Festrede von Prof. Dr. Ingo Sommer (Bonn)
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Festrede von Prof. Dr. Ingo Sommer (Bonn)
Sonderbriefmarke 100 Jahre Kaiser-Wilhelm-Brücke Donnerstag 9.8.2007 12:00 Uhr Rathaus Wilhelmshaven Festrede von Prof. Dr. Ingo Sommer (Bonn) Sehr geehrte Frau Staatssekretärin, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, sehr geehrte Damen und Herren, M enschen sind seit je von Brücken fasziniert und die Freude, kühne Viadukte zu bauen, ist so alt wie die Menschheit. Immer größere Spannweiten und zunehmend elegantere Konstruktionen wurden im Laufe der bautechnischen Entwicklung möglich. 120.000 Straßenbrücken gibt es in Deutschland: Aus Holz, Stein, Beton oder wie in Wilhelmshaven aus Stahl. Bogenbrücken, Balkenbrücken, Hängebrücken. Einige sind zu heben, hochzuklappen oder, wie die Kaiser-Wilhelm-Brücke, zu drehen. Obwohl sie Teil unserer Kulturgeschichte sind, wissen wir, wenn wir ehrlich sind, wenig über Brücken, mehr über Schlösser, Burgen und Kirchen. Brücken waren für uns Kinder geheimnisvoll: Wir schauten neugierig über Brückengeländer, winkten darunter fahrenden Fahrzeugen zu, spielten gar unter Brückenbögen, zählten sehnsüchtig vorbei gleitende Schiffe, wurden von Fernweh gepackt. Besonders faszinierten uns kühne Brücken, die über Flüsse, Kanäle oder Häfen führten. Später verstanden wir, dass Brücken nur der technischen Überführung von Verkehrswegen und der ökonomischen Überwindung von Hindernissen dienen und mit altertümlicher Romantik wenig zu tun haben. Hier etwas Geschichte: Ab dem 12. Jahrhundert ersetzte der massive Flussbrückenbau mehr und mehr die althergebrachten Fähren und Stege. Mönche und Dombauhütten verstanden sich im Mittelalter auf Brückenbautechnik. Gewagte Bogenkonstruktionen kamen, man sieht es, bei Kirchen und Brücken vor. Sogar religiöser Ablasshandel diente dem Brückenbau. Viadukte zu konstruieren wurde später ein Hoheitsrecht, eng verflochten mit rechtlichpolitischer Entwicklung. Fürsten überließen den Brückenbau wegen der Kosten und Risiken gerne den Städten. Diese erhoben Brückenzölle. Auf Brücken wurde oft auch Recht gesprochen und Delinquenten sogleich ins Wasser gestürzt. In den großen Städten des Altertums wohnte und arbeitete man auch auf Brücken. Kapellen, Stadttore, Festungstürme, Portale, Grenzstationen, Pilgerstätten und Heiligenfiguren wurden den Brücken hinzugefügt. Dass Brücken auch Warenströme leiteten, mit der Industrialisierung auch Eisenbahn und Automobil dienten, wird schnell klar. Dass sie aber auch, wie die Kaiser-WilhelmBrücke, militärischen Zielen oder der Garnisonsinfrastruktur dienen konnten, ist weniger bekannt. Brücken waren eben nicht nur spröde technische Bauwerke sondern mit allen sozialen, ökonomischen und kulturellen Lebensäußerungen der Menschen verbunden. D ie schlanke Kaiser-Wilhelm-Brücke war, als sie vor 100 Jahren fertig gestellt wurde, nationales Monument fortschrittlicher Baukunst und international beachtetes ingenieurwissenschaftliches Wunderwerk. Eine derartig kühne, neuartige und zugleich schöne Stahldrehbrücke war in Europa bisher noch nie gebaut worden: Mit zwei Zwischenachsen, symmetrisch und gleicharmig, und so hoch über den Marinehafen hinweg, und das war das Besondere, dass sogar größere Schiffe, Frachter, Torpedoboote und Segler darunter hindurch fahren konnten und können. Sie hat als noch in Betrieb befindliche 100jährige Drehbrücke