Kleidung - Historisches Lexikon der Schweiz

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Kleidung - Historisches Lexikon der Schweiz
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16/10/2008 |
Kleidung
Als anthropolog. Konstante verbindet sich K. mit den Funktionen
Schutz, Scham und Schmuck. In vorindustriellen Gesellschaften diente
K. überdies als wichtiges Kommunikationsmittel dazu,
Standeszugehörigkeit und soziale Ungleichheit auszudrücken. K. bildete
ein komplexes Zeichensystem, das in der hierarchisch strukturierten
ständ. Gesellschaft des MA und der frühen Neuzeit erlaubte,
Geschlechterrollen, Zugehörigkeit zum Klerus oder Laienstand,
Sozialstatus und Prestige einer Person oder einer Gruppe an
Dieser Artikel wurde
Stoffqualität, Schnitt, Farben und Accessoires abzulesen.
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1 - Mittelalter bis 1800
1.1 - Kleidung für jeden Stand
Von der Mitte des 12. Jh. bis zum ausgehenden 18. Jh. suchten weltl. und kirchl. Obrigkeiten durch
Kleiderordnungen die Ständeordnung für die Öffentlichkeit festzuschreiben, um einer befürchteten
Verwischung der Standesgrenzen entgegenzuwirken: Adligen Männern und Frauen, Bürgerinnen und Bürgern,
Mägden und Landleuten wurde der max. Kleideraufwand, der für sie als "standesgemäss" galt, detailliert
vorgeschrieben (Sittenmandate). Reiche K. bot gerade wohlhabenden bürgerl. Männern und Frauen sowie
sozialen Aufsteigern die Möglichkeit, durch kostbare Stoffe, Pelze und Schmuckstücke Zugehörigkeit zu einem
höheren Stand vorzutäuschen.
K. grenzte nicht nur die Stände voneinander ab, sie legte v.a. für Frauen feinere Unterschiede innerhalb
desselben Standes fest: Jungfrauen war zur Unterscheidung von verheirateten Frauen und Witwen eine
besondere Tracht gestattet. So durften gemäss der Zürcher Kleiderordnung von 1357/72 nur unverheiratete
junge Mädchen ihre Kleider mit Gold, Silber, Seide oder Edelsteinen schmücken, nicht aber Ehefrauen und
Witwen.
Ausser der ständ. Abgrenzung sollten Kleider- und allg. Luxusordnungen dazu dienen, dem gruppenspezif.
und individuellen Repräsentationsbedürfnis und der demonstrativen Zurschaustellung von Reichtum
Schranken zu setzen. Auf diese Weise sollten der "Verschwendungssucht"(Luxus) und der Verarmung
vorgebeugt werden. Eine Rolle spielten ausserdem merkantilist. und nationale Gründe. Die Reformation
brachte eine Flut neuer Kleidermandate. In Verordnungen und Predigten bemühten sich Huldrych Zwingli,
Heinrich Bullinger und Johannes Calvin, ihr reformator. Programm auch auf der Ebene der K. durchzusetzen.
Sie verlangten von Männern und v.a. von Frauen äusserl. Schlichtheit, Ehrbarkeit, Bescheidenheit und den
Verzicht auf aufreizende K. und "sündhaften" Aufwand. Erst im ausgehenden 18. Jh. verlor die K. ihre
Bedeutung als Garantin einer "Lesbarkeit der wohlgeordneten Welt". Die ab dem 18. Jh. verbreiteten
Modejournale lockerten den Zusammenhang zwischen Kleidungsverhalten und Gesellschaftsordnung, und
damit endete auch die Zeit der obrigkeitl. Kleidermandate.
Autorin/Autor: Katharina Simon-Muscheid
1.2 - Schnabelschuhe und Schleppen des Adels
Als politisch kaum durchführbar erwiesen sich obrigkeitl. Versuche, zäh verteidigte Standesprivilegien des
Adels anzutasten. Das beste Beispiel für den Zusammenhang zwischen Identität und Repräsentation bietet
der Berner Twingherrenstreit vor dem Hintergrund des Konflikts zwischen der alten Führungsschicht und dem
ersten bürgerl. Schultheissen. Der Diebstahl einer Hostie (1464) war Anlass zu einer Luxusordnung gegen das
Tragen der modisch spitz zulaufenden Schnabelschuhe, der langen "Schwänze" (Schleppen) an
Frauenkleidern und der kurzen Männerkleider, wie sie die burgund. Hofmode vorschrieb. Eine modifizierte
Ordnung von 1470, die auf dem Verbot von Schleppen und Schnabelschuhen beharrte, löste eine öffentl.
