Die SIVUS-Methode als Instrument von Empowerment

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Die SIVUS-Methode als Instrument von Empowerment
Pädagogik
Magdalena Wendt
Die SIVUS-Methode als
Instrument von Empowerment
Diplomarbeit
Magdalena Günther
Martin-Luther-Universität Halle Wittenberg
Diplomarbeit
Thema der Arbeit:
Die SIVUS-Methode als Instrument von
Empowerment
Diplomstudiengang Erziehungswissenschaften 97
Fachbereich Erziehungswissenschaften
Vorgelegt am: 30. September 2002
Inhalt
1. Einleitung ................................................................................ 3
2. Von der Verwahrung zur Selbstbestimmung....................... 6
2.1. Psychiatrische Anstalten – Orte der Verwahrung ........................................7
2.2. Enthospitalisierung ..........................................................................................9
2.2.1. Formale und inhaltliche Aspekte ...............................................................10
2.2.2. Erfolge und Probleme ................................................................................11
2.2.3. Kritik an gemeindeintegriertem Wohnen ..................................................13
2.3. Das Normalisierungsprinzip..........................................................................14
2.3.1. Entwicklung in Skandinavien und in den USA .........................................14
2.3.2. Umsetzung in Deutschland ........................................................................16
2.4. Integration.......................................................................................................17
2.5. Selbstbestimmung...........................................................................................18
3. Das Empowerment-Konzept................................................ 21
3.1. Begriffliche Auseinandersetzung ..................................................................21
3.2. Geschichtliche Entwicklung ..........................................................................23
3.3. Menschenbild – Leitlinien – Wertebasis ......................................................25
3.3.1. Selbstbestimmung......................................................................................29
3.3.2. Kollaborative und demokratische Partizipation.........................................32
3.3.3. Verteilungsgerechtigkeit............................................................................33
3.4. Die Rolle der professionellen Helfer .............................................................35
3.5. Self Advocacy..................................................................................................38
4. Die SIVUS-Methode als Instrument von Empowerment .. 42
4.1. Die Entstehungsgeschichte der SIVUS-Methode.........................................42
4.2. Grundlagen der SIVUS-Methode .................................................................44
4.2.1. Das Menschenbild nach SIVUS ................................................................44
4.2.2. Die Rolle der Begleiter ..............................................................................46
4.2.3. Die Zielsetzungen ......................................................................................47
1
4.2.4. Der individuelle und soziale Reifungsprozess...........................................49
4.2.4.1. Die vier grundlegenden Fähigkeiten ...................................................50
4.2.4.2. Die zwei Dimensionen des sozialen Reifens ......................................55
4.2.5. Arbeitsorganisation....................................................................................63
4.3. SIVUS und Kommunikation .........................................................................65
4.4. SIVUS im Bereich der Arbeit........................................................................70
4.5. SIVUS im Wohnbereich.................................................................................78
4.6. SIVUS im Bereich Freizeit und Erwachsenenbildung ................................83
4.7. SIVUS bei Menschen mit intensiver geistiger Behinderung ......................88
4.8. SIVUS als Mittel zur Qualitätssicherung.....................................................96
5. Empirischer Teil ................................................................. 103
5.1. Gegenstand der Studie und zentrale Fragestellungen ..............................103
5.2. Die Forschungsmethode...............................................................................104
5.3. Auswahl der Interviewpartner....................................................................105
5.4. Vorbereitung und Durchführung der Interviews......................................108
5.5. Auswertung der Interviews .........................................................................109
6. Abschließende Gedanken................................................... 121
7. Literatur .............................................................................. 124
Anhang 1: SIVUS Schaubild ......................................................................................132
Anhang 2: Übersicht über die Individualebene ........................................................133
Anhang 3: Übersicht über die Paarebene .................................................................134
Anhang 4: Übersicht über die Gruppenebene ..........................................................135
Anhang 5: Übersicht über die Intergruppenebene...................................................136
Anhang 6: Übersicht über die Gesellschaftsebene ...................................................137
Anhang 7: SIVUS-Einschätzungsbogen ....................................................................138
Anhang 8: Stützmodell für Verhaltensbesonderheiten............................................139
Anhang 9: Modell eines integrierten Beschäftigungszentrums...............................140
Anhang 10: Transkripte der Interviews....................................................................141
2
1. Einleitung
Man hilft den Menschen nicht,
wenn man für sie tut,
was sie selbst tun können.
