Festschrift zum Jubiläum - Evangelische Diakoniestiftung Herford

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Festschrift zum Jubiläum - Evangelische Diakoniestiftung Herford
Westfälischer Herbergsverband e.V.
125 Jahre – 1885 bis 2010
Festschrift
zum Jubiläum
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125 Jahre Westfälischer Herbergsverband Impressum
Impressum
Festschrift 125 Jahre
1885 bis 2010
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Festschrift Grußwort
Grußwort der BAG
Wohnungslosenhilfe
Der Westfälsiche Herbergsverband e.V. (WHV) hat in den
letzten 25 Jahren eine große Bandbreite von Themen
abgedeckt und wichtige Impulse für die Region Westfalen
gesetzt. Dies wird an den Beiträgen dieser Festschrift
deutlich.
Die Bedeutung der Region und der einzelnen Orte in der
Wohnungslosenhilfe nimmt zu. Dies ist natürlich Ausdruck
der föderalen Struktur Deutschlands, aber noch mehr der
starken Tendenz zur Dezentralisierung der Strukturen
sozialen Leistungserbringung. Dies wird vor allem in der
wichtigen Rolle der Region bei der Aushandlung von
Leistungstypen deutlich. Hier hat der WHV maßgeblich
Einfluss genommen und im Interesse der wohnungslosen
Menschen immer wieder für unbürokratische Lösungen
gestritten.
Seit Ende der 1990er Jahre gibt es aufgrund dieser Gesamtentwicklung eine neue Arbeitsteilung zwischen
Bundesverbänden und Regionalverbänden. Regionalverbände müssen sich starker als früher auch politisch
einmischen und auf dem Feld der Sozialpolitik ihres
Bundeslandes präsent sein. Während Bundesverbände wie
die BAG Wohnungslosenhilfe zunehmend gefordert sind,
sich auf die hohe Geschwindigkeiten im Gesetzgebungsprozess auf Bundesebene einzustellen und darauf mit
Lobbyarbeit zu reagieren, können sie sich nicht gleichzeitig
in der notwendigen Weise in der Region oder gar vor Ort
einbringen. Schon immer war dieser Aspekt von Bedeutung, aber heute besonders.
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Das Grundsatzprogramm der BAG W stellt die lokale
Hilfesystementwicklung vor Ort schon in seinem Titel in
den Mittelpunkt: für eine bürger- und gemeindenahe
Wohnungslosenhilfe. Der WHV hat die fachpolitischen
Grundlinien des Grundsatzprogramms in seinen Fachdebatten konstruktiv aufgenommen und mit seinen Möglichkeiten die Gedanken in die Regionen und Orte getragen. Er
hat damit einen großen und wichtigen Beitrag zur Einheit
der Standards und der Qualität der Wohnungslosenhilfe
geleistet.
Im Namen des Vorstands und des Präsidiums der BAG W
gratuliere ich dem WHV herzlich zu seinem 125-jährigen
Jubiläum. Er hat bewiesen, dass er sich den neuen Herausforderungen stellen kann, und dies wird er auch in den
nächsten 25 Jahren tun.
Wir freuen uns auf die Fortsetzung der guten Zusammenarbeit.
Dr. Thomas Specht
(Geschäftsführer BAG W)
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125 Jahre Westfälischer Herbergsverband Grußwort
Grußwort
„Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne
Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst,
so kleide ihn und entzieh dich nicht deinem Fleisch und
Blut! (…) Wenn du in deiner Mitte niemanden unterjochst
und nicht mit Fingern zeigst und nicht übel redest, sondern
den Hungrigen dein Herz finden lässt und den Elenden
sättigst, dann wird dein Licht in der Finsternis aufgehen,
und dein Dunkel wird sein wie der Mittag.“
(Jesaja 58, 7ff.)
Sehr geehrte Damen und Herren,
es ist mir eine Freude anlässlich des 125-jährigen Jubiläums des Westfälischen Herbergsverbandes e.V. für diese
Festschrift ein Vorwort zu schreiben.
1985 hat der Westfälische Herbergsverband e.V. (WHV) an
seinem Gründungsort in Bielefeld-Bethel sein 100-jähriges
Jubiläum gefeiert. Gefeiert wurden100 Jahre Geschichte
der Wohnungslosenhilfe und gleichzeitig mit Clemens
Theodor Perthes und Friedrich von Bodelschwingh, zwei
Urvätern der Diakonie, 100 Jahre Geschichte der Diakonie
insgesamt.
Da die ersten 100 Jahre der wechselvollen Geschichte des
Westfälischen Herbergsverbandes e.V. und der Geschichte
der Wohnungslosenhilfe eben zu jenem 100-jährigen
Jubiläum 1985 schon in Schriftform gefasst wurden, ist die
nun in Ihrer Hand befindliche Festschrift zum 125-jährigen
Jubiläum ein Rückblick auf die letzten 25 Jahre.
Beim Lesen entsteht der Eindruck, dass die letzten 25
Jahre nicht weniger abwechslungsreich und aufregend
waren als die 100 Jahre davor.
Vielleicht war in den 1980er Jahren die einschneidendste
Entwicklung der Beginn der ambulanten Hilfen und der
damit verbundene heftige fachliche Diskurs. Sicher nicht
weniger „revolutionär“ war das Engagement im Wohnungsbau in den 1990er Jahren als Antwort auf die damalige Not an brauchbaren Wohnungen.
Aber auch alle anderen Themen, die diese Festschrift in
Auszügen aus Dokumenten des Westfälischen Herbergsverbandes e.V. benennt und in Erinnerung bringt, zeichnen
einen beeindruckenden Weg der beständigen Weiterentwicklung der Hilfen für Menschen, die ganz am Rande
dieser Gesellschaft stehen. Abgerundet wird dies durch die
persönlichen Berichte der Kollegen und Kolleginnen, die
die letzten 25 Jahre selbst miterlebt und vor allem selbst
gestaltet haben.
Neben seiner besonderen Rolle bei der Weiterentwicklung
der Wohnungslosenhilfe, nicht nur in Westfalen sondern
bundesweit, ist der Westfälische Herbergsverband e.V. als
Fachverband der Diakonie in Westfalen und Lippe und seit
2008 der Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe auch
sichtbarer Ausdruck strukturierter Mitgliederbeteiligung.
Der Westfälische Herbergsverband e.V. hat wie alle Fachverbände in den Strukturen des Landesverbandes die
Aufgabe, die Wünsche, Vorstellungen und Ideen der
Mitglieder des Landesverbandes zu sammeln, zu bündeln
und ihnen in Kirche und Diakonie und gegenüber den
Leistungsträgern und der Politik eine Stimme zu geben.
Dies hat der Westfälische Herbergsverband e.V. auch in
den letzten 25 Jahren immer in Augenhöhe mit den Menschen in besonderen sozialen Schwierigkeiten in hervorra-
Festschrift Grußwort
gender Weise getan. Dafür möchte ich mich in besonderer
Weise bedanken.
Am 01. Juli 2008 wurde mit der Gründung der Diakonie
Rheinland-Westfalen-Lippe e.V. ein schon einige Jahre
früher begonnener Prozess des Zusammenwachsens der
Diakonischen Werke im Rheinland, in Westfalen und Lippe
auch nach außen sichtbar. Dabei war und ist es eine
besondere Herausforderung, zum Teil Jahrhunderte alte
Traditionen mit modernen Anforderungen einer lebendigen
Diakonie zu verbinden.
Durch seine nun 125-jährige Geschichte steht der Westfälische Herbergsverband e.V. geradezu als Synonym für diese Herausforderung, neue Wege zu beschreiten, ohne
seine Wurzeln dabei aus den Augen zu verliefen. Diese
Wurzeln liegen in einer biblisch begründeten Diakonie, die
im Horizont des Reiches Gottes darauf ausgerichtet ist,
dass alle teilhaben an der von Gott gegebenen Fülle des
Lebens.
Ich wünsche dem Vorstand des Westfälischen Herbergsverband e.V. und seinen Mitgliedern Gottes Segen auf
diesem Weg.
Günther Barenhoff
(Sprecher des Vorstandes der Diakonie RheinlandWestfalen-Lippe e.V.)
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125 Jahre Westfälischer Herbergsverband Inhalt
Inhalt
Grußworte
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Grußwort der BAG Wohnungslosenhilfe
Grußwort des Diakonischen Werkes
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1983
25 Jahre Sozialberatungsstelle Hamm des Perthes-Werkes
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1989
Fragemente ambulanter Hilfe
1992
13Ergebnisse der Umfrage „Tagessatz“ der Beratungsstelle
Herford 1987 bis 1991
1993
17Sinn und Zweck kirchlich-diakonischer Baumaßnahmen
1994
19Überlegungen zur Weiterentwicklung der Gefährdetenhilfe im
Diakonischen Werk von Westfalen
1997
25 Geschäftsbericht
33Zur Situation Wohnungsloser und obdachloser Frauen in NRW
2000
35 Betreutes Wohnen
37Leistungstypen der stationären und ambulanten Hilfe
gemäß § 72 BSHG
39Medizinische Versorgung wohnungsloser und von Armut
betroffener Menschen
42Fundraising-Konzepte für das Projekt „Aufsuchende Hilfen zur
Krankenpflege“ des Diakonischen Werkes Dortmund
48 Zehn Jahre Arbeitsgelegenheiten
2002
57Grundsätze der Arbeit – Gemeinsam gegen Armut, Ausgrenzung
und Wohnungslosigkeit
2003
63Gestaltung des Zusammenlebens im öffentlichen Raum
– Eine Arbeitshilfe
2008
66Die Gerechtigkeit hat eine Lücke – Grundsatzposition des
Vorstandes
2009
68 Müssen wir ins SGB II?
2010
73 Immer unterwegs
75 Meine Zeit in der Wohnungslosenhilfe
77Gut versorgt – Hauswirtschaft in stationären Einrichtungen
79Blitzlichterinnerungen – aus 40 Jahren Wohnungslosenhilfe
und WHV
80 Beginn der Arbeit in Münster
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Sonstiges
Impressum
Mehr Glück – Gedicht
Meine Tür Öffnen – Gedicht
Logierbesuch
Autoren
Vorsitzende und Geschäftsführer
Organigramm
Festschrift Sozialberatungsstelle Hamm
25 Jahre
Sozialberatungsstelle Hamm
des Perthes-Werkes
Mitte der 1980er Jahre des vergangenen Jahrhunderts
wurden in Westfalen die ersten Beratungsstellen für Menschen in besonderen sozialen Schwierigkeiten eröffnet.
Eine ganz neue Form der Hilfe begann…
A. Die Anfänge
Am 7. Februar 2008 ist unsere Sozialberatungsstelle in Hamm 25
Jahre alt geworden.
Nachhaltig gefordert worden war in den Jahren vor 1983 eine
Beratungsstelle für Personen in besonderen sozialen Schwierigkeiten
von der mittlerweile nicht mehr bestehenden „Arbeitsgemeinschaft
für Straffälligenhilfe“ mit ihrem damaligen Vorsitzenden Wilhelm
Brinkhoff, wobei man hier natürlich die Beratung und Vermittlung von
haftentlassenen Personen im Auge hatte.
Schließlich zeigte auch die Stadt Hamm ein zunehmendes Interesse
an einer solchen Beratungsstelle. Hier wurde jedoch die einigermaßen fachfremde Vorstellung entwickelt, die Beratungsstelle solle
vorrangig nachts und an Wochenenden tätig sein zur Betreuung von
Nichtsesshaften, wenn die übrigen Wohlfahrtsverbände geschlossen
haben.
Als sich die Einrichtung einer Beratungsstelle deutlicher abzeichnete,
wurden im Sommer und Herbst 1982 erste konzeptionelle Überlegungen angestellt (an denen sich auch bereits der Unterzeichner
– damals im Perthes-Haus beschäftigt – beteiligte): Übereinstimmung
wurde darüber erzielt, dass der Schwerpunkt der Arbeit bei der
Prophylaxe liegen solle, und zwar gelte es hautsächlich, Nichtsesshaftigkeit von Hammer Bürgern zu verhindern.
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Am 7. Februar 1983 wurde dann die Beratungsstelle für Personen in
besonderen sozialen Schwierigkeiten als Ein-Mann-Betrieb im
Rahmen einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme eröffnet. Ihr erster
Leiter war der Diakon und Sozialarbeiter Martin Klein. Angesiedelt
war das Ganze zunächst als Provisorium im Perthes-Haus, das
damals noch an der Antonistraße stand.
Zum 1. Dezember 1983 konnte die Beratungsstelle in eigene
Räumlichkeiten auf der Feidikstraße 73 umziehen. Dieser Umzug war
auch deswegen notwendig geworden, weil sich das Perthes-Haus
Ende 1983 weit außerhalb des Stadtinnenbereichs, in der LudwigTeleky-Straße, ansiedelte.
Am 15. Mai 1984 wurde die Mitarbeiterzahl mit der Einstellung des
Sozialarbeiters Uwe Rampel aufgestockt. Martin Klein schied zwei
Jahre später aus und wechselte als Leiter einer Nichtsesshafteneinrichtung nach Nienburg an der Weser. Als sein Nachfolger trat der
Unterzeichner zum 1. Juli 1986 in die Beratungsstelle ein.
Ende 1986 musste die Beratungsstelle aufgrund einer kurzfristig
angesetzten Kündigung von Seiten des damaligen Vermieters ein
neues Domizil suchen. Zu dieser Kündigung war es gekommen,
nachdem am 1. April 1986 in einem der Räume die Zimmerdecke
heruntergebrochen war und eine Mitarbeiterin des Perthes-Hauses
sowie ein Klient verletzt worden waren. Die anschließenden Rechtsstreitigkeiten hatten den Hauseigentümer wohl derart verärgert, dass
er uns kündigte. Unter ziemlichem Zeitdruck mussten wir auf
Wohnungssuche gehen, wurden aber zum Glück rascher fündig, als
wir zu hoffen wagten. Das neue Objekt in der Wilhelmstraße 176 war
jedoch mit mancherlei Schönheitsfehlern behaftet: Es war zu weit
weg von der Stadtmitte und baulich größtenteils unbefriedigend,
konnte also auf Dauer den Ansprüchen einer Beratungsstelle nicht
genügen.
Zum 1. Januar 1988 gab es einen weiteren Mitarbeiterwechsel, als für
Uwe Rampe, der zum Perthes-Haus ging, die Sozialpädagogin Sigrid
Kübler-Molitor in die Beratungsstelle eintrat.
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125 Jahre Westfälischer Herbergsverband Sozialberatungsstelle Hamm
Nach langem Suchen konnten wir 1989 geeignetere Räume für
unsere – nunmehr „Sozialberatungsstelle“ genannte – Einrichtung in
der Ostenallee 8 finden, mit ausreichender Ausstattung und nahe
genug zur Stadtmitte hin. Der Umzug erfolgte am 30. Juni 1989. Hier
sind wir bis heute geblieben.
Zum 1. Januar 1991 wechselte Sigrid Kübler-Molitor ins PerthesHaus, wo sie zunächst die Nachbetreuung sowie die stellvertretende
Heimleitung übernahm, seit Dezember 1997 dann die Heimleitung
selbst innehat. Für sie trat die Sozialpädagogin Monika Martin in die
Sozialberatungsstelle ein.
Im November 1991 ging schließlich ein lang gehegter Wunsch in
Erfüllung, indem wir mit Gertrud Manderla eine halbtags tätige
Verwaltungskraft einstellen konnten. Hierdurch erfuhren wir eine
spürbare Entlastung von den reinen Verwaltungstätigkeiten und
hatten auf diese Weise mehr Zeit für Gespräche mit unseren Klientinnen und Klienten.
Volker Handt
Aus: 25 Jahre Sozialberatungsstelle Hamm des Perthes
Werkes,
Hamm 2008 , S. 1-2
Festschrift Fragmente ambulanter Hilfe
Fragmente ambulanter
Hilfe
Mit dem Stichwort „Alltagsfragmente“ will ich Gegebenheiten
eines Arbeitsalltags innerhalb und außerhalb unserer Beratungsstelle schildern: temporäre Bruchstücke von Begegnungen, Eindrücken und Empfindungen.
Fragmente lassen insofern weder generalisierende Aussagen über
die Beziehung Betroffener/Sozialarbeiter noch über das übrige
Aufgabenfeld einer Beratungsstelle zu. Zunächst, so dachte ich,
verbieten das gesellschaftliche Rekrutierungsfeld von Wohnungslosigkeit sowie die gesellschaftlichen Bedingungen zur Förderung von
Armutskarrieren einen Darstellungsversuch, in dessen Mittelpunkt –
wenn auch nur fragmentarisch – der Einzelfall steht, denn allzu
voreilig könnte vielleicht aus einem individualisierenden Problem­
aufriss persönlich defizitäres oder schicksalhaft bedingtes Verhalten
abgeleitet werden, das dann möglicherweise auf die Gesamtheit
einer so genannten Randgruppe unserer Gesellschaft übertragen
werden könnte.
Vielleicht entdeckt unser Leser aber gerade in diesen am Einzelfall
orientierten Fragmenten auch gesellschaftliche Rahmenbedingungen,
die defizitär sind und ein individualisierendes Problemverständnis
widerlegen helfen.
An einem Donnerstag, den...
1.
Nach der kurzen morgendlichen Dienstbesprechung im Kollegenkreis
der hauptamtlichen Sozialarbeiter teilt mir einer unserer Zivildienstleistender (ZDL) mit, dass die Schwester von Herrn P. angerufen hätte
und den Wunsch geäußert habe, dass ich ihren Bruder, der nach
einem tragischen Unfall den rechten Fuß verloren hat, im evangelischen Krankenhaus Dortmund-M. besuchen möchte.
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Vor ca. zehn Tagen hatte ich bereits morgens in den Stadtteilnachrichten der Tageszeitung die flüchtige Notiz gelesen, dass der
arbeitslose Günter P. von einem Eilzug erfasst worden sei und mit
schweren Verletzungen ins nächste Krankenhaus eingeliefert werden
musste. Dabei hatte ich nicht zu glauben gewagt, dass es Günter
sein könnte, den ich seit drei Jahren aus meiner Beratungsarbeit
heraus kenne.
Günter, 34 Jahre, suchte mich nur in den Herbst- und Wintermonaten
auf; er bat dann um meine Unterstützung, wenn es darum ging,
Kontakt mit dem Sozialamt aufzunehmen, um seine bescheidene
Arbeitslosenunterstützung aus Sozialhilfemitteln ergänzen zu helfen
oder ihn kurzfristig in der städtischen Übernachtungsstelle unterzubringen.
Günter ist ungelernter Arbeiter und hat einen Sprachfehler. In den
Frühjahrs- und Sommermonaten hatte er es nach eigenem stolzen
Bekunden „nicht nötig“, das Sozialamt „anzubetteln“. Als Losverkäufer auf Jahrmärkten besserte er dann seine Arbeitslosenhilfe auf,
erarbeitete sich die ergänzende HzL (Hilfe zum Leben). Manchmal
konnte ich ihn begrüßen, wenn ich mit meiner Familie über so einen
Jahrmarkt schlenderte. „Bis bald“, war dann immer sein freundliches,
verkniffenes Abschiedskürzel.
Ich hatte nicht zu glauben gewagt, dass es Günter sein könnte. Doch
das Telefonat mit der Schwester lässt die verdrängte Ungewissheit
zur erschütternden Gewissheit werden: Neben der Sprachbehinderung nun auch noch eine Körperbehinderung. Gespräche mit Ärzten,
Sozialdiensten und mit der Schwester werden folgen. Klar, dass ich
Günter so schnell als möglich besuchen werde, in den nächsten
Tagen.
2.
Um 10.00 h stehe ich am Krankenbett von Wolfgang Z.. Bereits zum
zweiten Mal in diesem Jahr ist Wolfgang ins Krankenhaus Dort­
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125 Jahre Westfälischer Herbergsverband Fragmente ambulanter Hilfe
mund-W. eingeliefert worden und zum zweiten Mal mit ähnlich
lautender Diagnose: Nach Frakturen am rechten Unterarm und
Knöchel linkes Bein ist es dieses Mal das linke Wadenbein, das
gebrochen ist.
Wie ich es nicht anders erwartet hatte, liegt Wolfgang nur mit einem
einfachen OP-Hemd bekleidet in seinem Krankenbett, nicht im Besitz
von Seifen- und Toilettenartikeln, von den Mitpatienten als Sozialfall
wohl schon längst ausgemacht. Vorsorglich habe ich die nötigen
Utensilien, ein bisschen Menschenwürde in Plastiktüten, zum
Krankenzimmer mitgebracht. Mithilfe beim Ausfüllen des Unfallbogens der Krankenkasse, ein kurzes Gespräch mit Wolfgang und ein
„Auf Wiedersehen bis nächste Woche.“
Einmal in der Woche besuche ich Wolf­gang in seiner bescheidenen
2-Zimmer-­Wohnung in Dortmund-M. Wolfgang steht unter Gebrechlichkeitspflegschaft beim Jugendamt der Stadt Dortmund, Abt.
Erwachsenenvormundschaft; seinen Pfleger kennt er persönlich
nicht, wohl aber akzeptiert er die Vereinbarungen, nach denen ich
stellvertretend für das Jugendamt, jedoch ohne Bestallung, die
„Gebrechlichkeitspflegschaft“ ausübe. Zu lange kennen wir uns,
Wolfgang und ich, als dass Wolfgang in mir die bloße Amtsperson
sehen würde.
Vor vier Jahren kam er erstmalig nach Dortmund zu mir in die
Beratungsstelle, ohne festen Wohnsitz, schon damals unter Gebrechlichkeitspflegschaft beim Landratsamt R. stehend. Wolfgang bezieht
eine EU-Rente, die weit über dem Sozialhilfesatz liegt, und so war es
nach kurzer Unterbringung in der städtischen Übernachtungsstelle
möglich, für ihn ein möbliertes Zimmer in der westlichen Dortmunder
Innenstadt anzumieten.
Wolfgang, 44 Jahre alt, ungelernter Arbeiter, 162 cm groß, wiegt nur
62 kg, sieben Jahre Volksschulbesuch, während dieser Zeit zwei oder
dreimal wegen Sprachschwierigkeiten sitzen geblieben; Spätaussied-
ler aus Oberschlesien, sein Vater ist im Krieg gefallen. Wolfgang hat
Alkoholprobleme, ist unter Alkoholeinwirkung sehr freigiebig und
großzügig, aber auch leichtfertig und großkotzig im Umgang mit
Geld; dahinter steht sicherlich der fortwährende Wunsch nach
Aufmerksamkeit, Anerkennung und Nähe.
Diese Einstellung ist Wolfgang bald zum Verhängnis geworden, als er
nach einem Kneipenbummel aus „Mitleid“, wie er sagte, den
wohnungslosen Peter N. in der neuen Wohnung aufgenommen hatte.
Fortan war Wolfgang miesesten Zuhälterpraktiken ausgesetzt:
Schläge, Tritte, völlige Abgabe der EU-Rente an N., eskalierende
Gewalt, die darin gipfelte, dass Wolfgang von N. mit heißem Fett über­
schüttet worden ist. Polizeieinsätze, Anzeigen wegen schwerer
Körperverletzung, Nötigung, Hausfriedensbruch usw. konnten das
Martyrium zunächst auch nicht beenden. Erst ein Wohnungsbrand
erlöste Wolfgang.
Diese Geschehnisse sind nun vier Jahre her und in dieser schlimmsten Phase habe auch ich oft große Angst gehabt, wenn ich Wolfgang besucht hatte. Seit vier Jahren wohnt Wolfgang in DortmundM., in der wohlwollenden Obhut des Vermieterpaares. Er erhält Essen
auf Rädern, und meinen wöchentlichen Besuch, der heute im
Krankenhaus stattgefunden hat.
3.
Zurück in der Beratungsstelle erwartet mich Herr P.. Herr P. spricht
erstmalig bei uns vor und wirkt im Erstgespräch sehr unsicher. Er
habe ja noch nie in seinem Leben jemanden um Hilfe bitten müssen,
aber nun ginge das wohl nicht mehr anders. Das Arbeitsamt habe
ihm den Bezug seines Arbeitslosengeldes vorläufig versagt, da er für
das Arbeitsamt nicht erreichbar sei; draußen habe er von einem
Bekannten gehört, dass man sich hier im Diakonischen Werk
polizeilich anmelden könne.
Ich korrigiere sofort den Tipp von draußen und teile Herrn P. mit, dass
Festschrift Fragmente ambulanter Hilfe
er sich bei uns nicht polizeilich anmelden könne, wohl aber die
Anschrift unserer Beratungsstelle als ladbare postalische Anschrift für
sich in Anspruch nehmen könne, vorausgesetzt, es fände sich keine
andere Möglichkeit.
Im Beichtton berichtet dann Herr P., dass er die eheliche Wohnung
nach der Scheidung von seiner Frau vor zwei Monaten habe
verlassen müssen, und stellen Sie sich vor: „23 Jahre war ich
verheiratet, und noch vor 11/4 Jahren habe ich bei Hoesch gearbeitet.“ Seit dem Rausschmiss aus der Wohnung habe er wechselweise
bei Freunden und Bekannten übernachten können, aber auf Dauer
ginge das wohl nicht mehr und schon drei Wochen habe er kein Geld
mehr vom Arbeitsamt erhalten. „Können Sie mir bitte jetzt diese
Bescheinigung für das Arbeitsamt ausstellen?“
Die Situation wird für Herrn P. zunehmend unangenehmer, ich spüre
dies und will ihn nicht mit weiteren Fragen überstrapazieren.
Der Rest ist dann Routinehandeln: Ausstellen der Erreichbarkeitsbescheinigung für das Arbeitsamt, der vergebliche telefonische Versuch
– wie immer – die Leistungsabteilung des Arbeitsamtes zu erreichen,
um einen Vorschuss für Herrn P. zu bewirken, Telefonat mit dem
Sachbearbeiter der Abt. 50/4 des Sozialamtes, der sich freundlicherweise dazu bereit erklärt, Herrn P. Sozialhilfe auszuzahlen für den
Fall, dass dieser morgen beim Arbeitsamt wieder keine Zahlung
erhalten sollte. Ein freundliches „Auf Wiedersehen Herr P., und sollten
Sie weitere Schwierigkeiten mit dem Arbeitsamt bekommen, so
kommen Sie morgen oder in den nächsten Tagen ...“ und ich
vermute, dass Herr P. gezwungenermaßen zunehmend auf Fremdhilfe
angewiesen sein wird.
4.
Peter N. lässt keine Atempause zu. Peter, 24 Jahre alt, betritt noch
während meiner Verabschiedung von Herrn N. mein Arbeitszimmer,
setzt sich und dreht eine Zigarette. „Hallo, da bin ich wieder, bin
heute entlassen worden, soll mir eine Wohnung suchen“, sind seine
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ersten Mitteilungen. Ich kenne Peter seit drei Jahren, ich kenne seine
Distanzlosigkeit, die nicht böswillig ist, ich weiß um seine Schwierigkeiten in der Nähe-/Distanzregulierung. Ich bitte ihn höflich, aber
bestimmend, mein Arbeitszimmer zu verlassen, und mit Blick auf
meinen Terminkalender mich heute Nachmittag um 15.00 h noch
einmal aufzusuchen.
Peter folgt bereitwillig meiner Bitte und verlässt mein Zimmer. Ärger
kommt in mir hoch: Da wird er wie­der aus der Psychiatrie entlassen,
ohne dass eine nachgehende Betreuung oder die materielle Sicherstellung des Lebensunterhaltes geregelt sind, leider kein Einzelfall,
und in jüngster Zeit ist dieses Entlassungsmuster bei psychisch
Kranken auch in unserer Beratungsstelle verstärkt zu beobachten.
Dieses Mal, so denke ich, darf es Peter nicht so ergehen wie nach
seiner letzten Entlassung. Zunächst das raue Klima in der städtischen
Übernachtungsstelle und danach die unhaltbaren Zustände in seinem
späteren unmittelbaren Wohnumfeld (Schlafstellenwesen – Konzentration von Personen mit persönlichen und sozialen Schwierigkeiten
auf engstem Raum in einem abbruchreifen Haus), die dazu beigetragen haben, dass Peter als Rückfallpatient schon nach kurzer Zeit
wieder in die Psychiatrie eingeliefert werden musste.
5.
14.00 h: Vereinbarter Gesprächstermin mit Herrn G., 49 Jahre. Noch
vor drei Jahren übte er seinen Lehrberuf aus, nahezu 30 Jahre
ununterbrochen. Stolzer Besitzer einer Eigentumswohnung mit
1/2-Anteil gemeinsam mit seiner Frau, ebenfalls 1/2-Anteil-Besitzerin,
Sekretärin in einem mittelständischen Unternehmen. Kurz vor der
Silberhochzeit verstarb die Ehefrau plötzlich. Zwangsversteigerung
der Wohnung mit finanziellem Verlust, Schulden, Lohnpfändung,
Alkohol, Entlassung aus dem Beruf. Eine Mietwohnung konnte Herr
G. nur drei Monate halten, dann folgte die Zwangsräumung.
Der Alkohol wird nach dem Tod der Ehefrau zum ständigen Wegge-
12
125 Jahre Westfälischer Herbergsverband Fragmente ambulanter Hilfe
fährten. Aus einem Gelegenheitstrinker wird ein chronisch exzessiver
Trinker mit Kontrollverlust. Neben der physischen und psychischen
Abhängigkeit vom Alkohol gesellt sich im D-Zug-Tempo der soziale
Abbau. Seit ca. 1 1/4 Jahre ist Herr G. ohne festen Wohnsitz. In die
städtische Übernachtungsstelle geht er nicht mehr, nachdem er dort
vor zwei Monaten zusammengeschlagen worden ist. Vor zwei Tagen
hat er die Wohnung eines Bekannten verlassen müssen, Streiterei
wegen Geld war der Auslöser. Die Witwerrente und die ergänzende
Arbeitslosenhilfe sind zu schnell von Herrn G. aufgebraucht, als dass
in der gegenwärtigen Situation ein kleines möbliertes Zimmer hätte
angemietet werden können. Herr G. macht „Platte“.
Herr G. überrascht mich heute mit der Mitteilung, dass er sich
entschieden habe, eine Therapie antreten zu wollen, er müsse den
Tod seiner Frau doch einmal überwinden. Zwar haben Herr G. und
ich in den vergangenen Wochen auch immer wieder das Thema
„Alkohol“ aufgegriffen, und manchmal hat es auch den Anschein,
dass er die Möglichkeit eines Therapieantritts ernst nehme, aber es
dominierten doch die Widersprüchlichkeiten zwischen Tun und
Wollen.
Die plötzliche Entschlossenheit überrascht mich umso mehr, und mir
kommen wieder Zweifel: Er hat nie den Anschluss an eine Auffanggruppe der Suchtkrankenhilfe gesucht, aber wie sollte er auch dies
tun können, ohne festen Wohnsitz, ungepflegtes Äußeres und wohin
sollte er sich nach den Sitzungen in der Auffanggruppe auch
begeben? Ist die Therapie für ihn nur eine vorgestellte Möglichkeit
zum Empfang von Versorgungsleistungen, wie Essen und Unterkunft,
quasi die Ideallösung zur Behebung seiner schier ausweglosen
sozialen Situation?
Vielleicht aber hat er doch endlich die Illusionen aufgegeben,
kontrolliert trinken zu können, er hat mir ja zu verstehen gegeben:
„So geht das nicht mehr weiter, so mache ich mich doch kaputt, ich
muss den Tod meiner Frau doch endlich überwinden.“ Er hat
vielleicht doch erkannt, dass er es aus eigener Kraft wohl nicht
schaffen wird, abstinent zu werden, er braucht Fremdhilfe. Die
zerfahrene persönliche und soziale Lebenslage erfordern eine
Sofortlösung, die die etablierte Suchtkrankenhilfe so schnell nicht
anbieten kann.
Trotz meiner Zweifel an der Motivationsbereitschaft kann ich für
Herrn G. einen Platz zur klinischen Entgiftung in einem Dortmunder
Vorortkrankenhaus finden. Morgen früh ist Aufnahmetermin und ich
werde Herrn G. besuchen müssen in den nächsten 14 Tagen, um ggf.
den nahtlosen Übergang vom Krankenhaus in eine therapeutische
Einrichtung sicherzustellen, und das wird nicht einfach sein.
6.
Peter N. öffnet um 15.00 h meine Zimmertür, ohne zuvor angeklopft
zu haben, setzt sich und dreht eine Zigarette. „Hallo, da bin ich
wieder...“
Klaus Schröder
aus: Veröffentlichungen zur
Armut und Wohnungslosigkeit,
Hrsg.: Klaus Schröder
und andere
31. Jg., Dortmund 1989,
S. 91-93
Festschrift Umfrageergebnisse
Ergebnisse der Umfrage
„Tagessatz“ der
Beratungsstelle Herford
1987 bis 1991
Rechtskonforme Sozialhilfegewährung war zu Zeiten des
Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) ein Dauerthema der Hilfen.
Dabei wurde bis zum Ende der Ära des BSHG 2005 viel
erreicht. Heute beginnt mit dem SGB II und dem SGB XII, wie
das BSHG heute heißt, vieles von Neuem.