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Demonstration der adligen Damen und Herren aus, die in ostentativer Übertretung des Verbots mit Schleppen
und Schnabelschuhen zur Messe erschienen. In der folgenden Gerichtsverhandlung argumentierten sie mit
ihrem Recht auf Distinktion und erklärten, sie seien an Werktagen, an denen sie keine seidene oder goldene
K. trügen, auf Schnabelschuhe und Schleppen angewiesen, um sich von andern Leuten zu unterscheiden.
Zwar wurden die Adligen mit einer Busse belegt und für einen Monat aus der Stadt verbannt, doch sah sich
der Rat aus wirtschaftl. Gründen gezwungen, sie wieder hereinzubitten und die Kleiderordnung zu ihren
Gunsten zu modifizieren.
Autorin/Autor: Katharina Simon-Muscheid
1.3 - Kleidung von Randgruppen
Die Ausgrenzung bestimmter Randgruppen erfolgte vom hohen und besonders konsequent vom späten MA an
durch stigmatisierende Kleiderregeln, die sie von der Mehrheit durch negativ besetzte Zeichen optisch
unterscheiden sollten. Juden, Aussätzige, Prostituierte, aber auch Almosenempfänger waren von
stigmatisierenden vestimentären Symbolen betroffen. Das auffälligste Merkmal der männlichen jüd. Tracht,
der spitze Hut, war ursprünglich ein freiwillig gewähltes, traditionsbedingtes Unterscheidungszeichen. Erst im
Lauf des 13. Jh. wurde diese Kopfbedeckung von der Kirche als verbindl. Tracht für jüd. Männer
vorgeschrieben und erhielt dadurch immer mehr den Charakter eines Stigmas. Dies gilt auch für den Schleier
der Jüdinnen. Zusätzlich wurde den Juden vom 4. Laterankonzil (1215) an das Tragen eines (oft gelben)
Kreises oder Rings als Judenabzeichen vorgeschrieben. Durch gelbe Ringe werden Juden denn auch in den
Schweizer Bilderchroniken kenntlich gemacht. Die ältesten Ordnungen für Prostituierte im deutschsprachigen
Raum stammen aus dem 13. Jh. Sie sollten den unterschiedl. Status von "ehrbaren" und "lasterhaften" Frauen
hervorheben. Eine Zürcher Ordnung von 1319 bestimmte z.B., dass Prostituierte ein rot keppelin zu tragen
hätten. Gelbe, auch grüne und rote Kleidungsstücke und Abzeichen dienten der Sichtbarmachung ihrer
Unehrenhaftigkeit. Gelbe Kugelhüte, auf die drei schwarze Würfel mit weissen Augen aufgenäht waren,
schrieb der Rat von Basel 1417 für Zuhälter vor, um zu verhindern, dass diese sich mit dem Geld der
Prostituierten wie Edelleute kleideten und so die Grenze zwischen Ehrbarkeit und Unehrbarkeit verwischten.
Autorin/Autor: Katharina Simon-Muscheid
1.4 - "Schamlose" Kleidermoden
Um die Mitte des 14. Jh. veränderte sich die K. von Frauen und Männern grundlegend in einer für manche
Zeitgenossen schockierenden Weise. Statt der weiten, fliessenden Gewänder trugen Männer und Frauen
Kleider, die ihre Körperformen betonten und so ihre sexuelle Identität unterstrichen. Zielscheibe der Kritik
waren die "unsittl." Décolletés der Frauen, die "obszönen", nur bis zu den Oberschenkeln reichenden
Männerröcke und Wämser. Die Obrigkeiten der einzelnen eidg. Orte und sogar die eidg. Tagsatzung befassten
sich wiederholt mit diesem Thema. Sie verboten die "schamlose" K. und belegten die Fehlbaren samt den
Schneidern mit Bussen, doch ohne Erfolg. Das älteste Zürcher Mandat von 1357/72 untersagte allgemein weit
ausgeschnittene und enge, vorne oder auf der Seite geknöpfte Kleidungsstücke, kurze Männerröcke und
Schnabelschuhe.