Abraham Lincoln
In den letzten Jahrzehnten hat sich die Arbeit mit Menschen mit geistiger
Behinderung immer wieder stark verändert. Während diese früher von Verwahrung,
Wegschließen, Fremdbestimmung und Inhumanität geprägt war, wurden in den letzten
Jahren zunehmend Stimmen laut, die Normalisierung und Selbstbestimmung forderten.
Seit Kurzem sind diese Stimmen auch direkt von Betroffenen zu hören, die nicht länger
unter diesen fremdbestimmten Bedingungen leben wollen. Sie wollen nicht länger in
Abhängigkeit von anderen Menschen leben. Einige haben diese neuen Möglichkeiten
bereits für sich erkannt, sehr viele sind jedoch noch nicht in diese Prozesse eingetreten.
Dieses neue Paradigma der Selbstbestimmung wurde mittlerweile auch von
Theoretikern, Wissenschaftlern und auch von den professionellen Begleitern der
Betroffenen anerkannt. So sind in den letzten Jahren Konzepte entstanden, die auf die
Selbstbestimmung von Betroffenen aufbauen, diese fördern und Menschen bei dem
Eintreten in solche Prozesse helfen und begleiten wollen. Solch ein Konzept stellt
beispielsweise das Empowerment-Konzept dar.
Da die Entwicklung der Behindertenarbeit in anderen westlichen Industrienationen
teilweise sehr viel fortgeschrittener ist als in Deutschland, stammen solche Konzepte
meist aus dem Ausland. So hat das Normalisierungsprinzip seinen Ursprung in
Skandinavien, das Empowerment-Konzept stammt aus den USA.
In dieser Diplomarbeit soll es um eine Methode gehen, die in Schweden für die
praktische Arbeit mit Menschen mit geistiger Behinderung entwickelt wurde. Diese
Methode heißt SIVUS-Methode und ist in verschiedenen Länder bereits sehr populär
geworden. In Schweden, Österreich und der Schweiz, um nur einige zu nennen, wird
diese Methode in vielen Einrichtungen der Behindertenhilfe verwendet. In Deutschland
dagegen ist SIVUS bislang erst sehr selten anzutreffen. Mögliche Gründe dafür
versuche ich später in dieser Arbeit herauszuarbeiten.
3
Zu Beginn der Arbeit werde ich kurz die Entwicklung der Behindertenarbeit
darstellen. Dabei soll besonders der Paradigmenwechsel in den letzten Jahren von der
Verwahrung, über Förderung hin zur Selbstbestimmung näher erläutert werden. Danach
werde ich das von THEUNISSEN und PLAUTE vertretene Empowerment-Konzept
behandeln, das wichtige theoretische Impulse für die Arbeit mit Menschen mit geistiger
Behinderung setzt. Im Hauptteil soll es dann ausführlich um die SIVUS-Methode
gehen. Dabei werde ich auf die grundlegenden Gedanken wie Menschenbild und
Zielsetzung und auf die Arbeitsmethode eingehen. Im Anschluss an diese theoretischen
Aussagen werde ich dann die SIVUS-Methode in Verbindung mit relevanten Themen
erörtern. Im letzten Teil der Arbeit geht es schließlich um eine von mir durchgeführte
Befragung von Personen, die in Deutschland mit SIVUS arbeiten oder gearbeitet haben.
Ziel dieser Befragung soll sein, mögliche Schwierigkeiten, Probleme und Grenzen in
der Arbeit mit SIVUS zu thematisieren, da bereits erschienene Erfahrungsberichte
oftmals besonders die positiven Seiten und die Erfolge darstellen. Damit soll ein
realistisches Bild von SIVUS erstellt werden. Weiter beschäftige ich mich in der
Befragung mit der Frage, warum SIVUS in Deutschland so unbekannt ist und ob es hier
eventuell Bedingungen gibt, die diese Arbeit behindern.
Für die Bearbeitung dieses Themas habe ich auf Bücher und Hefte des SIVUS
Fördervereins in Österreich zurückgegriffen, da mir die Literatur über SIVUS in
Deutschland nicht ausreichend für die Bearbeitung erschien. Die Materialien des SIVUS
Vereines enthalten teilweise keine Jahres- oder Seitenangaben. Ich habe trotzdem
daraus zitiert, die Kennzeichnung ist aufgrund dieses Fehlens aber zum Teil
unvollständig. Ich habe dann mitunter statt der Seitenzahlen nur die Kapitel angeben
können.