weltweit Seltenheitswert und ist die größte in Europa. Sie gehört im statischen Sinne zu den modernen Hängebrücken, genauer: Sie ist eine Urform der Hängebrücke, eine Zügelgurtbrücke, aber aufgeteilt in zwei selbständig drehbare 1 Abschnitte. Zwei stählerne, rahmenartige, Fachwerkpylone sind über abschwingende Zügelgurte und vertikale, seilartige Aufhängungen mit den beidseitig auskragenden Fahrbahnen verbunden. Die Drehpylone mitsamt den Farbahnen werden mit Zahnrädern aus der Querfuge in der Brückenmitte herausgedreht. Ihre gefällige, girlandenartige, weit gespannte Form verbindet über das Wasser, und steht für Tradition und Fortschritt zugleich. Ein Brückenschlag von der Vergangenheit in die Moderne, als zeitgemäße Verbindung von Baugeschichte und Verkehrstechnik. H eute ist die Kaiser-Wilhelm-Brücke Technisches Denkmal und überregionaler Besuchermagnet der 1869 nach Preußenkönig Wilhelm I. benannten Marinestadt. Ihre Hauptdurchfahrtsbreite von 70 Meter übertrifft sogar die der Londoner Tower Bridge von nur 60 Meter. Die Kaiserliche Marine benannte die Brücke, nach dem Wilhelm I.- Enkel, nach Kaiser Wilhelm II., so sagt man. Oder war es vielleicht doch umgekehrt? Ob nach Wilhelm I. oder Wilhelm II. benannt: Die Hohenzollern hatten bereits vor der Gründung der neuzeitlichen Planstadt Wilhelmshaven, technische und industrielle Entwicklungen entscheidend gefördert und Infrastruktur ausgebaut. Unmodern, technikfeindlich und rückwärtsgewandt waren die preußischen Hohenzollern weiß Gott nicht. Des Kaisers Wilhelmshavener Brücke hat später alle Versuche preußenphobischer Umbenennung überstanden. Nachkriegspolitiker tilgten die allermeisten an die Berliner Dynastie erinnernden Namen. Die stolze Kaiser-Wilhelm-Brücke jedoch behielt ihren Namen. Gegen den Willen des Stadtrates hatten englische Navy-Offiziere 1949 die Umbenennung des weltbekannten Ingenieurkunstwerkes verhindert. A ls größte europäische Drehbrücke ist die Brücke Kulturgut. Sie verbindet die Stadt mit ihrer wilhelminischen Vergangenheit und ist als Unikat moderner Architekturgeschichte Denkmal von internationalem Rang. Das dämmerte auch den Lokalpolitikern 1975, als sie mit dem Hafenvertrag zwischen Bund, Land und Stadt radikale Ordnung in die kriegshinterlassenen Wilhelmshavener Staatsliegenschaften brachten und der Stadtverwaltung die drei Hafenbrücken zufielen. Ein Danaergeschenk für Wilhelmshaven, wie einige damals fürchteten. Der Hafenvertrag rettete 1975 möglicherweise die Kaiser-Wilhelm-Brücke vor dem Abriss, da sich bereits 1966, erst sechs Jahrzehnte nach ihrer Fertigstellung, der damalige Brückeneigentümer, die Bundeswasserstraßenverwaltung, mit Neubauabsichten trug. Sie genüge den Ansprüchen nicht mehr, so dass der Bau einer neuen Kaiser-Wilhelm-Brücke notwendig sein werde. Die damals nicht einmal 70 Jahre alte jetzt städtische Kaiser-WilhelmBrücke wurde 1975 jedoch unter Denkmalschutz gestellt. Ihr angeblich erforderlicher Abriss geistert aber immer mal wieder durch die Köpfe. Vorsicht ist also geboten. Vorsichtig sollte auch mit der benachbarten, ab 1910 gebauten Kaiserlichen Südzentrale umgegangen werden. Sie lieferte u.a. elektrischen Strom für die Brücke und ist mit ihr architekturhistorisch verbunden. 