Einen auffallenden Wandel in K. und Verhalten, der in wenigen Jahrzehnten die gesamte Eidgenossenschaft
bis in die Dörfer erfasst hatte, registrierten u.a. die Chronisten Valerius Anshelm und Renward Cysat. Sie
machten die aus den Burgunder- und Mailänderkriegen zurückkehrenden Söldner und ihre Begleiterinnen
dafür verantwortlich. Mit der Gegenüberstellung der traditionellen und der importierten (welschen) K. verband
Valerius Anshelm eine detaillierte Schilderung der Neuerungen mit Kritik an der eidg. Politik und am
Pensionenwesen. Für ihn spiegelte die reiche, bunte K. den Zerfall der alteidg. Ordnung und Werte.
An Neuerungen waren gegen Ende des 15. Jh. bei der Männerkleidung bunte "zerhauene" (geschlitzte und mit
andersfarbigen Stoffen unterlegte) Wämser und Hosen, die auffällig verzierten überdimensionierten
Schamkapseln, die "gefüllten, grossen Lätze" (braguettes), und die "geteilten" (längsgestreiften
mehrfarbigen) Hosen aufgekommen. Neue Modefarbe für Männer und Frauen war Gelb, eine Farbe, die bis
anhin nördlich der Alpen mit dem Stigma der Unehrlichkeit behaftet, mit Juden, Häretikern, Prostituierten,
Henkern, Narren und dem Verräter Judas assoziiert worden war. Nach Anshelm liess die Berner Obrigkeit die
vom span. Kriegsvolk übernommene "zerhauene" K. zu Stadt und Land bei fünf Pfund Strafe verbieten. Unter
den kostspieligen neuen Moden erwähnt er 1521 zarte lombard. Kragen und Kragenhemden, span. Kappen,
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Schuhe, die an den Zehen hängen und doch doppelt soviel kosten wie frühere Bundschuhe, sowie Schleier,
Hauben, Kragen, Kittel und Ärmel nach Mailänder Machart und die tiefen Ausschnitte der Frauenkleidung. In
seinem Tagebuch von 1536-67 liefert Felix Platter genaue Beschreibungen der K., selbst der Farben, die er als
Kind trug und die er sich als modebewusster junger Mann in Montpellier und Basel anfertigen liess.
Neue Sitten und Bräuche erfassten zuerst die Städte und Hauptorte. Erst mit einiger Verzögerung begann
nach Renward Cysat auch die wohlhabende ländl. Bevölkerung ihre traditionellen, schlichten Kleider aus
Landtuch gegen solche aus importierten, teuren Stoffen zu vertauschen. Cysat beschreibt das generationenund standesspezif. Kleidungsverhalten der eidg. Männer: Die älteren, ehrbaren Einheimischen trügen
unzerschnittene Hosen und Wämser nach tütscher Art, knielange Leibröcke und Joppen aus Wolle oder
Leinen, die jüngeren hingegen, insbesondere vornehme und solche, die an Kriegszügen teilnähmen, zögen
zerschnittene, mit Seide und Taft unterlegte Hosen nach Art der Landsknechte und anderer Deutschen vor.
Die neu aufgekommenen Bundschuhe würden von den Angehörigen aller Stände getragen, im Unterschied
dazu die welschen lagkeyen Schuhe (Glanzlederschuhe) vornehmlich von Städtern. Der K. des weibl.
Geschlechts brachte Cysat wenig Interesse entgegen.
Autorin/Autor: Katharina Simon-Muscheid
1.5 - Einflüsse aus Spanien und Frankreich
Unter span. Einfluss begannen sich nach der Mitte des 16. Jh. schwarze und dunkle Kleiderfarben allgemein
durchzusetzen. Der tiefe Ausschnitt der Frauenkleidung verschwand zugunsten des eng an den Hals
anschliessenden Hemds, das ein verzierter Kragen abschloss. An Stelle des Baretts trat der fingerhutförmige
hohe Hut mit schmaler Krempe. Verheiratete Frauen trugen weiterhin die Haube, jedoch zunehmend ohne die
Umhüllung der Kinn- und Backenpartie. Neu waren kugelförmige Kappen aus Bärenfell oder wollene
Imitationen. Aufgelockert wurde die nach Stand und Vermögen aus unterschiedlich kostbaren Stoffen
angefertigte dunkle K. durch Schmuck, gefältelte weisse Kragen, weisse Hauben und Schürzen, wie sie die
zeitgenöss. Porträts und Nachlassinventare überliefern. Qualität und Quantität der Wäsche, blütenweisse
Hemden, Kragen und Spitzen wurden vom 17. Jh. an zum Statussymbol des Adels und wohlhabender
Bürgerinnen und Bürger.