In meiner Diplomarbeit habe ich mich auf die Betrachtung von erwachsenen
Menschen mit geistiger Behinderung beschränkt. Die Arbeit mit Kindern und
Jugendlichen soll dabei jedoch nicht geringgeschätzt werden. Aber die zusätzliche
Bearbeitung unter diesem Gesichtspunkt hätte vermutlich den Rahmen der Arbeit
gesprengt. Die Ausführungen in den Fachbüchern haben sich ebenfalls oft auf
erwachsene Menschen beschränkt. Auch meine bisherigen praktischen Erfahrungen
habe ich hauptsächlich mit erwachsenen Menschen mit geistiger Behinderung
gesammelt.
4
Ich habe in meiner Arbeit den Begriff „Menschen mit geistiger Behinderung“
verwendet, sehr wohl wissend, dass Betroffenen die Bezeichnung „Menschen mit
bestimmten Lernschwierigkeiten“ favorisieren. Ich will diese Menschen damit nicht
stigmatisieren, halte es aber für die Verständlichkeit dieser Arbeit für notwendig, diese
Bezeichnung zu wählen. An verschiedenen Stellen der Arbeit will ich zwischen
Menschen mit leichter geistiger Behinderung und Menschen mit schwerer/ intensiver
geistiger Behinderung unterscheiden. Da mir für diese Differenzierung entsprechende
alternative Begrifflichkeiten nicht bekannt sind, habe ich mich entschlossen, auf diese
(veraltete) Begrifflichkeit zurückzugreifen.
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2. Von der Verwahrung zur Selbstbestimmung
Im Folgenden soll es in einem geschichtlichen Rückblick um die Situation von
Menschen mit geistiger Behinderung nach dem zweiten Weltkrieg gehen. Natürlich gibt
es Behinderungen nicht erst seit 1945. Mein Hauptaugenmerk liegt jedoch in der
Beschreibung der Paradigmenwechsel von der Verwahrung über die Förderung bis hin
zur Selbstbestimmung von Menschen mit geistiger Behinderung. Daher werde ich die
Entwicklungen bis zum zweiten Weltkrieg sehr kurz darlegen. Ausführlicher werden
diese z.B. bei MÖCKEL (1988) und bei SOLAROVA (1983) dargestellt.
Menschen mit Behinderung gab es zu allen Zeiten und in allen Kulturen. Die
Bezeichnungen für diese Menschen waren über die Jahre jedoch sehr unterschiedlich
(Idioten, Wechselbälger, Blödsinnige, Seelenlose, Schwachsinnige u.a.) und auch die
Auffassung, wer zu diesem Personenkreis gehörte, war nicht immer einheitlich. So
wurden u.a. auch kranke, faule, kriminelle und körperlich eingeschränkte Menschen zu
diesen Personen gerechnet. Die Behandlung dieser Menschen war über Jahrhunderte
hinweg jedoch sehr ähnlich. Sie galten als nutzlos, wertlos und nichtmenschlich und so
wurden sie entweder gleich getötet oder sie lebten in Verfolgung und Missachtung (vgl.
THEUNISSEN 1999, S.18ff).
Erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts änderte sich diese Einstellung. Mit dem Beginn
der Entwicklung der Psychiatrie in dieser Zeit entstanden erste Ansätze und Konzepte,
die die Erziehung dieser Menschen in Betracht zogen. So erschienen die ersten
Erziehungsanstalten, in denen diese Menschen erstmals Unterrichtsangebote erhielten.
Dennoch waren körperliche Züchtigungen, Gewalt und Zwangsmaßnahmen in den
Anstalten Normalität (vgl. SPECK 1993, S.13ff.; THEUNISSEN 1999, S.21ff.).
Bis zum Beginn des 20. Jahrhundert wurden die Anstalten zunehmend mediziniert
und psychiatrisiert. Geistige Behinderung wurde nun als Krankheit angesehen. Ärzte
waren daher die „Machthaber“ in den Anstalten und verdrängten so die pädagogischen
Prinzipien. Der Gebrauch von Medikamenten stand auf der Tagesordnung (vgl.
THEUNISSEN 1999, S.26ff).
