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Hinweise für Schüler
Aufgabenauswahl:
Von den vorliegenden vier Aufgaben ist
e i n e auszuwählen und vollständig zu
bearbeiten.
Bearbeitungszeit:
Die Arbeitszeit beträgt 240 Minuten;
zusätzlich stehen 30 Minuten Lesezeit für die
Wahl der Prüfungsaufgabe zur Verfügung.
Hilfsmittel:
ein Nachschlagewerk zur Neuregelung der
deutschen Rechtschreibung
Sonstiges:
Betr. Aufgabe I:
Zur Lösung der Aufgabe steht Ihnen
Sophoklesu „Antigone“ zur Verfügung.
Geben Sie auf der Reinschrift die bearbeitete
Aufgabe an und nummerieren Sie die Seiten
fortlaufend.
Für die Bewertung gilt die Reinschrift.
Entwürfe können nur dann ergänzend zur
Bewertung herangezogen werden, wenn sie zusammenhängend konzipiert sind und die Reinschrift etwa drei Viertel des erkennbar angestrebten Gesamtumfangs umfasst.
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Aufgabe I
Sophokles:
Antigone
Untersuchen Sie anhand von ausgewählten Textstellen das Verhältnis zwischen den beiden
Schwestern Antigone und Ismene.
Stellen Sie sich vor, Ismene hielte einige Zeit nach den Ereignissen Rückschau. Schreiben Sie
einen inneren Monolog, in dem Ismene das Geschehen beurteilt und ihre Beziehung zu Antigone
reflektiert.
Aufgabe II
Wolfgang Molitor:
Flotte Floskeln
Analysieren Sie den Text und erörtern Sie das Problem.
Aufgabe III
Helga M. Novak: Eis
Analysieren und interpretieren Sie den Text.
Aufgabe IV
Ulla Hahn: Angeschaut
Christian Hofmann von Hofmannswaldau: Beschreibung vollkommener schönheit
Analysieren und interpretieren Sie die Gedichte vergleichend.
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Text zur Aufgabe II
Wolfgang Molitor
Flotte Floskeln
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Für den Philosophen Martin Heidegger ist die Sprache „das Haus des Seins“. Sie ist es, die das
tägliche Miteinander entscheidend prägt. Sie kann Gewalt hervorrufen oder sie verhindern. Sie
artikuliert Gedanken, die die Welt verändern - im Guten wie im Bösen. Der Umgang eines
Volkes mit seiner Sprache ermöglicht den Blick in seinen Geist und seine Seele. Wie intensiv
Menschen
Sprache wahrnehmen, für wichtig erachten und pflegen, lässt Rückschlüsse darauf zu, mit
welcher gedanklichen Tiefe und Sensibilität sie in der Lage sind, sich den Problemen der
Gegenwart und Zukunft zu stellen. Gesprächsunfähigkeit und Sprachverrohung sind daher
keineswegs lässliche Sünden, die mit leichter Hand korrigiert werden können. Denn eine
sprachlose Gesellschaft flüchtet sich in andere Formen der Kommunikation, liefert sich
skrupellosen Vereinfachern aus, nicht nur in der Politik. Schnell ersetzt das Schlagwort das
Argument, gewinnt die kurze Befehlsform die Oberhand über die gedankliche Differenzierung.
Viel zu vielen, vor allem jungen Menschen tropfen Oberflächlichkeiten aus den Mündern. Höhen
und Tiefen von Gefühlen, von Freude und Ärger finden ihre Bewertung zunehmend in Ausdrükken wie „geil“ und „kotz“, denen allenfalls ein nuancierendes „echt“ vorgeschaltet ist. Diese
Sprache verträgt keine Kausalsätze. Schnelle Urteile ertragen keine Begründung. Je stärker der
Eindruck, desto größer die sprachliche Kapitulation. Alles, was über stereotype Phrasen hinausgeht, nervt. Über Probleme auch noch sprechen? Über Andersdenkende diskutieren? Würg! In
einer Zeit, in der Gespräche zum Gequatsche degradiert werden, ist ebenso wenig Raum für Fantasie wie für Abgewogenheit. Klischees und Werbesprüche dienen sich als Ersatz an.