Mit der Situation der Wohnungslosen – hier insbesondere der
alleinstehenden Wohnungslosen – und der Hilfe für diese Menschen
können wir aktuell nicht zufrieden sein. Wir haben weder einheitliche
Hilfen noch einheitliche Regelungen, die es ansatzweise ermöglichen
würden, von einem Hilfesystem zu sprechen. Diese Kritik müssen
sich übrigens sowohl öffentliche als auch freie Träger der Hilfe
gefallen lassen.
Wie sieht nun die Hilfe heute aus, und welche Entwicklungen lassen
sich aus den letzten fünf Jahren ablesen?
Mit allen Einschränkungen, die wegen der Unvollkommenheit unserer
Umfrage bedacht werden müssen, lassen sich folgende Grundaussagen treffen:
Es gibt inzwischen weitgehend kreiseinheitliche Regelungen, die
allerdings nicht überall konsequent eingehalten werden. Leider
bewegen sich diese Regelungen, was die Tagessätze angeht, in recht
unterschiedlicher Höhe. 1991 bewegten sich die Tagessätze von
8 DM im Kreis Lippe (nicht am Wochenende) über 10 DM in Höxter
und Paderborn (dort sollte für 1992 die Anhebung auf 16 bzw. 17 DM
erfolgen) und 12 DM in Minden und Gütersloh bis hin zu 16 DM in
Herford und Bielefeld.
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125 Jahre Westfälischer Herbergsverband Umfrageergebnisse
Was dabei bis auf Herford und Bielefeld unklar bleibt, ist die „Berechnungsgrundlage“ der Tagessätze; in der Rechtsprechung gibt es
inzwischen klare Kriterien, diese finden aber in Ostwestfalen höchstens rudimentär Eingang in die Praxis der Verwaltungen.
Die beiden „Kreise“ mit den Tagessätzen, die sich aus dem Regelsatz
eines Haushaltsvorstands ableiten und damit nachvollziehbar sind,
machen allerdings bei der Hilfegewährung eine Einschränkung: So
genannte „Durchreisende“, eine Kategorie, die Sie in keinem Gesetz
finden werden, erhalten nur einmal im Leben eine Barleistung,
anschließend nur noch Esspakete, es sei denn, sie bleiben am Ort
und „gliedern sich ins Hilfesystem ein.“
Damit sind wir auch bei der Art der Hilfegewährung. Überwiegend ist
inzwischen die Barleistung, aber immerhin ein Drittel der Gemeinden
gewährt ausschließlich Sachleistung bzw. hat eine „zweigeteilte“
Regelung. Und die Gewährung wird in der Regel nicht individuell
begründet und mit entsprechendem Bescheid auch schriftlich
nachvollziehbar gestaltet, sondern es wird eine „gruppenspezifische
Betrachtungsweise“ vorgenommen, die aber vom Bundesverwaltungsgericht schon 1986 als nicht rechtskonform eingestuft wurde.
Schätzt man die Zahl der Hilfenachfragen in Ostwestfalen-Lippe in
einem Jahr, so kommt man auf etwa 10.000 bis 15.000 Nachfragen
im Jahr 1991. Nimmt man die in der NRW-Studie über die alleinstehenden Wohnungslosen für den Regierungsbezirk Detmold hochgerechnete Zahl von 5.000 alleinstehenden Wohnungslosen, so zeigt
sich, dass wir hier eine Größenordnung haben, die wohl in etwa die
Realität trifft, denn in unserer Umfrage sind zum Teil auch Mehrfachauftritte mitgezählt.
Es wird aber hier schon ein großes Problem deutlich: Die Gruppe der
Wohnungslosen wird statistisch kaum erfasst und so sind auch keine
verlässlichen Zahlen vorhanden. Man ist hier weitgehend auf
Schätzung, Spekulation und Vermutung angewiesen. Auch hier
macht sich übrigens das Fehlen einer „Armutsstatistik“ für eine
gezielte Sozialpolitik auf kommunaler wie regionaler Ebene negativ
bemerkbar.
Ein wichtiges Thema in allen Diskussionen ist immer wieder die
„Mobilität“ der Hilfesuchenden; in den Gesprächen taucht dann
oftmals der Begriff der „Sogwirkung“ auf.
Die NRW-Studie hat ergeben, dass für Ostwestfalen-Lippe über 90
Prozent der Hilfesuchenden angegeben haben, dass sie sich nur in
der Region aufhalten. Und für diese Mobilität ist wahrscheinlich das
Hilfeangebot ein entscheidender Verursachungsfaktor (dies wurde
z.B. auch sehr deutlich durch die so genannte Hessenstudie 1986
aufgezeigt). Es lässt sich aus den Zahlen für die einzelnen Jahre recht
gut ablesen, wie die „Verbesserung“ oder auch die Verschlechterung“
in einzelnen Orten oder Kreisen eine fast gleichmäßige Verlagerung
aus bzw. in die anliegenden Kreise mit sich bringt. Somit ist die
„Sogwirkung“ immer auch eine „Schubwirkung“.
Leider wird in der Diskussion verkannt, dass diejenigen Orte, die von
einer „Sogwirkung“ betroffen zu sein glauben, in der Regel lediglich
die vom Gesetz vorgeschriebenen Hilfen anbieten und damit dem
Geist und Buchstaben des BSHG gerecht werden; die „schiebenden“
Kreise demgegenüber aber eigentlich eine Verletzung des BSHG
betreiben und sich auf Kosten anderer Kreise eines Problems
entsorgen. Bei dieser ganzen Frage spielt übrigens auch die Befristung des Aufenthalts an einem Ort eine Rolle. Wer sich nur ein bis
drei Tage in der Übernachtung aufhalten darf, ist in der Regel
gezwungen, einen Ortswechsel vorzunehmen, wenn er nicht im
Freien schlafen will.
Und wie schwierig es ist, in einem System ohne einheitliche Regelungen Hilfen für die alleinstehenden Wohnungslosen aufzubauen,
mögen Sie ersehen aus der Tatsache, dass der Kreis Herford z.B. die
Erhöhung der Regelsätze im Sommer 1992 nicht auf den Tagessatz
Festschrift Umfrageergebnisse
umgelegt hat aus Furcht, dass noch mehr Hilfesuchende kämen, da
in den Nachbarkreisen die Tagessätze niedriger sind. An diesem
Beispiel wird deutlich, wie sich die Frage der Hilfegewährung an der
jeweils unteren Grenze orientiert und damit eine Ablösung vom
BSHG-Prinzip der Bedarfsdeckung geschieht. Nicht nur meines
Erachtens nach eine Orientierung, die eindeutig dem Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes widerspricht und auch dafür sorgt, dass
notwendige Hilfen, auf die die Hilfesuchenden ja oftmals auch einen
Rechtsanspruch haben, nicht verwirklicht werden können.
Und wenn denn die „Logik der unteren Grenze“ konsequent wäre,
dann müsste zur Zeit in Ostwestfalen-Lippe eine Vereinheitlichung
des Tagessatzes auf 8 DM ohne Probleme zu machen sein, damit
niemand mehr in die Verlockung käme, in einen anderen Kreis zu
wechseln, weil es dort ein paar Mark mehr gibt. Die „Logik der
unteren Grenze“ nimmt dann aber die Verletzung einer Rechtsnorm in
Kauf.
Die Bekämpfung der „Sogwirkung“ in Ostwestfalen-Lippe wäre dann
gelungen – mit dem Effekt des „Verschiebens“ nach Niedersachsen
oder nach Südwesten. Und so kann sich die „Logik der unteren
Grenze“ weiter fortpflanzen, denn warum sollten Kreise in Niedersachsen oder im südlichen Westfalen die „geschobenen“
Hilfesuchenden anders behandeln, als wir es in Ostwestfalen tun?
Man sieht also sehr deutlich, dass wir über den Weg der Einzellösung
von Kreis zu Kreis schließlich die Hilfesuchenden im Kreis drehen.
Eine Lösung, die angemessene Hilfen ermöglicht, kann nur in einer
gemeinsamen Anstrengung gefunden werden, die sich an den
Vorgaben des Gesetzes und der Rechtsprechung orientiert, und die
übrigens vielfältige gesetzlich legitimierte Möglichkeiten bietet, einem
tatsächlichen oder vermuteten Missbrauch angemessen zu begegnen. Solange wir aber vereinzelt nach Lösungen suchen, wie wir für
uns, für unser Sozialamt oder für unseren Kreis eine „Sogwirkung“
vermeiden können, werden wir einen erheblichen Teil des Hilfe­
15
systems blockieren mit dem „Abwehren“ und „Aufspüren“ von so
genannten Missbräuchen, die oftmals nur Ausdruck davon sind, dass
die gewährten Hilfen nicht ausreichen, den vorhandenen Bedarf zu
decken.
Da auch immer von den Kosten die Rede ist, haben wir uns die Mühe
gemacht und auf der Basis unserer Umfrage versucht, den Mehraufwand zu berechnen, der allen Kreisen in Ostwestfalen-Lippe
entstehen würde, wenn eine Anhebung der Tagessätze auf 16 DM
geschehen wäre. Wir sind dabei für 1991 auf eine Summe von
insgesamt 75.000 DM gekommen, wobei wir eine so genannte
Missbrauchsquote von 20 Prozent angenommen haben. Nach
unserer Erfahrung, die wir 1988 in einer datengeschützten Umfrage
erhärtet haben, liegt die Missbrauchsquote – das, was oftmals als
Doppelbezug oder „Abkassieren“ bezeichnet wird – bei zwei bis vier
Prozent: eine Quote, die allgemein in der Sozialhilfe zu finden ist, und
die z.B. bei der Steuerehrlichkeit weit überschritten wird.
Unsere Berechnungen haben weiterhin eine Belastung der einzelnen
Kreise von fünf bis 15.000 DM pro Jahr ergeben. Und dies sind
eigentlich keine zusätzlichen Belastungen, denn es handelt sich ja
um Pflichtleistungen des BSHG zur Bedarfsdeckung, die vom
örtlichen Sozialhilfeträger schon heute geleistet werden müssten.
Zum Abschluss meiner Ausführungen möchte ich deshalb die Frage
stellen, ob wir es uns tatsächlich nicht leisten können, diese
Leistungen zu erbringen, damit wir endlich die Basis für eine Hilfe
schaffen, die den Wohnungslosen wieder eine Perspektive eröffnet
und sie nicht in eine Situation des Ortswechsels bringt, den wir ihnen
dann als „Nichtsesshaftigkeit“ vorwerfen.
Auf der einen Seite können Sie sicherlich Verbitterung bei mir
heraushören, dass es bis heute nicht gelungen ist, die „Sonderregelsätze für Nichtsesshafte“, die nirgendwo gesetzlich legitimiert sind,
aufzuheben; andererseits hoffe ich aber, dass unsere heutige
16
125 Jahre Westfälischer Herbergsverband Umfrageergebnisse
Diskussion wenigstens mittelfristig zu einer Vereinheitlichung führt
und Perspektiven aufzeigt, wie wir dem gemeinsamen Auftrag
gerecht werden können, Hilfen zur Überwindung besonderer sozialer
Schwierigkeiten tatsächlich zu organisieren und damit auch den
alleinstehenden Wohnungslosen wirkliche Hilfen anzubieten, ohne sie
durch unser Angebot sofort wieder als „Sonderfälle“ auszugrenzen.
Andreas Wolf
aus einem Referat
Osnabrück, im Oktober 1992
Wanderbuch Heinz Böcker, 1933 in Bielefeld
Festschrift Sinn und Zweck kirchlicher Baumaßnahmen
Sinn und Zweck
kirchlich-diakonischer
Baumaßnahmen
„Wenn wir für unsere Klienten keine Wohnungen finden,
bauen wir diese eben selbst.“
In den 1990er Jahren des vergangenen Jahrhunderts versuchte die Wohnungslosenhilfe der Diakonie der herrschenden Wohnungsnot mit dem Bau eigener Wohnungen
etwas entgegenzusetzen.
In dem Maße, wie sich die Wohnungsnot zuspitzt, werden diakonische Hilfen in zweifacher Hinsicht negativ beeinflusst:
• Sie verlieren ihre Funktion. Ohne eine angemessene und
dauerhafte Versorgung der Hilfesuchenden mit Wohnraum
bleiben die diakonischen Hilfen wirkungslos.
• Bedingt durch die Wohnungsnot laufen unsere Dienste Gefahr,
Menschen, die auf unsere Provisorien und befristeten Hilfen
nicht verzichten können, weil sie keine geeigneten Wohnungen
finden, weiteren Hilfebedarf zu attestieren, sogar neue Hilfeformen zu entwickeln. Die Finanzierung zusätzlicher Hilfen ist
heute oftmals leichter zu erreichen als die Ablösung der
Provisorien durch bedarfsgerechten und normalen Wohnraum.
Um als Diakonie in Zukunft handlungsfähig zu bleiben, ist eine große
kontinuierliche Kraftanstrengung geboten. Bleibt die Diakonie dem
existentiellen Recht eines jeden Einzelnen auf eine menschenwürdige
Wohnung verpflichtet, muss sie ihre Mitwirkungspflicht zur Gestaltung einer neuen Wohnungspolitik als ein Bestandteil der Sozialpolitik
auf allen Ebenen nutzen.
Angesichts des gegenwärtigen Ausmaßes der Wohnungsnot ist
jedoch klar, dass die Diakonie nur partiell und beispielhaft an der
Lösung dieses gesellschaftlichen Problems mitwirken kann. Zur
17
Erarbeitung von Lösungsvorschlägen und eigenen, modellhaften
Projekten wird in dem „Versuch einer Standortbestimmung“ der
Diakonie in Westfalen von 1988 aufgefordert. Für die Entwicklung
diakonischer Wohnhilfen bedeutet dies, dass die Qualität des zu
schaffenden Wohnraums wichtiger sein muss als die Quantität.
Gerade diakonische Wohnhilfen müssen geeignet sein, öffentlich zu
unterstreichen, dass es nötig und möglich ist, auch für auf dem
Wohnungsmarkt benachteiligte Personen menschenwürdigen und
preiswerten Wohnraum zu schaffen.
Durch diese Zielvorgaben ergeben sich Anforderungen an die
diakonischen Wohnhilfen:
• Um menschenwürdigen Wohnraum zu schaffen, ist es unerlässlich, die unterschiedlichsten Interessen der BewohnerInnen – Familien, Alleinstehende, Alte, Behinderte, etc. – zu berücksichtigen.
• Die Mieterinteressen der BewohnerInnen sind dauerhaft und
wirkungsvoll zu schützen.
• Den Bewohnerlnnen sind weitgehende Beteiligungsrechte bei
der Gestaltung ihres Lebensraumes einzuräumen.
• Die Wohnungen müssen den üblichen städtebaulichen und
ökologischen Standards entsprechen, um so wirkungsvoll die
Bildung neuer Ghettos zu verhindern.
• Die Vermietung von Wohnraum ist von der persönlichen Hilfe
und Beratung zu trennen. Nur so sind mietrechtliche und
sozialarbeiterische Probleme, wie z.B. der häufige Rollenkonflikt
bei entsprechenden vertraglichen Koppelungen von Vermieterln
und Beraterln, zu vermeiden.
• Um für auf dem Wohnungsmarkt benachteiligte Haushalte neben
der Wohnung auch gezielte und bedarfsorientierte Angebote der
persönlichen Hilfe vorzuhalten, ist eine Vernetzung und eine
gezielte Kooperation mit den vor Ort vorhandenen sozialen
Einrichtungen erforderlich.
18
125 Jahre Westfälischer Herbergsverband Sinn und Zweck kirchlicher Baumaßnahmen
Neben der Ökonomie sind die Konzeption und die fachliche Ausrichtung diakonischer Wohnprojekte für auf dem Wohnungsmarkt
benachteiligte Haushalte von zentraler Bedeutung.
Träger, die planen, sich entsprechend zu engagieren, können
über das Diakonische Werk von Westfalen konkrete Beratungs­
angebote abfragen.
Wie die oben genannten Grundsätze im konkreten Projekte umzusetzen und zu gewichten sind, ist Schwerpunkt der Beratung. Unter
welchen Umständen und in welchem Umfang die geplanten Projekte
oder deren Entwicklung mit diakonischen Mitteln gefördert werden
können, ist ebenfalls Bestandteil der Beratung.
Ausgehend von der Situation vor Ort müssen sich kirchlich-diakonische Träger mit der Frage beschäftigen, in welcher Rechtsform sie
sich auf dem Wohnungsmarkt engagieren wollen. Der Bau und die
Verwaltung von Wohnungen verlangen ein hohes Maß an Kompetenz
und Professionalität. Das nötige Know-how muss von vielen diakonischen Trägern erworben werden, um zu verhindern, dass gut
gemeinte Initiativen scheitern. Um dies zu erreichen, gibt es zwei
Möglichkeiten:
• Durch gezielte Kooperationen mit kommunalen oder genossenschaftlichen Wohnungsgesellschaften ist ein Großteil der nötigen
Dienstleistungen – Bauträgerschaft, Wohnungsverwaltung,
etc. – auf einem professionellen Niveau abzudecken.
• Unter Umständen wird es effektiver und auch kostengünstiger
sein, bereits vorhandene Dienstleistungen innerhalb der Diakonie
auszubauen oder durch die Gründung neuer Rechtsträger – zum
Beispiel e.V., gGmbH – zu verselbstständigen.
Martin Henke
aus: Diakonie und Wohnungsbau, Schaffen und Finanzieren
von Wohnraum, Ein Arbeitsheft
Hrsg.: Diakonisches Werk
von Westfalen
Münster, 1993 , S. 4-5
Festschrift Überlegungen
Überlegungen
zur Weiterentwicklung der
Gefährdetenhilfe im
Diakonischen Werk von
Westfalen – Aufbaujahre der
ambulanten Arbeit
Die Geschichte der ambulanten, am Wohnort ausgerichteten
Hilfen war langwierig, steinig, von vielen hitzigen Diskussionen
begleitet und vor allem erfolgreich. – Ein Rückblick
Bestandsaufnahme
Ende der 1970er Jahre wurde durch die Geschäftsstelle des Diakonischen Werkes Westfalen eine Bestandsaufnahme über die Arbeitsfelder der Gefährdetenhilfe gemacht. Die Ergebnisse wurden der
Vertreterversammlung – dem obersten Verbandsgremium – 1980
unter dem Titel „Überlegungen zur Weiterentwicklung der Gefährdetenhilfe im Diakonischen Werk von Westfalen“ vorgelegt.
Zusammenfassend hieß es: „Die Gefährdetenhilfe ist derzeit
symptom­orientiert. Eine symptomorientierte Hilfe individualisiert die
Probleme und verschleiert zugleich – bewusst oder unbewusst – die
Ursachen und den gesellschaftlichen Hintergrund, die zur Gefährdung und zur Benachteiligung führen. Das Thema der zunehmenden
Armut in der Bundesrepublik Deutschland wird in der Diakonie noch
weitgehend tabuisiert. Unsere heutige Gefährdetenhilfe ist weitgehend unpolitisch.“
Die Symptomorientierung spiegelte sich wider in den verschiedenen
Fachverbänden, die die einzelnen Arbeitsfelder repräsentieren:
• Evangelische Konferenz für Straffälligenhilfe in Westfalen
•
•
•
•
19
Arbeitsgemeinschaft für Suchtkrankenhilfe
Westfälischer Herbergsverband e.V.
Ev. Arbeitskreis für Jugendschutz Nordrhein-Westfalen
Landesgruppe der Evangelische Bahnhofsmission in Westfalen
Für die Arbeit mit wohnungslosen Familien (Obdachlose) und für die
Arbeit mit Prostituierten (Mitternachtsmission) fühlte sich kein
Fachverband zuständig.
Weiter hieß es auf der Vertreterversammlung: „Unser derzeitiges
Hilfesystem arbeitet reagierend. Unsere Hilfe setzt dann ein, wenn die
Probleme manifest geworden sind. Eine vorbeugende, verhindernde,
präventiv arbeitende Gefährdetenhilfe kennen wir nicht. Die einzelnen
Teilbereiche der Gefährdetenhilfe haben sich mit zunehmender
Professionalisierung immer weiter auseinander entwickelt. Festzustellen ist, dass die verschiedenen Hilfeangebote unkoordiniert
nebeneinander stehen. Eine gezielte Zusammenarbeit gibt es
gegenwärtig kaum“.
Soziale Situation und Persönlichkeitsstruktur
Hierzu auf der Vertreterversammlung 1980: „Die Gefährdeten sind
hinsichtlich ihrer Benachteiligung und persönlichen Schwierigkeiten
sehr verschieden. Gemeinsam ist für fast alle jedoch die soziale
Lage, diese ist gekennzeichnet durch
• das Fehlen einer ausreichenden materiellen Existenzgrundlage,
• die Abhängigkeit vom sozialen Hilfesystem,
• das Ausgesondertsein in die Gruppe der sozial Abgesunkenen.
Alle Gefährdeten haben einen sozialen Abstieg in eine gesellschaftliche Randlage durchgemacht. Besonderes Merkmal der Randgruppe
der Gefährdeten ist, dass sie ihren Mitgliedern keine positive soziale
Zugehörigkeit vermitteln kann. Gefährdete werden emotional
heimatlos. Anders ist das z.B. bei der Gruppe der Landfahrer und
20
125 Jahre Westfälischer Herbergsverband Überlegungen
Zigeuner, die ihren Mitgliedern in der sozialen Randlage eine von
ihnen positiv erlebte soziale und emotionale Zugehörigkeit vermittelt.
Sozialer Abstieg, insbesondere in eine nicht anerkannte Randposi­
tion, bleibt nicht ohne Folgen für die Persönlichkeitsstruktur:
• Der Gefährdete verliert seine soziale Identität, seine Anbindung
in ein festes Normgefühl; Verhaltensunsicherheit ist die Folge.
• Seine Misserfolgserlebnisse, das häufige Scheitern zerstören
das Selbstwertgefühl, die Angst, die Antriebsstruktur, die
Hoffnung.
• Aufgrund des psychischen und sozialen Drucks, der inneren
Konflikte und der Vereinsamung entstehen neue Schäden:
Neurosen, Alkoholerkrankungen, Verhaltensstörungen u.ä.
dieses Prozesses standen oder ob sie sich im Laufe dieses Prozesses entwickelt haben. Mit dem Vorgang des sozialen Abstiegs
haben sich die psychischen und sozialen Schwierigkeiten kumuliert.
Entsprechend sind die Mehrfachschädigungen und mehrere Handicaps verschiedener Art typisch für die Gefährdeten.
Gerade die Problemstellung der Obdachlosigkeit zeigt relativ
deutlich, wie durch gesellschaftliche Defizite Menschen schrittweise
in Randgruppen geführt, krank gemacht und als Außenseiter
gemieden werden.
Es zeigt sich, dass die vorher skizzierten Gefährdungsmomente
jeden – in besonderer Belastungssituation – erfassen können.
Die neue soziale Lage erzeugt aber auch als solche neue Schwierigkeiten und prägt sein Verhalten:
• Es wird für ihn auch materiell schwieriger, wieder Fuß zu fassen,
nicht zuletzt, weil der Gefährdete durch seine Vorgeschichte,
seine Adresse, sowie oft auch durch die körperliche Zeichnung
stigmatisiert ist.
• Das Milieu bringt neue Risiken: Unfälle mit Alkohol, Schlägereien, Kriminalisierung.
• Der Gefährdete gewöhnt sich an das Lebensmuster eines
Mittel-, Obdach- und Bindungslosen, er wächst kontinuierlich in
ein abweichendes Rollenverhalten hinein.
• Der Gefährdete lernt Techniken, um aus dieser Situation das
Beste zu machen, das System der Gefährdeten-/Nichtsesshaftenhilfe so geschickt wie möglich auszunutzen und allen
Anforderungen an seine Person auszuweichen. Er entwickelt oft
eine Art „Bettlermentalität“ (Prostitution der Armut, Geschäft mit
dem schlechten Gewissen der Gesellschaft).
Die Flucht in die Sucht, die Flucht aus sozialen Verpflichtungen sind
bisweilen Begleiter aller Gruppen, wie auch mangelndes Verständnis
für die Rechte und das Eigentum anderer.
Am Ende des Prozesses des sozialen Abstiegs steht also ein ganzes
Bündel von psychischen und sozialen Schwierigkeiten, bei denen
nicht mehr zu unterscheiden ist, ob sie bereits ursächlich am Anfang
Ausgehend von der Analyse des Hilfesystems und der sozialen und
psychischen Situation der Betroffenen wurden Leitvorstellungen für
eine zukünftige Arbeit entwickelt.
Bei den so genannten „Nichtgefährdeten“, den „Normalen“, sind die
Konflikte begrenzter, und sie verfügen über ein größeres Repertoire
von Konfliktlösungen. Eigentlich müssten die „Normalen“ in Gefährdeten das eigene Bild sehen, aber die Angst vor dieser Radikalität
lässt die „Normalen“ das verhasste eigene Ich in den anderen
projizieren. Von daher ist aller Schwarzmalerei, hier die Guten, da die
Bösen, hier die Normalen da die Gefährdeten, zu widersprechen.
Für den Christen kann die Frage nach dem Bild vom gefährdeten
Menschen ausschließlich nur im Zusammenhang und mit der Frage
nach der eigenen Existenz beantwortet werden.
Leitvorstellungen für eine zukünftige Arbeit
Festschrift Überlegungen
Stärkung der Selbstmöglichkeiten
„Die Hilfe muss, wenn sie nicht reagierende Hilfe bleiben soll, dorthin
verlegt werden, wo die Menschen, die wir erreichen wollen, die
Mehrheit ihrer sozialen Bezüge haben. Das kann der Stadtteil, das
Dorf oder die Kirchengemeinde sein.
Ziel der gemeindebezogenen Arbeit ist es, auf der Basis personaler
und emotionaler Bezüge Lernprozesse einzuleiten. Gemeindebezogene Arbeit gliedert Hilfesuchende nicht aus, sondern sucht nach
Hilfemöglichkeiten
• durch Aktivierung der Eigenmöglichkeiten des Hilfesuchenden,
• durch Zusammenschluss von Hilfesuchenden zu Selbsthilfegruppen, durch ergänzende Hilfen, durch Ehrenamtliche und
• durch Einschalten von Fachberatungen und Therapieangeboten.
Die gemeindebezogene Arbeit sieht die persönlichen Probleme des
einzelnen. Die Lösung des Problems erfolgt aber nicht durch
betreuende Fürsorge, sondern durch ein offensives Angebot zur
Eigenhilfe, bei dem der Betroffene lernt, allein oder gemeinsam mit
anderen eine Lösung zu suchen.
Wenn Aktivierung Betroffener, Selbsthilfe und ehrenamtliche Arbeit
Vorrang haben, bedeutet dies nicht, dass die gesellschaftliche
Solidaritätsverpflichtung eingeschränkt wird. Die Diakonie ist gegen
neokonservative Kräfte, die Lebensrisiken wie z.B. Krankheit,
Behinderung und Arbeitslosigkeit privatisieren und Verantwortung für
Lösungen dem Einzelnen überlassen wollen. Vorrang der Selbsthilfe
und der ehrenamtlichen Arbeit bedeutet auch nicht, dass die
professionelle soziale Arbeit eingeschränkt wird. Sie muss vielmehr
neu beschrieben werden. Die professionellen Mitarbeiter der Diakonie
müssen gesellschaftliche Entwicklungen beobachten, analysieren,
öffentlich machen und das Umfeld aktivieren.
Für die professionelle Arbeit bedeutet dies, dass Bürgernähe Vorrang
hat vor Spezialisierung. Gleichzeitig muss die Arbeit theologisch
21
reflektiert werden, d.h., es muss erfahrbar werden, was das allgemeine Diakonat für den Einzelnen und für die Gemeinde bedeutet.“
Orientierung an Lebenslagen
Als weitere Zielvorstellung wurde der Übergang vom bisherigen
regierenden symptom- und einzelfallorientierten Ansatz der Hilfe zu
einem funktionalen Ansatz, bezogen auf die verschiedenen Lebenslagen bzw. Problemfelder, beschrieben.
Problemfeld Wohnung
Auf der Vertreterversammlung 1980 wurde hierzu geäußert: „Wenn
zum Beispiel bekannt ist, dass das zentrale Problem der Nichtsesshaften, Obdachlosen und Strafentlassenen die fehlende Wohnung ist,
dann kann es nicht primäre Aufgabe der Diakonie sein, dieses
gesellschaftliche Versagen durch Bereitstellung von persönlichen
Hilfen in Form von Heimplätzen für Nichtsesshafte oder durch
Humanisierung von Obdachlosenunterkünften zu kaschieren.
Zentrale Aufgabe der Diakonie der 1980er Jahre muss es sein, eine
politische Lösung zu finden. Die Reform des sozialen Wohnungsbaus
und damit die Reform des Bodenrechts ist überfällig. Ein neuer
sozialer Wohnungsbau muss so angelegt sein, dass mit diesem
Programm zugleich ein Beitrag zur Bekämpfung der Armut in der
Bundesrepublik geleistet wird. Dies bedeutet auch, dass nicht
weiterhin einseitig die Familie gefördert werden darf, sondern dass
auch die Gruppen der Alleinstehenden und andere Formen von
Lebensgemeinschaften gleichberechtigt in die Förderung einbezogen
werden.
Eine durchgreifende Änderung des sozialen Wohnungsbaus wird nur
möglich sein bei einer Änderung des derzeit gültigen Bodenrechts.
Die Forderungen der Denkschrift der Evangelischen Kirche in
Deutschland (EKD) ‚Soziale Ordnung des Baubodenrechts‘ aus dem
Jahre 1973 müssten endlich politisch durchgesetzt werden.
Neben dieser politischen Arbeit kann und muss die Diakonie auch
22
125 Jahre Westfälischer Herbergsverband Überlegungen
eigene Beiträge zur Lösung des Wohnungsproblems leisten. Auf
örtlicher Ebene können Vereine als Lobby für die Bereitstellung und
Schaffung von Wohnraum für Randgruppenangehörige auftreten.
Weitere Aufgaben dieser Vereine könnten sein Übernahme von
Mietvorauszahlungen, Mietausfallgarantien, Hilfen bei der Renovierung und Einrichtung von Wohnungen und regelmäßige persönliche
Kontakte zu den neuen Mietern.“
Zielvorstellungen für die Weiterentwicklung der Gefährdetenhilfe
beschloss der Geschäftsführende Vorstand des Diakonischen Werkes
in Westfalen am 11. Mai 1981, ein fünfjähriges Sonderprogramm zur
Weiterentwicklung der damaligen „Nichtsesshaftenhilfe“ zu starten.
Das Sonderprogramm wird aus kirchlich/diakonischen Mitteln
finanziert. Der gesamte Beihilfebedarf für das Fünfjahresprogramm
wird auf 4.305.000 DM geschätzt. Ein erster Betrag in Höhe von einer
Mio. DM wird beschlossen.
Problemfeld Arbeit
Das Sonderprogramm „Weiterentwicklung der Nichtsesshaftenhilfe“
war für die westfälische Kirche und ihre Diakonie ein außerordentlicher und ungewöhnlicher Schritt. Erstmalig wurde ein gesamter
diakonischer Arbeitsbereich über eine mittelfristige Laufzeit einbezogen. Erstmalig war ebenfalls die vorgesehene Anlauffinanzierung für
die Personalkosten der ambulanten Hilfen. Mit diesem Programm
setzte die westfälische Kirche ein sichtbares Zeichen ihrer Verantwortung für die besonders Benachteiligten in unserer Gesellschaft.
Neben den fehlenden Wohnungen stellt die fehlende Arbeit ein
Hauptproblem dar. Unser Wirtschaftssystem benutzt die Randgruppen als Arbeitsreserven. Mangelnde Bildung und Ausbildung
erleichtern die Verfügbarkeit. Aber auch Faktoren wie Alter und
Behinderung können zur Ausgliederung aus dem Arbeitsleben führen.
Auch diese Gruppen sind potentiell Gefährdete.
Es ist keine Lösung, alle Gefährdeten zu Behinderten zu machen und sie
in „beschützten Werkstätten“ zu beschäftigen. Mit dieser Lösung erfahren
weder die Gefährdeten noch die jetzt in den beschützten Werkstätten
Tätigen Gerechtigkeit.
Problemfeld Beratung und Bildung
Wenn diakonische Hilfe keine vertreibende Hilfe sein soll, müssen die
Beratungsangebote dort erfolgen, wo der Beratungsanspruch
besteht. Aus diesem Grunde wird ein flächendeckendes Beratungs­
angebot gefordert.
Das westfälische diakonische Schwerpunktprogramm für den
Bereich der Nichtsesshaftenhilfe
Der Westfälische Herbergsverband hat sich seit Mitte der 1970er
Jahre intensiv mit der Weiterentwicklung der Hilfen für Wohnungslose
auseinandergesetzt.
Aufgrund der auf der Vertreterversammlung 1980 beschlossenen
Nicht verschwiegen werden soll, dass bei der Beschlussfassung über
das Sonderprogramm der besondere Nachholbedarf an Qualifizierung in diesem Arbeitsbereich aller Beteiligten deutlich vor Augen
stand. Neben der Absicht, von diakonischer Seite her deutliche
Zeichen zu setzen, war die Frist so bemessen, dass eine politische
Lösung – besonders für die ambulanten Hilfen (Absicherung durch
die zuständigen Kostenträger: örtliche und überörtliche Sozialhilfeträger) – möglich wurde.
Schwerpunkte des Sonderprogrammes
Das Sonderprogramm hat vier Schwerpunkte:
• Qualifizierung der stationären Hilfe,
• Aufbau der ambulanten Hilfen,
• Schaffung zusätzlicher Wohnungsangebote,
• Aufbau von Arbeitsangeboten im Bereich des so genannten
zweiten Arbeitsmarktes.