Zu Anfang des 20. Jahrhunderts wurden weiterhin zunehmend Stimmen laut, die den
vollkommenen, gesunden, schönen und brauchbaren Menschen propagierten. Im
gleichen Zuge wurde Menschen mit Behinderungen (aber auch andere z.B. Juden), die
dieses Idealbild des Menschen nicht erfüllten, das Recht auf Leben und auf
6
Fortpflanzung abgesprochen und der Ruf nach Euthanasie wurde laut. Diese Bewegung
erlebte in der T4-Aktion unter Adolf Hitler ihren Höhepunkt. Traurige Bilanz der
Euthanasiemaßnahmen sind Zwangssterilisationen von bis zu 400.000 Menschen und
die Tötung von bis zu 100.000 Menschen bis 1945 (vgl. NOWAK 1994, S.21;
THEUNISSEN 1999, S.35).
2.1.
Psychiatrische Anstalten – Orte der Verwahrung
Der Neubeginn in der Arbeit mit Menschen mit geistiger Behinderung nach dem
Krieg war einerseits geprägt von Armut, Hunger und Spuren der Verwüstung des
Kriegs, andererseits schlossen die Pflegeanstalten unreflektiert an die alten Strukturen
an. Die Arbeit mit Menschen mit geistiger Behinderung wurde weiterhin durch
Medizinierung und Medikalisierung bestimmt. Der Mensch mit Behinderung wurde als
Patient (und somit als Objekt) betrachtet und wurde bestenfalls gepflegt, nicht aber
gefördert (vgl. HÄHNER 1997b, S.26; THEUNISSEN 1999, S. 36ff, 62).
Diese Sichtweise basierte auf einem „biologisch-nihilistischen Menschenbild“
(THEUNISSEN 1999, S.41), welches zumindest Menschen mit schwerer geistiger
Behinderung jegliche Lern- und Bildungsfähigkeit absprach und somit den rein
pflegerischen
Umgang
rechtfertigte.
Verhaltensauffälligkeiten
und
psychische
Störungen wurden als personelle Merkmale gesehen und nicht als Folge der
Behinderung und der Lebensumstände (vgl. auch THEUNISSEN 2001, S.12).
Während
Menschen
mit
schwerer
geistiger
Behinderung
nur
auf
ihre
Pflegebedürftigkeit reduziert wurden, sollten Menschen mit leichter geistiger
Behinderung nützliche Arbeit, in Form von Arbeitstherapien, verrichten. Das Ziel war
jedoch nicht dem Menschen eine erfüllende Tätigkeit zu bieten. Es ging darum, die
vorhandenen Fähigkeiten des Menschen so effektiv wie möglich zu nutzen. Da ein
Großteil der schwerbehinderten Menschen solche Fähigkeiten unter den damaligen
Lebensumständen nicht entwickeln konnte, waren die meisten nicht in der Lage zu
arbeiten (vgl. ebd. S.41ff.). Diesen Menschen wurden jegliche Rechte und Ansprüche
aberkannt, da sie für die Gesellschaft keinen Nutzen brachten.
Da es an spezifischen Behinderteneinrichtungen fehlte, war die Unterbringung in
psychiatrischen Krankenhäusern die Realität. Die Psychiatrien wurden so ein
„Auffangbecken“ (THEUNISSEN 1999, S.62) für die Menschen mit geistiger
7
Behinderung, die nicht mehr zu Hause bei den Eltern leben konnten oder die nicht
anderweitig untergebracht werden konnten. In diesen, meist sehr großen Anstalten
lebten sie unter oft unmenschlichen Bedingungen, für die GOFFMAN (1972) den
Begriff der “totalen Institution“ prägte.
Menschen mit geistiger Behinderung wurden in diesen, meist geschlossenen
Anstalten nur verwahrt. Sie waren abgeschieden und isoliert von der Gesellschaft. Auf
individuelle Bedürfnisse konnte und wollte man nicht hinreichend Rücksicht nehmen.
Starre Hierarchien von oben nach unten (GOFFMAN 1972, S.45) bewirkten sowohl bei
Betroffenen, als auch bei Mitarbeitern Entmündigung und Unterdrückung (vgl.
THEUNISSEN 1999, S.43f. ; WEINWURM-KRAUSE 1999, S.37). Oft lebten sehr
viele Menschen auf kleinem Raum zusammen. Aufgrund dieser äußeren Bedingungen,
sowie des depersonalisierten Umgangs mit den Betroffenen, kam es zu zahlreichen
Verhaltensauffälligkeiten, die man auch als Hospitalisierungsschäden bezeichnet (vgl.