Sprache muss gepflegt werden - wie eine saubere Umwelt. Sie vererbt sich nicht, ist nicht
x-beliebig vermehrbar. Ohne die Lust am Gebrauch stirbt Sprache aus. Wenn in der Familie das
Fernsehen das Gespräch ersetzt, die stereotype Märchenkassette die fantasievolle
Ausschmückung des Erzählers verdrängt, wie sollen Kinder dann ein Gespräch erleben und
erlernen, das mehr ist als die bloße Mitteilung täglicher Grundbedürfnisse?
Wer redet, stört. Wo immer sich junge Leute vergnügen, sind sie zum Schweigen verdammt - im
Kino, im Open-air-Konzert, vor dem Fernseher, beim Video, in der Disko, vor dem Computer.
Beschallt bis zur Bewusstlosigkeit, dürfen sie nur eines nicht: selbst etwas sagen. Wie schlechte
Filme über die letzten Naturreservate dieser Welt spielen die zahllosen Talkshows vor, was es
einmal hieß, Gespräche zu führen. Und beweisen gerade diese Runden über Politisches, Privates
oder Belangloses nicht, dass es der täglichen Übung bedarf, miteinander so zu sprechen, dass
Menschen sich verstehen statt sich lediglich zu verständigen? Zeigen sie nicht, dass Inhaltsleere
zum Programm wird? Malen Sprachforscher und Pädagogen schwarz, wenn sie feststellen, dass
wir und unsere Kinder zu Claqueuren gemacht werden, zu einer sprachlosen Gesellschaft
dressierter Affen, staunender Zuschauer, immer bei der großen Welt-Show künstlicher
Wirklichkeiten dabei?
Wer aber soll aufschreien, wenn die Sprachlosigkeit regiert? Wer sein Wort erheben gegen
Ungerechtigkeit, Brutalität, Hetzparolen und menschliche Kälte? Worte und Taten - sie gehören
unteilbar zusammen.
aus: Stuttgarter Nachrichten, 26.3.1994
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Text zur Aufgabe III
Helga M. Novak (geb. 1935)
Eis
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Ein junger Mann geht durch eine Grünanlage. In einer Hand trägt er ein Eis. Er lutscht. Das Eis
schmilzt. Das Eis rutscht an dem Stiel hin und her. Der junge Mann lutscht heftig, er bleibt vor
einer Bank stehen. Auf der Bank sitzt ein Herr und liest eine Zeitung. Der junge Mann bleibt vor
dem Herrn stehen und lutscht.
Der Herr sieht von seiner Zeitung auf. Das Eis fällt in den Sand.
Der junge Mann sagt, was denken Sie jetzt von mir?
Der Herr sagt erstaunt, ich? Von Ihnen? Gar nichts.
Der junge Mann zeigt auf das Eis und sagt, mir ist doch eben das Eis runtergefallen, haben Sie da
nicht gedacht, so ein Trottel?
Der Herr sagt, aber nein. Das habe ich nicht gedacht. Es kann schließlich jedem einmal das Eis
runterfallen.
Der junge Mann sagt, ach so, ich tue Ihnen leid. Sie brauchen mich nicht zu trösten. Sie denken
wohl, ich kann mir kein zweites Eis kaufen. Sie halten mich für einen Habenichts. Der Herr faltet
seine Zeitung zusammen. Er sagt, junger Mann, warum regen Sie sich auf? Meinetwegen können
Sie soviel Eis essen, wie Sie wollen. Machen Sie überhaupt, was Sie wollen. Er faltet die Zeitung
wieder auseinander.
Der junge Mann tritt von einem Fuß auf den anderen. Er sagt, das ist es eben. Ich mache, was ich
will. Mich nageln Sie nicht fest. Ich mache genau, was ich will.