2003 wurde der Abriss schon einmal genehmigt. Der einstmals stolze Industriebau rottet trotz vielfacher Proteste als heruntergekommenes Spekulationsobjekt vor sich hin. Es ist schon merkwürdig: Deutschland das Geburtsland der Denkmalpflege mit 32 Weltkulturerbestätten baut Schlösser nach, tut sich aber mit dem Erhalt historischer Bauten des Arbeitslebens und der Industrie ungemein schwer. 1991 ging es der erst 80 Jahre alten Rüstringer Brücke am Kanalhafen an den Kragen. Für die dritte der denkmalgeschützten drei Hafenbrücken, die 1908 gebaute Deichbrücke wurden bereits Neubaupläne veröffentlicht. Kein Mensch würde die fast 900 Jahre alte Würzburger Mainbrücke oder die gleich alte Regensburger Donaubrücke abreißen wollen. D ie Wilhelmshavener Binnenhäfen und die Kaiser-Wilhelm-Brücke in ihrem Zentrum erzählen die Geschichte der Marine- und Nordseestadt Wilhelmshaven. Sie erzählen von 2 der Jahrhundertwende als Blütezeit der Industriellen Revolution und der Ingenieurbaukunst mit großer Vielfalt technischer Spitzenleistungen. Was in den westdeutschen Industriegebieten Kohle und Stahl, Hüttenwerke und Fabriken bewirkten- das erreichte in Wilhelmshaven die Marine mit wissenschaftlichen und technischen Leistungen an der Nahtstelle zwischen Tradition und Moderne. Das ist nun 100 Jahre her und man muss sich der Einsicht stellen, dass nicht jede Vergangenheit eine Zukunft haben kann. Die Südstadt und die Stahldrehbrücken, die Garnisonbauten und Werfthallen, die Hafenränder und Anlegebrücken sind ein einzigartiges Gesamtkunstwerk. Sie bedürfen eines neuen strukturellen Zusammenhanges um sich in ihrer ganz besonderen Schönheit zu entfalten. Man sollte da nichts herausbrechen! Der Große Hafen hat eine Marinevergangenheit aber auch angrenzende, spätklassizistische und wilhelminische Wohngebiete, Schulen, Krankenhäuser und Kasernen. Viel eher als andere Städte hat Wilhelmshaven beispielhafte Neunutzungen in Nachbarschaft der Kaiser-Wilhelm-Brücke entwickelt: Museen, Promenaden, Forschungseinrichtungen, Büros, Kultureinrichtungen, auch Wohngebäude. Das Gesamtkunstwerk Südstadt und Binnenhäfen muss gleichwohl intelligent und kreativ weiter entwickelt werden: Erhalt soviel wie möglich, Umbau soviel wie nötig. Z urück zur Brücke. Außer dem 4.9.1907, als Tag der Inbetriebnahme ohne Feierlichkeit, ist eigentlich alles unklar. Angeblich sei sie bereits offiziell am 29.8.1907 eingeweiht worden. Oder auch: Wilhelm II. sei am 7., 8. oder 9.9.1907 da gewesen und habe vielleicht die Brücke passiert, aber nicht betreten. Dann wieder wussten Heimatforscher zu berichten, dass Majestät viele Monate später, am 6.3.1908 zur umjubelten Einweihung gekommen sei. Noch verworrener: Einmal am 28.8.1907, dann wieder am 22.2.1908, flog angeblich einen Tag vor der Einweihung nach einer Gasexplosion das nordwestliche Brückenwärterhaus in die Luft. Das Attentat sei „durch Terroristen verursacht“, so eine Verschwörungstheorie. Die Werft habe es in einer Nacht wieder aufbauen lassen, denn mal wieder wurde Wilhelm II. erwartet, so hieß es. Großstadtlegenden sterben wohl nie aus. Dass der technik-, medien- und marineverliebte Wilhelm II. etwa eine Brückeneinweihung verpasst hätte, gar in der Boomtown Wilhelmshaven, ist nicht zu glauben. Immerhin besuchte er seine preußische Seefestung an die 70mal. Sicher kannte Wilhelm II. von seinen Englandaufenthalten die frühen Eisen- und Stahlbrücken. Als Prinz besuchte er die Pariser Weltausstellung von 1878 mit ihren fortschrittlichen Stahlbauten. Der Ingenieur Gustave Eiffel war in Frankreich der Held des Brückenbaues und der modernen