Festschrift Überlegungen
23
Ausgehend von dem damaligen Diskussionsstand fühlte sich der
Westfälische Herbergsverband nun für die alleinstehenden Wohnungslosen zuständig.
nische Werk von Westfalen den Bau bzw. den Erwerb von Ersatzeinrichtungen für das „Haus Birkenkamp“ in Herford und das „PerthesHaus“ in Hamm.
Dies erklärt, dass die Projekte
• Marl-Brassert – Neuorientierung der Gefährdetenhilfe bzw.
Soziale Arbeit in Form eines ortsnahen Selbsthilfeprojektes,
• Aufbau der Schuldnerberatung und eines zentralen Entschuldungsfonds,
• Übergreifende Initiativen auf dem zweiten Arbeitsmarkt
zusätzlich zu dem beschlossenen Sonderprogramm entwickelt und
umgesetzt wurden.
Darüber hinaus konnten in fast allen stationären Einrichtungen
Modernisierungsmaßnahmen mitfinanziert werden.
Qualifizierung der stationären Arbeit
Ambulante Hilfen
Wichtigstes Planziel war die Qualifizierung des Raumangebotes.
Die Diakonie sprach sich mit ihrem Schwerpunktprogramm für ein
flächendeckendes Netz von Beratungsstellen für Wohnungslose aus.
Dabei ließ sie sich von der Überzeugung leiten, dass nur ein flächendeckendes Angebot eine vertreibende bzw. eine nichtsesshaft
machende Hilfe verhindert.
Der Heimbereich für Hilfen für Wohnungslose unterliegt nicht den
Bestimmungen des Heimgesetzes vom 01.01.1975. Aus diesem
Grunde hat auch die Heimmindestbauverordnung für den stationären
Bereich der Wohnungslosenhilfe keine Gültigkeit.
Das Sonderprogramm der westfälischen Diakonie förderte insbesondere die Anpassung der Wohnflächen der Heimbewohner an die
Bestimmungen des Heimgesetzes. Hiernach müssen Wohnplätze für
eine Person mindestens einen Wohnschlafraum mit einer Wohnfläche
von 12 qm, Wohnplätze für zwei Personen einen solchen mit einer
Wohnfläche von 18 qm umfassen. Für Übernachter (Mehrbettzimmer)
sollte der Mindestwohnraum 8 qm pro Person betragen. Gleichzeitig
wurde festgelegt, dass keine Ausweitung des stationären Gesamtangebotes erfolgen sollte.
Eine Bestandsaufnahme machte deutlich, dass in zwei Einrichtungen
selbst bei intensivsten Umbaumaßnahmen keine befriedigende
Lösung gefunden werden konnte. Daher unterstützte das Diako-
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass mit einem Gesamtaufwand von fast 2.000.000 DM Beihilfen eine wesentliche Verbesserung der Standards der stationären Hilfen erreicht werden konnte, der
angestrebte Endpunkt – die Anpassung der Wohnstandards an die
Bestimmungen des Heimgesetzes – aber nicht gelang.
Mit dieser Auffassung stand die Diakonie aber im Gegensatz zu den
fachlichen Vorstellungen des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe
als überörtlichen Träger der Sozialhilfe und denen der meisten
örtlichen Sozialhilfeträger.
Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe unterstützte zum damaligen Zeitpunkt nur die zentralen Beratungsstellen in Dortmund und
Bielefeld-Bethel und war auch nach vielen Gesprächen nur zu der
Konzession bereit, evtl. die eine oder andere weitere zentrale
Beratungsstelle mitzufinanzieren. Diese Einstellung stand in klarem
Gegensatz zu der diakonischen Position, die davon ausging, dass die
Hilfe dort angeboten werden müsse, wo die Not entstehe.
24
125 Jahre Westfälischer Herbergsverband Überlegungen
Das Planziel des diakonischen Schwerpunktprogramms war es,
neben den bestehenden Fachberatungsstellen in Bielefeld-Bethel
und Dortmund weitere elf Beratungsstellen zu schaffen. Diese
Beratungsstellen sollten den Auftrag haben, Beratung, persönliche
Betreuung und Behandlung anzubieten. Außerdem war vorgesehen,
in ihrem Umfeld zusätzliche Wohnungsangebote und alternative
Arbeitsangebote zu entwickeln. Um diese Aufgaben leisten zu
können, sollen die Beratungsstellen zwei Fachkräfte beschäftigen.
Durch die Kumulierung von Haushaltsmitteln bestehend aus Beihilfen
des Diakonischen Werkes von Westfalen, Kollektengeldern der
westfälischen Landeskirche und Beihilfen des Bundesfachverbandes
für Nichtsesshaftenhilfe konnte eine weitreichende Hilfe organisiert
werden. Trotz dieser Hilfen gelang es nicht, alle Beratungsstellen von
Anfang an mit zwei FachberaterInnen zu besetzen.
Erfreulicherweise konnten bis Ende 1983 acht weitere Beratungsstellen geschaffen werden. 1985 – zum Abschluss des Schwerpunktprogramms – arbeiteten im Bereich der westfälischen Diakonie 17
Beratungsstellen nach § 72 BSHG.
Inzwischen hatte der Fachausschuss für Soziales und Gesundheit
des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe in seiner Sitzung am
06.09.1984 beschlossen, regionale Beratungsstellen für Personen mit
besonderen sozialen Schwierigkeiten bis zur Höhe von 30 Prozent
der laufenden Kosten, im Einzelfall mit bis zu 36.000,-- DM zu
fördern. Hinter diesem Beschluss verbirgt sich die sachliche und
fachliche Bejahung der Beratungsarbeit nach § 72 BSHG durch die
örtlichen und den überörtlichen Sozialhilfeträger.
Im gleichen Zeitraum gelang es darüber hinaus, das Wohnungsangebot im Umfeld einiger Beratungsstellen und stationärer Einrichtungen
zu verbessern, zusätzlich Arbeitsprojekte zu entwickeln, die Schuldnerberatung landesweit aufzubauen sowie einen zentralen Entschuldungsfonds zu errichten.
Festschrift Geschäftsbericht
Wenig erfolgreich waren die Versuche, professionelle Arbeit zu
entspezialisieren und eine stadtteilnahe gemeinwesenorientierte
Arbeit mit Präventivcharakter aufzubauen. Selbsthilfeprojekte als
Ergänzung zur professionellen Arbeit waren zumindest in den 1980er
Jahren für viele Träger ein Unding.
Zusammenfassend kann gesagt werden: Die westfälische Diakonie
verfügte zum Ende des Schwerpunktprogramms über das dichteste
Netz von Beratungsstellen nach § 72 BSHG innerhalb der Bundesrepublik. Die wirtschaftliche Vorleistung in Form der Anlauffinanzierung
für die Beratungsstellen, verbunden mit einer intensiven konzeptionellen und politischen Arbeit, hat bewirkt, dass das Hilfesystem für
die besonders benachteiligte Gruppe der wohnungslosen Alleinstehenden deutlich verbessert werden konnte.
Martin Schofer
aus: Hilfen vor Ort – 10 Jahre
Beratungsstellen für Wohnungslose in Westfalen-Lippe,
VSH-Verlag, Bielefeld 1994
S. 38-46
25
Geschäftsbericht
Neun Jahre lang hat Martin Henke die Geschicke des Westfälischen Herbergsverbandes e.V. als Geschäftsführer geprägt.
Sein ganz persönlicher Rückblick erzählt viel über die Entwicklungen in seiner aktiven Zeit.
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
dies ist weniger ein Geschäftsbericht über die letzten zwölf Monate
als vielmehr eine persönliche Reflexion meiner neunjährigen Tätigkeit
für den WHV und das Diakonische Werk Westfalen (DWW). Ich hoffe,
das Ergebnis ist für Sie von Interesse, ich jedenfalls habe mir Mühe
gegeben, die Dinge aufzugreifen, die nicht nur für mich von Interesse
sind. Und von allzu heftiger Selbsterfahrung und der Klage darüber
halte ich ja auch nichts. Wie sagte der Philosoph Günter Anders:
Wenn es mir schlecht geht – was geht es mich an?
Erwarten Sie keine kleine Verbandsgeschichte der letzten Jahre.
Gestatten Sie mir einen großzügigen Blick auf unsere Geschichte, auf
die rahmensetzende Politik, auf einige Aspekte unserer Praxis und
auf unsere Perspektiven. Diese Aufzählung vermittelt Ihnen bereits
einen ersten Hinweis, wie viel Wichtiges fehlen wird, und so wird uns
noch genug für die Diskussion bleiben.
Die Diakonie feiert 1998 ihr 150-jähriges Bestehen, und das im
großen Stil; in Berlin, und der Bundeskanzler soll kommen. Ebenfalls
zum 150. Mal jährt sich 1998 das Erscheinen des „Kommunistischen
Manifestes“, ein Anlass, der für die Diakonie wohl ebenfalls bedeutsam ist, der aber wohl kaum gefeiert werden wird.
Ein ganz zentraler Anstoß für die seinerzeitige „Professionalisierung“
christlicher Liebestätigkeit war das damals herrschende Wohnungs­
elend. Allerdings ging es weniger um die Behebung des Elends als
vielmehr um die Abwehr und Schwächung der sich formierenden
26
125 Jahre Westfälischer Herbergsverband Geschäftsbericht
Arbeiterbewegung mittels „Bausachen zur Hebung und Förderung
des bürgerlichen Lebens“1 wie es Wichern, einer der Gründerväter
der Diakonie und der bürgerlichen Sozialreformen, nannte.
So hinterließ er uns die Herbergen zur Heimat, und die Arbeiterkolonien von Bodelschwinghs kamen dazu. Was uns heute überholt und
unverständlich weit weg vom Wohnungsmarkt und der normalen
Existenz erscheint (ich meine das Paradox einer befristeten Unterkunft zur Überwindung der Wohnungslosigkeit), galt damals zu Recht
als gehobener Standard. Für die Wanderarbeiter stellten diese
sauberen, preiswerten Einrichtungen einen Fortschritt dar.2 Von den
Schlafbaracken z.B. der königlichen Kanalkommission in Westfalen
zu jener Zeit lässt sich nichts Vergleichbares sagen. Sozialreformerische Ansätze zur Versorgung der Kanalarbeiter mit Unterkünften
(weit unterhalb des Standards der Arbeiterkolonien) setzten sich erst
nach zum Teil verheerenden Epidemien durch. Auch hier hatte der
patriarchale Obrigkeitsstaat die „Pazifizierung der Arbeitermassen“
zum Ziel, so der damalige Oberpräsident der Provinz Westfalen von
Bennigsen.3
Eben diesem Reflex des Bürgertums auf bedrohliche revolutionäre
Umtriebe verdanken wir heute unsere Arbeitsplätze und diese
Veranstaltung.
Rückblickend müssen wir uns aber zugute halten, dass wir – zum Teil
gegen unseren Widerstand – Bestandteil der staatlichen Daseinsvorsorge wurden. Zwar protestierten wir gegen die Integration der
Wanderarbeiter in die Arbeitslosenversicherung, auch protestierten
wir gegen den Fall der Arbeitspflicht mit der Einführung des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG), doch die sich entwickelnden Normen des
Sozial- und Rechtsstaates Deutschland bestimmten immer mehr
unsere Praxis. Die Anerkennung und Realisierung dieser Normen
sorgte auch für beachtliche Innovationen in unserem Arbeitsfeld.
Die „Kommunalisierung“ der „Nichtsesshaften“ durch unsere Hilfe:
Ambulante Beratungsangebote wurden mit dem Ziel entwickelt,
Wohnungslose an die bestehenden Rechtssysteme anzuschließen.
Wie viel Mittel wurden wohl durch diese Arbeit für Wohnungslose
erschlossen? Und strukturell wird noch schwerer wiegen, dass die
kommunale Sozialpolitik und -planung erst durch diese Arbeit
befähigt wurde, die Belange Wohnungsloser überhaupt zu berücksichtigen.
Oder die wachsende Zahl der Wohnprojekte. Das Neue und Innovative für die Diakonie ist nicht der Wohnungsbau (den gab es schon
früher für Siedler, Flüchtlinge und beim Wiederaufbau nach dem
Zweiten Weltkrieg), sondern seine Einbringung in und sein Anschluss
an das geltende Recht des BGB. Nicht das Dach für Arme und
Obdachlose ist neu, sondern der Rechtsstatus bei der Nutzung. Die
Innovation besteht in der Tatsache, in Obdachlosen nicht mehr das
Objekt der Bedrohung oder das Objekt zur Gefahrenabwehr zu
erkennen, sondern das bürgerliche Subjekt, eine Mieterin, einen
Mieter mit Rechten und Pflichten.
Die Perspektiven der Wohnungslosenhilfe sind, wie für den gesamten
Sozialbereich, schlecht. Machen wir uns nichts vor, die Zeiten der
integrierenden Sozialpolitik, der Vollbeschäftigung, sind vorbei. An
das Versprechen des Bundeskanzlers, bis zum Jahr 2000 die
Arbeitslosigkeit zu halbieren, glaubt keiner, es wird nicht einmal in die
Liste „Wahllügen und Skandale“ der Bundesregierung aufgenommen,
weil diese Liste niemand mehr führt. Business as usual.
Derweil warnt das Kieler Institut für Weltwirtschaft, dass die aktuelle
konjunkturelle Entspannung – dank des Exportbooms – nur vorübergehend sei, und die nächste Krise bestimmt komme, und dann sei
mit wesentlich mehr Arbeitslosen zu rechnen. Die Meldung fand sich
auf Seite zwei des Wirtschaftsteiles der FAZ, gleichsam als Beruhigung, denn die erste Seite war der Abkühlung an den Börsen
Festschrift Geschäftsbericht
gewidmet. Mehr Arbeitslose verheißen aber inzwischen eben höhere
Renditen. Der Ökonom K. Gailbraith bringt das Wesen dieses
Kapitalismus auf den Punkt, wenn er sagt, „Nicht mehr Arbeit macht
Geld, nur noch Geld macht Geld.“
Und davon ist ja sehr viel da. Der tägliche Umsatz an den deutschen
Wertpapierbörsen liegt bei etwa 30 Milliarden Mark. Zwar wird nur mit
einem Bruchteil davon gehandelt, aber ebenso klar ist doch, dass
täglich etliche Milliarden der Spekulation zur Verfügung stehen. Geld,
das eben von den Einkommensmillionären stammt, die keine Steuern
mehr zahlen müssen.
Lassen wir mal die Parolen der Politik beiseite („Leistung muss sich
lohnen.“ / „Die Renten sind sicher.“ / „Der Aufschwung kommt.“) und
schauen uns die ökonomischen Veränderungen der letzten zwei
Jahrzehnte an, dann fällt die Revolution der Werte auf.
Die Umstellung der ökonomischen Politik zu Beginn der 1980er
Jahre, von Thatcher und Reagan nicht zu Unrecht als Revolution
bezeichnet, wurde lange als bloße Akzentverschiebung unterschätzt:
Von der Nachfrage zum Angebot, von reichlichem zu knappem Geld,
von niedrigen zu hohen Zinsen etc. Zu fassen versuchte man diese
Zeichen mit Begriffen wie Postmoderne oder Postfordismus.
Tatsächlich ging es um eine neue Ordnungspolitik. Gemeinwohl gibt
es gar nicht mehr. (Thatcher: „So etwas wie das Soziale gibt es nicht,
es gibt nur das Individuum und die Familie.“)
Im Zentrum der neuen Ordnungspolitik stehen die Eigentümer der
großen Geld- und Wertpapiervermögen, und das höchste zu
schützende Gut ist die Geldwertstabilität. Um die zu gewährleisten,
sind mehr Polizisten effektiver als Beschäftigungsprogramme, eine
Rechnung, die nach Thatcher und Reagen nun auch Kohl und
Schröder herbeten. Der Polizeistaat als Wahlversprechen, denn an
mehr Arbeitsplätze durch die Politik glaubt ohnehin niemand mehr.
27
Die Wohnungslosen bekommen es zu spüren. In immer mehr Städten
wird der Ruf nach Vertreibung von Bettlern wieder lauter.
Wir erleben die plumpe Negation der unserer Gesellschaft ehemals
als Grundlage dienenden bürgerlichen Werte. Aus „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit (Solidarität)“ der französischen Revolution wurde:
Entliberalisierung, Entegalisierung, Entsolidarisierung.
Sie werden vielleicht fragen, wieso ich Ihnen diese Binsenweisheiten
erzähle? Was es soll, dieses Ausholen zur großen Politik? Geht es
nicht um einen Bericht eines Fachverbandes? Die Antwort ist einfach:
Weil die Wohnungslosenhilfe, die Freie Wohlfahrtspflege und die
gesamte Sozialpolitik auf diese neue Ordnungspolitik keine Antwort,
geschweige denn eine Strategie zur Gegenwehr haben.
Der Staat wird sich künftig weiter zurückziehen. Nicht einmal die
grundlegendsten Funktionen wird er mehr für arme Bürgerinnen und
Bürger garantieren können. Sehen Sie sich die wachsende Armut bei
den Menschen an, die aus dem Produktionsprozess herausfallen,
oder die leeren öffentlichen Kassen. Und zum Thema Reformstau ist
darauf hinzuweisen, dass die Steuerquote der Unternehmen von
1980 bis 1994 von 34 auf 19 Prozent gesunken ist, ohne dass die
versprochenen Effekte – mehr Arbeitsplätze – eingetreten wären.
Während der Reform des Sozialstaates (inzwischen ein Synonym für
Kürzung, Abbau, Zerschlagung) ist es den Regierenden gelungen,
uns mit einer Effizienzdiskussion den Kopf zu verdrehen. Die
BWL-isierung der sozialen Arbeit soll Leistungsreserven erschließen.
Dann bekämpfen wir noch den Missbrauch bei den Leistungsempfängern, und schon sind die benötigten Summen gespart, um die
öffentlichen Kassen zu sanieren. Der Glaube an einen Lottogewinn ist
realistischer als dieser Irrglaube. Der ehemalige VW­- und Ford-Vorstand Goeudevert beschreibt es so: „Solche strukturellen Veränderungen lassen sich nicht allein mit modernen Managementmethoden
28
125 Jahre Westfälischer Herbergsverband Geschäftsbericht
lösen. Deshalb warne ich eindringlich vor einer unkritischen Übernahme von Wirtschaftstechniken in die Wohlfahrt. Wenn es keinen
sozialen Ausgleich zum heutigen Kapitalismus oder, wie die Amerikaner sagen, Turbokapitalismus gibt, dann fahren wir gemeinsam gegen
die Wand.“ Diese Klarsicht würde ich uns in der Diakonie wünschen.
Die Qualität und Funktion der Wohnungslosenhilfe ist nicht vom
Wettbewerb des Marktes abhängig, wie es ein großer diakonischer
Träger im Vorwort zu seinem letzten Jahresbericht formulierte und
sich mit diesem Argument gegen den „staatlichen Dirigismus und
Bürokratismus“ z.B. durch den § 93 BSHG wehrte. Seine Argumentation ist für einen diakonischen Träger aus zwei Gründen problematisch:
1. Ein Problem armer Leute besteht gerade darin, dass sie nicht
wettbewerbsrelevant agieren können. Wenn ein Obdachloser, aus
welchen Gründen auch immer, die Beratungsstelle am Ort nicht
aufsuchen möchte, wo soll er hin? Er hat keine Wahl.
2. Wer angesichts der neuen Ordnungspolitik sagt: Staat, lass mich in
Ruhe, lass den Wettbewerb über Sinn und Unsinn meines
Angebotes entscheiden, ist entweder naiv oder Mitglied der F.D.P.
Er ignoriert die für unsere Arbeit ganz wesentliche Tatsache des
Dreiecksverhältnisses bestehend aus Leistungsberechtigten,
Leistungserbringern und Leistungsträgern. Wer hier den Staat
„heraushaben“ will (so habe ich besagtes Vorwort verstanden),
ohne freilich auf die staatlichen Subventionen verzichten zu wollen
(so gesehen vergleichbar der Wirtschaft), isoliert die Obdachlosen
von den Diskussionen und Kämpfen zur staatlichen Daseinsvorsorge. Er enthält den Obdachlosen somit demokratische und soziale
Grundrechte vor und steht dann wieder ungebrochen in der
Tradition der Wanderarmen- und Nichtsesshaftenhilfe.
Nein, um zu einer höheren Qualität in der Wohnungslosenhilfe zu
kommen, brauchen wir nicht den Wettbewerb und den Markt,
sondern Innovationen, deren Ziele und Kosten wir mit der Gesell-
schaft auszuhandeln haben. Bezüglich der Perspektiven der Wohnungslosenhilfe glaube ich, dass das inzwischen 25 Jahre alte
Programm der Hilfe nichts von seiner Gültigkeit verloren hat: Dahin
gehen, wo die Obdachlosen sind, annehmbare Hilfen entwickeln,
bestehende Rechte durchsetzen, Obdachlosigkeit zum Thema
kommunaler Praxis, Politik und Planung machen, Hilfen, insbesondere die Not- und Elendshilfen nicht isoliert lassen, sondern in systematische und rechtlich begründete Hilfeansätze weiterentwickeln.
Und dieses Programm hat ja auch in vielen Orten und Landstrichen
die Lebens- und Hilfeperspektiven der Obdach- und Wohnungslosen
spürbar verbessert. Diese Grundsätze über Bord zu werfen, ist
falsch, aber wir brauchen Innovationen. Auf die veränderte Nachfrage
(durch mehr Frauen, mehr Jugendliche etc.) müssen wir uns einstellen. Wir müssen unsere Kompetenz und Wirksamkeit erhöhen.
Die vielerorts zu verspürende Aufgeregtheit und Einschüchterung
über die anstehenden Veränderungen durch die §§ 93 ff. BSHG sind
nachvollziehbar und berechtigt. Es geht um Kürzungen, und ich sehe
keine gesellschaftliche Kraft, die dies in nächster Zeit ändern wollte
oder könnte. Aber eine Alternative zur Aushandlung der Vereinbarungen zur Leistung, zur Vergütung und zur Kontrolle haben wir nicht.
Wir haben auch nichts zu verbergen. Wir sollten vielmehr selbstbewusst und offensiv für unser Programm der Wohnungslosenhilfe
streiten. Wer sich zurückzieht, landet im Abseits. Das ist nicht im
Interesse der Obdach- und Wohnungslosen.
Die den §§ 93 ff. BSHG zugrundeliegenden Sparbemühungen sind
nicht der Endpunkt einer Entwicklung, sondern eine Zwischenetappe.
Die Kürzungen werden weitergehen. Der verzweifelte Versuch der
Wohlfahrt, der Kirchen, der Gewerkschaften und weniger Sozialpolitiker, von dem Konzept der sozialen Marktwirtschaft zu retten, was zu
retten ist (z.B. mit dem Wort der Kirchen zur wirtschaftlichen und
sozialen Lage in Deutschland), ist zum Scheitern verurteilt. Stattdes-
Festschrift Geschäftsbericht
sen müssen diese Kräfte, und also auch wir, versuchen, das Denkund Diskussionsverbot bezüglich einer Gesellschaft mit größerer
Verteilungsgerechtigkeit zu überwinden. Aber wer diese Frage
aufwirft, kommt nicht umhin, nach Kontrolle und Disziplinierung der
schaltenden und waltenden Eliten zu rufen. Auch das kann Mehrheiten bei Wahlen bringen, nehmen wir Frankreich und Großbritannien als Hoffnungszeichen. Sollte es sich allerdings um dasselbe
Stück, dieselbe Bühne und nur um eine neue Schauspielertruppe
handeln, müssen wir anderes überlegen.
In meinen, zugegebenermaßen vagen Überlegungen spielt ein
ausgebauter Rechtshilfeansatz eine zentrale Rolle.
Der italienische Rechtsphilosoph Noberto Bobbio bezeichnet das
20. Jahrhundert als das Zeitalter der Rechte. Und gerade bezogen
auf die Entwicklung diakonischer Praxis spricht vieles für diese
Sichtweise. Entwickelt hat sich die Praxis zwischen den Antipoden
der „Inneren Mission“, die den Schlüssel für das Wohlergehen jedes
Einzelnen in seinem rechten Gauben wähnte, und eben der Vision
des kommunistischen Manifestes, das die „freie Assoziation aller
Individuen“ nur vor dem Hintergrund der Zerschlagung des Staates
und seiner Normen für realisierbar hielt.
Wie sieht es aber heute mit eben diesen Rechten, den sozialen
Rechten aus? Wir müssen erstens festhalten, dass die aus diesen
Rechten abgeleitete Politik für einen beachtlichen Wohlstand, eine
von vielen Ländern beneidete soziale Stabilität und Frieden gesorgt
hat. Zweitens gelten hierzulande einklagbare soziale Grundrechte
dennoch bestenfalls als unerfüllbares Ideal, viele sehen in ihnen
sogar eine Bedrohung der Freiheit. In den Verfassungsdebatten nach
der Vereinigung stellte z.B. der Präsident des sächsischen Landtages
zu den Verfassungszielen Arbeit und Wohnung fest: „Freilich stellen
diese Staatsziele keine Grundrechte dar, so dass durch sie niemand
einen einklagbaren Anspruch auf Arbeit, Wohnung und so weiter
erhält.“4
29
Nach dem Krieg wurde das in einigen Ländern anders diskutiert, so
gibt es in Bayern, Hessen, Nordrhein-Westfalen und Bremen sehr
wohl das verfassungsrechtlich geschützte Recht auf Arbeit, in einigen
Ländern auch sehr wohl ein Recht auf eine Wohnung und nicht nur
das Grundrecht auf ihre Unverletzlichkeit.
Auch die UNO-Menschrechtsdeklaration vom Dezember 1948
umfasst das Recht auf soziale Sicherheit (Artikel 22), das Recht auf
Arbeit (Artikel 23) und das Recht auf Wohnung (Artikel 25). Diese
Bestandteile der Deklaration wurden von der Bundesrepublik nie in
Frage gestellt. Und man stritt mächtig um deren Verbindlichkeit.
Doch 1966 einigte man sich innerhalb der UNO auf zwei Pakte, einen
zu den politischen und einen zu den wirtschaftlich-sozialen Rechten:
„Die Vertragsstaaten erkennen das Recht jedes Einzelnen auf die
Möglichkeit, seinen Lebensunterhalt durch frei gewählte oder
angenommene Arbeit zu verdienen, an.“5 Seit 1976 sind beide
Konventionen in Kraft. Mit der Aufnahme der Bundesrepublik und der
DDR 1973 traten beide deutsche Staaten diesen Pakten bei und
verpflichteten sich „mit allen geeigneten Mitteln, vor allem durch
Gesetzgebung, die volle Verwirklichung der in diesem Pakt anerkannten Rechte zu erreichen.“6 Mit der Ratifizierung gelangte der
Pakt „in den Rang eines deutschen Bundesgesetzes, das Vorrang vor
Rechtsvorschriften, Satzungen und allen Landesnormen hat und
sowohl Grundgesetz, Verwaltung und Gerichte bindet?“7, wie der Völkerrechtler Markus Zöckler unterstreicht.
Warum ist das so wenig bekannt und so wenig diskutiert? Warum
listen Menschrechtsorganisationen die Verletzungen des Paktes der
politischen Rechte auf und nicht die Verletzungen des Paktes zu den
wirtschaftlich-sozialen Rechten?
Wir hören von allen Parteien, dass zur Sicherung sozialer Errungenschaften nicht mehr Rechte die Grundlage bilden, sondern der
aktuelle Haushalt. Und von dieser Botschaft, dass kein Geld da sei,
30
125 Jahre Westfälischer Herbergsverband Geschäftsbericht
lassen sich alle blenden. Tatsächlich ist aber mehr als genug Geld da.
Die Gewinne der Unternehmen explodieren, das Sparguthaben der
Deutschen hat inzwischen die Fünf-Milliardengrenze überschritten.
Doch ein Ende des einmal eingeschlagenen Deregulierungskurses
scheint nicht in Sicht.
Die Programme klingen dabei immer verlockender und verheißen
Erfolge über Erfolge. So sorgt seit Jahren jedes Gesetz für mehr
Arbeitsplätze – die Arbeitslosen merken es nur nicht. Auf der letzten
Tagung der BAG-Wohnungslosenhilfe verkündete ein Vertreter des
BM-Bau, die 20.000,- DM-Eigenheimförderung für einen Doppelverdienerhaushalt mit einem Jahreseinkommen von 240.000,- DM sorge
für Arbeitsplätze, und deswegen müssten die Mittel für den sozialen
Mietwohnungsbau um 1/3 reduziert werden. Aber wie krank unsere
Gesellschaft inzwischen ist, lesen wir ja alle täglich in den Zeitungen.
Was machen wir als Diakonie mit den sozialen Grundrechten bzw. mit
den offensichtlichen Verletzungen durch eine falsche Politik?
Warum werden steigende Zahlen von Arbeitslosen, Sozialhilfeempfängerinnen und Wohnungslosen zwar anklagend und warnend, aber
eben nicht als Verletzung sozialer Grundrechte dargestellt. Warum
erkämpfen wir keinen Erklärungsnotstand bei den Politikern wie z.B.
bei der Verletzung der politischen Grundrechte?
Ich glaube, dass dies der Diakonie gut anstehen würde. Unsere
„Option für die Schwachen“ wahrzunehmen, „Anwalt der Benachtei­
ligten“ zu sein, dies alles sollte noch viel mehr Gewicht in unserer
täglichen praktischen Arbeit, auf Verbandsebene in der Arbeit vor Ort
erhalten. Laut und deutlich erhob übrigens auch die Bundesbetroffeneninitiave in der BAG-Wohnungslosenhilfe diese Forderung. Indem
wir unsere Hilfe demokratisieren, also für mehr Transparenz, Beteiligung, Mitsprache und Mitbestimmung sorgen, erhöhen wir unsere
Legitimität, eine andere, sozialere Politik zu fordern.
Das Thema ist aus meiner Sicht brandaktuell. Denken Sie an die
vielen neuen, freien Initiativen für Arme und Obdachlose, die Tafeln,
Suppenküchen und Treffs. Einerseits sind sie Ausdruck einer
humanen Haltung, nach der bei Not geholfen und nicht nach der Polizei gerufen wird. So gesehen sind diese Ansätze denen der Inneren
Mission vor 150 Jahren sehr verwandt. Andererseits ist natürlich jede
private Hilfe als Ersatz für fehlende oder falsche staatliche Daseinvorsorge überfordert, das zumindest lässt sich nach 150 Jahren
Diakonie ganz sicher feststellen. Daher muss, und diese Wiederholung gestatten Sie mir, die Durchsetzung sozialer Grundrechte
unbedingt Auftrag diakonischer Hilfe bleiben.
Ich gebe Noberto Bobbio recht und seinen zuversichtlichen Ausblick
an Sie weiter: „Der Drang nach einer immer größer werdenden
Gleichheit unter den Menschen ist unaufhaltsam. Jede Überwindung
dieser oder jener Diskriminierung, auf Grund welcher die Menschen
in Über- und Untermenschen, in Zähmende und Bezähmte, in Reiche
und Arme, in Herren und Knechte unterteilt worden sind, stellt eine,
wenngleich keine notwendige, sondern nur mögliche Etappe auf dem
Weg der Zivilisierung dar. ( ... ) Es versteht sich, dass man, will man
den Sinn dieser großartigen historischen Bewegung erfassen, den
Kopf über die alltäglichen Scharmützel erheben und höher hinauf und
weiter in die Ferne blicken muss.“8
Meine Damen und Herren, das waren grob die Spannungsfelder und
Denkwelten in denen ich mich in den letzten neun Jahren als Ihr
Geschäftsführer bewegt habe. Gestatten Sie mir zum Schluss ein
paar persönliche Worte.
Ich habe dem WHV und dem DWW sehr viel zu verdanken. Was ich
bin, bin ich zum großen Teil durch diese Zusammenarbeit mit Ihnen
geworden. Stellvertretend möchte ich mich bei den Vorsitzenden
Hans Bachmann, Peter Fenner und Karl-Hermann Köster bedanken.
Unmöglich kann ich alle Kolleginnen und Kollegen aus dem Vorstand,
Festschrift Geschäftsbericht
31
den AKs und Fachausschüssen nennen, aber ohne Ihre aktive Arbeit
wäre ich hier im Staub des Papiers krank geworden. Zudem verdanke ich dieser Arbeit viele Freunde, mit denen ich manches Problem
beraten, vielleicht auch mal eins gelöst habe, Freunde die immer für
mich da waren, ich will einige outen: Reinhard van Spankeren,
Raimund Klinkert, Hannes Kiebel. Andreas Wolf, Norbert Halbeisen,
Gunter Braun, Sigrid Kübler­-Molitor, Helmut Blees, Jörg Obereiner,
ich will und kann nicht alle nennen. Ich bitte die nicht Aufgezählten
um Entschuldigung. Nennen will ich unbedingt meinen Vorgänger
Friedhelm Hasenburg, der all die Jahre meine Arbeit beobachtet hat,
und sein Zuspruch war für mich die höchste Anerkennung.
Bevor es jetzt aber zu gemütlich wird, möchte ich auch auf einige
Streits aufmerksam machen. Ich gebe zu, dabei auch meinen Spaß
gehabt zu haben, die mir verliehenen Titel „Totengräber der stationären Hilfe“ und ,,rote Socke“ werde ich in Andenken hochhalten.