HOFFMANN 1999, S.17f.). Diese verschiedenen Verhaltensauffälligkeiten stellten
oftmals einen verzweifelten Versuch dar, sich diesen unwürdigen Lebensbedingungen
anzupassen und wenigstens kleine Bereiche von Individualität aufrechtzuerhalten. (vgl.
JANTZEN/ SCHNITTKA 2000, S.35f.; auch THEUNISSEN 2000b; THEUNISSEN
2000d).
Dieses Verwahren in „totalen Institutionen“ (GOFFMAN), das Entmündigen von
Betroffenen, der Krankenhauscharakter der Anstalten mit den entsprechenden Folgen
für die Behandlung der Betroffenen, sowie die gesamte Medizinierung der Betroffenen
(da Behinderung als Krankheit galt) bezeichnet man auch als „Psychiatrisches Modell“
(THEUNISSEN 1999, S.45).
Eine Wende in diesem Denken setzte in den 60er Jahren ein. Sie werden auch als
„Dekade des Aufbruchs“ (HÄHNER 1997b, S.28) bezeichnet. Das öffentliche und
politische Interesse an den Lebensbedingungen von Menschen mit geistiger
Behinderung nahm zu.
Bereits 1958 entstand der Elternverband „Lebenshilfe für das geistig behinderte
Kind“ (SPECK 1993, S.30), andere (Eltern)Verbände folgten. Diesen ging es zunächst
um die Versorgung von Kindern mit geistiger Behinderung in Kindergärten, Horten und
später auch Schulen. So ist es vor allem den Elternverbänden anzurechnen, dass Mitte
8
der 60er Jahre das Schulrecht für Kinder mit geistiger Behinderung gesetzlich verankert
wurde (vgl. ebd., S.30f.; HÄHNER 1997b, S.29).
Auch das wissenschaftliche Interesse an geistiger Behinderung nahm zu. Die Medizin
verlor ihre Vormachtstellung und die Pädagogik gewann zunehmend an Einfluss. Mitte
der 60er Jahre entstand der erste Lehrstuhl der Sonderpädagogik mit dem Schwerpunkt
Geistigbehindertenpädagogik in Mainz. Das „biologisch-nihilistische Menschenbild“
(THEUNISSEN) wurde durch ein Bild vom Menschen mit geistiger Behinderung als
einem entwicklungsfähigen Individuum ersetzt. Der Mensch mit Behinderung galt nun
als förderfähig (vgl. HÄHNER 1997b, S.30).
2.2.
Enthospitalisierung1
Unter
diesem
öffentlichen
Umdenken
und
dem
Bekanntwerden
der
Lebensbedingungen in den Psychiatrien, wurde die Kritik an der Verwahrung von
Menschen mit geistiger Behinderung in Großeinrichtungen lauter. Entscheidende
Impulse
gingen
1975
von
der
Psychiatrie-Enquête
aus.
Die
unwürdigen
Lebensbedingungen wurden hier erstmals öffentlich beschrieben. In der Enquête stand
weiterhin, dass die Psychiatrie als Lebensort für Menschen mit geistiger Behinderung
nicht geeignet ist, da diese keine medizinische, sondern pädagogische Betreuung
benötigen. Man sprach hier von Fehlplatzierung. Danach lebten 1975 ca. 18.000
Erwachsene mit geistiger Behinderung in psychiatrischen Krankenhäusern und waren
somit fehlplatziert. Daher wurde eine Umsiedlung von Menschen mit geistiger
Behinderung aus den Anstalten und Großeinrichtungen in kleinere, gemeindenahe und
integrierte Wohnformen vorgeschlagen (vgl. PSYCHIATRIE-ENQUÊTE 1975).
Dieser Prozess der Ausgliederung von Menschen mit geistiger Behinderung aus
Großeinrichtungen und Psychiatrien bezeichnet man auch als Enthospitalisierung. Aber
auch Stichworte wie Deinstitutionalisierung, Dezentralisierung, Normalisierung,
Integration, Regionalisierung, Selbstbestimmung und Empowerment bezeichnen die
1
Folgende Ausführungen beziehen sich auf die Bundesrepublik Deutschland. In der DDR setzten
sämtlich Entwicklungen der Entpsychiatrisierung, Enthospitalisierung und Normalisierung erst sehr viel
später ein. Vielerorts stehen Träger, Wohlfahrtsverbände und Einrichtungen der Behindertenhilfe immer
noch am Anfang dieser Entwicklungen (vgl. THEUNISSEN 1996, S. 74ff.; THEUNISSEN 1999, S. 47,
auch LACHWITZ 1994).