Im 18. Jh. machte sich franz. Einfluss bemerkbar. Die schwarzen Amtstrachten mit Mühlesteinkragen blieben
bei Ratsherren und ref. Geistlichen vorherrschend. Die franz. Mode hielt in der Frauenkleidung Einzug mit
Krinolinen und knappen, tief ausgeschnittenen Miedern, in der Männerkleidung mit dunklen Kniehosen,
bestickten Röcken, verzierten Westen und weisser Halsbinde mit Spitzenjabot. Hauben und Kappen
verschwanden zugunsten sorgfältig frisierter Haartrachten und Perücken.
Autorin/Autor: Katharina Simon-Muscheid
2 - 19. und 20. Jahrhundert
2.1 - Kleidung im Spannungsfeld von Bedürfnis und Mode
Auch nach 1800 wurden Form, Schnitt, Machart, Farbgebung und Schmuck der K. über das Grundbedürfnis
hinaus v.a. von der Mode bestimmt. Eine "Schweizer K." oder schweiz. Kleidermode gab es nicht. Nach wie vor
trug die Oberschicht der Schweizer Städte und Länderorte mit zeitl. Verspätung, was die Oberschichten in
europ. Zentren trugen -- nach 1800 die Mode der bürgerl. Gesellschaft von Paris. Man kopierte daher in der
Schweiz das Chemisekleid mit Décolleté, die lange Hose (Pantalon) mit Stiefeln, Gilet, Frack und Zweispitz,
nach 1815 die Mode des Biedermeier: Röcke mit Schinkenärmeln, geschnürter Taille und Seidenschal,
dezentfarbene Beinkleider, Gilet, Frack und Zylinder. In der Schweiz wie in ganz Europa orientierte sich die K.
nach 1850 neben Paris neu auch an London: Pariser Modehäuser kreierten für die Dame Krinolinen
(Reifröcke), Tournüren (ab 1865) und gepolsterte Culs de Paris (ab 1880) bei enger Schnürung, während der
Herr nach engl. Geschmack zu Überzieher, Gehrock, Sakko, Hemd mit steifem Kragen und Krawatte griff, was
zur klass. Herrenkleidung des 20. Jh. wurde. Die Haute Couture - ab 1859 in den Händen von Designern
renommierter Modehäuser - blieb mit Exklusivkreation und Einzelherstellung einer reichen Oberschicht
vorbehalten. Der Mittelstand, Städter wie Landleute, ahmte die K. der Oberschicht nach.
Mit der industriellen Herstellung von Massen- oder Stapelware im 19. Jh. war die K. für untere Einkommen
leichter verfügbar geworden. Seit den 1860er Jahren versorgte die schweiz. Bekleidungsindustrie die
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Arbeiterbevölkerung mit eigenen Fabrikaten und Importen an Arbeiterblusen, Mänteln usw. Dieses erste
einfache Angebot der Konfektion wurde bald erweitert und umfasste gegen Ende des 19. Jh. immer mehr
Artikel in zunehmend modischerer Ausrüstung, angeboten von Warenhäusern für untere und von
Modehäusern für mittlere Preisklassen einer v.a. städt. Kundschaft. Exklusive Fachgeschäfte, in Zürich etwa
Seiden-Grieder, Wollen-Keller und Schuh-Bally, boten neben teurer Konfektion auch Masskonfektion und den
Schuh nach Mass an.
Die Nachkriegszeiten beider Weltkriege lösten bei der K. Veränderungen aus, befreiten von gesellschaftl.
Tabus und verhalfen Neuem zum Durchbruch: Frauenerwerbsarbeit, Hygiene, Sport und Freizeit
revolutionierten die K. und begünstigten langfristig funktionelle, bequeme Alltags- und Strassenkleidung.