Das alles ist aber wirklich zweitrangig zu den Leistungen, die meine
Frau für mich und für Sie erbracht hat. Alle Gedanken und Texte, die
ich geliefert habe, sind erst durch ihre Kritik das geworden, was sie
nun sind. Für mich war es ein wahnsinniges Glück, zu Hause nicht
nur reproduzieren zu können, sondern auch Zeit und Gelegenheit für
Reflexion und intellektuellen Austausch zu haben.
Persönlich muss ich mich bei Uwe Hampel-Pöhler und dem PerthesWerk bedanken, ohne deren Flexibilität ich nicht zwei Jahre im MAGS
hätte arbeiten können.
Und meinem Nachfolger Jan Orlt wünsche ich, dass er so kollegial,
offen und fair von Ihnen aufgenommen wird wie ich damals. Ich habe
ihn als einen Kollegen kennen gelernt, der das für diesen Job nötige
Handwerkszeug hat. Das wird jetzt, glaube ich, dringend im WHV
gebraucht. Der Hintergrund, das Fachwissen sind Sie und zu Ihrem
Geschäftsführer kommt es nur durch Sie.
In den letzten Tagen und Wochen habe ich viele kleine und große
Dankeschöns erhalten, was mich sehr geehrt hat. Dafür und für die
gute Zusammenarbeit mit Ihnen will ich mich bei Ihnen bedanken. Ich
wünsche Ihnen allen für die anstehende Arbeit die notwendige Kraft,
Beharrlichkeit und Gottes Segen.
Fußnoten
1 Wichern beschäftigte sich mit der katastrophalen Wohnsituation „armer
Leute“ in Hamburg. Die Enge, der Lärm und Dreck waren für ihn eine sittliche
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125 Jahre Westfälischer Herbergsverband Geschäftsbericht
Gefährdung. Vergl.: Wiehern, J. H.: Bausachen zur Hebung und Förderung
des sittlichen Lebens. In: ders., Sämtliche Werke, Bd. V, Hamburg 1971. Eine
heute noch spannende und lesenswerte Kritik der bürgerlichen Sozialreformer, wann und warum diese gerade das Wohnungselend zum Ausgangspunkt ihres Handelns nahmen, hat Engels geliefert. Vergl.: Engels, F.: Zur
Wohnungsfrage. In: Marx, Engels Werke (MEW), Bd. 18, Berlin 1962.
2 Vergl.: 75 Jahre Wilhelmsdorf 1882 -1957. Aufgabe und Weg der ersten
Deutschen Arbeiterkolonie, Herausgegeben von der Betheler Zweiganstalt
Eckardtsheim bei Bielefeld, Bielefeld 1958.
3 Vergl.: Krabbe, W. R.: Arbeitssituation und soziale Lage der Arbeiter beim
Bau des Dortmund-Ems­Kanals. In: Das Schiffshebewerk Henrichenburg.
Westfälisches Industriemuseum, Schriften Band 1, Dort­mund 1985, S. 19 ff.
4 siehe: Dahn, D.: Soziale Grundrechte sichern, In: Freitag, Nr.28, Berlin 1997,
S. 8.
5 Dästner, C.; Die Grundrechte und das Grundgesetz, Köln, Stuttgart, Berlin
1996, S. 137.
6 Dästner, c.: a.a.O. S. 145.
7 Dahn, D.: a.a.O.
8 Bobbio, N.: Rechts und Links. Gründe und Bedeutung einer politischen
Unterscheidung, Berlin 1994, S. 93 ff
Martin Henke
Geschäftsbericht
gehalten auf der Mitgliederversammlung des WHV,
15. Dezember 1997
Festschrift Wohnungslose Frauen
Zur Situation wohnungsloser und obdachloser
Frauen in NRW
Sehr lange galt die Hilfe der Wohnungslosenhilfe ausschließlich alleinstehenden Männern. Erst langsam wurden auch
wohnungslose Frauen und ihre besonderen Bedarfe wahrgenommen und die Hilfe darauf ausgerichtet.
Das Hilfesystem für wohnungs- und obdachlose Menschen orientiert
sich seit über 100 Jahren traditionell am Bedarf des alleinstehenden
männlichen Wohnungslosen. Hilfen für Frauen hatten – wenn
überhaupt vorhanden – von Anfang an pädagogische Ziele. So ging
es den privatwohltätigen Frauenvereinen zur Jahrhundertwende und
danach vorrangig darum, die Tugend und Sittlichkeit von Frauen zu
schützen. Die Wohnungsnot der Dienstmädchen, so genannten
„alten Jungfern“ und „ledigen Mütter“ wurde erst in zweiter Linie
wahrgenommen und häufig durch eine Eheschließung behoben.
So kommt es, dass kein flächendeckendes Angebot an Hilfeeinrichtungen für wohnungslose Frauen und Mädchen entstanden ist. Für
Männer existieren dagegen in fast allen größeren Städten Übernachtungseinrichtungen und eine Vielzahl von stationären Einrichtungen
der Wohnungslosenhilfe.
Der Bedarf von Frauen und Männern
unterscheidet sich
Lange Zeit begnügte man sich mit der Einschätzung, dass das, was
für Männer angeboten werde, wohl auch für Frauen das Richtige sei.
Erst allmählich setzt sich die Erkenntnis durch, dass das auf Männer
zugeschnittene Hilfeangebot viele Frauen abhält, Hilfe überhaupt in
Anspruch zu nehmen. In den 60 ambulanten Beratungsstellen für
alleinstehende Wohnungslose in Nordrhein-Westfalen schwankt der
33
Frauenanteil je nachdem, ob spezielle Angebote nur für Frauen
gemacht werden oder nicht, zwischen fünf und 30 Prozent. Über 90
Prozent aller Angebote, die sich an Männer und Frauen richten,
wer­den von Frauen weniger häufig und weniger intensiv genutzt.
Überall dort, wo spezielle Angebote nur für Frauen geschaffen
wurden, werden diese auch genutzt.
Mehr Schutz
Besonders wohnungslose Frauen, die auf der Straße leben, brauchen
mehr Schutz als Männer, und sie brauchen Schutz auch vor Männern.
Wohnungslose Frauen haben unterschiedlichste Gewalterfahrungen,
viele von ihnen wurden (im Elternhaus, in der Partnerschaft, auf der
Straße) misshandelt, missbraucht und gedemütigt, und häufig führte
gerade die Flucht vor diesen Lebensbedingungen direkt in die
Wohnungslosigkeit. Betrachtet man zugleich die Selbstverständlichkeit, mit der wohnungslosen Frauen Kost und Logis gegen sexuelle
Willfährigkeit geboten werden, wird das hohe Abgrenzungsbedürfnis
gegenüber der „männlichen Wohnungslosenszene“ verständlich.
Bei der Nutzung von Einrichtungen, die Männern und Frauen offen
stehen, lässt sich immer wieder feststellen, dass Frauen Gefahr
laufen, „angemacht“ oder belästigt zu werden und vor Übergriffen
nicht sicher sein können. In der Konsequenz führt dies zu einer
deutlichen Unterversorgung von wohnungs­- und obdachlosen
Frauen.
Hygiene
Zu dem frauenspezifischen Bedarf, der durch niedrigschwellige
Angebote leicht gedeckt werden kann, gehört ein offensichtlich
höheres Interesse wohnungsloser Frauen an persönlicher Hygiene.
Gleichzeitig ist diese Alltäglichkeit ein weiterer Grund dafür, dass
reine „Männereinrichtungen“ von Frauen oft gemieden werden. Die
Bereitstellung der hygienischen Grundversorgung – Hygieneartikel,
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125 Jahre Westfälischer Herbergsverband Wohnungslose Frauen
Möglichkeiten, sich zu duschen, zu pflegen oder Wäsche zu waschen
– trägt zu einer spürbaren Verbesserung der Situation wohnungsloser
Frauen bei.
Selbsthilfepotential bei Frauen größer
Frauen sind auch heute noch meist allein für das „Alltagsmanagement“ in Beziehung, Partnerschaft und Familie zuständig.
Dies führt dazu, dass sie eher als Männer bereit sind, Provisorien zu
akzeptieren und nach vorübergehenden Notlösungen für sich, die
Kinder und die Familie zu suchen. Ihr Bedarf bleibt dadurch lange
verborgen, die akute Notlage wird nicht offenkundig.
Gleichzeitig verhalten Frauen sich bei der Wohnungssuche aber
aktiver als Männer, sie nehmen Hilfeangebote offensiv wahr und sind
eher in der Lage, ihre Situation aus eigenen Kräften zu verbessern.
Ihr Verbleib im Hilfesystem ist dadurch deutlich kürzer als bei
Männern.
Armut und Arbeitslosigkeit verstärken
Abhängigkeiten
Wie anfangs bereits beschrieben, besteht ein enger Zusammenhang
zwischen weiblicher Wohnungsnot, ihrer geringeren Erwerbsbeteiligung, fehlenden Ausbildungs- und geringeren Verdienstmöglichkeiten. Heute sind 90 Prozent aller Teilzeitarbeitsplätze mit Frauen
besetzt. Die höhere Flexibilität – in der Regel zugunsten der Familie
und der Kinder – hat ihren Preis: eine schlechtere existentielle
Absicherung. Die Zunahme sozialversicherungsfreier 610,- DM-Jobs
wirkt sich hierauf ebenfalls unmittelbar aus.
Als besonders problematisch für die betroffenen Frauen erweisen
sich die strukturellen Benachteiligungen im Erwerbsleben in Trennungssituationen. Vor allem Alleinerziehende ohne eigenes Einkommen haben geringere Chancen, sich mit Wohnraum zu versorgen und
diesen ohne fremde Hilfe aus eigenen Kräften zu bewirtschaften. Mit
individuellen Hilfeangeboten allein ist dieses Problem nicht zu lösen.
Neben unmittelbar wirksamen Wohnhilfen benötigen wohnungslose
Frauen zur dauerhaften Überwindung ihrer Notsituation daher Hilfen
und Unterstützung bei der Arbeitsplatzsuche, bei Ausbildung,
(Weiter-)Qualifizierung und Beschäftigung sowie Möglichkeiten der
Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit.
Kinder und Partnerschaften
Frauen in Wohnungsnot sind selten ganz alleinstehend: Es sind
Frauen mit Freundschaften, mit Partnerwünschen, mit festen
Freunden, es sind Frauen mit Kindern, die eine gemeinsame
Unterbringung für sich und die Familie suchen, und Frauen, die um
das Sorgerecht für ihre fremduntergebrachten Kinder kämpfen.
Insbesondere für Frauen mit Kindern existieren innerhalb der Hilfe für
Wohnungslose nur sehr wenige Angebote. Vor Gewalt und Bedrohung finden sie in Frauenhäusern Zuflucht, doch Frauenhäuser haben
nicht vorrangig die Aufgabe, wohnungslose Frauen mit Wohnraum zu
versorgen.
Hier gilt es, Einrichtungen für Frauen mit Kindern, aber auch für
Paare, zu öffnen und neue Wohn- sowie Erwerbsmöglichkeiten, z.B.
für Alleinerziehende, zu konzipieren. Nicht zuletzt aber benötigen
Frauen, deren Wohnungsnot häufig im Zusammenhang mit familiären
Krisen oder Partnerschaftskonflikten auftritt, auch gezielte persönliche Hilfen zur Bewältigung dieser Problemsituationen.
Jutta Henke
aus: Ein Dach über dem Kopf, Hilfen
für wohnungslose Frauen in
Nordrhein-Westfalen,
Hrsg.: Ministerium für Gleichstellung
von Frau und Mann
des Landes NRW
Düsseldorf 1997, S. 8-10
Festschrift Betreutes Wohnen
Betreutes Wohnen
Das jüngste Kind der Angebotsfamilie der Wohnungslosenhilfe in Westfalen ist das Betreute Wohnen. Wesensmerkmal des
Betreutes Wohnen ist die persönliche Hilfe für Menschen in
besonderen sozialen Schwierigkeit in der eigenen mietvertraglich gesicherten Wohnung.
Vorwort
Betreutes Wohnen steht für die jüngere Entwicklung der Westfälischen Wohnungslosenhilfe. Es gehört mit zu den Eckpfeilern der
Gesamtkonzeption eines bedarfsgerechten Hilfesystems für Personen in besonderen Lebensverhältnissen, die mit sozialen Schwierigkeiten verbunden sind, das Ende der 1970er Jahre gemeinsam mit
dem Landschaftsverband Westfalen-Lippe entwickelt worden war.
Betreutes Wohnen ist ein Zeichen des Zuwachses an Bedeutung
ambulanter Hilfen. Es ergänzt somit in effizienter Weise die vorgehaltenen stationären und teilstationären Hilfeangebote. Handlungsleitend ist die Integration vor Ort, im Quartier. Die Selbstbestimmung
der Hilfeberechtigenden in ihrer jeweils eigenen Wohnung ist
signifikantes Merkmal.
35
sen, einen Fachausschuss Betreutes Wohnen zu berufen und diesen
zu beauftragen, eine insbesondere für die Praxis vor Ort nutzbare
und fachliche klare Empfehlungsgrundlage zum Betreuten Wohnen
zu erarbeiten.
Der Fachausschuss legt hiermit sein Arbeitsergebnis vor.
Der Vorstand des Westfälischen Herbergsverbandes e.V. dankt den
Fachausschussmitgliedern für die geleistete Arbeit.
Über das vorgelegte Arbeitsergebnis hinaus gab es vielfältige
Anregungen, kritisch über den Begriff „Betreuung“ und dessen
historische Deutungen, Bedeutungen und teilweise missbräuchliche
Verwendung nachzudenken.
Wir haben aber letztlich auf eine Darstellung der Diskussion zu
Gunsten der Lesbarkeit der Arbeitshilfe für die praktische Umsetzung
verzichtet. Zudem ist der Begriff „betreutes Wohnen“ gem.
§ 72 BSHG zurzeit im Hilfefeld eindeutig definiert und anerkannt.
Münster, im März 2000
Betreutes Wohnen versteht sich als eigenständige Hilfeform im
Verbund der Wohnungslosenhilfe. Es ist eigenständiger Leistungstyp
im Rahmen der Verhandlungen und Vereinbarungen zum § 93 ff.
BSHG. Die Entgeltvereinbarungen werden zwischen dem Träger des
Hilfeangebotes und dem örtlichen Träger der Sozialhilfe abgeschlossen. Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe wird in der Regel an
den Verhandlungen beteiligt, da er gemäß § 2a AG BSHG NRW die
entstehenden Aufwendungen für Personen, die „sesshaft“ werden
wollen, übernimmt
Dieses Hilfeangebot ist noch nicht flächendeckend eingeführt –
gleichzeitig gibt es bei zahlreichen Hilfeanbietern vielfaches Interesse
zur Konzeptionierung und Durchführung. Auf diesem Hintergrund hat
der Vorstand des Westfälischen Herbergsverbandes e.V. beschlos-
Raimund Klinkert
1. Vorsitzender WHV
Jan Orlt
Geschäftsführer
Begriffsbestimmung
Betreutes Wohnen – eine Definition
Betreutes Wohnen ist die Verbindung einer selbständigen Lebensführung in Räumen, die aufgrund privatrechtlicher Gestaltung eigenverantwortlich genutzt werden, mit einer planmäßig organisierten
regelmäßigen Beratung und persönlichen Hilfe durch Fachkräfte.
Es stellt einen eigenständigen Arbeitsbereich innerhalb der Wohnungslosenhilfe dar.
36
125 Jahre Westfälischer Herbergsverband Betreutes Wohnen
Ausgestaltungskriterien
•
•
•
•
•
•
•
•
•
Die Hilfe geschieht auf freiwilliger Basis.
Über die Durchführung wird eine (schriftliche) Vereinbarung
getroffen. Über die Beendigung der Betreuung ist zwischen den
Beteiligten eine Verständigung zu erzielen.
Betreutes Wohnen kann sowohl in eigenen, durch den Hilfeberechtigenden auf dem Wohnungsmarkt angemieteten Wohnungen angeboten werden, als auch in Wohnungen, die von
einem Träger der Freien Wohlfahrtspflege aufgrund privatrechtlicher Gestaltung durch den Betreuten eigenverantwortlich im
Sinne des Mietrechtes genutzt werden. Funktionsverschiebungen zwischen Vermietung und Betreuung, die zu Lasten des
Hilfeberechtigenden gehen, sind zu vermeiden.
Die Massierung mehrerer Wohneinheiten in einem Gebäude
sollte vermieden werden.
Die Hilfeberechtigenden regeln die Angelegenheiten des
täglichen Lebens sowie ihre Lebensgestaltung in eigener
Verantwortung.
Dazu gehört auch der selbständige Umgang mit den individuell
zur Verfügung stehenden Einkünften.
Die Finanzierung des Betreuten Wohnens durch die Sozialhilfeträger umfasst nur die Kosten des Betreuungsangebotes. Der
Lebensunterhalt ist gesondert durch die Hilfesuchenden zu
finanzieren (z.B. eigenes Einkommen, Hilfe zum Lebensunterhalt).
Der Verantwortungsbereich der Fachkräfte erstreckt sich auf die
fachgerechte Durchführung der persönlichen Hilfe.
Neben individuell vereinbarten Besuchskontakten gibt es keine
Rund-­um-die-Uhr-Bereitschaft, nächtliche Rufbereitschaft oder
Wochenenddienste.
Jan Orlt
Aus: Betreutes Wohnen,
Hrsg.: Westfälischer
Herbergsverband e.V.
Münster, März 2000, S. 4-5
Festschrift Leistungstypen
Leistungstypen
der stationären und
ambulanten Hilfe gemäß
§ 72 BSHG
Mitte der 1990er Jahre wurde im Bundessozialhilfegesetz eine
Regelung eingeführt, die es erforderte, die Leistungen
detailliert zu beschreiben und die Erbringung und Vergütung
vertraglich zu regeln. So sind im Jahre 2000 die
Leistungstypen entstanden.
Vorwort
Am 20. September 1999 hat die so genannte Verhandlungsgruppe
B3 „Ambulante Hilfen“ im Rahmen der Verhandlungen zur Umsetzung der §§ 93 ff. BSHG den Katalog der Leistungstypen der
ambulanten Hilfe gemäß § 72 BSHG für Nordrhein­Westfalen
abschließend beraten und verabschiedet.
Am 01. Oktober 1999 hat denselben Schritt die so genannte
Verhandlungsgruppe B2 „Bildung von Leistungstypen“ für den
Katalog der Leistungstypen der stationären Hilfe gemäß § 72 BSHG
für Nordrhein-Westfalen vollzogen.
37
den Leistungstypen, die Ihnen helfen sollen, die Ergebnisse zu
bewerten und für Ihre eigene Arbeit zu nutzen.
Die Entwicklung der qualitativen Beschreibung von Leistungen/
Leistungstypen ist nur ein – wenn auch grundlegender - Teil der
Verhandlungen zur Umsetzung der §§ 93 ff. BSHG zwischen den
Anbietern (private Träger und Träger der Freien Wohlfahrtspflege) auf
der einen Seite und den örtlichen und überörtlichen Sozialhilfeträgern
in Nordrhein-Westfalen auf der anderen Seite.
Die Gesamtverhandlungen zur Umsetzung der §§ 93 ff. BSHG in
Nordrhein­Westfalen sind noch nicht abgeschlossen. Je nach den
Ergebnissen der Verhandlungen zu einem Landesrahmenvertrag und
den Verhandlungen zur Bildung der drei Vergütungsbestandteile
Grundpauschale, Maßnahmepauschale und Investitionskosten kann
es erforderlich werden, die in dieser Veröffentlichung enthaltenen
Leistungstypbeschreibungen zu überarbeiten und in Details zu
verändern.
Wir gehen im Moment davon aus, dass mindestens bis zur Unterzeichnung eines Landesrahmenvertrages in Nordrhein-Westfalen, in
dem auch nach der jetzigen Planung und Bereitschaft aller Verhandlungspartner der ambulante Bereich geregelt werden soll, diese in
dieser Veröffentlichung enthaltenen Leistungstypen den Standard für
die Hilfe gemäß § 72 BSHG darstellen.
Damit ist die qualitative Beschreibung der Zielgruppen (Hilfebedarfsgruppen) und Leistungen für die Hilfe gemäß § 72 BSHG auf
Landesebene zunächst abgeschlossen.
Zur Entstehung
Mit dieser Veröffentlichung wollen wir Ihnen die Beratungsergebnisse
zu den stationären und ambulanten Leistungstypen zu Ihrer Information und Verwendung zur Verfügung stellen.
Gleichzeitig enthält diese Veröffentlichung einige Hinweise zur Entstehungsgeschichte der Leistungstypen und zum weiteren Umgang mit
Auf der Grundlage der im Dezember 1998 vom Westfälischen
Herbergsverband e.V. veröffentlichten Leistungstypen1 hat die so
genannte Verhandlungsgruppe B1 „Bildung von Leistungstypen“ für
die stationäre Hilfe gemäß § 72 BSHG bis Ende 1998 einen Katalog
von Leistungstypen vereinbart und in den Bereichen „Zielgruppe“
und „Hilfeziele“ beschrieben.
38
125 Jahre Westfälischer Herbergsverband Leistungstypen
Dieser Katalog war dann zum Jahreswechsel 1998/1999 im Rahmen
der ersten Umsetzungsvereinbarung Gegenstand eines so genannten
Pre-Testes. Ziel des Pre-Testes war es, die Anwendungstauglichkeit
der Leistungstypen in der Praxis zu erproben und zu prüfen, ob mit
den Leistungstypen die Realitäten der Einrichtungen abgebildet
werden können.
Nach Auswertung des Pre-Testes, zu dem eine ausführliche Dokumentation der Beckhof-Konferenz vom 29. April 1999 in Hamm
vorliegt2, konnten alle Beteiligten als Ergebnis festhalten, dass der
Katalog der stationären Leistungstypen der Hilfe gemäß § 72 BSHG
in der Lage ist, die Hilfelandschaft vollständig abzubilden.
Zwischen Mai und September 1999 hat eine kleine Arbeitsgruppe
besetzt mit
• Herrn Johannes Lippert, Landschaftsverband Westfalen-Lippe
• Frau de Clercq, Landschaftsverband Rheinland
• Herrn Andreas Sellner, Diözesan-Caritasverband Köln
• Herrn Jan Orlt, Diakonisches Werk Westfalen/Westfälischer
Herbergsverband e.V.
die Leistungstypen gemäß den Verabredungen der B1 Gruppe mit
der Beschreibung der Bereiche „Art und Umfang“, „Qualitätsanforderungen“ und „personelle und sachliche Ausstattung“ fertiggestellt.
Zum Katalog insgesamt haben sich als Konsequenz aus dem
Pre-Test noch zwei grundlegende Änderungen ergeben:
• Es wurde auf einen Leistungstyp (30) „Integrationshilfe mit
Tagesstrukturierung“ zugunsten einer ergänzenden Formulierung
im Leistungstyp 26 „Hilfe zur Arbeit“ verzichtet.
• Die Leistungstypen für Menschen in besonderen sozialen
Schwierigkeiten mit einer Suchtproblematik und für Menschen in
besonderen sozialen Schwierigkeiten mit psychischen Beeinträchtigungen wurden in einen Leistungstyp zusammengefasst.
Für die Leistungstypen der Hilfe nach § 72 BSHG können Merkmale
beschrieben werden, die allen Leistungstypen immanent sind. Die
Leistungstypen unterscheiden sich über dieses „Grundsetting“
hinaus in ihren spezifischen Ausrichtungen und Ausprägungen.
Anders als vom Westfälischen Herbergsverband e.V. vorgeschlagen,
wurden diese Merkmale für den jetzt gültigen Stand der Beratungen
aus den einzelnen Leistungstypen herausgelöst und in so genannten
„Vorbemerkungen“, die für alle Leistungstypen gültig sind, dem
Katalog vorangestellt.
Zur Frage der Berücksichtigung besonderer Leistungen für Frauen
wurde in den Verhandlungen vereinbart, in allen Leistungstypen in der
Zeile „Modifikation“ den Hinweis „spezielle Angebote für schwangere
und allein erziehende Frauen“ aufzunehmen (dies gilt nicht für den
Leistungstyp 26).
Nach Rückkoppelung der Beratungsergebnisse mit den Mitgliedsverbänden hat die Arbeitsgruppe am 01. Oktober 1999 der B1-Gruppe
ihre Ergebnisse zur abschließenden Beratung und Beschlussfassung
vorgelegt.
Der nächste Schritt im Umgang mit den Leistungstypen der stationären Hilfe gemäß § 72 BSHG sieht vor, die qualitative Beschreibung
zu quantifizieren, d.h. im Ergebnis festzulegen, wie viel Personal für
die Erbringung der Leistungen notwendig ist.
In 1999 gab es erste Modelle zur Berechnung von Personalschlüsseln und damit von Maßnahmepauschalen, die sich jedoch für die
Praxis als nicht umsetzbar erwiesen haben.
Die Verhandlungen werden im Jahr 2000 vermutlich bis zum Jahresende andauern.
Festschrift Medizinische Versorgung
Fußnoten
1 vergl. „Katalog der Leistungstypen der Hilfe für Menschen in besonderen
sozialen Schwierigkeiten gemäß § 72 BSHG“, WHV, 1998
2 vergl. „Der Pre-Test – Ergebnisse und Bewertung“, WHV, Mai 1999
aus: Hilfe für Wohnungslose Menschen,
Westfälischer Herbergsverband e.V
Januar 2000, S. 2-5
Mehr Glück
Hätte meine Wiege
in einem Obdachlosenasyl gestanden,
gehörte ich heute wohl auch
zu den „Asozialen“.
Hätte ich meine Kindheit und Jugend
in Heimen verbracht,
wäre ich vermutlich auch
auf die schiefe Bahn geraten.
Wäre ich im „Milieu“ aufgewachsen,
hätte ich wahrscheinlich auch
eine kriminelle „Karriere“ gemacht.
Es ist nicht mein Verdienst, dass ich
Ein „anständiger“ Mensch geworden bin.
Ich hatte mehr Glück oder weniger Pech
im Leben gehabt als andere,
über die ich den Stab breche.
Christian Kipping
39
Medizinische Versorgung
wohnungsloser und
von Armut betroffener
Menschen
Wohnungslose und von Armut betroffene Menschen gehen
nicht zum Arzt oder werden nicht behandelt oder haben kein
Geld für eine Behandlung. Ende der 1990er Jahre machte sich
vor allem die Wohnungslosenhilfe in ganz Deutschland auf
den Weg, diesem Notstand durch aufsuchende medizinische
Projekte abzuhelfen und den Anschluss der Klienten an die
Regelversorgung zu versuchen. Es ist bis heute ein Dauer­
thema der Wohnungslosenhilfe.
Ausgangssituation
Studien haben belegen können, dass alleinstehende wohnungslose
Menschen in weitaus höherem Maße als andere Personen der
Bevölkerung von körperlichen wie auch psychischen Erkrankungen
betroffen sind (so Locher 1990; Eikelmann, et al. 1992; Trabert 1994;
Podschus & Dufeu 1995; Fichter, et al. 1996; Becker, et al. 1999). Die
Ursachen dafür liegen in den Lebensbedingungen, denen die
wohnungslosen Menschen in der Wohnungslosigkeit ausgesetzt sind,
in Erkrankungen, die sie vor ihrem Wohnungsverlust erlitten haben, in
der gesundheitlichen Selbsteinschätzung der wohnungslosen
Menschen und in strukturellen Zugangsbarrieren zum etablierten
medizinischen Versorgungssystem (Kunstmann, et al. 1996).
Schwierigkeiten bei der Sicherstellung einer adäquaten medizinischen Versorgung wohnungsloser Menschen haben sich in der
Vergangenheit vor allem aufgrund der schlechten Erreichbarkeit und
der unzureichenden Therapiermöglichkeiten unter den Lebensbedin-
40
125 Jahre Westfälischer Herbergsverband Medizinische Versorgung
Festschrift Medizinische Versorgung
40
gungen einer fehlenden Wohnung als Rückzugs- und Schonraum
ergeben. Hinzu kommen begrenzte Möglichkeiten, wohnungslose
Menschen zu einer Behandlung zu motivieren sowie strukturelle
Probleme des Systems der kassenärztlichen Versorgung.
Dies belegt nachdrücklich auch der Abschlussbericht über die in
Bochum, Dortmund, Bielefeld und Münster von 1996 bis Ende 1997
durchgeführten Modellprojekte. „43,1 Prozent der Projektnutzer
hatten keinerlei ärztliche Versorgung. Bei der Hälfte dieser Gruppe
(20,2 Prozent aller Nutzer) war zudem der Krankenversicherungsschutz ungeklärt“ (Abschlußbericht des Modellprojektes Aufsuchende Gesundheitsfürsorge für Obdachlose, Kunstmann 1998, S.42).
Die Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe haben gem. § 72 Bundessozialhilfegesetz (BSHG) das Ziel, Menschen, bei denen besondere
Lebensverhältnisse mit sozialen Schwierigkeiten verbunden sind, die
Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen. Die hierfür
zur Verfügung stehenden Maßnahmen sind: Beratung und persönliche Betreuung, die Beschaffung und Erhaltung einer Wohnung, die
Beschaffung und Erhaltung einer Arbeits- oder Ausbildungsstelle
sowie Hilfen zur Begegnung und Gestaltung der Freizeit (§ 72 BSHG
und Durchführungsverordnung zu § 72 BSHG).
Dauerhafte körperliche, psychische und soziale Gesundheit setzt in
erster Linie den Schutz durch eine Wohnung und materielle Existenzsicherung sowie die Entwicklung von Lebensperspektiven voraus.
Diesen Aspekten wird deshalb in der Beratungs- und Betreuungsarbeit wohnungsloser Menschen eine sehr hohe Priorität beigemessen.
Daneben ist es auch erforderlich, Hilfen zur Bewältigung akuter
gesundheitlicher Problemlagen sicherzustellen. Entsprechend dem
gesetzlichen Auftrag, „auf die Inanspruchnahme der für [den
Hilfeempfänger] in Betracht kommenden Sozialleistungen hinzuwirken“ (§ 7 Durchführungsverordnung zu § 72 BSHG), versuchen die
Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe wohnungslose Menschen
Festschrift Medizinische Vesorgung
auch im Hinblick auf die medizinische, gesundheitliche Versorgung
zu aktivieren. Sie arbeiten dazu mit niedergelassenen Ärzten,
Selbsthilfegruppen und mit Kliniken der Regelversorgung zusammen.
An vielen Orten versuchen multiprofessionelle Teams, überwiegend
durch aufsuchende Hilfe die gesundheitliche Versorgung vor allem für
wohnungslose Menschen zu verbessern. Die medizinische Erst- und
Grundversorgung geschieht dabei ohne Vorbedingungen auch bei
unklarem Versicherungsstatus.
Diese Angebote finanzieren sich zum Teil im System der kassenärztlichen Versorgung über so genannte Ausnahmeermächtigungen.
Darüber hinaus sind häufig weitere Finanzierungswege, z.B. über
Spendenmittel, zur Aufrechterhaltung der Arbeit notwendig.
Wir stellen fest,
•
•
•
dass sich die Diskussion in der Fachöffentlichkeit in einem
Spannungsfeld zwischen folgenden Aussagen und Positionen
bewegt.
Das System der kassenärztlichen Versorgung ist funktionsfähig
und für den Personenkreis wohnungsloser Menschen leistungsfähig. Es muss daher Ziel aller Anstrengungen sein, die Betroffenen zur Nutzung des Regelsystems zu motivieren.
Das System der kassenärztlichen Versorgung kann keine
angemessene medizinische Versorgung wohnungsloser
Menschen sicherstellen. Es muss daher Ziel sein, eine ergänzende Versorgung zu etablieren und eine eigene medizinische
Zusatzqualifikation zu entwickeln.Dieses Spannungsfeld wird mit
örtlich unterschiedlichen Polarisierungen in allen Diskussionen
um die Frage der medizinischen Versorgung wohnungsloser
Menschen deutlich.
Konsens besteht in den Diskussionen in der Feststellung, dass es an
der Schnittstelle zwischen dem „Leben in besonderen Lebensverhältnissen“ (Leben auf der Straße, Leben in Armut) und dem System der
41
kassenärztlichen Versorgung einen Bruch gibt, der die medizinische
Versorgung des Personenkreises erschwert wenn nicht gar verhindert.
Betroffen sind auch Menschen, die zwar eine Wohnung haben, aber
aufgrund besonderer Lebensverhältnisse, verbunden mit sozialen
Schwierigkeiten bisher keinen Zugang zum System der kassenärztlichen Versorgung finden bzw. mit den gleichen Schwierigkeiten
kämpfen wie wohnungslose Menschen.
Die Postition des Westfälischen Herbergsverbandes e.V.
Die besondere gesundheitliche Situation wohnungsloser Menschen
muss stärker als bisher beachtet werden.
Die Sicherstellung der medizinischen Versorgung wohnungsloser
Menschen ist vorrangig in den bestehenden Hilfesystemen weiter zu
entwickeln.
Dies sollte in der Ausgestaltung einer in Ansätzen schon vorhandenen engen Kooperation der bestehenden Hilfesysteme „Kassenärztliche Versorgung“ und „Wohnungslosenhilfe“ geschehen.