9
Entwicklungen der folgenden Jahre. Die Bestrebungen, Menschen mit geistiger
Behinderung aus den Anstalten zu holen, gemeindenah unterzubringen und zu fördern,
wurden von allen westlichen Industrienationen aufgegriffen (oft weitaus früher als in
der BRD) und mehr oder weniger erfolgreich durchgeführt (vgl. HOFFMANN 1999,
S.20f.; THEUNISSEN/ LINGG 1999a, S.7f.).
In Deutschland/ BRD wurden die Empfehlungen der Psychiatrie-Enquête zuerst in
Nordrhein-Westfalen aufgegriffen. Hier wurden zunächst Heilpädagogische Heime, die
humanere Lebensbedingungen boten, geschaffen, um den sehr hohen Anteil der
Menschen mit geistiger Behinderung, die in Psychiatrien lebten, auszugliedern.
Außerdem wurde sehr viel Wert gelegt auf die Schaffung von Außenwohnungen und
Außenwohngruppen, die auch für Menschen mit schwerer geistiger Behinderung
Lebensraum boten (dazu BRADL 1996a).
Weiter Reformen fanden in Hessen und Bremen statt, wo durch politische Beschlüsse
die Auflösung von Großeinrichtungen (z.B. die Klinik Kloster Blankenburg in Bremen)
beschlossen wurde. Auch hier waren Regionalisierung und Dezentralisierung
entscheidende Leitlinien (dazu SCHILLER 1996).
In anderen Bundesländern dagegen ging man erst sehr viel später und zögerlicher auf
die Empfehlungen ein. Der Prozess der Enthospitalisierung ist in Deutschland auch
heute noch lange nicht abgeschlossen (vgl. THEUNISSEN 1996, S.69; THEUNISSEN
1999, S.63).
2.2.1. Formale und inhaltliche Aspekte
Man kann Enthospitalisierungsbestrebungen in formaler und inhaltlicher Hinsicht
betrachten. Diese Aufteilung lässt sich jedoch nur theoretisch vornehmen. In der Praxis
sind sie nicht zu trennen (vgl. HOFFMANN 1999, S.20).
Bislang wurde nur die formale Seite von Enthospitalisierung betrachtet. Dazu
gehören bauliche Veränderungen bestehender Einrichtungen, Auszug in kleinere
Wohneinheiten, Dezentralisierung und Regionalisierung, räumliche Integration,
gemeindenahe, häusliche Wohnformen, Selbstversorgung; sprich alle Maßnahmen die
getroffen, werden um die objektiven und äußeren Lebensbedingungen zu humanisieren
(vgl.ebd.,S.20f.).
10
Doch Enthospitalisierung wäre unvollständig, wenn nicht auch die inhaltlichen
Aspekte berücksichtig und umgesetzt würden. Zu diesen zählen u.a. Anerkennung des
Menschen mit geistiger Behinderung und Respektierung seiner Wünsche und
Bedürfnisse,
soziale
und
gesellschaftliche
Integration,
Selbstbestimmung,
Normalisierung, Begleitung des Menschen in dem Umfang, wie es nötig ist, umfassende
Hilfen bei Bedarf, Entscheidungsfreiheit und psychosoziale Angebote2 (vgl. ebd., S.21).
Dies sind Aspekte, die eine angemessene Begleitung der Menschen mit geistiger
Behinderung vor, während und nach dem Aus-/ Umzug beinhalten sollte.
2.2.2. Erfolge und Probleme
Die weltweit zahlreichen Enthospitalisierungsprozesse haben eindeutig positive
Ergebnisse gezeigt, teilweise traten jedoch auch erhebliche Probleme auf. Dabei ist
allerdings festzustellen, dass die Ergebnisse in den verschiedenen Ländern sehr
unterschiedlich ausfielen. Das lag zum Großteil daran, wie man formale und inhaltliche
Aspekte der Enthospitalisierung umgesetzt und miteinander verbunden hat. Zahlreichen
Schriften belegen und diskutieren die verschiedenen Ergebnisse (z.B. BRADL/
STEINHART 1996, THEUNISSEN 1998a, THEUNISSEN 1999, THEUNISSEN/
LINGG 1999b). Im Folgenden sollen nur einige wichtige Ergebnisse dargestellt werden.