Stahlfachwerkkonstruktionen. D ie allerersten Planungen zum Dritten Hafenbauabschnitt (1900 bis 1914) prägten Konzept, Funktionsweise und Architektur der Kaiser-Wilhelm-Brücke. Der Brückenstandort an der schmalen Nahtstelle zwischen Großem Hafen und Verbindungshafen, dem damaligen Neuen Hafen, erlaubte eine wirtschaftlich kurze Brücke. Westlich der Einschnürung durch die Kaiser-Wilhelm-Brücke erstrecken sich noch heute die drei großen, 1910 fertig gewordenen Hafenbecken von insgesamt 167 Hektar Wasserfläche, die wiederum durch zwei weitere Einschnürungen mit geplanten aber nie realisierten Brücken unterteilt waren. Anfangs zum Einschiessen der Torpedos, als Torpedoversuchsstrecke und als Liegehafen für Torpedoboote geplant, hat später die gesamte deutsche Nordseeflotte an den Kais der drei Häfen festgemacht. Sie musste im Fall der Fälle schnellstens durch die Kaiser-WilhelmBrücke und die Hafeneinfahrten auslaufen. Natürlich haben die obersten Berliner Militärbehörden die größte und teuerste Drehbrücke Europas nicht für Deichspaziergänger oder Südstrand-Badegäste befohlen, sondern um Schlagkraft und Schnelligkeit der Kaiserlichen Marine zu erhöhen. Erforderlich war eine bewegliche, leistungsfähige Brücke, um die militärischen Einrichtungen, Arbeitsplätze und Dienststellen, die sich durch Hafenbecken und Kanäle getrennt wie einen Ring vor die Wil3 helmshavener Süd- und Ostseite gelegt hatten, nicht vom militärischen Geschehen abzuschneiden. Dass es eine der seltenen beweglichen Brücken werden sollte, war schnell klar, denn zwei kriegswichtige Verkehrslinien überkreuzten sich an diesem einschnürenden Nadelöhr. Die Entscheidung für die zweiflüglige, gleicharmige Stahldrehbrücke, oder auch Doppeldrehbrücke war nur konsequent. Eine Hebebrücke mit einer Spannweite von 159 Meter, einer Hauptdurchfahrtsbreite von 70 Meter und einer Durchfahrtshöhe von neun Meter war damals technisch noch nicht möglich. Eine Klappbrücke schied wegen des Platzbedarfes für Gegengewichte, Hebelarme und auch wegen der Windanfälligkeit aus. Dass die „zivile“ Stadt Wilhelmshaven trotzdem an der Planung der „militärischen“ Brücke beteiligt wurde und an der Auswahl des Entwurfes mitwirken durfte und dass sie interessiert war, die Brücke auch in den Dienst der Badegäste zu stellen, war für die Entscheidungen nebensächlich. Noch heute ist es ein Erlebnis wie aus vergangener Zeit. Wenn ein Großschiff die Brücke passiert gehen die Ampeln auf rot, ertönt ein Klingelzeichen, die Schranken schließen und surrende Elektromotoren drehen die beiden Brückenteile synchron, gleichzeitig und gleichgerichtet mit der Genauigkeit eines Uhrwerks auseinander. Familien mit Kind und Badezeug, sportliche Radfahrer, sonnenhungrige Stadtbewohner, sie warten geduldig. Steigen aus dem Auto, stellen das Zweirad ab, schauen der Schiffsdurchfahrt neugierig zu, warten die Drehzeit von wenigstens 10 Minuten ab, bis sich die Schranken wieder heben. Dann dürfen sie losgehen, falls sie Auto fahren, nur von beiden Seiten wechselweise. Lastwagen und Omnibusse, dürfen wegen ihres Gewichtes die Brücke schon lange nicht mehr befahren. W ie die Industrielle Revolution von England (1785) über Frankreich nach Deutschland (1835) kam, so kamen auch Eisen und Stahl hierher. Auch MAN und seine Vorgängerunternehmen waren beim Aufbau Wilhelmshavens dabei, bauten außer Stahlfachwerkkonstruktionen auch