Aus: Medizinische Versorgung
wohnungsloser und von Armut
betroffener Menschen –
Positionspapier des WHV
Hrsg.: Westfälischer Herbergsverband e.V.,
Jan Orlt
Münster, Juli 2000
42
125 Jahre Westfälischer Herbergsverband Fundraising Konzepte
Fundraising-Konzepte
für das Projekt „Aufsuchende
Hilfen zur Krankenpflege“
des Diakonischen Werkes
Dortmund
1. Ausgangslage
Das ehemalige Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des
Landes Nordrhein-Westfalen (MAGS) hat im November 1996 das
Förderkonzept „Beispielhafte Hilfen zur dauerhaften Wohnraumversorgung für Wohnungsnotfälle“ verabschiedet.
Die Landesregierung hatte es sich dabei zur Aufgabe gemacht,
gemeinsam mit den Gemeinden, den Trägern der Freien Wohlfahrtspflege und anderen Initiativen nach Wegen zu suchen, bestehende
Möglichkeiten der Prävention offensiv zu nutzen, um Wohnungsnotfälle zu vermeiden.
Für einen befristeten Zeitraum von zwei bis drei Jahren und mit
einem finanziellem Förderungsbetrag von 80 Prozent bzw. 70 Prozent
der anerkannten Personalkosten und zehn Prozent der anerkannten
Sachkosten wurden jeweils unterschiedliche „Bausteine“ (nicht alle
Bausteine enthielten eine Sachkostenpauschale) zu folgenden drei
Schwerpunkten gefördert.
1. Stärkung der Prävention zur Vermeidung von Wohnungsnot­
fällen
2. Maßnahmen sozialer Wohnprojekte für Wohnungsnotfälle
3. Entwicklung aufsuchender Beratungs- und Hilfeangebote für
Wohnungsnotfälle.
Für die externe Projektbegleitung des Förderkonzeptes hatte das
Land NRW im November 1996 im Institut für Landes­und Stadtent-
wicklungsforschung (ILS) in Dortmund die Programmgeschäftsstelle
„Wohnraumversorgung für Wohnungsnotfälle“ eingerichtet, die über
Bewilligung oder Ablehnung der gestellten Projektanträge entschied,
darüber hinaus aber auch die potenziellen Antragsteller im Vorfeld
beriet.
Das Diakonische Werk Dortmund bekundete von Anfang an großes
Interesse an dem Förderkonzept und erhielt nach Antragstellung die
Bewilligung für folgende zwei Projekte:
1. Projekt „Aufsuchende Beratung“
2. Projekt „Aufsuchende Hilfen zur Krankenpflege“
Die Notwendigkeit zur Entwicklung und Umsetzung von FundraisingKonzepten ergab sich für beide Projekte in Anbetracht der Teilfinanzierung durch das Land NRW von selbst.
Die zusätzlich zu erbringenden finanziellen Mittel für Personal- und
Sachkosten konnten darüberhinaus wegen der angespannten
Haushaltslage vom Diakonischen Werk Dortmund als Maßnahmeträger aus Eigenmitteln nicht aufgebracht werden und mussten deshalb
zusätzlich akquiriert werden.
Exemplarisch dazu werden im Folgenden vier Fundraisung-Konzepte
für das Projekt „Aufsuchende Hilfen zur Krankenpflege“ dargestellt.
Für dieses Projekt wurden 80 Prozent der Personalkosten für eine
Krankenpflegekraft vom Land NRW übernommen, eine Sachkostenpauschale war nicht ausgewiesen.
Mit der systematischen Einwerbung von zusätzlichen Spendenmitteln
für ein zeitlich befristetes Projekt war folgerichtig der Auftrag
impliziert, mit einer glaubhaften Außendarstellung des Projektanliegens nicht nur potenzielle Geld- und Sachspenden kurzfristig zu
gewinnen, sondern sie nach Möglichkeit dauerhaft von der Projekt­
idee zu überzeugen und zu binden.
Festschrift Fundraising Konzepte
Fundraising ist insofern im höchsten Maße Beziehungsarbeit zu
potenziellen Spendern und zu Multiplikatoren des Projektanliegens.
Der regelmäßige Kontakt zur regionalen Presse ist dabei von
besonderer Bedeutung, denn nur mit ihrer Unterstützung gelingt es,
den Bekanntheitsgrad eines besonderen Anliegens zu erhöhen.
Das Projekt „Aufsuchende Hilfen zur Krankenpflege“ wurde im April
1998 in einer Pressekonferenz vorgestellt. Der erste Umsetzungsschritt für ein Fundraising-Konzept war damit realisiert. Das Projekt
wurde einer breiten Öffentlichkeit bekannt gemacht. Weitere Umsetzungsschritte auf unterschiedlichen Ebenen sollten folgen.
2. Mitteleinwerbung über Kirchengemeinden
Fundraising bezeichnet (...) zusammenfassend alle Aktivitäten, die
sich auf die Beschaffung von Ressourcen (Zeit, Geld. Sachmittel) für
einen bestimmten Zweck richten.“1
Bei der ersten systematischen Umsetzung eines Fundraising-Konzeptes galt der Blick zunächst „den eigenen Reihen“, d.h. vor allem
den kirchengemeindlichen Ressourcen, und zwar aus folgenden
Gründen:
1. Das Diakonische Werk Dortmund hat mit seinen vielfältigen
sozialen Dienstleistungsangeboten in den Kirchengemeinden
einen guten Ruf.
2. Die krankenpflegerische Hilfe für obdachlose Menschen ist
kein abstraktes Konzept, sondern sichtbarer Ausdruck
konkreter diakonischer Hilfe für die Ärmsten der Armen.
3. Diese Projektbotschaft ist für den potenziellen Spender
nachvollziehbar.
Persönliche Betroffenheit und das Ge­fühl, obdachlosen Menschen
helfen zu wollen, sind für viele Gemeindeglieder die emotionalen
Motive zum Spenden. Geben (Spenden) und Nehmen (immaterielle
Gründe) stehen im Einklang.
43
Fundraising ist Beziehungsarbeit, ein ständiger kommunikativer
Austauschprozess zwischen Fundraiser und Spender. Methodisch
wurde dieser Austauschprozess in den Kirchengemeinden in Form
von Vorträgen in unterschiedlichen Arbeitskreisen umgesetzt.
Daneben wurden einige ausgewählte Kirchengemeinden schriftlich
über das Projekt informiert mit dem Angebot, das Projekt durch die
Projektmitarbeiter in den jeweiligen kirchlichen Arbeitskreisen
vorzustellen.
Die Resonanz auf die erbrachten Fundraisingaktivitäten in den
Kirchengemeinden war beachtlich: Bis August 2000 wurden Beträge
in fünfstelliger Höhe gespendet.
Es handelt sich dabei um
• Direktspenden einzelner Kirchengemeinden,
• Einzelspenden, darunter von einem Ehepaar, das anlässlich
seiner Geburtstage auf Präsente zugunsten des Projektes
verzichtete.
Die Wertschätzung und Anerkennung für die vom Spender erbrachte
Leistung gebietet sich im Rahmen von Fundraisingaktivitäten von
selbst; wiederholt muss sich der Fundraiser bei den Spendern dafür
schriftlich oder mündlich bedanken.
3. Mitteleinwerbung über Haussammlungen
Mit dem Projekt „Aufsuchende Hilfen zur Krankenpflege“ für obdachlose Menschen bietet das Diakonische Werk Dortmund eine Leistung
an, die mit ihrem modellhaften Charakter in der Landeskirche von
Westfalen einzigartig ist. Diese Leistung sollte weiterhin öffentlichkeitswirksam präsentiert werden in der berechtigten Hoffnung, dass
sie entsprechend honoriert werde.
44
125 Jahre Westfälischer Herbergsverband Fundraising Konzepte
Fundraising bedeutet in diesem Zusammenhang nicht nur das
Einwerben von mildtätigen Spenden für irgendeinen Zweck, sondern
für eine besondere konkrete Leistung, deren Wert und Nutzen sich
das Diakonische Werk Dortmund als Leistungsanbieter bewusst ist.
Einzelspenden für die Wohnungslosenhilfe des Diakonischen Werkes
Dortmund in 1999.
Unter dem Motto „Stark für Schwache“ begann am 14. November
1998 in Dortmund und Lünen die Adventssammlung 1998. Die
Adventssammlung ist eine Haussammlung, bei der ehrenamtliche
Mitarbeiter im direkten Gesprächskontakt an der Haustür bei dem
Spender für einen guten Zweck werben. Die eingehenden Spendenbeträge werden nach einem bestimmten Verteilerschlüssel zwischen
örtlichen Kirchengemeinden, örtlicher Diakonie und dem Diakonischen Werk von Westfalen aufgeteilt. Den guten Zweck präsentierte
die Diakonie in einem besonderen Fallblatt.
Die erfolgversprechendste Fundraising-Aktivität ist die dauerhafte
Gewinnung von Geld-, Sach- und Zeitspendern für die eigene
Organisation. Sie ist dann erreicht, wenn aus einem anfänglich
interessierten Sympathisanten für die eigene Organisation ein
Anhänger und Förderer wird, der sich in letzter Konsequenz mit den
Zielen der Organisation identifiziert und sich aktiv an der Umsetzung
partieller Organisationsziele beteiligt. Dieses auch Relationship-Fundraising2 bezeichnete Tun ist aber nur unter zwei wesentlichen
Voraussetzungen realisierbar:
• Es muss ein permanenter Dialog zwischen werbender Organisation und potenziellem Spender in Gang gesetzt werden und
aufrechterhalten bleiben.
• Es muss der werbenden Organisation gelingen, dem potenziellen Spender einen emotionalen Bezug zu der Organisation zu
vermitteln.
Als ein effektives Leistungsangebot wurden exemplarisch die Hilfen
für wohnungslose Menschen benannt. Das Projekt „Aufsuchende
Hilfen zur Krankenpflege“ wurde dabei besonders hervorgehoben.
Das selbstbewusste Auftreten der „Diakonie“ in der Öffentlichkeit
(„Stark für Schwache“) führte zu einem beachtlichen Ergebniserlös
und wurde anteilmäßig dem Haushaltsbereich der Wohnungslosenhilfe des Diakonischen Werkes Dortmund (ZBS) zugeordnet.
4. Fundraising als kommunikativer Prozess, dargestellt am
Beispiel eines Dortmunder Lions Club
Mit der Umsetzung des Fundraising-Konzeptes „Haussammlung“ ist
es dem Diakonischen Werk Dortmund als NP(Non Profit)-Organisation in besonderer Weise gelungen, auf Einmaligkeit, Qualität und
Nutzen eines speziellen Dienstleistungsangebotes (Wohnungslosenhilfe) öffentlichkeitswirksam hinzuweisen.
Auf der Grundlage der AIDA-Formel dazu folgendes gelungene
Beispiel für das Projekt „Aufsuchende Hilfen zur Krankenpflege“ des
Diakonischen Werkes Dortmund:
Durch die Berichterstattung über das Projekt in der örtlichen Presse
aufmerksam geworden, lud ein Dortmunder Lions Club im November
1998 die Geschäftsführerin des Diakonischen Werkes Dortmund zu
einem Vortrag über das Projekt ein (Attention).
Die Methoden der persönlichen Ansprache vor der Haustür sowie die
sachliche Information via Faltblatt waren ein Marketing-Mix, der zu
einer erfolgreichen Spendenakquisition führte und bei vielen Spendern das Gefühl vermittelt hatte, in eine lohnenswerte Sache
investiert zu haben oder in Zukunft investieren zu wollen. Möglicherweise ist ein Indiz das im Vergleich zu 1998 erhöhte Aufkommen von
Im Vorfeld dieses Vortrages wurden der Geschäftsführerin zwei
Praxisbeispiele geschildert, die die Projektmitarbeiterin am Vortag
unter tragischen Begleitumständen erlebt hatte. Diese zwei Fallbeispiele trug die Geschäftsführerin den Lions-Clubmitgliedern vor.
Bewusst hat sie es dabei vermieden, das Konzept des Projektes in
seinen Einzelheiten theoretisch zu erläutern, denn die Benennung
Festschrift Fundraising Konzepte
konkreter Fallbeispiele wirkt auf den potenziellen Spender überzeugender als die bloße theoretische Darstellung eines spezifischen, für
den möglichen Spender kaum nachvollziehbaren Sachverhaltes
(Interest). 14 Tage später informierte sich das für die Öffentlichkeitsarbeit des Lions Club zuständige Mitglied vor Ort über die Hilfeangebote des Diakonischen Werkes Dortmund für Wohnungslose. Bei
dieser Gelegenheit teilte er mit, dass die Mitglieder des Lions Club
sich für eine aktive Unterstützung und finanzielle Förderung des
Projektes entschieden hätten (Desire).
Das Diakonische Werk Dortmund hatte mit dem Lions Club einen
aktiven Unterstützer, Freund und Partner der eigenen Organisation
gewonnen.
Das weitere interaktive Geschehen zwischen dem Lions Club und
dem Diakonischen Werk Dortmund ist an dieser Stelle nur kurz
skizziert (Action):
1. Benefizkonzert des Lions Club am 04.03.1999 zu Gunsten des
Projektes „Aufsuchende Hilfen zur Krankenpflege“
2. Presseerklärung des Lions Club über die Unterstützung des
Projektes am 19.04.1999
3. Visitationen von Lions Clubmitgliedern in den Einrichtungen
der Wohnungslosenhilfe des Diakonischen Werkes Dortmund
im Mai und September 1999
4. Zweites Benefizkonzert des Lions Club zu Gunsten des
Projektes am 27.02.2000
5. Zusage des Lions Club, bei der großen Benefizgala aller
Dortmunder Lions Clubs in der Spielbank Dortmund-Hohensyburg am 24.11.2000 für das Projekt zu sammeln.
6. Dankesschreiben, ständiger Informationsaustausch untereinander (Relationship-Fundraising)
45
5. Door-Opening-Versuche für Social-Sponsoring
Das Projekt „Aufsuchende Hilfen zur Krankenpflege“ endet zum
31.03.2001. Wegen seiner guten Akzeptanz bei wohnungslosen
Menschen und der von einer breiten Öffentlichkeit erfahrenen
Wertschätzung und Unterstützung soll das Projekt nach dem Willen
der Geschäftsführung des Diakonischen Werkes Dortmund nach
Projektende fortgeführt werden. Gegenwärtig werden dazu unterschiedliche Überlegungen angestellt. Die Gründung eines eingetragenen Vereins als neuer Maßnahmeträger ist angedacht, für den das
Land NRW bereits eine weitere dreijährige Teilfinanzierung in Aussicht
geteilt hat.
Eine Alternative dazu ist eine zeitlich befristete Finanzierung der
Arbeit der „Aufsuchenden Hilfen zur Krankenpflege“ über SocialSponsoring. Damit ist jedoch ein Finanzierungsfeld angesprochen,
auf dem das Diakonische Werk Dortmund über unzureichende
Erfahrung verfügt.
Nach Bruhn ist Sponsoring „die gezielte Bereitstellung von Geldund/oder Sach- und/oder Dienstleistungen für Einzelpersonen,
Organisationen, Veranstaltungen oder sonstige Projekte zur Erreichung autonomer Ziele“.3 Im Gegensatz zu Spenden, die in der Regel
altruistisch erfolgen, ist Sponsoring ein Geschäft, das gekennzeichnet ist durch Leistung und Gegenleistung und das vertraglich
geregelt ist.
Durch Sponsoring erwartet ein Unternehmen in erster Linie einen
Imagegewinn für sich, d.h. der gute Ruf, der einer sozialen Organisation oder einem speziellen sozialen Projekt dieser Organisation
vorauseilt, soll für das Unternehmen im Rahmen eines Imagetransfers
Nutz- und Gewinnbringend umgesetzt werden. Im Umkehrschluss
bedeutet dies aber auch, dass nicht jedes beliebige Projekt von
Unternehmen gefördert wird, sondern nur solche, die klar und
eindeutig konzipiert, innovativ und öffentlichkeitswirksam sind, für die
46
125 Jahre Westfälischer Herbergsverband Fundraising Konzepte
es sich unternehmerisch rentiert, eine Geld-, Sach- oder Zeitspende
zu investieren.
Das Projekt „Aufsuchende Hilfen zur Krankenpflege“ kann die
beschriebenen Merkmale und damit die Voraussetzungen für eine
mögliche gezielte Unternehmensförderung aufweisen. Das Diakonische Werk Dortmund als Maßnahmeträger für das Projekt „Aufsuchende Hilfen zur Kranken­pflege“ hat regional einen guten Ruf und
gilt zudem als seriöser Vertragspartner, eine notwendige Voraussetzung für Social-Sponsoring.
Bei der Suche nach einem potenziellen Sponsor mussten weitere drei
wesentliche Auswahlkriterien bedacht werden:
• Das zu fördernde Projekt muss mit der Unternehmensphilosophie des Sponsors übereinstimmen, es muss zur Imageverbesserung des Unternehmens beitragen.
• Unternehmen und Diakonisches Werk Dortmund müssen als
Vertragspartner zueinander passen.
• Es sollte ein regionales Unternehmen sein, denn die meisten
Unternehmen legen großen Wert darauf, in ihrer Stadt, in ihrer
Region in einen guten Zweck zu investieren.
Das Diakonische Werk Dortmund hat sich für eine Kontaktaufnahme
mit einem Versicherungsunternehmen entschieden, und zwar aus
folgenden Gründen:
• Ein expandierendes Unternehmen, das wohlhabenderen
Bevölkerungsschichten mit seiner Angebotspalette u.a. privaten
Krankenversicherungsschutz anbietet, könnte mit einem
medienwirksamen sozialen Engagement für eine völlig konträre
Zielgruppe (Wohnungslose) einen Imagegewinn erzielen.
• Eine Zusammenarbeit zwischen dem Diakonischen Werk
Dortmund und dem Versicherungsunternehmen ist grundsätzlich
vorstellbar.
• Der regionale Bezug ist gewährleistet.
Zunächst musste jedoch eine Door­-Opening-Möglichkeit gefunden
werden, eine Aufgabe, die sich in der Kontaktanbahnungsphase zu
Unternehmen als die schwierigste Aufgabe erweist.
Diese Möglichkeit konnte umgesetzt werden. Eine Projektskizze und
ein persönliches Anschreiben des Door-Opener wurden zunächst
informell an den Vorstand des Unternehmens weitergeleitet.
Die unternehmerische Entscheidung für eine finanzielle Unterstützung
des Projektes „Aufsuchende Hilfen zur Krankenpflege“ steht
gegenwärtig noch aus.
Die Geschäftsführung des Diakonischen Werkes Dortmund hat noch
keinen offiziellen Kontakt zu der Versicherungsgruppe aufgenommen
und will das Ergebnis des informellen Bemühens abwarten.
6. Schlussfolgerungen
Fundraising ist kein Zauberwort, sondern ein Marketing-Instrument,
das zunehmend an Bedeutung gewinnt.
Fundraising bietet vor allem jenen NP-Organisationen die Chance
einer zusätzlichen Akquisition von Geld-, Sach- und Zeitspenden, die
sich des Wertes und Nutzens ihrer Dienstleistungsangebote bewusst
sind und gleichzeitig bereit sind, durch eine überzeugende Außendarstellung neue Menschen als Freunde und Förderer für diese Dienst­
leistungsangebote dauerhaft zu gewinnen.
Erfolgreiches Fundraising setzt einen ständigen lebendigen Dialog
zwischen werbender Organisation und potenziellem Spender voraus
und fordert dabei insbesondere vom Fundraiser ein hohes Maß an
ausdauernder Kommunikationsbereitschaft und -fähigkeit.
Fundraising ist methodisch vielfältig und zeitintensiv und kann nicht
nebenbei „erledigt“ werden.
Festschrift Fundraising Konzepte
Bei immer knapper werdenden öffentlichen Mitteln für soziale
Aufgaben erweist sich Fundraising jedoch, auch im Segment der
institutionellen Wohnungslosenhilfe, als nützlicher und zusätzlicher
Impulsgeber für künftige Herausforderungen.
Fußnoten
1 T. Weiler: „Praxis Fundraising“, Lemmer-Verlag, 1998, S. 147
2 Vgl. A. Scheibe-Jaeger: „Finanzierungshandbuch für Non-Profit-Organisationen“, Walhalla-Verlag 1998, S. 116
3 Zitiert aus: S. Hatscher: „Kollekten, Spenden, Sponsoring“, Quell-Verlag,
Stuttgart, 1998, S.28
Klaus Schröder
aus: wohnungslos, 42. Jg.,
4/2000, S. 149-152
47
48
125 Jahre Westfälischer Herbergsverband Zehn Jahre Arbeitsgelegenheiten
Zehn Jahre
Arbeitsgelegenheiten
dann kommen Sie mal näher!! Ich erzähl Ihnen in der Zwischenzeit
ein bisschen von mir und dann von dem, was ich hier tue.
„Pantoffelwerkstätten“ hießen die kleinen Werkräume in den
stationären Einrichtungen, weil die Klienten dort in ihren
Pantoffeln hingehen konnten. Die Angebote halfen den Tag zu
verkürzen – Arbeit finden konnten die Männer (und wenige
Frauen) damit nicht.
Dass sollte sich 1990 mit der Entwicklung und Umsetzung
des Konzeptes der Arbeitsgelegenheiten gänzlich und bis
heute erfolgreich ändern…
Ich bin über fünfzig Jahre alt, ledig weil geschieden, habe den
Hauptschulabschluss, hatte eine Lehre angefangen, bin dann aber
Arbeiter geworden. In einer Einrichtung befinde ich mich zum fünften
Mal, lebe jetzt hier in einem Doppelzimmer, das Bad ist über den Flur.
Ich bin seit mehr als vier Jahren arbeitslos und gehöre zu den
Superlangzeitarbeitslosen. In diese Werkstatt gehe ich ganz gern, sie
ist ja nicht weit von meinem Zimmer entfernt. Deshalb muss ich auch
nicht viel mitnehmen. Das sehen sie ja!
Ausstattungs-Checkliste:
Arbeitsplatz E-Hof 1988: Küchentisch, Küchenstuhl mit Schaumstoffunterlage, Wachmaschinenmotor, Schraubenzieher, Fußschalter
von Nähmaschine, Lüsterklemmen, Hintergrund: Alte Badezimmerlampe
Der Heimleiter hatte mir gesagt, ich solle hier erst mal arbeiten, er
würde mich dann immer mal woanders einsetzen.
Persönliche Ausstattung:
Parallello
Braun-gelb karierte Hausschuhe
Plastiktüte mit Thermoskanne, Aschenbecher, Bildzeitung
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
lieber Herr Lippert,
lieber Herr Pastor Ruschke,
lieber Andreas Hutter,
liebe Sabine Riddermann,
im Rahmen unseres heutigen Festprogramms habe ich die Aufgabe
übernommen, zurückzuschauen. Retro ist heute wieder absolut
modern. Mein Name ist Horst Fleißig, ich freue mich, dass Sie sich
für meine Arbeit und meinen Arbeitsplatz interessieren. Ich habe allerdings nicht mit so vielen gerechnet, heute im November 1989. Na,
Hier gibt es einen Werkstattleiter, den kenne ich aber auch ganz gut,
weil der an den Wochenenden Wochenenddienst hat oder auch
Hausmeisterdienste im Heim drüben verrichtet.
Hier in der Werkstatt geht es ganz piano zu: Wir sind 48 Personen
und kennen uns ja alle aus dem Heim, darunter sind auch einige
Rentner. Die sagen immer, mit den Rentnern könnteste was tun, weil
die regelmäßig kommen und die Arbeit ohne zu murren erledigen. Ist
schon klar: Unsereins muss mal zur Bewährungshilfe, zum Wohnungsamt, zum Arbeitsamt dauernd, bist eigentlich ständig auf
Achse. Trotzdem arbeiten wir hier 40 Stunden in der Woche. Ich
mach zurzeit diese Lüsterklemmen für die Lampenindustrie. Dann
machen wir noch Möbelleuchten, Fahrzeugleuchten, verpacken
Plastikspielzeug, bauen Fahrradklingeln zusammen, alles was so
kommt. Ziemlich einfache Arbeit und immer gleich ein paar tausend
Stück, eigentlich ziemlich stupide.
Manchmal, wenn ich mich am Tag hier so richtig eingearbeitet habe,
kommt die Hausmutter und holt mich in die Küche, weil schnell
Kartoffeln geschält oder Gemüse geputzt werden muss, damit
Festschrift Zehn Jahre Arbeitsgelegenheiten
mittags etwas auf den Tisch kommt. Der Werkstattleiter hat das nicht
gern, weil er dann nicht weiß, wie er die angenommene Arbeit zeitlich
und von der Menge her schaffen soll. Aber so ist das. Die Hausmutter ist ja die Frau vom Chef.
Was fragst du, ob man hier auch schwänzen kann? Man, dann
kommt gleich der Heimleiter an. Hier ist Arbeitspflicht, sagt der
immer, das war schon unter Bodelschwingh so, wer nicht arbeitet,
der soll auch nicht essen! Also, hier läuft alles über Arbeit. Sonst
kämen die da drüben auch gar nicht klar. Was soll man denn auch
machen den ganzen Tag, da fangen viele an zu saufen.
Die helfen dir hier auch, dass du wieder eine Arbeitsstelle findest,
aber mit der Adresse, bei so vielen Arbeitslosen und wenn man dich
dann fragt, was du gearbeitet hast, dann kannst nur sagen Behindertenarbeit. Ich glaube, da läuft nicht mehr viel.
Also, weil ich zu lange in Einrichtungen dieser Art gelebt habe, gibt‘s
später eine schmale Rente, ich hab zu wenig geklebt. Wie bitte, Sie
fragen mich nach meinem Verdienst? Das mag ich gar nicht laut
sagen. Hier verdient man bei 40 Stunden in der Woche bis zu
127,-- im Monat, natürlich ohne Sozialversicherung. Die rechnen das
immer genau so aus, dass man keinen Aufwendungsersatz zahlen
muss. Also keinen Beitrag aus seinem Einkommen an den Kosten der
materiellen Hilfe. So heißt das wohl. Und wenn du sie fragst, wo denn
das ganze schöne Geld bleibt, das wir erwirtschaften, dann gibt es
immer die gleiche Antwort: 70 Prozent der Nettoerlöse gehen an den
Landschaftsverband zurück, zur Minderung der Aufwendungen für
die stationäre Hilfe, also als Einnahmen im Pflegesatz. Der Rest wird
ausgezahlt, und dann kommt dabei nur eine Prämie herum. Da fragst
du dich doch, wer eigentlich ein Interesse an Erlösen hat oder an
einer guten Produktivität des Einzelnen.
Und so haben sie mir einmal erklärt:
Alle Werkstätten des Trägers haben insgesamt 1988 DM 830.191,--
49
Gesamterlösen erwirtschaftet, Sie haben davon 310.412,-- Aufwendungen abgezogen und nur 191.942 in Form von Prämien bezahlt.
Bei durchschnittlich 142 Werkstattplätzen macht das 112,64 monatlich im Durchschnitt. Daneben arbeiten aber noch über 100 Leute
täglich in den Hauswirtschaften. Die kriegen eine etwas höhere
Prämie oder mal ein Pack Tabak mehr oder eine Stück Plockwurst.
Dafür haben die keine Arbeitszeit und müssen oft auch sonntags
oder für Besuchergruppen parat sein. Eigentlich dachte ich immer,
das wäre Sozialhilfe. Insgesamt finde ich das weder sozial noch
eine besonders gute Hilfe.
Die haben aber versprochen, dass bald alles anders wird. Sie
nennen das die Neuorganisation der Arbeitsgelegenheiten.
Jacke ausziehen, Schuhe wechseln. Krawatte richten.
Horst Fleißig war der „Durchschnittsbefragte“ der Studie zur
Arbeitssituation in den v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel aus
dem Jahr 1988. Als Kritik an dem damaligen Hilfeverständnis und
gleichzeitig als Veränderungswünsche der Betroffenen werden hier
deutlich genannt:
• die fehlende Zielrichtung der Hilfe,
• die ungewöhnlichen, wirklichkeitsfernen Arbeitsbedingungen,
• die monotone Arbeit,
• die unzeitgemäße Geschäftsausstattung mit zum Teil zwar
kreativen aber unprofessionellen Vorrichtungen,
• der unabgesprochene Wechsel des Arbeitsortes,
• die Wahrnehmung von Arbeit als Zwang oder Strafe,
• die unüblichen, atypischen und völlig intransparente Entlohnung,
• die fehlenden Arbeitnehmer- und Versicherungsrechte,
• die mangelnde Arbeitssicherheit,
• die fehlende Perspektive,
• die fehlende Beteiligung an der Gestaltung,
50
125 Jahre Westfälischer Herbergsverband Zehn Jahre Arbeitsgelegenheiten
•
der fehlende Anreiz und die daraus resultierende geringe
Arbeitsmotivation,
und angesichts relativ großer Desillusionierung auch geringe
Ausstiegsmotivation,
vom System generierte Armseligkeit und damit auch in vielen
Fällen Maßnahmeabbrüche, weil sich die Menschen an anderen
Orten z.B. in Niedersachsen (Niedersächsischer Erlass Arbeit
seit 1985) eine Verbesserung ihrer Situation versprachen,
es besteht die Gefahr, dass der Imagevergleich mit Knastarbeit
Dequalifizierungsprozesse verstärkt.
•
•
•
So, meine Damen und Herren, was haben wir 1989 zusammen mit
dem Landschaftsverband Westfalen-Lippe, der ganz besonders mit
Herrn Lippert „Motor“ der Neuorganisation war, entwickelt. Ich nenne
Ihnen keine Zahlen, sondern nur grobe Entwicklungen.
Wesentliche Grundvoraussetzung war die Entwicklung und Verabredung einer Konzeption, mit der Hilfen zur Erlangung und Sicherung
eines Platzes im Arbeitsleben als Überschrift die Zielrichtung
angaben. Das Ziel ist die Integration auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt durch Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten, die
sich aus spezifischen Lebenslagen ergeben.
Insofern haben wir die Maßnahme in die Module „Orientierung“,
„Qualifizierung“ und „Betreute Arbeit“ unterteilt und konzeptionell
gefüllt. Wir haben uns damals auch leiten lassen von Entwicklungen
bei den modernen Maßnahmen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit
durch das Arbeitsamt.
Wichtiger Kernpunkt der Überlegungen war die Trennung der
Lebensbereiche Wohnen und Arbeiten und das Durchbrechen des
„Pantoffelwerkstattcharakters“. Mit der Organisationsform der
teilstationären Einrichtung wurden Investitionen möglich hinsichtlich
der grundsätzlichen Ausstattung der Arbeitsgelegenheiten mit
baulichen Ressourcen, Fahrzeugen, Maschinen, Werkzeugen etc. Der
Personalschlüssel ähnelte stark den damals gültigen Regelungen von
durch die Europäische Gemeinschaft kofinanzierten Maßnahmetypen. Damit waren Grundvoraussetzungen geschaffen, um eine
vernünftige, arbeitsmarktlich ausgerichtete Qualifizierungsarbeit neu
zu entwerfen.
Mit zusätzlichen Mitarbeitern entwickelte sich zunehmend eine
betriebswirtschaftliche Ausrichtung der Arbeit, es verbesserte sich
die Ertragssituation durch professionellere Arbeitsakquise und
Preisverhandlung mit potenziellen Auftraggebern, es entstanden
neben den klassischen Werkstattplätzen eine Vielzahl an Projekten
und kleineren befristeten Maßnahmen. Die Werkstatt ist heute
sozusagen Synonym für eine Vielzahl arbeitsmarktlich relevanter
Beschäftigungs- und Qualifizierungsmöglichkeiten, mit denen die
verzweifelte Monotonie der Beschäftigung früherer Jahre aufgehoben
werden konnte und unterschiedliche Arbeitsanforderungen in
differenzierten Tätigkeiten möglich wurden. Ich nenne Ihnen das
beachtliche Spektrum der in Westfalen-Lippe vorgehaltenen Qualifizierungsmaßnahmen: Fahrradstation, Stadtverschönerung, Möbelbörsen, Kunstschmiede, Polsterei, industrielle Montagearbeiten,
Verpackungen, grüne Dienstleistungen, Schlosserei, Tischlerei,
Polsterei, Erstellung von Häusern für und mit Obdachlosen und
Wohnungslosen, Garten- und Landschaftspflege, Baudienstleistungen, Malen und Tapezieren, Glas- und Gebäudereinigung,
Bewerbungstrainings, Bildungsangebote wie z.B. Computerkurse
etc.. Über die gängigen zusätzlichen Fördermöglichkeiten wie ABM,
Arbeit statt Sozialhilfe etc. konnten europäische Mittel aus den
Programmen Horizont, Integra und Cover eingeworben werden.
Diese neue Bewegung in der Wohnungslosenhilfe wurde unterstützt
durch die Freigabe der Erlöse zur Ausschüttung an die Wertschöpfer
unter Abzug der so genannten betriebsbedingten Aufwendungen.
Damit wurden die Erträge nicht mehr pauschal mit 70 Prozent an den
Festschrift Zehn Jahre Arbeitsgelegenheiten
Sozialhilfeträger zurückgeführt, sondern ausgeschüttet und dem
„normalen“ Aufwendungsersatz unterzogen. Mit dieser Änderung
verbesserte sich die Motivation der Maßnahmeteilnehmer und die
gesamte Produktivität.
