wir machten uns auf den Weg zur Polizeistation. Bei jedem Schritt, mit dem wir uns ihr
näherten, drückte ich Kevins Hand fester. Irgendwann würde ich ihm noch die Finger zerquetschen. Schließlich standen wir vor ihr. Jetzt klammerte ich mich an Kevins Arm. Wir
betraten das Gebäude und warme Luft strömte uns entgegen. Ein Beamter ging auf uns zu
und lächelte. Ich versuchte so gut wie möglich zurückzulächeln, was mir wohl nicht so ganz
gelang. Kevin trat dem Beamten entgegen und reichte ihm die Hand: „ Hallo, wir würden
gerne Anzeige gegen jemanden erstatten.“
Der Beamte deutete auf einen Raum, der sich gleich rechts von uns befand: „ Einfach da
reingehen.“, waren seine einzigen Worte, bevor er ins nächste Zimmer verschwand.
Mit bedächtigem Schritt traten wir ein. „ Hallo, ich würde gerne Anzeige gegen meinen
Stiefvater erstatten!“, sagte ich. Ich wollte nicht lange um den heißen Brei reden.
Der Mann hob den Blick von den Papieren, an denen er gerade geschrieben hatte. „ Bitte
setzen sie sich doch!“ Er deutete auf zwei Stühle vor seinem Schreibtisch.
„Worum handelt es sich denn?“ Sein fragender Blick ließ mich unruhig auf dem Stuhl hin
und her wetzen.
„Mein Stiefvater … er ist früher oft handgreiflich geworden, hat mich verprügelt. Und im
Übrigen verdient er sein Brot mit Drogen.“
Es tat so gut, das einem Polizisten zu sagen, ob er mir nun glaubte oder nicht. Es war, als
würde eine jahrelange Last von meinen Schultern genommen.
Der Beamte sah mich forschend an. Dann holte er ein Blatt Papier aus einer Lade. „Bitte
füllen sie das aus. Ich werde mich umgehend darum kümmern.“
Erleichtert atmete ich auf. Als der ganze Papierkram erledigt war, schickten sie Kevin und
mich mit der Versicherung nach Hause, dass sie mich umgehend kontaktieren würden,
wenn sie Neuigkeiten hätten.
Schon am nächsten Tag kam der ersehnte Anruf. Sie hatten meinen Stiefvater völlig zu
gedröhnt zwischen seinen Drogen sitzend gefunden, und er hatte gesungen wie ein Vö- 115 -
gelchen. Weil er zu high war, um abtransportiert zu werden, hatte ich die Ehre, bei seiner
Verhaftung live dabei zu sein. So stand ich zitternd vor ihm und sah zu, wie ihm ein Polizist
die Handschellen anlegte. Ich nahm mir vor, diesem Mann nachher persönlich zu danken.
Erleichtert hörte ich zu, wie er die dafür vorgeschriebenen Worte sprach: „Wallace Dursley,
Sie sind hiermit wegen Drogenbesitzes, Misshandlung einer Minderjährigen und unerlaubten Waffenbesitzes festgenommen! Sie haben das Recht zu schweigen. Alles, was sie sagen,
kann und wird vor Gericht gegen Sie verwendet werden. Sie haben das Recht auf einen
Anwalt. Falls sie sich keinen leisten können, wird Ihnen von der Regierung einer gestellt!“
Mein Stiefvater starrte mich schäumend vor Wut an, doch dieses Mal machte er mir keine
Angst. Ich erwiderte seinen Blick mit einem triumphierenden Lächeln auf den Lippen.
„Das wirst du noch bereuen, du Schlampe!“, war alles, was er noch herausbrachte, bevor
ihm ein Beamter seinen Kopf ins Auto drückte und mit Schwung die Tür zufallen ließ.
Von seinem Schweigerecht machte er also keinen Gebrauch. Ich spürte seinen brennenden
Blick auf meinem Rücken, aber diesmal sah ich nicht zurück. Stattdessen umarmte ich
Kevin und war einfach froh, dass der Horror vorbei war. Tränen liefen mir über die Wange,
und ich wusste, dass ab jetzt alles besser werden würde.
13. Kapitel
Kevin.
Wir gingen schweigend nebeneinander her. Es waren Tage vergangen, seit Grace auf dem
Polizeirevier gewesen war. Heute Morgen war mir plötzlich der Entschluss gekommen, sie
zu fragen. Nun waren wir auf dem Weg zum Central Park. Ich hatte ein paar Leckereien in
einen Picknickkorb gepackt, sie trug die karierte Picknickdecke. Es war nicht mehr weit,
denn Grace‘ Wohnung war gleich neben der U-Bahn Linie, die uns direkt zum Central Park
führte. Ich sah schon einen Eingang, doch als wir drinnen waren, mussten wir feststellen,
dass an diesem schönen Frühlingstag ziemlich viele Pärchen den Central Park aufsuchten.