Kraftwerkskessel, Schwimmdocks, Schleusentore, Kranbahnen, Öltankanlagen, Schwimmpontons, Leuchttürme, Bekohlungsanlagen. Und Brücken. Es verwundert nicht, dass die Brückenbauanstalt Gustavsburg/Mainz (MAN) 1905 den Auftrag zum Bau der wagemutig neuen Wilhelmshavener Kaiser-Wilhelm-Brücke bekommen hat. Wilhelm II. kannte den Chef der Brückenbauanstalt Gustavsburg/Mainz Anton Rieppel von anderen Projekten z.B. der Müngstener Brücke oder der Wuppertaler Schwebebahn. Seine Brücken stürzten nicht ein. Um diese Zeit gab es im Deutschen Reich neben der Brückenbauanstalt Gustavsburg/Mainz (MAN) nur wenige große Stahlbauunternehmen, die den komplizierten Wilhelmshavener Auftrag hätten übernehmen können: Dortmunder Union, August Klönne Dortmund, Krupp Essen, Louis Eilers Hannover, Brückenbau Flender Benrath, Thyssen Duisburg, Harkort Wetter. Es gab auch nur wenige Drehbrücken als Vorbilder. Mehrere Rheinhäfen planten kleine einarmige Drehbrücken. Nicht zu vergessen natürlich die 31 kleinen Stahldrehbrücken im Verlaufe des 72 Kilometer langen 1880 bis 1888 gebauten Ems-Jade-Kanals. Alle bis dahin gebauten beweglichen Brücken jedoch hatten nur geringe Spannweiten. Einzig die 1902 in Lübeck durch MAN und Anton Rieppel fertig gestellte Herrenbrücke, konnte, wenn auch deutlich kleiner, als Beispiel für Wilhelmshaven herhalten. Ausländische Drehbrücken waren durch technisch-wissenschaftliche Vereine, Fachzeitschriften und Technische Hochschulen bekannt geworden und erfreuten sich großer Popularität. Im benachbarten Holland fanden sich neben den Klapp- und Waagebalkenbrücken noch beispielhafte Drehbrücken. F ür den Bau der Kaiser-Wilhelm-Brücke benötigte MAN 440 Tonnen Stahl, eine außerordentlich große Liefermenge, die aus Kapazitätsgründen und wohl auch wegen des Zeitdruckes und der Eile von mehreren Herstellern aus den deutschen Industriegebieten bezogen 4 werden musste: Schmiedbares Eisen in der Form von Flussstahl, weißes Roheisen, das in flüssigem Zustand in einer Thomasbirne durch Luftzufuhr entkohlt wird. Aufmerksame Besucher entdecken Herstellerhinweise auf den mächtigen, tragenden Brückenprofilen. GHH / Gutehoffnungshütte (Oberhausen) oder auch Roechling (Völklingen). Wie kommt nun die schlanke Form der Brücke zustande? Die aus der Ferne weiche Brückensilhouette und die aus der Nähe harte Stahlkonstruktion überraschen, machen vielleicht das Faszinosum aus. Die Kaiser-Wilhelm-Brücke ist eben nicht langweilig und deswegen ein Genuss für die Sinne. Sie spannt sich wie zum Sprung über den Grossen Hafen zum Sprung an die Deichlinie zum Jadebusen. Eben war der Spaziergänger noch mitten in der Stadt. Jetzt schmeckt er Meeresluft und Sehnsucht nach fernen Ländern. Er holt tief Luft. Dieser Teil der Stadt gehört der Seefahrt. Vom Scheitelpunkt der Brücke blickt man ungehindert nach Ost und West. Wir finden, dass die Brücke schön ist. Werden angezogen von der spannenden unerwarteten Freude an einem Bauwerk, das nie eintönig wird. Sicher haben wir uns auch satt gesehen an glatten Fassaden, an spiegelnden Hochhäusern, an Plastik und Beton. Vielleicht haben wir auch einfach nur vergessen, was eine Brücke überhaupt ist. Wir begreifen, dass die Kaiser-Wilhelm-Brücke ein Wunderwerk der Technik ist: Einfach und kompliziert, schön und rational, nützlich und prachtvoll zugleich. E rnst Troschel (1868 bis 1915) wird als Architekt der Kaiser-Wilhelm-Brücke genannt. Er war von August 1903 bis zum Februar 1906 Marinebaumeister in Tsingtau