Freilich: Die Zahlung von Tariflohn ist auch heute nur durch Kombination mit anderen Fördermittel z.B. des Arbeitsamtes oder aus dem
Förderkomplex der §§ 18 ff. BSHG möglich. Aber wir haben in
Westfalen-Lippe trotzdem ein sehr bedeutendes Ziel erreicht. Nach
Ablauf der Orientierung (im Regelfall nach drei Monaten) setzt die
Sozialversicherungspflicht ein! Der weitaus größte Teil der Betroffenen ist somit – wenn auch mit relativ kleinen Beiträgen – an das
Sozialversicherungssystem angeschlossen oder erwirbt bestimmte
Ansprüche gegenüber der Arbeitsverwaltung.
Für all diese positiven Entwicklungen mussten weitergehende
Rechtsklärungen erzielt werden, die wir gemeinsam zwischen dem
Landschaftsverband Westfalen-Lippe und dem Fachverband
herstellen mussten und zu einvernehmlichen Lösungen führen
konnten, z.B. steuerrechtliche Fragen, arbeitsförderungsrechtliche
Fragen und sozialversicherungsrechtliche Aspekte.
Hilfen zur Erlangung und Sicherung eines Platzes im Arbeitsleben
existieren in den Städten: Soest, Hamm, Paderborn, Lüdenscheid,
Gevelsberg, Herford, Siegen und Bielefeld mit insgesamt 525
teilstationären Plätzen. Daran beteiligt sind fünf Träger. Je nach der
Ausrichtung der Arbeitsmarktpolitik in den beteiligten Regionen ist es
unterschiedlich gelungen, die Arbeitsgelegenheiten als Bestandteil
der regionalen Arbeitsmarktpolitik zu integrieren. Aber immerhin
geschieht das an einigen Orten und führt zu der außerordentlich
sinnvollen Kombination von Mitteln des kommunalen Sozialhilfeträgers mit überörtlichen Mitteln, mit EG-Mitteln oder mit Mitteln der
beteiligten Arbeitsämter. Die Arbeitsgelegenheiten entwickeln sich zu­
nehmend zu Qualifizierungsträgern für in ganz besonderer Weise vom
51
Arbeitsmarkt ausgegrenzte Arbeitslose. Und so fällt die Zielgruppe
z.B. auch unter neue Finanzierungsmöglichkeiten des Europäischen
Strukturfonds, das so genannte Politikfeld B, mit dem Möglichkeiten
zur Vermeidung der Ausgrenzung vom Arbeitsmarkt mit finanziert
werden. Das beschreibe ich Ihnen, um Ihnen zu verdeutlichen,
welche Dynamik tatsächlich in den zehn Jahren, die hinter uns liegen,
in diesem Teil der Hilfen zur Überwindung besonderer sozialer
Schwierigkeiten eingetreten sind.
Meine Damen und Herren, in den Arbeitsprojekten wurde mit der
Trennung der Lebensbereiche Wohnen und Arbeiten auch begonnen,
die Menschen nicht in erster Linie als Wohnungslose zu betrachten,
sondern ihre Probleme und sozialen Schwierigkeiten als Auswirkung
von Langzeitarbeitslosigkeit zu begreifen und in die Hilfestrategien
einzubeziehen. Das ist eine fundamental andere Sichtweise, mit der
ich mir auch die grundsätzlich anderen Konflikte in Arbeitsgelegenheiten im Vergleich z.B. mit den Konflikten in stationären Einrichtungen erkläre. Dort bestehen häufig Beziehungskonflikte untereinander, aber auch zwischen Hilfeempfängern und Helfern. Es spielen
sich Übertragungsphänomene ab, bei denen frühere Muster z.B.
Vater/Kind-Rollen erneut eskalieren. Diese Phänomenen oder auch
Gewaltphänomene, aggressive Lebensäußerungen sind in den
Arbeitsgelegenheiten weitaus seltener. Dort geht es um Arbeit und
die muss bis zu einem bestimmten Liefertermin und in Zusammenarbeit erledigt werden. Der Konkretionsgrad des Alltages ist ein
anderer, es geht um Sachen, um erfolgsorientierte Zusammenarbeit,
um Termine, um Qualität, die Recht und Pflichten im Arbeitsleben
sind deutlicher zu vermitteln als die Funktionsweisen des grundsätzlichen Zusammenlebens. Notfalls gilt Arbeitsrecht. Repetitive
Tätigkeiten in stereotypen, notwendigen Abläufen können nicht der
Beliebigkeit des Handelns zugeordnet werden. Es geht also ferner
um Anleitung, die Steigerung der Flexibilität, das Akzeptieren von
Anweisungen, den richtigen Umgang mit dem Arbeitsmaterial, der
angemessenen Einteilung der eigenen Energie, die Verantwortung für
52
125 Jahre Westfälischer Herbergsverband Zehn Jahre Arbeitsgelegenheiten
den eigenen Arbeitsplatz und das ganze Gefüge, das Lernen,
Chancen am Arbeitsmarkt zu entdecken und wahrzunehmen. Es geht
um die Sicherung der Existenz.
Arbeit wohl eher akademisch. Es wird um neue Berufe in neuen
Branchen gehen und in neuen Konstellationen rechtlich, tarifrechtlich,
mediengesteuert etc.
Meine Damen und Herren, auch wenn es nicht immer so scheint,
noch immer basieren alle Systeme der sozialen Sicherung auf
Erwerbsarbeit. Wir bemühen uns sogar, das Ehrenamt mit einem
Punktesystem zu entgelten, um daraus die Vorzüge der aus Erwerbsarbeit resultierenden sozialen Sicherung zu erlangen. Also auch
Ehrenamt ist Arbeit. Ich persönlich glaube nicht an den Bedeutungsverlust der Arbeit.
Wir haben also guten Grund, uns nicht beirren zu lassen, und den
Menschen, die zu uns kommen, zu assistieren, wenn es Ihnen darum
geht, daran teilzuhaben. Mit den Hilfen zur Erlangung und Sicherung
eines Platzes im Arbeitsleben haben wir in Westfalen-Lippe neben
der ambulanten Hilfe und stationären Angeboten eine dritte Säule
geschaffen, um die man uns trotz aller wünschenswerten Veränderungen und Fortentwicklungen weithin beneidet.
Meine Damen und Herren, in der Diskussion um die Zukunft der
Arbeit haben wir nun zahlreiche Entwürfe. Ich nenne Ihnen plakativ
einige davon: Das Ende der Arbeit und ihre Zukunft, die Zukunft der
Arbeit liegt nicht im Beruf, die Tugend der Orientierungslosigkeit,
Faktor vier, die seelischen Kosten der Arbeit, die neue Bürgerarbeit,
die Krise der Arbeit, der Kampf um Lohn und Leistung wird auch
immer noch geführt und viele Metaphern mehr. Wir sprechen von
Patchwork-Karrieren, und Marx wird wieder bemüht: „...heute dies,
morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen,
abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich
gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu
werden…“, von der Verteilung der Arbeit, von 630,-­DM-Jobs,
Mac-Jobs, in der Arbeitsmarktpolitik kennen wir schillernde, bunte
Konzeptionen zur Verminderung der Arbeitslosigkeit, Fähigkeitenprofil, Potenzialanalysen, Kompetenzförderung, Trainings in Assessment
Centern, Personalentwicklung und passgenaue Vermittlung und
vieles mehr.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Wenn man sich vor Augen führt, dass nach wie vor alle Systeme der
sozialen Sicherung auf Beiträgen aus klassischer Erwerbsarbeit
basieren – ein wenig bröckelt es zur Zeit durch die private Beteiligung
an der Alterssicherung –, dann scheint die Diskussion vom Ende der
An den Bürger
Das im Dunkeln die dort leben
So du selbst nur Sonne hast,
dass für dich sie Lasten heben
neben ihrer eignen Last,
dass du frei durch ihre Ketten,
Tag erlangst durch ihre Nacht,
was wird von der Schuld dich retten,
dass du daran nicht gedacht!
Karl Kraus
Raimund Klinkert
Gebal GmbH
Bielefeld
Festschrift Zehn Jahre Arbeitsgelegenheiten
Zehn Jahre Arbeitsgelegenheiten – was gewesen ist –
Sehr geehrte Gäste!
Zu Beginn meines Beitrages möchte ich zunächst dem Westfälischen
Herbergsverband e.V. danken, dass er das zehnjährige Bestehen der
teilstationären Angelegenheiten zum Anlass genommen hat, in einem
Festakt daran zu erinnern.
Die Arbeitsgelegenheiten sind für den Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) inzwischen ein etablierter, im Wesentlichen problemfreier Bestandteil des Hilfeangebotes. Damit besteht auch die Gefahr,
dass in der Praxis auftretende Unstimmigkeiten und Probleme über
Einzellösungen bereinigt werden, eine tiefergehenden Reflexion über
Zustand und die Wirkungsweise des gesamten Hilfeangebotes aber
in der Routine und dem Leistungsdruck der täglichen Arbeit unterbleibt. Die Initiative des Westfälischen Herbergsverbandes e.V. hat
mich veranlasst, mich mit diesen im sozialen Leistungsrecht grundlegenden Fragestellungen einmal zu beschäftigen. Dafür nochmals
meinen Dank.
Ich werde also nicht eines der üblichen Grußworte vortragen,
sondern der Frage nachgehen, ob die mit der Neukonzeption der
Hilfen zur Erlangung und Erhaltung eines Platzes im Arbeitsleben und
der Überführung der früheren in die Wohnbereiche integrierten
Arbeitshilfen in ein eigenständiges Hilfesystem vom Landschaftsverband Westfalen-Lippe als überörtlichen Träger der Sozialhilfe
verfolgten Ziele tatsächlich erreicht wurden.
In den 1980er Jahren rückten angesichts der Veränderungen auf dem
allgemeinen Arbeitsmarkt und des verstärkten Einsatzes der Hilfen
zur Arbeit im Rahmen der Hilfe zum Lebensunterhalt auch die damals
noch nahezu ausschließlich in vollstationären Einrichtungen der Hilfe
zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten angebotenen
Arbeitshilfen verstärkt in den Mittelpunkt der Fachdiskussion.
Allgemein wurde die Qualität dieser Leistung als ungenügend
53
beurteilt, insbesondere das Missverhältnis zwischen der Leistung der
in ihnen tätigen Hilfeempfänger und der Gegenleistung in Form von
Entgelt und sozialer Absicherung war Gegenstand der Kritik. Ich
bewerte es als einen großen Verdienst der damaligen politischen
Vertretung des LWL, diese Diskussion aufgegriffen und – trotz nicht
unerheblicher Widerstände – der Verwaltung den Auftrag gegeben zu
haben, zu der Problematik zu berichten und Vorschläge zu einer
Verbesserung des Hilfeangebotes vorzulegen.
In der daraufhin erstellten Vorlage wurde auf folgende – aus Sicht des
überörtlichen Trägers der Sozialhilfe – schwerwiegende Mängel der
damaligen Konzeption, der Struktur und der Standards der Arbeitshilfen hingewiesen:
• Die konzeptionelle Grundlage der Arbeitshilfen bildet (immer
noch) der historische Ansatz der Arbeiterkolonien, mittellos
Umherziehenden gegen den Einsatz ihrer Arbeitskraft Unterkunft, Verpflegung und ein kleines Taschengeld zur Verfügung zu
stellen und damit die Chancen für die Rückkehr in ein normales
Arbeitsleben zu erhöhen. Dieser Ansatz trägt weder den
gewandelten gesellschaftlichen Vorstellungen Rechnung noch
der veränderten Situation der Bewohner der Einrichtungen,
deren Schwierigkeiten nicht mehr in bloßer vorübergehender
Arbeitslosigkeit bestehen.
• Beschäftigt wird jeder, unabhängig von seiner Leistungsfähigkeit
und Bedarfslage. Die gezahlten so genannten Prämien stehen in
keinem erkennbaren Verhältnis zur tatsächlich erbrachten
Leistung. Eine Beziehung zur Normalität des Arbeitslebens ist
nicht mehr erkennbar.
• Der überwiegende Teil der Erlöse muss wegen des vereinbarten
Finanzierungssystems zur Minderung des über die Pflegesätze
zu finanzierenden Aufwandes für den Betrieb der Einrichtungen
eingesetzt werden. Leistungsgerechte Entgelte werden aber
nicht als Bestandteil des für die Pflegesatzermittlung maßgeblichen Aufwandes berücksichtigt.
• Die Arbeitshilfen stellen ein isoliertes in sich geschlossenes
54
125 Jahre Westfälischer Herbergsverband Zehn Jahre Arbeitsgelegenheiten
•
System eines besonderen Arbeitsmarktes dar. Zwischen ihnen
und dem allgemeinen Arbeitsmarkt besteht keine Verbindung.
Hilfen zum Übergang auf den allgemeinen Arbeitsmarkt werden
praktisch nicht gewährt. Sie wirken deshalb desintegrierend und
erschweren es, die Ziele der Hilfe zur Überwindung besonderer
sozialer Schwierigkeiten zu erreichen.
Auch bei leistungsfähigen und leistungsbereiten Beschäftigungen wird keine Sozialversicherungspflicht begründet, auch
dies steht im Widerspruch zu den Zielen der Hilfe.
Die Verwaltung entwickelte dann Ziele, die mit einer Neustrukturierung des Hilfeangebotes unter Berücksichtigung von Aufgaben und
Zielsetzung der Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten erreicht werden sollten und Vorstellungen zur zukünftigen
Finanzierung der Arbeitshilfen. Wesentliche Zielvorstellungen waren:
• Erarbeitung einer an den Aufgaben und Zielen der Hilfe nach
§ 72 BSHG erarbeiteten Fachkonzeption
• Organisatorische und finanzielle Loslösung von den Heimbereichen, verbunden mit einer Aufgabe der teilweisen Erlösabführung zur Deckung der Kosten des Heimbetriebes. Stattdessen
sollen die erarbeiteten Erlöse im Grundsatz in voller Höhe als
Entgelte an die arbeitenden Bewohner der Arbeitsgelegenheiten
ausgeschüttet werden.
• Neudefinition der Zielgruppe mit einer Beschränkung auf
Personen, die erwerbsfähig sind, aber im Arbeitsleben besondere soziale Schwierigkeiten haben.
• Ausrichtung des Hilfeangebotes auf Vermittlung in den allgemeinen Arbeitsmarkt.
• Begründung sozialversicherungspflichtiger Arbeitsverhältnisse
und Entwicklung eines leistungsbezogenen an ortsüblichen
Entgelten orientierten Entgeltsystems.
Nach Beratung gaben die parlamentarischen Gremien den Auftrag zu
entsprechenden Verhandlungen mit dem Fachverband und den
interessierten Trägern zur Erarbeitung einer neuen Fach- und
Festschrift Zehn Jahre Arbeitsgelegenheiten
Finanzierungskonzeption auf der Basis der Vorschläge, obwohl
deutlich war, dass eine Realisierung nicht ohne finanzielle Mehrbelastungen des LWL möglich sein würde.
Die Verhandlungen mit den Leistungsanbietern und ihren Verbänden
verliefen in weiten Bereichen problemlos, sie konnten innerhalb von
drei Monaten abgeschlossen werden. Eine intensivere Diskussion
ergab sich insbesondere bei
• der Definition der Zielgruppe, hier ging es um die Frage, ob
Personen einbezogen werden sollen, die dem allgemeinen
Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen und am Arbeitsplatz keine
Hilfe nach § 72 BSHG bedürfen, dennoch aber keine Arbeit
finden.
• der Definition der Aufgabe der Arbeitsgelegenheiten, insbesondere die enge Orientierung an der gesetzlichen Regelung zu den
Hilfen zur Erlangung und Erhaltung eines Platzes im Arbeitsleben
im Rahmen der Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer
Schwierigkeiten und schließlich
• die Frage einer Leistungsverpflichtung des Trägers der Sozialhilfe für die (Mit-)Finanzierung von Entgelten und Beiträgen zur
Sozialversicherung.
Die Verhandlungsergebnisse wurden Anfang 1990 in den parlamentarischen Gremien des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe
beraten. Als Eckpunkte der neuen Fachkonzeption und der Neustrukturierung der Finanzierung trug die Verwaltung vor
• die organisatorische und finanzielle Trennung von den vollstationären Einrichtungen, also die Schaffung eines selbständigen
Leistungsangebotes für Hilfen zur Erhaltung und Erlangung
eines Platzes im Arbeitsleben einschließlich einer Öffnung für
externe Hilfebedürftige, also für Personen, die nicht gleichzeitig
stationäre Hilfe in den Einrichtungen der so genannten
Nichtsesshaftenhilfe in Anspruch nahmen.
• Die Beschränkung der Zielgruppe auf Personen, die vorübergehend Hilfen nach § 72 BSHG zur Erlangung und Erhaltung eines
•
•
•
•
•
55
Platzes im Arbeitsleben bedürfen verbunden mit dem Ausschluss von Personen, die wegen Erwerbsunfähigkeit, Behinderung oder Alters dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht mehr zur
Verfügung stehen und von Personen, die ohne Hilfen nach § 72
BSHG auf den allgemeinen Arbeitsmarkt vermittelt werden
können.
Gliederung der Arbeitsgelegenheiten in die Bereiche Orientierung, Qualifizierung und Betreutes Arbeiten.
Präzisierung der Aufgabenstellung der teilstationären Arbeitsgelegenheiten auf Bedarfsermittlung (bezogen auf die Integration in
das Arbeitsleben), Hilfeplanerstellung, Vermittlung der auf dem
allgemeinen Arbeitsmarkt verlangten Sozialtugenden, Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie der Erhalt dieser Qualifikation
durch Arbeit unter Bedingungen, die denen des allgemeinen
Arbeitsmarktes angepasst sind und Vermittlung auf den
allgemeinen Arbeitsmarkt.
Herausnahme tagesstrukturierender Hilfen für Heimbewohner
mit dem Ziel, die Produktivität der teilstationären Arbeitsgelegenheiten zu erhöhen.
Verwendung der Erlöse grundsätzlich nur für Entgeltzahlungen
und leistungsgerechter – möglichst an den tarifvertraglichen
Regelungen orientierter – Entgelte sowie die Begründung von
Mitgliedschaften in der Sozialversicherung.
Verbesserte Personalstandards, insbesondere Leitung mit
kaufmännischer oder betriebswirtschaftlicher Ausbildung und
Festlegung eines Mindestanteils der Fachkräfte für soziale
Betreuung (Sozialarbeiter/­innen) an der Gesamtzahl des
Betreuungspersonals.
Der mit der Umsetzung verbundene finanzielle Aufwand wurde mit
ca. 6,7 Millionen DM jährlich beziffert, dies bedeutete eine Steigerung
von ca. 4,5 Millionen DM jährlich.
In den folgenden Jahren ließ sich der Sozialausschuss mehrfach über
die Umsetzung und die Ergebnisse des Fachkonzeptes der teilstatio-
56
125 Jahre Westfälischer Herbergsverband Zehn Jahre Arbeitsgelegenheiten
nären Arbeitsgelegenheiten berichten. In dem 1993 gegebenen
Zwischenbericht, der sich auf die Dokumentation der Einrichtungen
für das Jahr 1992 stützte, führte die Verwaltung aus, dass die bis
dahin gemachten Erfahrungen eine Bewertung der Fachkonzeption
als grundsätzlich richtig zulasse, gleichzeitig räumt sie aber ein, dass
wesentliche Ziele bis dahin nur eingeschränkt erreicht wurden. Sie
nennt ferner zwei Problembereiche, die umgehend einer Lösung
zugeführt werden müssen, und zwar zum einen die Bereitstellung
eines Angebotes tagesstrukturierenden Hilfen für Personen, die nicht
der Zielgruppe des Hilfeangebotes angehören, weil die Entwicklung
eines entsprechenden Angebotes in den Wohnbereichen aus
verschiedenen Gründen nicht möglich war, sowie zum anderen das
Fehlen eines Hilfeangebotes für angemessene Beschäftigung für
Leistungsempfänger, die grundsätzlich keine Hilfen zur Erlangung
und Erhaltung eines Platzes im Arbeitsleben bedürfen, aber kaum
Aussicht haben, einen Arbeitsplatz auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt
zu erhalten, weil sie zu dessen Problemgruppen gehören.
Beide Probleme wurden inzwischen durch Veränderungen der
Fachkonzeption gelöst, tagesstrukturierende Hilfen wurden in den
Leistungskatalog der teilstationären Einrichtungen aufgenommen und
unter einschränkenden Bedingungen die Leistungen von Hilfen zu
einer angemessenen Beschäftigung für begründete Einzelfälle
zugelassen.
Werden die vor zehn Jahren mit der Neukonzeption der Arbeitsgelegenheiten vom überörtlichen Träger angestrebten Ziele mit dem
inzwischen erreichten Stand verglichen, so ergibt sich folgendes
Fazit:
• Die Verselbständigung dieses Hilfezweiges hat dessen Entwicklung gefördert und zu einer deutlich verbesserten Einbindung in
das örtliche System der Hilfen für Problemgruppen des Arbeitsmarktes geführt. Ferner ist es den Einrichtungen in unterschiedlichem Maße gelungen, ihren Tätigkeitsbereich über die Hilfe
nach § 72 BSHG hinaus auf die Erbringung von Leistungen im
Rahmen der Hilfe zur Arbeit nach Unterabschnitt 2 der Hilfe zum
•
•
•
Lebensunterhalt und auf weitere Arbeitshilfen für spezielle
Personengruppen auszuweiten. Die Arbeitsgelegenheiten haben
sich also aus ihrem früheren isolierten Sonderstatus als besonderer und geschlossener Arbeitsmarkt lösen können und damit
die Voraussetzungen für bessere Chancen ihrer Leistungsempfänger zur Integration in übliche Arbeitsverhältnisse geschaffen.
Der Anteil sozialversicherter Leistungsbezieher an der Gesamtzahl der in den teilstationären Arbeitsgelegenheiten Beschäftigten liegt zurzeit bei ca. 35 Prozent. Wird berücksichtigt, dass
inzwischen für einen Teil der Hilfeempfänger die Begründung
eines Versicherungsverhältnisses in der Sozialversicherung nicht
in Betracht kommt, weil er Hilfe zur Tagesstrukturierung erhält,
so ist dies ein durchaus befriedigendes Ergebnis.
Zwar ist es insgesamt zu einer spürbaren Erhöhung der gezahlten Entgelte gekommen, der Anteil der Leistungsempfänger, die
tarifvertraglich oder in Anlehnung an überörtliche Entgelte
entlohnt werden, ist mit ca. 16 Prozent jedoch geringer als
erhofft. Ursächlich hierfür scheint neben dem hohen Anteil
leistungsgeminderter Beschäftigter die Schwierigkeit zu sein,
profitable Aufträge in nennenswertem Umfang zu akquirieren.
Die Arbeitsgelegenheiten stehen hier nicht nur im Wettbewerb
mit anderen Anbietern. Ihre besondere Struktur und Aufgabenstellung stellt vielmehr ein zusätzliches Erschwernis bei der
Steigerung der Produktivität dar.
Eine Vermittlung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ist weiterhin
verhältnismäßig selten. Die Bilanz sähe bei diesem Ziel vermutlich etwas besser aus, würden auch Personen mit berücksich­
tigt, die nicht in die Arbeitsgelegenheiten aufgenommen werden,
weil sich bereits während der Aufnahmeberatung ergibt, dass sie
ohne vorhergehende oder begleitende persönliche Hilfen auf
dem allgemeinen Arbeitsmarkt vermittlungsfähig sind.
Gemessen an dem Grad der Übereinstimmung zwischen der mit der
Neuordnung der Arbeitshilfen für Personen in besonderen sozialen
Schwierigkeiten vom Landschaftsverband Westfalen-Lippe als
Festschrift Grundsätze der Arbeit
überörtlichen Träger der Sozialhilfe verfolgten Zielen und dem
gegenwärtigen Stand kann trotz nur teilweiser Zielerreichung von
einem befriedigenden Ergebnis gesprochen werden. Ich wage auch
keine Prognose, ob weitere Verbesserungen erreicht werden können;
zuviel interne und externe Faktoren haben darauf Einfluss. Eins darf
aber mit Befriedigung und auch mit ein wenig Stolz festgestellt
werden: Gemessen an den vor Gründung der Arbeitsgelegenheiten
bestehenden Zuständen ist zu einer ganz erheblichen Qualitätsverbesserung für die Leistungsberechtigten gekommen. Entscheidenden
Anteil daran hatten und haben die Träger, die sich auf das Risiko
eines Neuanfangs eingelassen haben und das Engagement des
Fachpersonals dieser Arbeitsgelegenheiten. Ihnen möchte ich auch
im Namen von Herrn LR Dr. Baur zum Abschluss ganz besonders
danken.
Johannes Lippert
aus: Dokumentation zum Festakt
des Westfälischen Herbergsverbandes e.V. in der Sozialwerkstatt zu Lüdenscheid
am 08. November 2000,
S. 11-23
57
Grundsätze der Arbeit
Gemeinsam gegen Armut,
Ausgrenzung und
Wohnungslosigkeit
Zweimal in den vergangenen 25 Jahren haben Vorstand und
Mitglieder die Grundsätze der Arbeit des Westfälischen
Herbergsverbandes e.V. überarbeitet und weiterentwickelt.Die
gültige Fassung der Grundsätze der Arbeit entstand
2001/2002.
Vorwort
Der Auftrag des Westfälischen Herbergsverbandes e.V. ist der Einsatz
für die Einhaltung des Grundrechtes auf ein menschenwürdiges
Leben, insbesondere auf eine Teilhabe von Menschen mit einem
Hilfebedarf nach § 72 BSHG am Leben in der Gemeinschaft und/oder
für das Recht auf Wohnen und Arbeit. Die Hilfeangebote der Mitglieder basieren auf den Rechtsvorschriften der Sozialgesetzbücher.
Unser Verständnis dieser Grundideen und wie wir an deren Verwirklichung mitwirken wollen, beschreiben wir in den vorliegenden
Grundsätzen. Die Grundsätze sollen Orientierung für das Handeln
des Verbandes, der Träger und der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
der evangelischen Wohnungslosenhilfe geben.
Die im September 2001 vom Vorstand und im April 2002 von der
Mitgliederversammlung verabschiedeten Grundsätze basieren auf
den „Grundsätzen der Arbeit“ des Westfälischen Herbergsverbandes
vom November 1993.
Die Überarbeitung der Satzung des Westfälischen Herbergsverbandes e.V., die Diskussion des Grundsatzprogramms der BAG
Wohnungslosenhilfe e.V. und die Novellierung der Durchführungsver-
58
125 Jahre Westfälischer Herbergsverband Grundsätze der Arbeit
ordnung zum § 72 BSHG waren letztendlich Anstoß, das Grundsatzprogramm von 1993 einer kritischen Überarbeitung zu unterziehen
und den veränderten rechtlichen und fachlichen Gegebenheiten
anzupassen.
Die Grundsätze versuchen insgesamt, die in den letzten 15 Jahren
vom Westfälischen Herbergsverband e.V., von der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V., der Evangelischen Obdachlosenhilfe e.V., der Öffentlichen und Freien Wohlfahrtspflege in
Nordrhein-Westfalen und des Deutschen Städtetages entwickelten
inhaltlichen und fachlichen Standards in Inhalte und Ziele für den
Westfälischen Herbergsverband e.V. und seine Mitglieder umzusetzen.
Mit unseren gesellschaftlichen Deutungen und fachlichen Empfehlungen erheben wir nicht den Anspruch, die Wirklichkeit vollständig
und einzig möglich zu erfassen. Wir sind bewusst parteilich und
halten uns bereit, bei anderen Erfahrungen unsere Position zu
überarbeiten. Wir sind uns außerdem bewusst, dass unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit, unsere Aufgaben und Ziele auch für
andere ausgegrenzten Bürgerinnen und Bürger zutreffen. Auch diese
Bürgerinnen und Bürger bedürfen der Solidarität.
Wir haben im Grundsatzprogramm durchgehend darauf verzichtet,
spezifische Bedarfe von Frauen zu benennen. Wir gehen davon aus,
dass bedarfsgerechte Angebote immer auch spezifische Bedarfe
bestimmter Personengruppen berücksichtigen.
Ausgangssituation
Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für die diakonische
Wohnungslosenhilfe haben sich im letzten Jahrzehnt nachhaltig
verändert.
Festschrift Grundsätze der Arbeit
Die Entwicklung hin zu einer komplexen Informationsgesellschaft
verbunden mit der zunehmenden Globalisierung wirtschaftlicher
Prozesse hat Auswirkungen auf die Wirtschafts- und Sozialpolitik im
vereinten Deutschland.
Die politische Diskussion seit Beginn der 1990er Jahre war geprägt
von der Auseinandersetzung um die ökonomischen, sozialen und vor
allem fiskalischen Folgen der Vereinigung. Dies führte zu einer
radikalen Wende und zu Einschnitten in der Arbeitsmarkt- und
Sozialpolitik, die geprägt waren durch eine deutliche Umverteilung
der Lasten zu Ungunsten sozial ausgegrenzte Bürgerinnen- und
Bürger-Gruppen der Gesellschaft.
Seit Mitte der 1990er Jahre dominiert unter dem Stichwort „Zwang
zur Konsolidierung der öffentlichen Haushalte“ eine Politik des
Leistungsabbaus sozialer Sicherungssysteme.
Die gegenwärtige Diskussion um eine Reform und Konsolidierung
des Sozialstaates, die mit einer wirtschaftlich schwierigen Lage, zu
hohen Sozialausgaben und der damit einhergehenden Verschuldung
der öffentlichen Haushalte begründet wird, führt zu einer Konzentra­
tion auf Fragen des Wirtschaftswachstums. Vernachlässigt wird die
Frage nach sozialer Gerechtigkeit als einer sozialstaatlichen Gestaltungsaufgabe.
Die Einseitigkeit bei der Verteilung der Lasten und der Privilegien in
unserer Gesellschaft stellt den Sozialstaat in Frage. Die ungleiche
Verteilung der ausreichend vorhandenen Ressourcen lässt die
„soziale Schere“ immer weiter auseinander klaffen. In den letzten
zwanzig Jahren ist mit der Armut zugleich der Reichtum in Deutschland gewachsen. Beispiele hierfür sind einerseits die anhaltende
Massenarbeitslosigkeit, Wohnungsnot, Überschuldung einkommensarmer Haushalte sowie die Armut von Kindern und Jugendlichen. Auf
der anderen Seite ist das Geldvermögen von Privatanlegern überdurchschnittlich gewachsen.
59
Der Ausschluss vieler Menschen von der Teilhabe an der gesellschaftlichen Entwicklung stellt die demokratischen Grundlagen des
Gemeinwesens in Frage.
Unsere Gesellschaft entwickelt sich von einer Solidargemeinschaft
hin zu einer individualisierten Gesellschaft. Die Privatisierung bei der
Absicherung sozialer Risiken (Alter, Krankheit, Arbeitslosigkeit usw.)
ist nur eine Folge des insgesamt kälter werdenden gesellschaftlichen
Klimas.
Es ist Aufgabe von Kirche und Diakonie, den Skandal der einseitigen
Verteilung der Lasten zu Ungunsten der Schwächeren öffentlich zu
machen und für die Schließung von Gerechtigkeitslücken einzutreten.
Der Westfälische Herbergsverband e.V. sieht in der bestehenden
Wohnungsnot einen Ausdruck struktureller Armut. Ein wesentliches
Ziel der ambulanten und
(teil-) stationären Woh„Es ströme aber das Recht wie
nungslosenhilfe ist es
Wasser und die Gerechtigkeit
deshalb, die Kluft zwischen Arm und Reich ins
wie ein nie versiegender Bach“
öffentliche Bewusstsein zu
Amos 5, 24
bringen und der Ausgrenzung der Menschen mit
einem Hilfebedarf nach
§ 72 BSHG entgegen zu wirken. Durch konkrete Hilfen wollen die
Mitglieder des Westfälischen Herbergsverbandes e. V. an der
Beseitigung der Wohnungslosigkeit, der Armut und der sozialen
Ausgrenzung mitwirken. Die Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe in
Westfalen und Lippe müssen Orte sein, an die sich Menschen mit
einem Hilfebedarf nach § 72 BSHG wenden und ihren berechtigten
Forderungen Ausdruck verleihen können. Dies geschieht nicht zuletzt
durch die Unterstützung bei der Verwirklichung garantierter Rechtsansprüche.
60
125 Jahre Westfälischer Herbergsverband Grundsätze der Arbeit
Über die Jahre kann eine Wellenbewegung bei der Zahl der als
wohnungslos registrierten Menschen festgestellt werden. Diese steht
in direkter Abhängigkeit zum bezahlbaren Wohnraumangebot.
Insgesamt ist ein leichter Rückgang in der Wohnungslosenstatistik zu
verzeichnen. Dieser Rückgang ist nicht zuletzt als Erfolg der Arbeit
und der Qualifizierung der Dienste und Einrichtungen im Fachverband zu werten.
Das Netz der ambulanten Hilfen ist nahezu flächendeckend ausgebaut und hat ebenfalls zu einer Veränderung der stationären Wohnungslosenhilfe (Differenzierung, Dezentralisierung und Regionalisierung) und zum Ausbau weiterer Hilfeformen (teilstationäre Angebote,
Streetwork, ambulante medizinische Hilfen) geführt.