Seitdem selbst billigste Konfektion die exklusive K. in Stil und Schnitt samt Labels (z.B. Lacoste-Krokodil)
kopiert, hebt sich diese v.a. durch teure Materialien, gepflegte Machart und kostbare Ausrüstung von der
Massenkonfektion ab.
K. und Kleidermode waren im 19. Jh. Erwachsenenkleidung und Erwachsenenmode. Eigentl. Kinderkleider und
-mode gab es nicht. Kleine Mädchen und Knaben trugen Röcke, ab 5-7 Jahren dann verkleinerte Ausgaben der
Erwachsenenkleidung. Erst in den 1890er Jahren kam die Kindermode städt.-wohlhabender Kreise auf, u.a.
Matrosenanzüge für Knaben, Hängerkleidchen für Mädchen. Auf dem Land, wo Kinder nicht nur bei Armen die
abgelegte, umgearbeitete K. der Eltern nachtrugen, setzte sich Kinderkleidung nur zögernd, in Gebirgstälern
erst nach 1950 durch. In den 1960er Jahren kam mit der Teenager- oder Jungen Mode die spezielle K. für
Jugendliche auf.
Die Trachtenbewegung (Trachten) der 1920er Jahre ist als Reaktion auf die durch Werbung und Presse
bewirkte "Internationalisierung" der K. zu verstehen. Sie war eine der ersten Protestbewegungen der "AntiMode" in der Schweiz. Bewegungen nach 1950 (u.a. Rocker, Punks, Hippies, Natur-Freaks) hielten sich an den
Kleiderstil ihrer v.a. amerikan. Vorbilder.
Autorin/Autor: Anne-Marie Dubler
2.2 - Schneiderkleid - Selbermachen - Kleid ab Stange und aus dem Katalog
Bis in die 1. Hälfte des 20. Jh. war Massanfertigung für städt. und ländl. Kundschaft das Übliche, das
Schneiderhandwerk stark verbreitet (1910 62'400 selbstständige, 5'822 in der Konfektion beschäftigte
Schneider; 1975 20'685 Beschäftigte in Schneiderei und Konfektion). Bereits in den 1890er Jahren verdrängte
dagegen der Fabrikschuh (Schuhindustrie), ob als eleganter Schnürstiefel oder gepechter Volksschuh
(Holzböden), die Massanfertigung des Schuhmachers. Frauen mittlerer und unterer Einkommensklassen
waren auf das Selbermachen eingerichtet, v.a. seit dem Siegeszug der Nähmaschine (schweiz. Produktion ab
1858) und dem obligator. Handarbeitsunterricht. Lehrpläne waren auf Flicken und Selbermachen der
wichtigsten Kleidungsstücke (v.a. Unterwäsche, Nachthemden, Schürzen) angelegt, und eine ganze
Ratgeberliteratur leitete dazu an. Konfektion ab Stange setzte sich zuerst in Städten und Hauptorten durch.
Auf dem Land ging derweil der Konfektionsreisende von Haus zu Haus, bis nach 1950 Modeläden und
Boutiquen auch in den Dörfern Modisches präsentierten. Nach 2000 begann schliesslich ein explosionsartig
anwachsender Versandhandel Stadt und Land gleichermassen mit trendiger K. für jedes Budget aus Chinas
Textilfabriken zu überschwemmen. Das rasch wechselnde billige Angebot leitete junge und zunehmend auch
ältere Leute zu dem seit den 1980er Jahren bekannten Konsumverhalten an: K. wird spontan gekauft, oft
bloss für einen Anlass oder eine Saison. Flicken lohnt den Aufwand nicht. Was nicht mehr gebraucht wird,
geht in die Textilsammlung.
Autorin/Autor: Anne-Marie Dubler
2.3 - Kleidung für bestimmte Anlässe
Seit jeher verlangten spezielle Anlässe nach besonderer, nur diesem Zweck dienender K., v.a. im Bereich
kirchl. Anlässe. Einiges, das noch vor 1950 Sitte und Brauch war - dezent dunkle K. mit Hut zum
Kirchenbesuch, schwarze K. für Beerdigung und Trauerjahr - verlor danach an Bedeutung, zuerst bei der
städt., dann auch bei der ländl. Bevölkerung. Trotz allgemein gelockerter Bindung an religiöse Bräuche erhielt
sich festl. Weiss der K. bei Taufen (Taufkleid des Täuflings), Erstkommunion und Hochzeit. Dagegen
verdrängte ein individualist. Erscheinungsbild allmählich die dunkle K. der Konfirmanden.