Als wir ein schattiges Plätzchen gefunden hatten, breitete sie die Decke aus und wir setzten
uns drauf. Ganz selbstverständlich nahm ich ihre Hand in die Meine. Ich drückte ihre Hand
sanft, aber doch bestimmt. Dann sah ich ihr in die Augen, und es schien, als sähe sie endlich beruhigt in die Zukunft. Dadurch kam es mir nur noch richtiger vor, als ich mit fester
Stimme sagte: „Willst du mich heiraten?“
Epilog
Grace.
In Weiß gekleidet schritt ich den kurzen Gang entlang, doch es war mehr als das. Ich konnte nun endlich meine Vergangenheit hinter mir lassen. Er drehte sich um und blickte mir
direkt in die Augen. Dadurch wurde ich in meinem Entschluss bestärkt.
„Du siehst so wunderschön aus!“ Kevins Augen strahlten.
„Ich bin glücklich“, flüsterte ich zurück und machte den letzten Schritt auf ihn zu. Als ich
an seiner Seite stand und der Pfarrer redete, spürte ich die Blicke in meinem Rücken. Die
Blicke meiner Freunde, die hinter mir saßen, um sich den heutigen Tag nicht entgehen
zu lassen. Als der Pfarrer dann endlich die erlösenden Worte „Sie dürfen die Braut jetzt
­küssen“ sprach und Kevin mich in die Arme nahm, war ich die glücklichste Frau der Welt ...
- 116 -
Danksagung
Es war mir nicht nur eine besondere Ehre, als Krimi-Autorin mit den Schülerinnen und
Schülern der Klasse 3c2 der Hauptschule Pischelsdorf die vergangenen zehn Monate an
der Entstehung von sieben großartigen Krimis mitgewirkt zu haben, es hat mir auch
besonders viel Freude gemacht, mitzuerleben, mit wie viel Eifer, Einsatz und Engagement
die jungen Autoren an die Arbeit gegangen sind.
Die 24 jungen Menschen haben nicht nur in der Schule, sondern sogar in den Ferien und
in ihrer Freizeit an den Projekten gearbeitet. Ihr Ideenreichtum, ihre Einsatzbereitschaft
und der Ernst, mit der sie an die Sache herangegangen sind, haben mich begeistert und
mich stolz sein lassen, Teil dieser tollen Aktion sein zu dürfen, die die Leseoffensive
Steiermark in die Wege geleitet hat.
Ich bedanke mich sehr herzlich beim Projektmanagement der Leseoffensive Steiermark
- Frau Mag. Silvia Maierhofer und Frau Mag. Verena Gangl - die alle meine Fragen
geduldig beantwortet und für Druck und Produktion unseres Gesamtkunstwerks gesorgt
haben.
Ganz besonders will ich aber auch die tatkräftige Unterstützung von Ulrike Matzhold
hervorheben, die als Deutschlehrerin der 3c/2 so viele ihrer Unterrichtsstunden für das
Projekt zur Verfügung gestellt hat. Ihr unermüdlicher Einsatz, ihre Mithilfe während der
Entstehung der Krimis und ihre vielfältigen Ideen zu unterschiedlichsten Motivations­
angeboten waren Motor und Treibstoff während des Schreibens. Ihre Begeisterung für das
Projekt war nicht nur spür-, sondern auch jedes Mal sichtbar!
Nicht zuletzt aber gilt mein Dank und mein größtes Lob den 24 tollen Mädchen und
Buben, die mir einmal mehr deutlich gemacht haben, warum es mehr als nur ein genialer
Beruf ist, Bücher speziell für Jugendliche zu schreiben. Erfahren zu dürfen, wie diese
jungen Leute sich für das Schreiben begeistern lassen und zu sehen, wieviel Potenzial in
ihnen schlummert, lässt mich diesen schönsten Beruf der Welt noch einmal mehr als eine
Berufung erleben ...
Liebe 3c/2:
Herzlichen Dank für die Chance, bei euch gewesen zu sein!
Herzlichen Dank, dass ihr so eine grandiose Gemeinschaft seid!
Herzlichen Dank für eure Begeisterung, eure Ideen und euren ungheuren Einsatz!
Eure
Gabriele Gfrerer
Wien, zum 20. Juni 2012
- 117 -
z | Elisa Muhr | Marlene Fraß | Luca
kob Marterer | Manuel Kulmer | Julian
p Marterer | Klara Schwarzenberger |
Silke Ferstl | Anke Huber | Alexandra
Herbst | Klara Wagner | Lisa Gollner |
hlweg | Lena Kulmer
Lena Struggel | Johanna Fabsitz | Eli
Güsser | Thomas Berghofer | Jakob M
Hofer | Jakob Strempfl | Philipp Mart
Helena Nagl | Selina Grabner | Silke F
Dunst | Katharina Fleck | Karin Herbst