Unsere Wurzeln
Älter als die Diakonie und ihre Wohnungslosenhilfe ist die Not der in
Armut lebenden Frauen und Männer. Unabhängig vom Ab- und
Ausbau sozialer Hilfen in den letzten 20 Jahren und ihrer Entwicklung
wächst oder vermindert sich die Not der Menschen mit einem
Hilfebedarf nach § 72 BSHG über die Durchlässigkeit und die Zyklen
des Arbeits- und Wohnungsmarktes.
Die Evangelische Wanderarmenfürsorge stand von Beginn an in der
Tradition eines bürgerlichen Hilfeverständnisses. Das heißt: Es galt
bei den Männern das „arbeitsscheue und schmarotzende Vagabundentum“ zu vertreiben und/oder zu disziplinieren, bei den Frauen, das
„sittliche Wohlergehen“ zu fördern.
Nicht die Integration dieser Männer in den Arbeits- und Wohnungsmarkt galt als Ziel der Hilfe, vielmehr war man der Überzeugung,
dass die Heime der Wanderarmenfürsorge selbst die angemessene
Wohn- und Arbeitsform darstellten. Die so isolierte Arbeit war mit
dafür verantwortlich, dass sich Menschen in besonderen sozialen
Schwierigkeiten kaum gesellschaftliche und öffentliche Hilfen
erschließen konnten. Dieses System unkontrollierter Abhängigkeiten
und gegenseitiger Verpflichtungen führte während des nationalsozialistischen Unrechtssystems zu unheilvollen Allianzen, in denen die
Evangelische Wanderarmenfürsorge Bestandteil der faschistischen
Verfolgung und Vernichtung wohnungsloser Bürgerinnen und Bürger
wurde.
Zu unseren Wurzeln gehören aber auch das Streben nach sozialer
Gerechtigkeit und das Einfordern der Menschenrechte für arme
Mitbürgerinnen und Mitbürger.
Erst das Bundessozialhilfegesetz (BSHG) von 1960/61 verpflichtete
auch die „Nichtsesshaftenhilfe“ zu dem Ziel, ihrer Klientel ein Leben
zu ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht.
Die konsequente Anwendung des Bundessozialhilfegesetzes initiierte
einen enormen Innovationsschub in der Wohnungslosenhilfe.
Erstmals waren nicht die von kommunalen und anderen Stellen
betriebene Vertreibung und somit eine faktische Entkommunalisierung Ziele der Hilfe, sondern der Anschluss an bestehende Gesetze
und Leistungssysteme, also die Rekommunalisierung und Wiedereingliederung von Menschen mit einem Hilfebedarf nach § 72 BSHG.
„Barmherzigkeit ohne das Widerlager des (Menschen-)
Rechts war und ist Klassenkampf. So wird es auch
weiterhin bleiben, wenn die Frage nach den Menschenrechten Wohnungsloser dort verstummt, wo die ‚Hilfe‘
für sie beginnt“. Hartwig Drude
In den 1970er Jahren fand dieses neue Hilfeverständnis auch in
einem Begriffswechsel Ausdruck: Der Begriff des „Nichtsesshaften“
wurde abgelöst durch den Begriff des ,,(alleinstehenden) Wohnungslosen“ .
Festschrift Grundsätze der Arbeit
Seit den 1980er Jahren bis heute hat sich das Hilfesystem konsequent weiterentwickelt und differenziert und sich damit auch fachlich
dem Ziel der Rekommunalisierung und „Wiedereingliederung“
genähert. Neben der stationären Hilfe hat sich mit ambulanten
Hilfeangeboten ein zweites Unterstützungsnetzwerk etabliert.
Regional, am Lebens­ort der Menschen in besonderen sozialen
Schwierigkeiten orientierte Beratung, Wohnungsvermittlung und
Wohnungssicherung haben die Ideologie der angeblichen Wohnunfähigkeit dieser Menschen praktisch widerlegt und eine Hilfe zum
Bleiben wesentlich unterstützt.
Die stationäre Hilfe hat durch die Entwicklung differenzierter Hilfeangebote für bestimmte Problemlagen, systematische Nachsorge,
dezentrale, wohnquartiernahe Heimplätze und durch bauliche
Verbesserungen weitgehend das klassische Heimverständnis
aufgegeben.
Werte, Ziele und Aufgaben
•
•
•
•
•
Mit spezialisierten Hilfeangeboten für Frauen, junge Erwachsene,
Langzeitwohnungslose und Arbeitslose ist es gelungen, gezielter zu
helfen.
Heute ist die Zwangsmobilität der Menschen mit einem Hilfebedarf
nach § 72 BSHG deutlich zurück­gegangen, die Hilfe zum Bleiben als
erklärtes Ziel der Wohnungslosenhilfe hat gewirkt. Wohnungslosenhilfe ist durch intensive Öffentlichkeits- und Lobbyarbeit heute Teil der
öffentlichen politischen Debatte geworden, auch wenn sie immer
wieder auf die „sozial- und wohnungspolitische“ Tagesordnung
gesetzt werden muss.
•
•
•
Formen bürgerschaftlichen Engagements wie Straßenzeitungen und
Tafeln sind sowohl das Ergebnis der Öffentlichkeitsarbeit als auch
Ausdruck der gestiegenen Sensibilität in der Gesellschaft.
61
•
Die diakonische Wohnungslosenhilfe achtet das Wunsch- und
Wahlrecht der Menschen mit einem Hilfebedarf nach
§ 72 BSHG.
Die diakonische WohnungslosenWohnung ist nicht
hilfe gestaltet die Hilfen entsprealles, aber ohne
chend der Würde des Menschen.
Wohnung ist alles
Die verfassungsgemäßen Prinnichts.
zipien des sozialen Rechtsstaats
sind Grundlage‘ unseres Hilfeverständnisses. Die Umsetzung
der Rechtsnorm und die Weiterentwicklung des Rechts auf der
Basis unserer Grundsätze sind voranzutreiben.
Sofern Menschen mit einem Hilfebedarf nach § 72 BSHG sich
nicht selbst für ihre Rechte einsetzen können, nehmen wir diese
Aufgabe stellvertretend wahr.
Die Hilfe ist überprüfbar. Zu diesem Zweck sind verbindliche
Standards und Ziele entwickelt. Die erreichten Standards der
Wohnungslosenhilfe werden ständig überprüft und gesichert.
Die Leistungen der Dienste und Einrichtungen sind als Angebote
beschrieben, dabei sind die Bedarfe der Menschen mit einem
Hilfebedarf nach § 72 BSHG maßgebend. Art und Umfang der
Hilfe sind mit miteinander vereinbart.
Um den Menschen mit einem Hilfebedarf nach § 72 BSHG, der
Öffentlichkeit und uns selber Rechenschaft über unsere Hilfen
abgeben zu können, wird die Hilfe einrichtungs- und verbandsbezogen dargestellt. Wir setzten uns für eine transparente
Dokumentation der Hilfe ein.
Der Ausgrenzung von Menschen mit einem Hilfebedarf nach
§ 72 BSHG durch Sonderbehandlungen und Sonderregeln treten
wir entgegen.
Beschaffung und Erhalt einer Wohnung, Erlangung und Sicherung eines Ausbildungs- und Arbeitsplatzes und die Förderung
sozialer Beziehungen ist vorrangiges Ziel der Hilfe.
62
125 Jahre Westfälischer Herbergsverband Grundsätze der Arbeit
•
Wir informieren die Öffentlichkeit über wichtige Ereignisse und
Entwicklungen in der Wohnungslosenhilfe, um die mit der
Wohnungslosigkeit einhergehende Armut und Ausgrenzung ins
Bewusstsein der Öffentlichkeit zu bringen.
Immer mehr Menschen mit einem Hilfebedarf nach § 72 BSHG
nehmen neben den gesetzlich garantierten Hilfen auch andere
Angebote in Anspruch. Wir
wirken daraufhin, dass sich
„Erlaubt ist, was politisch
diese Hilfen in der westfämehrheitsfähig ist und
lischen und lippischen
Diakonie nicht als Hilfen zur
wirtschaftlich lohnt.“
Ausgrenzung entwickeln,
sondern sich an den Lebenslagen Menschen mit einem
Hilfebedarf nach § 72 BSHG orientieren.
Wir setzen uns dafür ein, Formen bürgerschaftlichen Engagements in der Wohnungslosenhilfe zu entwickeln.
Alle Menschen mit einem Hilfebedarf nach § 72 BSHG erhalten
adäquate Hilfen‘ zur Beschaffung ihrer persönlichen und behördlichen Dokumente.
Zur gesellschaftlichen Teilhabe gehört auch und gerade die
Mitwirkung der Menschen mit einem Hilfebedarf nach § 72
BSHG in der Wohnungslosenhilfe. Beteiligung, z.B. durch
Heimbeiräte und Formen des Beschwerdemanagements sind in
allen Einrichtungen zu entwickeln und zu fördern.
•
•
•
•
•
•
Unsere Einrichtungen und Dienste sind für Menschen mit einem
Hilfebedarf nach § 72 BSHG jeglichen Glaubens offen. Wir
halten uns bereit, für jeden Menschen der zu uns kommt,
Spiritualität im Alltag erfahrbar zu machen.
Prävention ist Bestandteil all unserer Hilfeangebote.
Die Arbeit des Westfälischen Herbergsverbandes e.V. wird im Sinne
der oben beschriebenen Grundsätze gestaltet. Auf die relevanten
Entscheidungsgremien in Diakonie, Kirche und Politik nehmen wir in
diesem Sinne Einfluss.
Aus: Grundsätze der Arbeit
Gemeinsam gegen Armut,
Ausgrenzung und
Wohnungslosigkeit
Hrsg: Westfälischer Herbergsverband e. V.,
Verantwortlich: Jan Orlt,
beschlossen vom Vorstand
am 27.September 2001
verabschiedet von der Mitgliederversammlung
am 16. April 2002, S. 3-9
Festschrift Gestaltung des Zuammenlebens
Gestaltung des
Zusammenlebens im
öffentlichen Raum
Eine Arbeitshilfe
Alkohol, Menschenansammlungen, Armut – ist das in der
Fußgängerzone, im Bahnhof im Stadtpark verboten? Die
Antwort ist eindeutig: NEIN, es ist nicht verboten und es lässt
sich auch nicht verbieten. Da es aber aus vielerlei Gründen
nicht erwünscht ist, gibt es immer wieder Diskussionen und
Versuche, Verbote auszusprechen.
Zu diesem Dauerthema der Wohnungslosenhilfe hat sich der
WHV 2003 eindeutig positioniert.
63
Lärm, Belästigungen oder Betteln steigert das (berechtigte oder
unberechtigte) Gefühl von Bedrohung oder Beeinträchtigung.
Damit wächst das öffentliche Interesse an einer „Regelung“ des
ordnungsgemäßen Gemeingebrauches. Um Sicherheit und Ordnung
garantieren zu können, gibt es seit Jahrzehnten kommunale Maßnahmen ( Bußgeldbescheide, Platzverweise, Aufenthaltsverbote ), die
den Aufenthalt auf öffentlichen Plätzen und das Zusammenleben im
öffentlichen Raum regeln.
Problembeschreibung
Seit der Innenministerkonferenz der Länder 1997 hat sich die
Situation für diese Randgruppen verschärft. Mit straßenrechtlichen
Satzungen und Gefahrenabwehrverordnungen werden Instrumentarien zur Regelung des Aufenthaltes auf öffentlichen Plätzen und
Straßen geschaffen, die bestimmte Bevölkerungsgruppen noch
stärker ausgrenzen und den Wohnungslosen das Bleiben in einer
Kommune erschweren.
Die Menschen, die die Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe im
Bereich des Westfälischen Herbergsverbandes e.V. aufsuchen, sind
häufig wohnungslos oder leben in unzumutbaren Wohnverhältnissen.
Sie sind von Armut und gesellschaftlicher Ausgrenzung betroffen.
Die Bildung von Ordnungspartnerschaften innerhalb einer Kommune
dient dem Ziel, mit polizei- und ordnungsrechtlichen Maßnahmen das
schwindende subjektive Sicherheitsgefühl der Bürger zu stärken.
Das Fehlen einer Rückzugsmöglichkeit und das Fehlen von Privatsphäre sind kennzeichnend für die Wohnungslosigkeit. Wer keine
eigene Wohnung hat, lebt ständig in der Öffentlichkeit und immer
unter der öffentlichen Kontrolle. Wer durch sein Erscheinungsbild als
Wohnungsloser auffällt, wird häufig vertrieben, bestenfalls geduldet.
Um soziale Kontakte zu knüpfen und sich im Schutz einer Gruppe
aufhalten zu können, entstehen in jeder Stadt Treffpunkte, die von
verschiedenen sozialen Randgruppen (Wohnungslose, Punker,
Junkies) genutzt werden.
Die Privatisierung öffentlicher Räume (überdachte Einkaufspassagen,
abgeschlossene Einkaufszentren, Privatisierung von Bahnhöfen)
schafft Rechtsräume, die von kommunalen Satzungen nicht erfasst
werden. Mit Ausübung des Hausrechtes schwindet für Randgruppen
in der Regel die Möglichkeit des Aufenthaltes und damit die Nähe
zum innerstädtischen Zentrum. Der Zugang zur Infrastruktur der
Innenstädte wird durch die Vertreibung für wohnungslose und von
Armut betroffene Bürger weiter erschwert.
Je größer die Zahl der Personen, die diesen Treffpunkt regelmäßig
aufsuchen, desto massiver wird das subjektive Sicherheitsgefühl der
Bürgerinnen und Bürger beeinflusst. Übermäßiger Alkoholgenuss,
Empfehlungen und politische Forderungen
Wirtschaftliche Interessen und das beeinträchtigte Sicherheitsgefühl
von Bürgerinnen und Bürgern können zur Stigmatisierung, zur
64
125 Jahre Westfälischer Herbergsverband Gestaltung des Zuammenlebenns
Kriminalisierung und zur Vertreibung wohnungsloser und von Armut
betroffener Bürger aus den „attraktiven Zonen“ der Innenstädte
führen.
•
•
•
In diesem stattfindenden Prozess muss die Wohnungslosenhilfe
als Interessenvertreterin wohnungsloser Menschen deutlich Stel­
lung beziehen, sich einmischen und Forderungen an die Politik
stellen.
Eine etwaige Mitarbeit der Wohnungslosenhilfe in einer Ordnungs­
partnerschaft oder in einem kriminalpräventiven Rat kann unseres
Erachtens nur erfolgen, wenn von allen beteiligten Akteuren folgender
Konsens besteht und beachtet wird:
• gleiches Stimmrecht (Geschäftsordnung)
• keine Vertreibung von Wohnungslosen, Drogensüchtigen,
Armen und Kranken
• abgestimmtes Handeln bei Wahrung der originären jewei­
ligen Zuständigkeit
Mit dieser Grundhaltung wurden in Münster die Einführung eines
privaten Sicherheitsdienstes und die Installation von Videokameras
im Bahnhofsumfeld verhindert.
Gesprächsbereitschaft und Dialogfähigkeit haben bei der Bewältigung der Aufgabe, Lösungsansätze zu erarbeiten, die das friedliche
Nebeneinander aller Menschen bei der Nutzung der öffentlichen
Räume fördert, eine zentrale Wichtigkeit. Diese Gesprächsbereitschaft ist allen möglichen handelnden Akteuren anzubieten.
Es ist auch Aufgabe der Wohnungslosenhilfe, Fälle von Ausgrenzung
und Vertreibung aus dem öffentlichen Raum in die Diskussion der
örtlichen Arbeitskreise und/oder örtliche Hilfeverbünde einzubringen.
Beispiele solch aktueller Anlässe von Ausgrenzung und Vertreibung
aus öffentlichen Räumen können sein:
• Sicherheitsdiskussion rund um den Bahnhof, in bestimmten
Parks und Einkaufszonen,
•
Fixerutensilien auf dem Spielplatz,
kommunalpolitische Initiative zur Verschärfung der Straßensatzung,
der öffentlich geäußerte Wunsch nach Einführung privater
Sicherheitsdienste im öffentlichen Raum,
Diskussionen über Videoüberwachung und vieles mehr.
Bei diesen Diskussionen und Bestrebungen kann und muss sich die
Wohnungslosenhilfe einmischen und Lösungen anbieten.
Mit der Teilnahme an Diskussionsforen, an Runden Tischen, bei
Veranstaltungen von Bürgerinitiativen, über Leserbriefe und durch
andere Aktivitäten muss die Wohnungslosenhilfe die Auffassung
vertreten, dass Ausgrenzen und Vertreiben von „Randständigen“ und
wohnungslosen Personen die Situation dieser Menschen verschärft
und sie zusätzlich belastet. Aus ihrer Arbeit bringt sie die Erfahrung
und das Wissen ein, dass Begegnung, Unterstützung und Teilhabe
Lösungsansätze zur Entschärfung sozialer Konflikte sind. Die
Wohnungslosenhilfe argumentiert für den Erhalt des öffentlichen
Raumes als Kultur- und Begegnungsort für alle Menschen. Eine
wesentliche Kompetenz der Wohnungslosenhilfe ist ihr Beitrag zur
Entdramatisierung und zur Versachlichung des Geschehens.
Je stärker Wohnungslosenhilfe vor Ort vernetzt ist, je mehr Bündnis­
partner sie einbeziehen kann, umso überzeugender ist sie.
Wohnungslosenhilfe kann auf bestehende Konzepte vertrauen und
sie auch bekannt machen.
• Besonders das Vorhalten niedrigschwelliger Dienste (z.B.
Tagesaufenthalt, Wärmestuben) und aufsuchender Hilfen und
ihre gezielte Koordination reduziert Probleme und bietet den
betroffenen Menschen Ausstiegswege aus­Krankheit, Abhängigkeit, Behinderung und sozialer Not an.
• Bei der Schaffung solcher Dienste müssen Politiker und
gegebenenfalls Geschäftsleute als Bündnispartner gewonnen
werden.
Festschrift Gestaltung des Zusammenlebens
Wohnungslosenhilfe muss auch die Grenzen der „Machbarkeit“
aufzeigen. Armut, Krankheit, Behinderung, Unterversorgung und
Benachteiligung sind einerseits individuelle Lebenslagen, andererseits sind sie auch gesellschaftliche Prozesse, die nicht kurzfristig
aufzulösen sind.
Von der Politik erwartet die Wohnungslosenhilfe
•
•
•
•
Offenheit für den Dialog,
die Zurkenntnisnahme der Bedürfnisse und der Problemlagen so
genannter Randgruppen,
Hilfen bei der Finanzierung leidens- und bedarfsgerechter und
annehmbarer Hilfen,
die Beteiligung der Wohnungslosenhilfe bei der Gestaltung des
öffentlichen Raumes mit dem Ziel eines Interessenausgleiches
aller Bürgerinnen und Bürger.
Die Wohnungslosenhilfe ist auch in der Lage Einfluss auf die
Stadtplanung zu nehmen, um repressive Maßnahmen zu vermeiden.
Dabei kann sie an der Entwicklung von Konzepten zur baulichen
Gestaltung eines Platzes oder eines anderen öffentlichen Raumes
mitwirken und beispielsweise auf Vorschläge zur Beschäftigung
wohnungs- und arbeitsloser Menschen in eben diesem Bereich
hinweisen.
aus: Gestaltung des Zusammenlebens im öffentlichen Raum –
Eine Arbeitshilfe
Hrsg.: Westfälischer Herbergsverband e.V.,
Verantwortlich: Jan Orlt,
Münster, März 2003, S. 5, 19-21
65
66
125 Jahre Westfälischer Herbergsverband Gerechtigkeit hat eine Lücke
Die Gerechtigkeit hat
eine Lücke
Grundsatzposition des
Vorstandes
Ist unsere Gesellschaft gerecht? Ist unser Sozialleistungs­
system gerecht?
Dieser Frage ist der Vorstand in den Jahren 2007 und 2008
nachgegangen und hat eine beachtete Grundsatzposition
erarbeitet.
Alle Menschen sind Gottes Ebenbilder, darin sind sie einander gleich.
Die Würde und der Wert des Lebens sind Gottes Geschenk. Armut
kann diese Würde nicht beeinträchtigen, und Reichtum fügt ihr nichts
hinzu. Allerdings gibt es Lebenssituationen in Armut, die der Würde
des Menschen Hohn sprechen und auch ein falsches Vertrauen auf
Reichtum. Wir sind von Gott aneinander gewiesen und tragen
füreinander Verantwortung. Menschen vom gemeinsamen Leben
auszuschließen und Teilhabe zu verweigern, ist Sünde vor Gott. Gott
traut uns zu, unser Land gerecht zu gestalten und seinen Reichtum
zum Wohle aller einzusetzen. In diesem Geist äußern wir uns zur Situation der Menschen in unserem Lande und erwarten, dass Armut
bekämpft und Reichtum in die Pflicht genommen wird. In den Armen
begegnet uns Christus. „Reiche und Arme begegnen einander – der
Herr hat sie alle gemacht.“ (Spr 22.2)
Die Entwicklung hin zu einer komplexen Informationsgesellschaft
verbunden mit der Globalisierung wirtschaftlicher Prozesse hat
Auswirkungen auf die Wirtschafts- und Sozialpolitik im vereinten
Deutschland. Seit Mitte der 1990er Jahre dominiert unter dem
Stichwort „Zwang zur Konsolidierung der öffentlichen Haushalte“
eine Politik des Leistungsabbaus sozialer Sicherungssysteme, die u.a.
durch eine deutliche Umverteilung der Lasten zu Ungunsten sozial
ausgegrenzter Bürgerinnen und Bürger geprägt ist.
Die anhaltende Diskussion um eine Reform und Konsolidierung des
Sozialstaates, die mit einer wirtschaftlich schwierigen Lage, zu hohen
Sozialausgaben und der damit einhergehenden Verschuldung der
öffentlichen Haushalte begründet wird, führt zu einer Konzentration
auf Fragen des Wirtschaftswachstums. Aber auch wirtschaftliches
Wachstum hat in den vergangenen Jahren nicht zu einer gerechten
Beteiligung aller am Markteinkommen geführt. Nach wie vor ist die
Frage nach sozialer Gerechtigkeit eine sozialstaatliche Gestaltungsaufgabe.
Die Einseitigkeit bei der Verteilung der Lasten und der Privilegien in
unserer Gesellschaft stellt den Sozialstaat in Frage. Die ungleiche
Verteilung der ausreichend vorhandenen Ressourcen1 lässt die
„soziale Schere“ immer weiter auseinander klaffen. In den letzten
zwanzig Jahren ist mit der Armut zugleich der Reichtum in Deutschland gewachsen. Anhaltende Massenarbeitslosigkeit, Wohnungsnot
für bestimmte Zielgruppen, Überschuldung einkommensarmer
Haushalte und die Armut von Kindern und Jugendlichen stehen
einem überdurchschnittlichen Wachstum der Geldvermögen von
Privatanlegern gegenüber.
Der Ausschluss vieler Menschen von der Teilhabe an der gesellschaftlichen Entwicklung stellt die demokratischen Grundlagen des
Gemeinwesens in Frage. Unsere Gesellschaft entwickelt sich von
einer Solidargemeinschaft hin zu einer individualisierten Gesellschaft.
Die Privatisierung bei der Absicherung sozialer Risiken (Alter,
Krankheit, Arbeitslosigkeit usw.) ist nur eine Folge des insgesamt
kälter werdenden gesellschaftlichen Klimas.
Es ist Aufgabe von Kirche und Diakonie, den Skandal der einseitigen
Verteilung der Lasten zu Ungunsten der Schwächeren öffentlich zu
machen und für die Schließung der Gerechtigkeitslücke einzutreten.
Festschrift Gerechtigkeit hat eine Lücke
Auch für den Westfälische Herbergsverband e.V. ist es ein wesentliches Ziel, die Kluft zwischen Arm und Reich ins öffentliche Bewusstsein zu bringen und der Ausgrenzung entgegen zu wirken.
Dabei richten wir unseren Blick vor allem auf die (Lebens-)bereiche
Gesundheit, Arbeit, Chance auf Verwirklichung, Wohnen, materielle
Existenzsicherung und Bildung.
Münster, den 06. März 2008
Der Vorstand
Fußnote
1 Die – finanziell gesehen – untere Hälfte der Gesellschaft verfügt über einen
Anteil von nur 3,4 Prozent am Markteinkommen. Das Einkommen eines
Arbeiters im produzierenden Gewerbe wuchs vom Jahr 2005 auf 2006 um 1,7
Prozent (34.000 € Brutto), während die Vorstandsvorsitzenden der DAX-Konzerne im Jahr 2006 14 Prozent mehr verdienten als im Jahr davor (durchschnittlich 4,3 Mio. Euro brutto). Quelle: GEO-Umfrage 10/2007
67
68
125 Jahre Westfälischer Herbergsverband Müssen wir ins SGB II?
Müssen wir ins SGB II?
Diskussion
2005 wurde aus dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG) das
SGB XII, und es trat mit dem Zweiten Sozialgesetzbuch
(SGB II) „Grundsicherung für Arbeitsuchende“ ein neues
Gesetz in Kraft. Gedacht war das SGB II unter dem Ruf „Hilfe
aus einer Hand“ als die Bündelung bis dahin verschiedener
Gesetze für arbeitslose Menschen.
Für die Hilfe für Menschen in besonderen sozialen Schwierigkeiten gemäß §67ff SGB XII war es der Beginn geteilter
Zuständigkeiten und vieler, vieler Abstimmungsprobleme.
Pro und Contra der Integration von Menschen in besonderen Schwierigkeiten in die Grundsicherung für Arbeitssuchende
•
zu einem Ergebnis ausdiskutiert werden kann.
keine Moderatoren für die Arbeitsgruppen gefunden zu haben,
da potentielle Kandidaten und Kandidatinnen lieber subjektiv mit
diskutieren wollten als objektiv zu moderieren.
Im Plenum haben wir in drei Blöcken zu drei Fragestellungen
zunächst Positionen gesammelt und notiert und anschließend in einer
Abstimmung mit je drei Stimmen ein Meinungsbild erstellt.
Die Fragestellungen waren:
• Welche Positionen zum Thema gibt es?
• Was heißt das für die politische Arbeit in Richtung der Landschaftsverbände, der Ministerien und der Bundesebene?
• Was heißt das für die praktische Arbeit?
Diskussion
Auf den folgenden Selten sind die gesammelten Positionen und das
Abstimmungsergebnis (Meinungsbild) dokumentiert.
Am Nachmittag haben wir die klassische Form der Fachtagung mit
der Aufteilung in Arbeitsgruppen verlassen und sind im Plenum
zusammen geblieben.
Die Gesamtzahl der Anwesenden war laut Teilnahmeliste 42 Personen = 126 Stimmen.
Diese Entscheidung ist aus mehreren Gründen gefallen und hat sich
im achhinein als sowohl praktikabel als auch richtig erwiesen. Die
Gründe für die Entscheidung waren:
• das vermutet große Meinungsspektrum der Teilnehmenden,
• das vermutet große Interesse der Teilnehmenden, möglichst
viele Positionen kennen zu lernen,
• die Vermutung, dass das Thema auch nicht in Kleingruppen bis
Aus den Additionen lässt sich einschränkend vermuten, dass
entweder nicht alle Anwesende von ihren drei Stimmen Gebrauch
gemacht haben und/oder nicht alle Anwesenden eine Position durch
Handheben dokumentiert haben.
Festschrift Müssen wir ins SGB II?
Welche Positionen gibt es?
Position
Meinungsbild
Prozent
Jeder hat das Recht auf Arbeit entsprechend seiner Ressourcen –
dies gewährleistet im Grundsatz das SGB II.
14
23,22
Nicht für jeden Menschen in besonderen sozialen Schwierigkeiten ist
das Thema Arbeit der (erste) Hebel zur Integration – „Schutz(raum)“
vor SGB II.
14
23,22
Das Problem ist die Auflösung der Hilfen aus einer Hand, die es im
BSHG noch gab.
2
3,33
Wenn individuell besondere soziale Schwierigkeiten im Vordergrund
stehen (= Problembündel so dicht, dass es erst entwirrt werden
muss), müssen diese Priorität haben – allein im SGB XII.
18
30,00
Positiv an der Entwicklung – Die Situation der Menschen kommt
wieder in das Bewusstsein der Öffentlichkeit.
1
1,67
Wir müssen uns an der Normalität orientieren, so schlecht diese
auch ist.
5
8,33
Nicht das Gesetz ist schlecht, sondern die Anwendung.
3
5,00
SGB II und SGB XII haben die gleichen Ziele -->
SGB II kann auch Hilfen für Menschen in besonderen sozialen
Schwierigkeiten anbieten, das müssen wir einklagen.
3
500
60
69
70
125 Jahre Westfälischer Herbergsverband Müssen wir insSGB II?
Was heißt das für die politische Arbeit in Richtung der Landschaftsverbände,
der Ministerien und der Bundesebene?
Position
Meinungsbild
Prozent
4
6,90
Sich dafür einsetzen, dass Hilfe aus einer Hand unter Federführung
Hilfeplan § 67 passiert.
10
17,24
Klären, wie wir erklären, dass ein besonderes Problem für Menschen
in stationärer Hilfe besteht.
3
5,17
Sauber trennen, wo Klientenrechte und wo Trägerrechte betroffen
sind – oder wo beides passiert.
3
5,17
Schnittstellen rechtlich prüfen (lassen)
23
39,44
Sozialpolitik ansprechen – Tut alles, um das Problem generell zu
lösen (Schnittstellengesetz).
10
17,24
Andere Ressourcen als den Staat erschließen (Stiftungen etc.)
0
0
öffentlich skandalisieren
5
8,62
Arbeit anders definieren: u.a.
Werben für die Aussage: Arbeit ist nicht gleich Erwerbsarbeit
Erwerbsfähigkeit anders definieren.
Definieren der Formel „unter normalen Bedingungen
des Arbeitsmarktes“
58
Festschrift Müssen wir ins SGB II?
71
Was heißt das für die praktische Arbeit?
Meinungsbild
Prozent
Das Konzept der stationären Hilfe wieder enger stricken
Position
0
0
Unser Verhältnis zum Thema Sanktionen / Fordern und
Fördern klären
24
36,92
Auflösen der stationären Hilfe
3
4,62
Vom Einzelfall her argumentieren / intensive Einzelfallprüfung
16
24,62
Prüfen, ob Klagen angezeigt sind
17
26,15
Klienten zurück in die Flure der Gesundheitsämter u.a. begleiten,
Gutachten einfordern und damit wieder Aufmerksamkeit erregen.
5
7,69
65
Fazit
Es sind viele Kolleginnen und Kollegen gekommen!
Wir haben zwei sehr interessante Vorträge gehört, die ich zur
Nachlese wärmstens empfehle!
Wir sind uns begegnet, haben diskutiert, gelacht und (ich hoffe) gut
gegessen.
Und wir waren gar nicht so weit auseinander in unseren Meinungen,
wie es das Tagungsthema und einzelne Gespräche im Vorfeld haben
vermuten, vielleicht sogar haben befürchten lassen.
Das hat mich am meisten beeindruckt.
Alles in allem also eine rundum gelungene Veranstaltung – was will
man/frau mehr!
Die meiste Zustimmung fanden diese drei, etwas um den Gesamteindruck der Diskussion erweiterte Aussagen:
• Im Zusammenspiel von SGB II und SGB XII bedarf es einer
besonderen Würdigung von besonderen sozialen Schwierigkeiten nach der Definition des SGB XII in Federführung und
Verantwortung des SGB XII.
• Die Idee des Gesetzes geht – die Ausführung ist fehlerhaft -->
Schnittstellen müssen geprüft werden – vermutlich über die
Gerichte.
72
125 Jahre Westfälischer Herbergsverband Müssen wir ins SGB II?
•
Wir müssen unser Verhältnis zum Thema „Sanktionen“ und zum
Thema „Fordern und Fördern“ klären...
Keines der Themen bzw. keine der Forderungen wird sich von alleine
erfüllen. Wir müssen also weiter etwas tun.
Es bleibt eine Aufgabe des Westfälischen Herbergsverband e.V. bei
aller Einigkeit, aber nicht zu verschweigenden Unterschiedlichkeiten
in den Positionen, diese Diskussion fortzusetzen und Sie, liebe
Kolleginnen und Kollegen, bei der Umsetzung in der Praxis weiter zu
unterstützen.
Münster, den 11. Februar 2009
Jan Orlt, Geschäftsführer
aus: Dokumentation eines
Fachtages am 29. Januar 2009
in Münster
Hrsg.: Westfälischer
Herbergsverband e.V.
S. 28-32
Festschrift Erinnerungen
Erinnerungen
125 Jahre wird der Westfälische Herbergsverband e.V. alt.
25 Jahre sind seit dem 100-jährigen Jubiläum vergangen.
Einige Kollegen und Kolleginnen sind genau diese 25 Jahre,
zum Teil schon länger, dabei und haben uns für diese Festschrift ihre Erinnerungen aufgeschrieben, die wir auf den
folgenden Seiten präsentieren.
Immer unterwegs
Schäferhof – Bodelschwingh-Haus – Jödebrunnen – Gut Dauelsberg
– Wegwende – Käsdorf – Herberge zur Heimat – Drevermannstift
– Perthes-Haus – Haus Birkenkamp – Haus Maria Veen – RudolfWinzer-Haus – Christopherus-Heim – Lühlerheim – Heinrich-Oberwinter-Haus –Antoniusheim – Petrusheim – Hugo-Roth-Haus – Dornahof – Erlacher Höhe – Herzogsägmühle Simonshof – Eremitage
Bretzenheim – Quellenhof…
…eine persönliche, willkürliche Auswahl von klingenden Namen, die
Anfang der 1980er Jahre zu Beginn meiner sozialarbeiterischen
Tätigkeit in der Wohnungslosenhilfe in Bielefeld-Bethel eine große
Bedeutung hatten. Seitdem hat sich Vieles und Grundlegendes
verändert.