unter dem genialen Julius Rollmann (1866 bis 1955), dem Baudirektor für das deutsche Gouvernement. Er und viele andere Marinebaubeamte erprobten dort in der Ostasienkolonie, was sie danach rund um den Großen Hafen noch einmal bauen sollten: Riesige Schiffsbekohlungsanlagen, Pontons, Kaianlagen, Kräne, Brücken. Troschel wurde nach seiner Tsingtau-Verwendung 1906 bis 1909 für den Brückenbau zuständiger Baubeamter im Ressort VI. der Kaiserlichen Werft Wilhelmshaven. Der Bau der Kaiser-Wilhelm-Brücke hatte jedoch bereits im November 1905 mit dem Unterbau der Drehpylonenfundamente begonnen. Troschel stieß im März 1906, aus Tsingtau kommend, dazu. Fraglos war Troschel Vertreter der Bauherrin Marine und wurde für die Gesamtabwicklung der Brücke zuständig. Eine gewaltige, nicht ungefährliche Aufgabe, musste doch während des laufenden Schiffsverkehrs gebaut werden. Die Baustellenlogistik litt unter den beengten Platzverhältnissen in der dicht bebauten preußischen Exklave. Einen großen Anteil am Entwurf der Kaiser-Wilhelm-Brücke hatte natürlich der bereits genannte Brückenbauer Anton Rieppel (1852 bis 1926), Chef der Brückenbauanstalt Gustavsburg/Mainz. (MAN), die den Auftrag bekommen hatte. D ie Brücke stand im Dienste der Marine, und unterstand ihr im Ersten und Zweiten Weltkriege und zwischen den Kriegen. Sie funktionierte in Krieg und Frieden für Hafen und Werft. Wenn Bauwerke Tugenden hätten, würde man sagen: Treu und patriotisch. Nach der Kapitulation Wilhelmshavens, am 6.5.1945 schien ihr letztes Stündlein geschlagen zu haben. Die ehemalige Kriegsmarinewerft, die Hafenanlagen und die Brücken unterstanden ab 1945 dem englischen Marinekommando. 1946 war ein neuer Deichzug erwogen worden, der die gesamten Hafenanlagen mit ihren Brücken und Teile der Stadt unter Wasser gesetzt hätte. Bittbriefe hatten Erfolg: Wilhelmshaven wurde nicht unter Wasser gesetzt. Die Werft jedoch wurde demontiert, die Schiffbaumaschinen zwischen 1946 und 1949 in den russischen Eismeerhafen Molotowsk deportiert. Die Engländer schauten begehrlich auf den Stahlschrott der Brücken, Schleusentore und Schiffswracks von Wilhelmshaven. Die feingliedrige Stahlkonstruktion der Kaiser-Wilhelm-Brücke hätte jedoch nach Demontage nur 440 Tonnen Metallschrott auf die Waage gebracht. Das war für die Engländer kaum glaubhaft, wog ihre 1894 5 fertig gestellte 244 Meter lange Tower Bridge doch 11.000 Tonnen. Der gegen zu rechnende Zerlegeaufwand und der Schiffstransport nach England retteten aus wirtschaftlichen Gründen die Brücke vor der Demontage. Auch eine Translozierung nach Leer zerschlug sich. M an kann die Kaiser-Wilhelm-Brücke nur verstehen, wenn man sie in ihren technischen, geschichtlichen und kulturellen Zusammenhang stellt. Das ist nicht das Heute, sondern die Nahtstelle zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert. Es bildete sich eine eigene Ästhetik des Metalls. Das 19. Jahrhundert hatte mit den Eisenbauten und auch den Maschinen etwas völlig Neues hervorgebracht. Nüchterne, schlanke, hochfeste, rationale Eisen- und Stahlbauten, Ausstellungshallen, Türme, Brücken, Bahnhöfe, Gasbehälter, Fabrikgebäude, entstanden unbeachtet von den künstlerisch denkenden Architekten, die sich noch damit herumplagten, in welchem alten Stile sie bauen wollten. Aber bald bemächtigten sich die Architekten auch dieser Bauaufgabe, verkleideten Bahnhofsfronten, ergänzten Fabrikgebäude, verkleideten Türme. Wie