Was sagen Sie dazu?
Der Herr liest wieder in der Zeitung.
Der junge Mann sagt laut, jetzt verachten Sie mich. Bloß, weil ich mache, was ich will. Ich bin
kein Duckmäuser. Was denken Sie jetzt von mir?
Der Herr ist böse.
Er sagt, lassen Sie mich in Ruhe. Gehen Sie weiter. Ihre Mutter hätte Sie öfter verhauen sollen.
Das denke ich jetzt von Ihnen.
Der junge Mann lächelt. Er sagt, da haben Sie recht.
Der Herr steht auf und geht.
Der junge Mann läuft hinterher und hält ihn am Ärmel fest. Er sagt hastig, aber meine Mutter war
ja viel zu weich. Glauben Sie mir, sie konnte mir nichts abschlagen. Wenn ich nach Hause kam,
sagte sie zu mir, mein Prinzchen, du bist schon wieder so schmutzig. Ich sagte, die anderen
haben nach mir geworfen. Darauf sie, du sollst dich deiner Haut wehren. Laß dir nicht alles
gefallen. Dann ich, ich habe angefangen. Darauf sie, pfui, das hast du nicht nötig. Der Stärkere
braucht nicht anzufangen. Dann ich, ich habe gar nicht angefangen. Die anderen haben gespuckt.
Darauf sie, wenn du nicht lernst, dich durchzusetzen, weiß ich nicht, was aus dir werden soll.
Stellen Sie sich vor, sie hat mich gefragt, was willst du denn mal werden, wenn du groß bist?
Neger, habe ich gesagt. Darauf sie, wie ungezogen du wieder bist.
Der Herr hat sich losgemacht.
Der junge Mann ruft, da habe ich ihr was in den Tee getan. Was denken Sie jetzt?
(1968)
aus: H. M. Novak. Geselliges Beisammensein. Luchterhand Verlag.
Darmstadt und Neuwied 1979
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Texte zur Aufgabe IV
Ulla Hahn (geb. 1946)
Angeschaut
Du hast mich angeschaut jetzt
hab ich plötzlich zwei Augen mindestens
einen Mund die schönste Nase
mitten im Gesicht.
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Du hast mich angefaßt jetzt
wächst mir Engelsfell wo
du mich beschwertest.
10
Du hast mich geküßt jetzt
fliegen mir die gebratenen
Tauben Rebhühner und Kapaunen
nur so ausm Maul ach
und du tatest dich gütlich.
15
Du hast mich vergessen jetzt
steh ich da
frag ich was
fang ich allein
mit all dem Plunder an?
(1984)
aus: Herz über Kopf. Gedichte. Stuttgart 1984
Christian Hofmann von Hofmannswaldau (1617 – 1679)
Beschreibung vollkommener schönheit
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Ein haar so kühnlich trotz der Berenice1 spricht /
Ein mund / der rosen führt und perlen in sich heget /
Ein zünglein / so ein gifft vor tausend hertzen träget /
Zwo brüste / wo rubin durch alabaster bricht /
Ein hals / der schwanen-schnee weit weit zurücke sticht
Zwey wangen / wo die pracht der Flora sich beweget /
Ein blick / der blitze führt und männer niederleget /
Zwey armen / derer krafft offt leuen2 hingericht /
Ein hertz / aus welchem nichts als mein verderben quillet /
Ein wort / so himmlisch ist / und mich verdammen kan /
Zwey hände / derer grimm mich in den bann gethan /
Und durch ein süsses gifft die seele selbst umhüllet /
Ein zierrath /wie es scheint / im paradieß gemacht /
Hat mich um meinen witz und meine freyheit bracht.
(1695)
aus: Neukirchs Anthologie Herrn von Hofmannswaldaus u. a. (Neudruck).
Tübingen 1961
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Berenice = Frauenname; mytholog.: Frau mit sagenhaft schönem Haar
leuen = Löwen