Positiv ist zunächst zu nennen, dass viele fehlplatzierte Menschen aus der Psychiatrie
ausgegliedert wurden. Dabei entstanden neue (z.T. wieder sehr große) Wohnheime, aber
auch zahlreiche Außenwohngruppen und Außenwohnungen. Diese boten den
betroffenen Menschen zumeist eindeutig bessere äußere Lebensbedingungen, als es in
den Psychiatrien der Fall war. Die Anzahl der Menschen, die zusammenlebten war sehr
viel geringer. Auch die Strukturen der vollkommenen Fremdbestimmung in den
Psychiatrien konnten hier endlich aufgebrochen werden. Dieser Prozess wurde aber
nicht in allen Einrichtungen und in allen Ländern erfolgreich vollzogen. Hier entstanden
z.T. große Probleme mit oft schwerwiegenden Folgen für die Betroffenen.
2
Diese Aufzählung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Würde man einen betroffenen
Menschen fragen, was ihm bei seiner Begleitung wichtig ist, würden ihm sicher noch viele Dinge
einfallen.
11
In vielen Ländern konnten eher die Menschen mit leichter geistiger Behinderung von
einem Umzug in kleine, gemeindeintegrierte Wohnformen profitierten. Da der
Betreuungsschlüssel in diesen Wohnformen meist geringer war, verblieben viele
Menschen mit schwerer geistiger Behinderung und starken Verhaltensauffälligkeiten in
großen Einrichtungen. Die Begründung war hier, dass diese Menschen einen so großen
Hilfebedarf haben, der in den kleinen Wohnformen nicht abgesichert werden könne. So
wurden die Großeinrichtungen mit der Zeit zu einem Sammelbecken für
schwerbehinderte und stark verhaltensauffällige Menschen. Durch die Massierung
dieser Menschen wurde es natürlich immer schwieriger, individuelle Bedürfnisse zu
befriedigen und entwicklungsfördernde Bedingungen zu schaffen. Man spricht hier vom
Prozess der Umhospitalisierung. Die Menschen werden zwar aus der Psychiatrie
ausgegliedert, leben in den neuen Einrichtungen, aber unter ähnlich hospitalisierenden
Bedingungen. Hier waren meist weder formale, noch inhaltliche Aspekte der
Enthospitalisierung umgesetzt (vgl. HOFFMANN 1999, S.21ff.).
Doch diese Umhospitalisierung fand nicht nur in neuen Großeinrichtungen statt.
Auch in den kleinen Wohnformen gab es zahlreiche Faktoren, die eine
Umhospitalisierung ermöglichten. Zu nennen sind hier u.a. Mitarbeiter, Nachbarn,
sowie die gesamten Umgebung in der die Menschen lebten. Das Problem war hier eher
die fehlende Umsetzung der inhaltlichen Aspekte von Enthospitalisierung.
Viele (z.T. langjährige) Mitarbeiter sind zusammen mit den Betroffenen aus den
Psychiatrien ausgezogen und in kleine Wohnformen gewechselt. Damit verbesserten
sich zwar die äußeren Lebensbedingungen, der Umgang der Mitarbeiter mit Bewohnern
blieb jedoch oft derselbe. Das bedeutete, dass der Alltag auch weiterhin von den Launen
der Mitarbeiter und von Fremdbestimmung geprägt war. Es fiel den Mitarbeitern oft
sehr schwer, sich von den alten Umgangsformen zu lösen. Viele wollten das auch gar
nicht, denn schließlich hatten sich die alten Konzepte über viele Jahre hinweg bewährt.
So musste erst ein Umdenken bei den Mitarbeitern stattfinden. Sie waren es nicht
gewöhnt, Menschen mit geistiger Behinderung nach ihrer Meinung und nach ihren
Bedürfnissen zu fragen und diese dann auch noch zu berücksichtigen. Den meisten
Bewohnern wurde diese Selbstbestimmung auch gar nicht zugetraut. Fehlende Fort- und
Weiterbildungen, sowie ungenügende Supervisionen waren oft der Grund für
Ratlosigkeit der Mitarbeiter und das Verbleiben in den alten Strukturen (vgl.
FRAENKEL 1996; THEUNISSEN 1999, S.65).
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