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Die Berufskleidung, ursprünglich von prakt. Bedeutung wie das Übergewand des Mechanikers, erhielt je nach
Beruf zusätzl. Funktion, indem sie ihren Träger (z.B. Koch, Spitalpersonal) von der Umwelt abgrenzte und
dessen Rang vermerkte (unterschiedl. Höhe der Kochmützen und Farbe der Spitalschürzen). Informelle
Einheitskleidung wie das Kostüm der Geschäftsfrau oder der Anzug mit Krawatte des Bankbeamten warb mit
der Korrektheit für Vertrauen in das Geschäft. Darüber hinaus markierte die Uniform im öffentl. Dienst (u.a.
Linienpiloten, Tramführer), bei der Polizei und im Militär den öffentl. Auftrag und eine übergeordnete Befugnis.
In Zeitlosigkeit erstarrt, kennzeichnen Amtstrachten (Talare) Geistliche, Richter und Professoren als öffentl.
Amtsträger. Die kath. Kirche regelte bis in die 1970er Jahre die strenge Kleiderordnung. Beim Standesklerus
sind Soutane und schwarzer Anzug mit Kollar verschwunden, zeichnen aber traditionalist. Richtungen aus.
Strenger sind die Bestimmungen für die K. (Habit) der Ordensleute.
Enormen Einfluss hatten seit den 1880er Jahren gesellschaftl. Anlässe, Sport und neuerdings Freizeit auf die
Entstehung neuer Formen von K.: Jede Art von Gesellschaftsanlass verlangte nach hierfür korrekter K.
(Cutaway oder Smoking, Robe oder Cocktailkleid). Jede neue Sportart, jede Freizeitbeschäftigung erfand und
erfindet ihren spezif. Dress (Tennis-, Reiter-, Jogger-, Ski-, Reisedress).
Autorin/Autor: Anne-Marie Dubler
2.4 - Kleidung und Körpergefühl, das Dessous
Während sich das 19. Jh. durch Kleidervorschriften, die "korrekte K." für jeden Anlass, hervortat,
kennzeichneten Tragkomfort und Lässigkeit das 20. Jh. Schon vor 1900 wurden durch K. verursachte
Gesundheitsschäden bekämpft, schädl. Farben (u.a. Chromgelb) verboten, gegen enge Korsetts die taillenlose
"Reformkleidung" propagiert und dem Reinigen und Waschen der K. vermehrte Beachtung geschenkt. Die
Bekleidungsindustrie begann sich für das therm. Verhalten von Stoffen und deren Luftdurchlässigkeit zu
interessieren und experimentierte mit ersten Kunstmaterialien (Kunstseide, Viskose, Kunstfaserindustrie)
sowie versch. Webarten. Diese ermöglichten seit den 1950er Jahren u.a. viele Varianten von Gesundheits- und
Rheumawäsche oder "atmende" Spezialstoffe bei Sportkleidern.
Erst im 19. Jh. wurde die Unterwäsche, das Dessous, zum festen Zubehör der K.: Unterrock, Unterhemd, neu
die knie- bis wadenlange Unterhose waren Bestandteile städt. K. In der bäuerl. K. waren mehrere, auch
wollene Unterröcke üblich, nicht aber Unterhosen, die sich erst nach 1900 durchsetzten. In der 1. Hälfte des
20. Jh. war selbst genähte Unterwäsche Teil der Aussteuer bürgerl. und bäuerl. Bräute. Erst nach 1950 setzte
sich die pflegeleichte baumwollene Rundstrickware der einheim. Industrie durch. Von Designern entworfene,
bestickte seidene Dessous lagen ebenso im Trend berufstätiger jüngerer Frauen wie der Body (Einteiler). Das
einstige Nachtgewand (-hemd) für Mann und Frau erhielt seit den 1920er Jahren im Pyjama einen bleibenden
Konkurrenten.