alles in der Marinestadt ist auch die Brücke, um die es hier geht, dem Auf und Ab von Krieg und Frieden unterworfen. Man kann von Glück sprechen oder es bedauern, dass die Kaiser-Wilhelm-Brücke nicht dekoriert wurde: Ihre vernünftige, zweckmäßige und schmucklose Bauweise ist das, was ihren eigenwilligen Reiz, ihre spröde Schönheit ausmacht. Sie war schon vor einhundert Jahren ihrer Zeit weit voraus. Sie soll noch lange ihren Dienst tun. Das wünsch ich der Brücke zum 100. Geburtstag. Zeittafel Kaiser-Wilhelm-Brücke 20.7.1853 25.6.1856 1856-1869 17.6.1869 1900-1914 August 1903-Februar1906 1904-1906 1905-1906 November 1905 März 1906-Juni 1909 November 1906 4.9.1907 8.9.1907 6./7.3.1908 17.3.1913 1.6.1916 1917-1918 17.11.1918 13.2.1942 1943 6.5.1945 4.1.1946 1.10.1948 1948-1949 10.5.1949 1965 25.6.1966 Juli 1970 20.3.1975 1978/1979 2003 2006 9.8.2007 4.9.2007 Preußen und Oldenburg vereinbaren Kriegshafengründung am Jadebusen Friedrich Wilhelm IV. genehmigt Kriegshafenplanung des Schinkel-Schülers Gotthilf Hagen Schinkel-Schüler Heinrich Wilhelm Goeker baut Kriegshafen, größte Baustelle Europas Einweihung Wilhelmshaven, Namensgebung durch Wilhelm I. Dritter Hafenbauabschnitt, Gesamtkosten 150 Mio Goldmark Marinebaumeister Ernst Troschel Leiter der Abt. Hafenbau in Tsingtau Brückenplanung 440 Tonnen Stahl für Kaiser-Wilhelm-Brücke in Oberhausen und Völklingen gefertigt Baubeginn, Gründung, Betonarbeiten, Unterbau Marinebaurat Ernst Troschel im Hafenbauressort Wilhelmshaven für Brückenbau zuständig Montagebeginn Stahlkonstruktion durch MAN Gustavsburg unter Anton Rieppel Inbetriebnahme Kaiser-Wilhelm-Brücke, Gesamtkosten 0,5 Mio Goldmark Passage von Wilhelm II. Besuch Wilhelm II. anlässlich Stapellauf der NASSAU und Rekrutenvereidigung Linie 2 der Straßenbahn über die Brücke eröffnet Passage der Großkampfschiffe von der Skagerrakschlacht Passage meuternder Matrosen auf ihren Kriegsschiffen Passage der Flotte zur Selbstversenkung nach Scapa Flow Passage der SCHARNHORST nach Kanaldurchbruch Straßenbahnverkehr über die Brücke eingestellt Wilhelmshaven kapituliert Kaiser-Wilhelm-Brücke, Kriegshafen und Stadt sollen für immer beseitigt werden Beginn Operation Bailiff mit Hafen- und Werftsprengungen Kampf deutscher Politiker für Brückenerhalt Kaiser-Wilhelm-Brücke nicht abgerissen, auf Wunsch der Royal Navy bleibt Name erhalten Entfernung Straßenbahnschienen, neuer Eichenholzbelag Abrissplanung der Wasser- u. Schiffahrtsdirektion aus verkehrsplanerischen Gründen Frachter rammt Brücke Denkmalschutz für Kaiser-Wilhelm-Brücke, Hafenbrücken gehen an Stadt Wilhelmshaven Grundinstandsetzung, orthotrope Stahlfahrbahn ersetzt Eichenholzfahrbahn Fregatte rammt Brücke 1472 Schiffspassagen bei 771 Öffnungen jährlich Ausgabetag Sonderpostwertzeichen zum 100. Geburtstag der Kaiser-Wilhelm-Brücke 100. Geburtstag der Kaiser-Wilhelm-Brücke 07.08.2007 Der 1942 geborene Autor studierte Architektur und arbeitete als Dipl.-Ing. in Berliner Architekturbüros und Baubehörden. 1973 bis 2002 war er Leiter des Hochbauamtes Wilhelmshaven. Zusätzlich widmete er sich der Baugeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts sowie 140 Veröffentlichungen, Büchern und Aufsätzen zur Architekturgeschichte Wilhelmshavens. Er lehrt seit 1991 an der Universität Oldenburg im Fach Kunst und Medien, ist dort habilitiert und Honorarprofessor. Seit 2004 lebt er als freier Architekturhistoriker in Bonn. 6