Die damalige Großeinrichtung (ca. 130 stationäre Plätze, am Rande
der Stadt und schon ländlich gelegen) war historisch gewachsen. Die
Grundfesten der Einrichtung schienen in jener Zeit nahezu unverrückbar – das gemeinschaftliche Essen im Speisesaal, die Kleiderkammer
und die Nähstube, die zentrale wöchentliche Geldauszahlung, die
nicht immer freiwillige Geldeinteilung u.a. mit unfreiwilligem bargeldlosen Einkauf in dem kleinen hauseigenen Lädchen, die Landwirtschaft und die „Klammerbude“ (Werkstatt für Kleinmontage-Wäscheklammern), das Mehrbettzimmer auch im Übergangsbereich, die
73
Verpflichtung zur Abgabe der Krankenscheine und der verordneten
Medikamente, das absolute Alkoholverbot mit häufigen Alkoholexzessen in der Umgebung der Einrichtung.
Dort sind mir noch Menschen buchstäblich „auf Wanderschaft“
begegnet. Sie erzählten mir, dass sie bestimmte Touren hätten. Die
Runden, die sie drehten, ähnelten sich sehr. Die eher kleinere führte
durch Westfalen, bisweilen bis nach Niedersachsen oder Hamburg
hinauf. Die andere, südliche Runde erstreckte sich über Hessen bis
nach Baden-Württemberg und Bayern. Der Verlauf der „Wanderungen“ richtete sich natürlich nach der Lage von Einrichtungen.
Große Städte wurden in der Regel gemieden. Heime mit guter
Verpflegung und sonstiger Versorgung waren gefragt. An einen
Tagessatz für Durchwanderer war noch nicht zu denken. Das System
der stationären Hilfen war darauf eingestellt.
Das waren die „nichtsesshaften“ Menschen, bei denen immer wieder
„die Schuhe im Schrank klapperten.“ Nun muss ich vermerken, dass
die Einrichtung nicht immer freiwillig verlassen wurde. „Flugscheine“
– fristlose disziplinarische Entlassungen – waren nichts Ungewöhnliches. Die Entscheidung zu einer disziplinarischen Entlassung folgte
nicht immer einer fachlichen Bewertung der Situation. Aufgrund des
Verhaltens der Betroffenen (z.B. Aggressionen unter Alkoholeinfluss
und durch Probleme im Mehrbettzimmer) und aufgrund der fehlenden
Betreuungsmöglichkeiten der Einrichtung mit nur wenigen qualifizierten Mitarbeitenden war das oft die Ultima Ratio.
Im Laufe der Jahre traf ich dann Menschen, die wiederkehrten. Durch
Beobachtungen und durch Gespräche mit den Bewohnern über ihre
Lebenssituation entstand für mich ein geschlossenes Bild der
Zusammenhänge. Oft wurden Bewohner im alkoholischen Entzug
aufgenommen. Nach einer mehr oder weniger qualifizierten Entgiftung nahmen sie sich für ihren weiteren Lebensweg in der folgenden
(relativen) Abstinenzphase einiges vor. Bei dem Leben „unterwegs
auf der Straße“ blieben der Zahnersatz, die Brille oder der Ausweis
74
125 Jahre Westfälischer Herbergsverband Erinnerungen
schon einmal auf der Strecke. Auch die Behandlung von Verletzungen oder Krankheiten war kaum möglich. Probleme wurden jetzt
angegangen und dringende persönliche Angelegenheiten geregelt.
Doch irgendwann war der Suchtdruck zu groß und dem „Griff zur
Flasche“ war nicht zu widerstehen – der Beginn der nächsten
Trinkphase. Bei vermehrtem, übermäßigem Genuss kommt es
unweigerlich wieder zu Problemen mit anderen Bewohnern oder der
Hausordnung und den Mitarbeitenden. Die zwangsläufige Folge: die
disziplinarische Entlassung und Hausverbot, ohne Unterkunft und
festen Wohnsitz, der alkoholischer Absturz sowie, früher oder später,
ein Ortswechsel in Richtung der nächsten Einrichtung.
Ohne qualifizierte Hilfe war es mit etwas Anstrengung zu schaffen,
sich den (Heim-)Bedingungen etwa vier bis sechs Wochen anzupassen und das Alkoholproblem zu kontrollieren. Mancher Bewohner
wartete den Rausschmiss nicht erst ab und verließ uns vorher
(„unkoordinierter Abgang“). Doch viele konnten nicht anders und
mussten die fristlose Entlassung und das Hausverbot in Kauf
nehmen, in der Regel ein halbes oder ein ganzes Jahr. Das Weitere
ist eine einfache Rechnung: Wie viele Einrichtungen müssen in dieser
Weise durchlaufen werden, bis das jeweilige Hausverbot abgelaufen
ist?
Es gibt aber noch andere Gründe, die die Bewohner dazu bewegten,
die stationären Einrichtungen wieder zu verlassen. Ohne festen
Wohnsitz sind (Ein-)Schreiben z.B. von Justizbehörden bei Schulden
und Strafverfahren nicht zustellbar und „Hausbesuche“ nicht
möglich. Sicherungshaftbefehle werden ausgestellt, aber ihre
Vollstreckung ist eher Zufall. Doch mit der behördlichen Anmeldung
in einer Einrichtung kommen nach einer gewissen Zeit auch die
entsprechenden Schreiben ins Haus oder die Polizei steht vor der
Tür. Es wird Zeit, wieder zu gehen.
Die Hilfen für wohnungslose Menschen haben sich in vielfältiger
Weise entwickelt. Die Unterbringung in den stationären Einrichtungen
ist deutlich verbessert, und die Beratung und Begleitung setzt unter
anderem direkt bei diesen Problemlagen an. So muss (oder müsste)
zumindest aus diesen Gründen kaum noch jemand auf die „Wanderschaft“. Doch müssen wir aufmerksam bleiben, damit wir keinen
Menschen mutwillig oder fahrlässig durch Art und Form unsere Hilfe
vertreiben.
Klaus Loevenich
Bielefeld, 13. Juli 2010
Festschrift Erinnerungen
Meine Zeit in der
Wohnungslosenhilfe
In der Nichtseßhaftenhilfe, wie die Wohnungslosenhilfe damals noch
genannt und geschrieben wurde, bin ich seit dem 1. April 1981 tätig.
Diese Tätigkeit ist für mich nicht zum Aprilscherz geworden und
darüber bin ich bis heute froh. Als ausgebildete Sozialpädagogin fand
ich es damals – nach der Arbeit mit geistig behinderten Kindern und
jungen Erwachsenen – interessant, mit erwachsenen Männern zu
arbeiten und dabei beruflich viel Neues zu lernen.
Mein Start in der Wohnungslosenhilfe führte mich in eine große
stationäre Einrichtung. Kurz zuvor war dort der kostendeckende
Pflegesatz eingeführt worden, und es konnten viele neue Stellen
geschaffen und besetzt werden. Schnell musste ich erfahren, dass es
dort eher darum ging, den Alltag der Einrichtung aufrecht zu erhalten:
Arbeit/Beschäftigung der Bewohner (ausschließlich Männer) in der
Klammerbude, der Landwirtschaft oder im Garten; Haushelfer
(Kalfaktoren) waren für die Sauberkeit in Zimmer, Fluren und Sanitärräumen verantwortlich. Morgendliches Wecken der Bewohner
gehörte zu den Routineaufgaben; ebenso aufzupassen, dass es
keine alkoholischen Entgleisungen gab. Selbstverständlich war der
Alkoholkonsum in den Einrichtungen verboten, und es gehörte zu
den Aufgaben der Sozialen Arbeit, die Einhaltung dieses Verbotes zu
überwachen und ggf. einzuschreiten. Dies bedeutete, den Alkohol zu
konfiszieren und Saufgelage aufzulösen.
Vor mir gab es kurzfristig eine andere Frau, die als Sozialarbeiterin
dort arbeitete; gleichzeitig mit mir gab es dort eine Diakonisse, mit
der ich mich gut über männliches und weibliches Rollenverhalten
austauschen und es reflektieren konnte. Weitere Frauen gab es in der
Küche und in der Waschküche.
Anfangs gehörten zu meinen Aufgaben im Wochenenddienst auch
die Körperpflege der Altenheimbewohner sowie die Medikamentenvergabe.
75
Wer die Woche über beim Alkoholkonsum oder betrunken erwischt
worden war, erhielt keine Taschengeldauszahlung, sondern einen
„Schüttelscheck“, mit dem er im hauseigenen Kiosk seinen Bedarf an
Tabakwaren, Kaffee und Hygieneartikel decken konnte.
Die Vermittlung in Wohnung oder Arbeit geschah eher zufällig, meist
auf Initiative der Betroffenen. Eine systematische Hilfeplanung wie
heute war nicht üblich. Über die Sozialberichte wurden die Betroffenen informiert; mit ihnen erstellt, um zu reflektieren und die Hilfe
voranzutreiben, wurden sie nicht. Damit waren viele soziale Fachkräfte unzufrieden, und es begann die Zeit des Wandels und des
Paradigmenwechsels. Beratungsstellen und Beratungsangebote sind
zu dieser Zeit entstanden, und es tobten harte Auseinandersetzungen
bis hin zu persönlichen Beschimpfungen zwischen den Vertretern der
stationären und der ambulanten Hilfen.
Als ich an meiner ersten Beckhof-Konferenz teilnahm, vermutlich
1982 oder 1983, saß ich neben einem Vertreter der ambulanten Hilfe,
der, nachdem er herausfand, dass ich stationär arbeitete, mich übelst
dafür beschimpfte, dass ich in einem solchen System arbeitete.
Anfang der 1990er Jahre bin ich, nach Erfahrungen in der ambulanten Wohnungslosenhilfe, wieder sehr bewusst in die stationäre
Hilfe zurückgegangen, allerdings dann mit Leitungsverantwortung
ausgestattet. So hatte ich und habe ich bis heute Gelegenheit, an der
Gestaltung und Organisation der Hilfe für Menschen in besonderen
sozialen Schwierigkeiten mitzuwirken und neben differenzierten
stationären Hilfen auch für ambulante Angebote zu sorgen.
In den stationären Einrichtungen sind heute vielerorts Einbettzimmer,
gar kleine Wohneinheiten mit Küche und Bad, eigener Zimmer- und
Haustürschlüssel, eigner Briefkasten, Alkoholkonsum im eigenen
Zimmer, individuelle Hilfeplanung, Mitwirkung und Mitgestaltung am
Hilfeprozess und ambulante Nachsorgeangebote (und noch Vieles
mehr) Selbstverständlichkeiten. Zu den Selbstverständlichkeiten
gehört es auch, die Hilfesuchenden so schnell und nachhaltig wie
möglich in die Eigenständigkeit zu führen und an weitere ambulante
Angebote anzuschließen. Die heutige Wohnungslosenhilfe ist keine
76
125 Jahre Westfälischer Herbergsverband Erinnerungen
Männerhilfe mehr, sondern in der Lage, wohnungslosen Männern und
wohnungslosen Frauen angemessene Hilfeangebote zur Verfügung
zu stellen.
Was mich heute noch ärgert:
• Beratungsstellen und stationäre Hilfeangebote scheinen nur dort
wirklich Hand in Hand zu arbeiten, wo sie unter einer Leitung
stehen. Ansonsten ist es eher ein friedliches Nebeneinander, bei
dem man sich ab und zu mal in Anspruch nimmt.
• Über das Nettoprinzip werden seitens des Kostenträgers
finanzielle Risiken auf die Träger stationärer Hilfen verlagert.
• Finanznot und veränderte Einstellungen und Haltungen führen zu
politischen Beschlüssen, die mit großer Kraft seitens der
Verwaltung umgesetzt werden. Die Träger der Hilfen sind nicht
mehr Mitgestalter von Veränderungsprozessen, sondern werden
zu Leistungsanbietern, deren Hilfen immer differenzierter
werden. Großenteils können sie auf die Vorgaben von Politik und
Verwaltung nur reagieren. Nur damit ich nicht falsch verstanden
werden: nichts gegen Veränderungen – aber Beteiligung ist nicht
nur im Hilfeprozess Voraussetzung für ein gutes Gelingen.
Sigrid Kübler-Molitor
Hamm, im Juli 2010
Festschrift Erinnerungen
Gut versorgt
Hauswirtschaft in stationären
Einrichtungen
Von 1981 bis 2001 arbeitete ich unter anderem als Hauswirtschaftsleitung in einer stationären Einrichtung mit ca.130 Plätzen mit
Aufnahme/Übergangsbereichen, Wohnheimen und einem so
genannten Altenheim für alte und chronisch kranke Bewohner. Die
Hauswirtschaft war zuständig für die Verpflegung, die Reinigung, die
Hauswäsche und persönliche Wäsche, die Nähstube und Kleiderkammer sowie für die atmosphärische Ausstattung.
Wir verfügten über einen großen gemeinsamen Speisesaal für alle
Bewohner mit ca. 120 Plätzen. Dieser teilte sich in einen großen und
einen kleineren Bereich auf. Der letztere war für die Bewohner des
Altenheims reserviert, da dieser über einen Flur direkt mit dem
Altenheim verbunden war.
Die Essenzeiten jeweils 15 bis 20 Minuten:
Frühstück 7:30 Uhr (Wochenende 8:30 Uhr)
Mittagessen 12:00 Uhr
Abendbrot 18:00 Uhr.
Die Speisen wurden von uns weitgehend frisch zubereitet und zu den
Essenszeiten tischweise bereitgestellt.
Mindestens eine Mitarbeiterin bzw. ein Mitarbeiter aus der Sozialarbeit musste bei den Mahlzeiten im Speisesaal anwesend sein und die
Mahlzeiten eröffnen. Über einen langen Zeitraum geschah dies über
Mikrofon mit einem Gebet. Im Speisesaal gab es eine Sitzordnung,
die die zuständige Hauswirtschaftsmitarbeiterin mit den Bewohnern
erstellte. So wurde weitest gehend gewährleistet, dass die Bewohner
zusammen saßen, die miteinander umgehen konnten. Bei so vielen
77
Menschen gab es natürlich gelegentlich Konflikte zu schlichten. Und
manchmal musste jemand aus dem Speisesaal verwiesen werden.
Wir deckten alltags die Tische unter anderem mit folgenden Lebensmitteln ein: Margarine, von den Bewohnern Wagenschmiere genannt;
morgens „Muckefuck“, Brot, Milchsuppe und Schmalz, eine Scheibe
Wurst oder Käse; abends den beliebten roten oder gelben Tee.
Mittwoch und Sonntag früh bekamen die Bewohner ein Ei und ein
Brötchen zusätzlich, sonntags dann endlich auch Bohnenkaffee.
Abends bereiteten wir neben der Kaltverpflegung auch noch eine
warme Kleinigkeit (z.B. Bratkartoffeln) zu.
Am Sonntag gab es mittags zusätzlich ein Stück Kuchen. Samstags
und sonntags erhielten die Bewohner für abends ein Brotpäckchen,
mit Rücksicht auf die Sportschau und andere Freizeitaktivitäten.
Zur Fußball-EM und -WM passten wir die Essenszeiten den Spielen
an, oder es gab die bereits erwähnten Brotpäckchen.
Etliche Bewohner arbeiteten in der dazu gehörigen Landwirtschaft
und im hauseigenen Garten. Sie wurden von uns alltags um
10:00 Uhr mit Schmalzstullen versorgt. Zusätzlich zu den Schlafbereitschaften der Hausleitung und der Sozialarbeit, wachten besonders ausgewählte Bewohner in der Nacht zur Registrierung von
besonderen Vorkommnissen und zur Alarmierung der Mitarbeitenden
im Notfall. Diese Nachtwächter musste immer besonders umsorgt
werden und erhielten für die Nacht eine reichhaltige Extra-Verpflegung. Aber es gab noch weitere besondere Situationen, in denen die
Küchenmitarbeitenden besondere Aufgaben hatten. So bekam jeder
Bewohner zu seinem Geburtstag einen selbstgebackenen Geburtstagskuchen an seinen Sitzplatz gestellt. Für erkrankte Bewohner
bereiteten wir bei Bedarf gesondert Speisen, und diejenigen, die
sterbenskrank waren, erhielten über uns Wunschkost.
Die Milch bekamen wir täglich „zapffrisch“ aus der eigenen Landwirtschaft. Jeden Abend kam ein Bewohner – „Katzenvater“ genannt –
78
125 Jahre Westfälischer Herbergsverband Erinnerungen
zu uns in die Küche, um sich für die Versorgung der vielen Katzen der
Einrichtung Milch abzuholen. Er kümmerte sich liebevoll all die Jahre
um die Katzen (bis zu 15 Tiere) und bezahlte von seinem eigenen
Geld Tierarztkosten. Der Bestand ergab sich durch zugelaufene, zum
Teil ausgesetzte Tiere. Um diesen ein wenig einzudämmen, führten
wir einmal sogar eine größere Kastrationsaktion durch.
Meine Tür Öffnen
Wo ich hinschaue, sehe ich
Menschen in leiblicher
und seelischer Not
Ich kann versuchen,
sie nicht zu sehen, –
aber sie schauen mich an.
Ich kann versuchen,
ihnen aus dem Weg zu gehen, –
sie aber begegnen mir.
Ich kann versuchen,
ihnen klarzumachen,
dass ich nicht helfen kann, –
aber sie warten auf meine Hilfe.
Vater, lass mich meine Türen öffnen
für jeden,
der bei mir anklopft.
Lass mich ihm keine Steine geben,
sondern Brot!
Christian Kipping
Der eigene Gartenbereich lieferte uns zu bestimmten Zeiten viel Obst,
Gemüse und Kräuter. Nicht selten saßen wir nachmittags in der
Gemüseküche, um die Massen z.B. an Bohnen zu verarbeiten, und
es kam gelegentlich eine Sozialarbeiterin hinzu, um uns mal für eine
halbe Stunde zu helfen. In dieser Zeit wurde dann überwiegend über
dienstliche Angelegenheiten gesprochen, sozusagen eine informelle
Dienstbesprechung. Im Gegenzug halfen wir dann der Kollegin, wenn
in einem Bewohnerzimmer wieder einmal das Essen „durch das
Zimmer lief“ und alle Bemühungen nicht fruchteten, dass der
Bewohner die alten Lebensmittel und Essensreste wegwarf. Ein paar
liebevoll konsequente Worte von uns und leichtes Aufbegehren des
Bewohners, und wir durften dann doch die Essenreste entsorgen.
Dies wäre heute aus vielerlei Hinsicht undenkbar, alleine schon durch
die veränderten Hygiene-Richtlinien, aber auch durch die striktere
Trennung der Arbeitsbereiche. Jetzt gibt es die hauswirtschaftliche
Beratung zur Förderung der Selbstständigkeit, die in solchen Fällen
tätig wird.
Heute, gut 25 Jahre später, hat sich die Einrichtung durch Zusammenlegung mit anderen Einrichtungen, durch Dezentralisierung und
Differenzierung grundlegend verändert. Der zentrale stationäre
Bereich ist sehr verkleinert. Die Bewohner können sich die Verpflegung bei unterschiedlichen Anbietern bestellen oder essen in den
Firmenkantinen, bei Fast-Food-Ketten, in Bäckereien, usw. Was vor
Jahren zaghaft begann, ist in den meisten Wohnbereichen selbstverständlich: Die Bewohner müssen nun auch ihre Lebensmittel
einkaufen, einige kochen selbst. Auch hier findet jetzt natürlich
hauswirtschaftliche Beratung statt.
Elke Jesdinsky
Bielefeld, im Juli 2010
Festschrift Erinnerungen
Blitzlichterinnerungen
aus 40 Jahren Wohnungslosenhilfe und WHV
1970: Ersatzdienst (heute Zivildienst) in der Herberge zur Heimat des
Perthes-Werkes in Soest: Mehr als 50 Männer, die Hälfte davon in
zwei Schlafsälen. Außer den Hauseltern nur der Zivi und ein ungelernter Mitarbeiter. Oft mit 50 betrunkenen Männern alleine im Haus.
Ca. 8,00 DM Pflegekostenzuschuss pro Tag und Mann. Viel Gewalt,
viele Hausverbote, Laufkarten, Warnmeldungen. Die Menschen
gehen von Einrichtung zu Einrichtung. Dichte, intensive persönliche
Nähe. Übernachter machen Pflichtarbeit im barmherzigen Holzstall.
Erst dann bekommen sie ihre „Fleppen“ zurück. Die anderen arbeiten
in der Werkstatt, und viele sind nach ein paar Tagen vermittlungsfähig. Wir „vermieten“ für Tage, Stunden, Wochen an Bauern, Speditionen, Kohlenhandlungen, Tiefbau usw. Jeden Tag neue Einteilung.
Das Geld geht zunächst an die Einrichtung. Einige erlangen daraus
ein festes Arbeitsverhältnis für Tage, Monate, Jahre. Nicht wenige
werden „resozialisiert“. Im Vergleich zu heute: tagtägliche, schlimme
Rechtsbrüche – obwohl der Begriff nicht auftaucht. Aber auch eine
große Nähe und Offenheit der Männer für persönlichste Themen.
Und: Sie und die Einrichtung gehörten zur Stadt dazu! Wenn auch
problematisch, so aber doch mehr Inklusion als heute.
1978: Nach Nebenjobs in der Arbeiterkolonie Heimathof Homborn
(spannendes Miterleben, dass sozialrechtlich aus Gefährdetenhilfe
Rechtsansprüche werden – von vielen Profis missäugt) und Anerkennungsjahr im neuen Männerwohnheim des Perthes-Werkes in Soest
nun ausgebildeter Sozialarbeiter. Davon gibt es noch wenige in der
Wohnungslosenhilfe. Nun wieder im Heimathof. Intensive Auseinandersetzung mit Rechtsansprüchen – Bildung Heimrat – „Aufstand“
gegen die Hauselterngeneration – Problematisierung Pflichtarbeit.
79
Fazit des Heimathofes: „Nichtsesshaftenhilfe produziert Nichtsesshaftigkeit“ als mobilen Hospitalismus. Folgerung:
1. Wir benötigen ambulante Hilfen.
2. Wir benötigen Wohnungen.
3. Stationäre Hilfe muss reduziert werden – und die noch
verbleibenden Einrichtungen/Plätze müssen sich spezialisieren und genau sagen, was sie wie für wen machen wollen.
Direkte Folgerungen für den Heimathof: Massiver Einsatz zur
Verankerung von Beratungsstellen für wohnungslose Menschen,
Reduzierung der Platzzahl, Aufnahme nur noch über andere Beratungsdienste, Umbau zur Sozialtherapeutischen Einrichtung für
wohnungslose Männer mit einer Alkoholproblematik. Individuelle und
strukturelle „Beackerung“ der Versäulungen zwischen Wohnungslosen- und Suchtkrankenhilfe. Eine spannende, tolle und gelungene
Aufbauzeit, die 1995 nach Schwerpunktverschiebung auf konsequent
regionale Ausrichtung ihre vorläufige Konsolidierung erreicht.
2010: Weit über 1.000 Menschen haben seit 1978 den Heimathof in
äußerlich gesicherte Verhältnisse – überwiegend eine eigene
Wohnung – verlassen. Wohnungslosigkeit ist insgesamt zurückgegangen. Toll. Armut nimmt zu. Insgesamt keine großen Flügelkämpfe
mehr in der Wohnungslosenhilfe – aber auch kein großer Pepp mehr.
Auch die ambulante Hilfe ist in die Jahre gekommen… Die Träger
werden sozialtechnokratischer… Dem Heimathof stehen spannende
Prozesse bevor: Noch weitere Dezentralisierung/Regionalisierung.
Deutliche Verbesserung der Inklusionschancen. Und, und, und... Bin
gespannt darauf, wer dazu 2035 anlässlich „150 Jahre WHV“ etwas
schreibt.
Klaus Gresförder
Bielefeld, 2010
80
125 Jahre Westfälischer Herbergsverband Erinnerungen
Beginn der Arbeit in
Münster
Die Arbeit mit alleinstehenden Obdachlosen in Münster begann im
Juni 1982. Ich startete zunächst in den Räumen des Evangelischen
Gemeindedienstes im Diakonischen Werk Münster. Eine eigene
Bleibe für die neu eingerichtete Fachberatungsstelle existierte noch
nicht. Auch im Haus des Gemeindedienstes stand für mich als
Beraterin kein eigenes Büro zur Verfügung: Mein „flexibles Büro“
bestand aus einem Rollwagen mit Hängemappen, den ich bei Bedarf
– heißt bei Vorsprache eines/einer Klienten/Klientin oder für Schreibarbeiten usw. – in irgendein gerade nicht genutztes Büro schob. Also
war auch ich „obdachlos“ und zog mit meiner Habe immer dorthin,
wo mir jemand (s)einen Platz zur Verfügung stellte. Die Suche nach
einer „Wohnung“, also Büroräumen, war zunächst meine Hauptaufgabe. Am Anfang fand meine Arbeit mit Obdachlosen vorwiegend auf
der Straße statt. Ich suchte die Menschen an den Plätzen, ihren
bekannten Treffpunkten auf und versuchte, meine Hilfen anzubieten.
Hilfen, die bis dahin als ambulante Form in der Stadt unbekannt
waren.
Eine enge Zusammenarbeit gab es mit der Bischof-Hermann-Stiftung
als Trägerin von Übernachtung und stationärer Einrichtung für
Männer. Nach einiger Zeit konnten dann Büroräume in der von-Vincke-Straße angemietet werden. Damit war ich zwar nicht mehr
„obdachlos“, aber nach wie vor „alleinstehend“.
Durch die regelmäßigen Kontakte im „Arbeitskreis Westliches
Westfalen“ des WHV, damals mit dem Geschäftsführer Friedhelm
Hasenburg, wurde rasch deutlich, dass ich in Münster zwar alleine in
diesem Bereich arbeitete, aber die ambulante Wohnungslosenhilfe in
verschiedenen Städten ebenfalls im Aufbau war. Der fachliche
Austausch mit diesen KollegInnen bot mir wichtige erste Orientierung.
Der Zustand „alleinstehend“ wurde durch Einstellung der Mitarbeiterin Jessica Schmitz, die einer katholischen Lebensgemeinschaft
angehörte, beendet.
Nicht nur ich hatte durch die Anmietung der Büroräume eine feste
Adresse, auch wohnungslose Frauen und Männer verfügten über
meine Büroanschrift nun über eine Erreichbarkeitsanschrift für Ämter
usw.. Dadurch war es für sie möglich, Arbeitslosengeld oder Sozialleistungen zu beanspruchen und zu erhalten. Den großen Warteraum
in der Fachberatungsstelle nutzten die BesucherInnen auch als
Treffpunkt, als Tagesaufenthalt. Er bot ihnen die Möglichkeit, sich
aufzuhalten, Kaffee zu trinken, den gerade schlechten Witterungsverhältnissen zu entfliehen.
Nicht nur die Vermittlung in Wohnung, sondern auch in Arbeit gehörte
zu unseren Aufgaben. Es kam eine enge Zusammenarbeit mit der
Firma HFR-Rümpelfix zustande, die Reha-Arbeitsplätze anbot und
„unsere Männer“ mittels verschiedener Maßnahmen in die dort
angebundene Fahrradwerkstatt einband. Ausbildungsverträge waren
ebenso möglich wie unterschiedliche Entlohnungssysteme.
Parallel zu der Arbeit in den anderen Beratungsstellen und in
Absprache mit dem örtlichen Sozialamt wurde unser Aufgabenbereich dahingehend erweitert, dass auch Verhinderung von Obdachlosigkeit ins Aufgabenspektrum aufgenommen wurde. Teilweise
wurden Menschen mit entsprechender Problemlage vom Sozialamt
zu uns vermittelt. Auch die Betreuung und Begleitung (nun) ehemals
Obdachloser in ihrer (gefährdeten) Wohnung war eine dieser Aufgaben.
Hannelore Holzwarth
Backnang im Oktober 2010
Festschrift Erinnerungen
Logierbesuch
Am Morgen ist im Kindergarten eine Scheibe eingeschlagen, ein paar
Mark, die in der Küche liegen geblieben waren, fehlen. „Ein Dieb!“
flüstern die Kinder und genießen es, in „Lebensgefahr“ eben noch
schnell über die spitzen Glasscherben zu steigen, bevor gefegt wird.
„Im Gefängnis gibt es Essen aus dem Krankenhaus, nicht nur Brot“,
das hat neulich der Polizist auf der Wache erzählt, und da kommt er
nun jedenfalls bald hin, der Einbrecher. Die Scheibe wird erneuert,
das Geld ein- und die Haustür zweimal abgeschlossen. Am Morgen
klafft ein Loch dort, wo die Glasscheibe hingehört.
Fein säuberlich hat der oder die Unbekannte den frischen Kitt aus
den Fugen gekratzt und die Scheibe herausgenommen. In der Küche
fehlt das Radio, außerdem sind Butter und Käse aus dem Kühlschrank verschwunden. Butter und Käse? „Der Dieb hat unser
Frühstück gegessen“, empören sich die Kinder ob dieser Ungeheuerlichkeit. Mit einigen Bedenken wird die Scheibe wieder eingesetzt,
am Morgen liegt sie auf der Treppe, ja, aus dem Kühlschrank fehlt
Marmelade, und wo ist der Kellerschlüssel? Mit runden Augen fragen
die Kinder: „Schläft der Einbrecher in der Kuschelecke?“, aber ihre
eifrige Spurensuche verläuft ergebnislos. Sechs Nächte lang
wiederholt sich das gleiche Spiel.
81
„Ulla hat den Dieb gefangen“, melden dann aber eines Tages die
Kinder, und wirklich: Beherzt war die Erzieherin in den Keller gestiegen, feucht ist er und schlecht beleuchtet. Ein Gewirr leicht leckender
Wasserrohre an den niedrigen Decken, Moder, Gerümpel, Spinnweben und ein paar Mäuse – und da saß er, im Heizungskeller, neben
sich das Radio aus der Küche und Essensreste, in einer Ecke andere
Reste, „ganz doll hat das gestunken“, sie scheucht ihn raus, und
dann hat der Spuk tatsächlich ein Ende. „Das geht ja auch nicht,
dass der in unserem Keller wohnt“, schütteln weise die Kinder den
Kopf, und es geht eben wirklich nicht. Da muss er eben woanders...
„Wo wohnt der Mann jetzt?“
Jutta Henke
Aus: Jeder Mensch braucht eine
Wohnung, Projektzeitung
Hrsg.: Diakonisches Werk
Westfalen
82
125 Jahre Westfälischer Herbergsverband Autoren / Organisation
Autoren
Vorsitzende WHV
Klaus GresförderLangjähriger Leiter der Wohnungslosenund Suchtkrankenhilfe von Bethel vor Ort
Volker Handt Sozialberatungsstelle des Perthes-Werkes,
Hamm
Jutta Henke Leiterin des Sozialberatungsdienstes der
Evangelischen Diakoniestiftung Herford,
Vorsitzende WHV
Martin HenkeGeschäftsführer des Westfälischen
Herbergsverbandes e.V. von 1988 bis 1997
Hanne HolzwarthDiplom Sozialarbeiterin, ehemalige
Mitarbeiterin der Beratungsstelle Münster
Elke JesdinskyVerwaltung, Sozialdienst im Stiftungsbereich Integrationshilfen, v. Bodelschwinghsche Stiftungen Bethel
Raimund Klinkert1. Vorsitzender WHV, Dezember 1998 bis
Dezember 2006
Johannes LippertLandschaftsverband Westfalen-Lippe,
Münster
Sigrid Kübler-MolitorVerbundleiterin Evangelisches PerthesWerk e.V.
Klaus LoevenichQualitätsmanagement im Stiftungsbereich
Integrationshilfen, v. Bodelschwinghsche
Stiftungen Bethel, (ehemals tätig in der
stationären Wohnungslosenhilfe und der
nachgehenden Hilfe)
Jan Orlt
Geschäftsführer WHV
Martin SchoferSozialarbeiter, ehemaliger Geschäftsführer
im Diakonischen Werk der Evangelischen
Kirche von Westfalen
Klaus Schröder
Diplom Sozialarbeiter, Dortmund
Andreas WolfSozialberatungsdienst der Evangelischen
Diakoniestiftung Herford
Pastor Hans BachmannDezember 1984 bis
September 1990
Pastor Peter-Christian Fenner September 1990 bis
Dezember 1994
Karl-Hermann Köster Dezember 1994 bis
Dezember 1998
Raimund Klinkert Dezember 1998 bis
Dezember 2006
Jutta Henke seit Dezember 2006
Geschäftsführer WHV
Friedhelm Hasenburg Januar 1979 bis 1988
Martin Henke 1988 bis 1995
Uwe Hampel-Pöhler
September 1995 bis Juli 1997
Martin Henke Juli 1997 bis November 1997
Jan Orlt seit Dezember 1997
Festschrift Organigramm
Organigramm
83
Diakonisches Werk
Westfälischer Herbergsverband e.V.
Friesenring 32/34
48147 Münster
Telefon 02 51 - 27 09 - 3 31
Telefax 02 51 - 27 09 - 5 73
E-Mail [email protected]
Internet www.diakonie-rwl.de