Neue Lebensweisen, u.a. mit der Berufsarbeit der (Haus-)Frau und dem Verschwinden der Dienstboten im
technisierten Haushalt, stellten seit Beginn des 20. Jh. neue Ansprüche an die Alltagskleidung: Dazu gehörten
Waschbarkeit, seit den 1950er Jahren Pflegeleichtigkeit und Tragkomfort. Kleidungsstücke der 60er Jahre wie
Jeans und T-Shirts, auch in der Schweiz ursprünglich Zeichen von Zivilisationsüberdruss und Protest gegen
Etablierte, wirkten bahnbrechend: Jeans öffneten Mädchen den Weg zur Hose und verdrängten die Kurzhose
der Knaben. Unter dem Einfluss von Sport und Freizeit fand prakt.-zwanglose K. (ohne Krawatte, Hosendress
für Damen, Turnschuhe) z.T. auch in die Arbeitswelt Eingang. Nicht zuletzt setzte sich ab den 1970er Jahren
die Hose der nach Gleichberechtigung strebenden Frau für alle Anlässe durch. Jugendlichkeitsideal und
Unisex-Stil glichen die K. der Altersgruppen und Geschlechter einander an.
Autorin/Autor: Anne-Marie Dubler
2.5 - Die Accessoires
Noch in der 1. Hälfte des 20. Jh. gehörten Tasche und Schirm bei der Dame, Taschenuhr und Spazierstock
beim Herrn, bei beiden Hut, Schal, Handschuhe und Taschentuch zur korrekten K. Die von Konventionen
diktierten Accessoires änderten sich teils unter äusseren Zwängen: So etwa verdrängte das Automobil die
auch von Kurzfrisur und Dauerwelle konkurrenzierten Hüte. Nach 1960 schwoll das Geschäft mit den von
Modehäusern entworfenen Accessoires an, die saisonweise unentberliche Neuheiten zu schaffen suchten: Zur
K. wurden passender Modeschmuck, Gürtel, Schuh, Hut, Schirm, Tasche und Schal angeboten.
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Branchenunterschiede verwischten sich: Schuhgeschäfte boten zum Schuh, Modehäuser zum Kleid das
perfekte Arrangement an. Während der gepflegte Schuh in der Hohen Mode zum Zubehör verkam, verlor er
bei der Alltagskleidung seinen Stellenwert zugunsten von Billig- und Turnschuhen.
Autorin/Autor: Anne-Marie Dubler
Quellen und Literatur
Quellen
Mittelalter bis 1800
– F. Platter, Tagebuch, hg. von V. Lötscher, 1976
19. und 20. Jahrhundert
– Schweizer Fam. 1-, 1894-, (Beil. "Das fleissige Hausmütterchen")
– A. Winistörfer, A. Meyer, Frauen Wirken und Walten, 1916 (31926)
Literatur
Mittelalter bis 1800
– L. Zehnder, Volkskundliches in der älteren schweiz. Chronistik, 1976
– C. Andersson, Dirnen, Krieger, Narren, 1978
– A. Ribeiro, Dress and Morality, 1986
– A. Hauser, Was für ein Leben, 1987
– G. Wolter, Die Verpackung des männl. Geschlechts, 1988
– O. Blanc, Le vêtement, 1989
– D. Roche, La culture des apparences, 1989
– Zwischen Sein und Schein, hg. von N. Bulst, R. Jütte, 1993, (mit Bibl.)
– C. Walker, «Les lois somptuaires ou le rêve d'un ordre social», in Equinoxe 11, 1994, 111-129
– K. Simon-Muscheid, «"Schweizergelb" und "Judasfarbe"», in ZHF 22, 1995, 317-343, (mit Bibl.)
19. und 20. Jahrhundert
– K. Wiederkehr-Benz, Sozialpsycholog. Funktionen der Kleidermode, 1973
– I. Weber-Kellermann, Der Kinder neue Kleider, 1985
– U. Brunold-Bigler, «Schonen - Flicken - Umschaffen», in Schweizer Volkskunde 77, 1987, 49-59
– M. Jäger, «K. und Mode», in Hb. der schweiz. Volkskultur 1, hg. von P. Hugger, 1992, 289-314
– Vocabolario dei dialetti della Svizzera italiana 3, 1998, 255-260 (calza), 261-265 (calzee), 266-268
(calzón), 299-304 (camisa), 522-535 (capèll)
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