Plewig, H.-J.: Thesen zur "Rechtspädagogik"

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Plewig, H.-J.: Thesen zur "Rechtspädagogik"
Deutsche Vereinigung für Jugendgerichte
und Jugendgerichtshilfen e.V.
Jugendliche und Gewalt
Erkenntnisse, Legenden, Projekte, Handlungsbedarf
Tagung vom 16. bis 18. Januar 2004 in der Ev. Akademie Bad Boll
in Kooperation mit: Ev. Akademie Bad Boll, Kriminologisches
Forschungsinstitut Niedersachsen und Verein Recht und Gesellschaft e.V.
Die Texte unterliegen urheberrechtlichem Schutz
Quellen-Nachweis: Plewig: „Rechtspädagogik“ aus erziehungswissenschaftlich-gesellschaftstheoretischer Perspektive, Hannover 2004,
www.dvjj.de„ Veranstaltungen„ Dokumentationen„ Tagung: Jugendliche, Drogen und Kriminalität
Hans-Joachim Plewig
Universität Lüneburg
„Rechtspädagogik“ aus erziehungswissenschaftlichgesellschaftstheoretischer Perspektive
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Das Thema hat zwei Dimensionen:
Inwieweit ist „Verantwortung“ pädagogisch vermittelbar?
Welcher gesellschaftliche Befund ist hierbei von Bedeutung?
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Aus erziehungswissenschaftlicher Sicht ist zunächst zu klären, um welche
Art von Vermittlungsprozess es sich zu handeln hat. Entscheidend ist, ob
die zu Erziehenden“ als Objekt der Information oder als Subjekt des Vorganges – theoretisch – begriffen werden. Die Ethologie (HOF) zum Beispiel
trennt methodisch dualistisch. Ebenso kommt die Systemtheorie zum Ergebnis, dass sich das Thema so nicht stellt. Das Kriterium „demokratisch“
verlangt allerdings Formen der Beteiligung im Rahmen von Erziehung zur
Verantwortung.
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Wenn wir Personen freien Willens unterstellen, benötigen wir Formen der
Verständigung, die eine bestimmte Offenheit ermöglichen.
These: Handlungsziele und Interaktionsformen sind zusammen zu analysieren.
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Strittig ist, ob gegebene Herrschaftsverhältnisse prinzipiell dies Ziel verhindern. Die soziologisch inspirierte Erziehungswissenschaft wie auch die „Antipädagogik“ sehen das so.
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Erforderlich wäre nun ein theoretischer Unterbau, der Ziel und Vermittlung
realitätsbezogen ermöglicht. Hierfür sind Annahmen über Gesellschaft und
Mensch erforderlich. Zu nennen sind das Verhältnis zwischen Arbeit und
Leben sowie Leben und Lernen. Dies betrifft die bürgerliche politische Öffentlichkeit.
Darüber ist unter zwei Bedingungen zu verhandeln:
a) In Handlungspausen über immanente Bewegungsgesetze der Gesellschaft
iRv auf Übereinstimmung angelegten Diskussionen;
b) unter Handlungszwang über praktische Regelungen zur Reproduktion der
Gesellschaft in Form von Beratung und Beschluss.
Hierfür ist der Begriff Diskurs verwendbar.
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Unter Diskurs wird hier die handlungsentlastende, freiwillige und gleichberechtigte Verständigung von mündigen Teilnehmern zum Zwecke der
wechselseitigen Überprüfung von problematisch gewordenen Geltungsansprüchen verstanden. Argumente sind zu begründen und einsichtig zu machen.
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Der „pädagogische Diskurs“ (H. RICHTER) benötigt eine spezifische Kommunikationsstruktur (vgl. Arzt; Therapie). Dabei ist in Erinnerung zu rufen,
dass idR im pädagogischen Gespräch wegen der ‚Überlegenheit’ der Erziehenden Mündigkeit und Freiwilligkeit fehlen. Dies gilt zumindest theoretisch als unvermeidlich. Es ist zugleich fiktiv, denn – das wissen wir nicht
erst mit FOUCAULT – die ‚Machtverhältnisse können auch anders sein.
Folglich ist an Selbstkorrektur zu denken, denn der lernbereite Aufzuklärende erhebt notwenig Geltungsansprüche, so dass empirisch wechselseitige Lernprozesse stattfinden können.
These: In „Aufklärungsprozessen“ gibt es nur Beteiligte.
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Im Hinblick auf unsere gesellschaftliche Wirklichkeit (wie auch das Thema
der AG) ist davon auszugehen, dass Menschen mit verschiedenen Sprachspielen aufeinander treffen.
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Die angesprochenen Zweifel an Freiwilligkeit und Mündigkeit der zu Erziehenden werden traditionell mit dem Erfahrungsvorsprung und dem größeren Wissen der Verantwortlichen begründet, gelegentlich auch mit dem
Hinweis auf Entwicklungsstufen der Moral (KOHLBERG).
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These: Wir Erwachsenen sind derzeit eher ratlos und darum nur noch begrenzt in der Lage, über ZUKUNFT verlässliche Aussagen zu machen
(AWO, Hg., Jugend ohne Zukunft, 1993).
Der Bestand zweifelsfreien, für die Zukunft bedeutsamen Wissens schwindet (über die ökologischen Schäden ist hier nicht weiter zu sprechen).
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Deshalb können Verantwortung und Moral bei allen (vgl. 8.) unterstellt werden, weil ihre konkrete Betroffenheit zu Kompetenz führt. Die Annahme,
ideale Sprechsituationen dürften unterstellt werden, sind damit – abstrakt –
unhintergehbar.
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Mit Max WEBER – von MARX ganz zu schweigen – bleibt aber einzuwenden, dass unsere moderne Form der Handlungsorientierung zweckrational
ist. Wir handeln, ökonomischen, bürokratischen u.a. Interessen folgend taktisch (und nicht wertrational). Dies ist einer der härtesten Einwände gegen
„Erziehung zur Verantwortung“-Konzepte. Ihm ließe sich entgehen, wenn
wir gesellschaftstheoretisch zwischen Lebenswelt und System(en) unterscheiden
a) Im System werden wir vergesellschaftet, indem wir die materielle Reproduktion mit zweckrationaler-erfolgs-orientierter Einstellung betreiben
(besser: ihr unterfallen). Sprache kommt dann nur „unter Vorbehalt“ zur
Geltung, in den Steuerungsmedien Geld, Macht, Recht). Angenommen
werden kann, dass die System-Kraft ‚paradox’ auf die Lebenswelt Einfluss
ausübt.
b) Die soziale Integration mit lebensweltlicher Qualität setzt eine Einstellung voraus, sich verständigungsorientiert symbolisch zu reproduzieren.
Dazu zählt, einander zu „verstehen“, Geltungsansprüche einverständlich zu
beschließen bzw. ‚faire Kompromisse zu finden.
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Damit liegt ein erziehungswissenschaftlich begründeter Ansatz vor, um
zum Beispiel die konkrete Frage zu prüfen, ob und wie ‚Erziehung zur Verantwortung’ erfolgen kann. Ob dazu das Konzept „Jugendhäuser“ (von
HASSELN) theoretisch, institutionell usw. – geeignet ist, soll hier noch nicht
analysiert werden.
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Allerdings gibt die Formulierung „Zerfallsprozesse (in) der Gesellschaft“ einen Hinweis auf Kulturkritik, die mit ‚Alarmismus’ arbeitet. Das ist historisch nicht neu, verändert werden nur die Phänomene (hierzu zählen auch
die populären Kriminalromane von MANKELL). Gegenwärtig wirkt das als
Erreger, was PUTNAM in den USA als „bowling alone“ bezeichnet hat
(2000). Kurz gefasst geht es um die vermeintliche Erosion von Verhältnissen (die zuvor als stabil und wichtig erachtet wurden). Beliebt ist es, Medien
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verantwortlich machen, städtische Verhältnisse, die Frauen-Emanzipation
und den Verlust an ‚Gemeinschaft’.
Um mit BOURDIEU zu sprechen: Es geht um soziales Kapital, das verlustig
gegangen ist (ob dies die ökonomische Entwicklung gefährdet und ‚Kriminalität’ befördert, ist empirisch zweifelhaft). Kulturkritiker dieser Art sind
rückwärtsgewandt und blind. Denn sie verkennen die neuen, produktiven
Kräfte: soziale Bewegungen, Freiheitsrechte, Toleranz, neue Kommunikationsformen usw. All dies sind gerade wichtige Voraussetzungen für eine realdemokratische Erziehung zur Verantwortung.
Es kann also nicht darum gehen, einmal mehr „dunkle Mächte“ zu phantasieren, sondern der Blick muss frei werden für vorhandenes Potential und
die konkreten Störfaktoren.
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These: Soziales Kapital wird möglicherweise in noch nie vorhandener Qualität und Quantität produziert. Mit MARX sind wir zwar voneinander entfremdet, wir sind im übrigen aber weniger „individualisiert“ (disconnected)
als von der Macht getrennt.
Jedes Erziehungs-Konzept hat sich dieser gesellschaftstheoretischen und –
praktischen Frage zu stellen.
Prof. Dr. Hans-Joachim Plewig
Email: [email protected]