runnicles cargill - Staatskapelle Dresden

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runnicles cargill - Staatskapelle Dresden
SAISON 2015 2016
29. / 30.11.15 / 1.12.15
4. SYMPHONIEKONZERT
Donald
RUNNICLES
CARGILL
Karen
Ihre Premiere.
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SAISON 2015 2016
29. / 30.11.15 / 1.12.15
4. SYMPHONIEKONZERT
Donald
RUNNICLES
CARGILL
Karen
+49 351 420 44 11
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4. SYMPHONIEKONZERT
SO N N TAG
2 9.11.15
11 U H R
M O N TAG
3 0.11.15
20 UHR
D IEN STAG
1.12.15
20 UHR
PROGRAMM
S E M P ER O P ER
DRESDEN
Donald Runnicles
Sergej Rachmaninow (1873-1943)
Dirigent
»Die Toteninsel«
Symphonische Dichtung zum Gemälde von A. Böcklin
für großes Orchester op. 29
Karen Cargill
Mezzosopran
Edward Elgar (1857-1934)
»Sea Pictures«
Zyklus von fünf Liedern für Mezzosopran und Orchester op. 37
1. Sea Slumber-Song
2. In Haven (Capri)
3. Sabbath Morning at Sea
4. Where Corals lie
5. The Swimmer
PAU S E
Musik des Meeres
Immer wieder ließen sich Komponisten von der See, den Wellen, der
Weite des Horizonts inspirieren. In Rachmaninows genialer musika­
lischer Adaption eines Gemäldes von Böcklin gemahnt das Meer an die
Vergänglichkeit des Menschen, in Elgars »Sea Pictures« bildet es die
Folie für eine atmosphärisch dichte Studie über die Liebe und andere
Naturgewalten des Lebens. Kein Landschaftsporträt, aber von sugges­
tiver poetischer Kraft ist die erste Symphonie des großen Komponisten­
jubilars Sibelius.
Jean Sibelius (1865-1957)
Symphonie Nr. 1 e-Moll op. 39
1. Andante, ma non troppo – Allegro energico
2. Andante, ma non troppo lento
3. Scherzo. Allegro – Lento, ma non troppo – Allegro
4. Finale. Quasi una fantasia
Kostenlose Konzerteinführungen jeweils 45 Minuten vor Beginn
im Foyer des 3. Ranges der Semperoper
Aufzeichnung durch MDR Figaro
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4. SYMPHONIEKONZERT
Donald Runnicles Dirigent
D
onald Runnicles stammt aus Schottland und ist seit
2009 / 2010 Generalmusikdirektor der Deutschen Oper
Berlin. Zugleich ist er Chefdirigent des BBC Scottish
Symphony Orchestra. Seit 2006 leitet er außerdem das
Grand Teton Music Festival und ist Principal Guest
Conductor des Atlanta Symphony Orchestra. Runnicles studierte in
seiner Heimatstadt Edinburgh sowie in Cambridge und begann seine
musikalische Karriere in Deutschland, wo er u. a. Generalmusikdirektor
in Freiburg war. Sein USA-Debüt geriet zur Sensation, als er 1988 kurz­
fristig eine »Lulu«-Produktion an der Met in New York übernahm. Zwei
Jahre später leitete er den »Ring des Nibelungen« an der San Francisco
Opera, was seine Berufung zum dortigen Music Director zur Folge hatte.
Zwischen 1992 und 2009 dirigierte er hier über 60 Produktionen, u. a.
die Uraufführungen von John Adams’ »Doctor Atomic«, Conrad Susas
»The Dangerous Liaisons« und Stewart Wallaces »Harvey Milk«. Zahl­
reiche Dirigate führten ihn zu den Festspielen nach Bayreuth, Glynde­
bourne und Salzburg, an die Metropolitan Opera New York, die Opéra
National de Paris, die Mailänder Scala, die Staatsoper Berlin, die Kölner
Oper, die Bayerische Staatsoper München, die Hamburgische Staats­
oper, die Königliche Oper Kopenhagen, die Oper Zürich und die Nether­
lands Opera. Eine besondere Beziehung verbindet ihn mit der Wiener
Staatsoper, wo er regelmäßig den »Ring des Nibelungen« dirigierte.
Zudem arbeitet er häufig mit dem BBC Symphony Orchestra, dem NDR
Sinfonieorchester, dem Symphonieorchester des Bayerischen Rund­
funks, dem Israel Philharmonic Orchestra, dem Orchestre de Paris,
den Münchner Philharmonikern, den Wiener Symphonikern, dem
Royal Concertgebouw Orchestra und sowohl den Berliner als auch den
Wiener Philharmonikern. Zahlreiche CD-Einspielungen dokumentieren
seine Arbeit, darunter Gesamtaufnahmen von Humperdincks »Hänsel
und Gretel«, Glucks »Orphée et Eurydice« oder Wagners »Tristan und
Isolde«. Neben seinen Aufgaben als Dirigent ist Donald Runnicles auch
ein gefragter Pianist und tritt bei Kammerkonzerten und als Liedbe­
gleiter auf. 2004 verlieh ihm Queen Elizabeth II. den »Order of the
British Empire«. Mit der Staatskapelle Dresden nahm er 2008 eine
Einspielung mit Auszügen aus dem »Ring«-Zyklus auf.
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4. SYMPHONIEKONZERT
Karen Cargill Mezzosopran
D
ie schottische Mezzosopranistin Karen Cargill studierte in
Glasgow, Toronto und London und begann ihre internatio­
nale Laufbahn 2002 als Preisträgerin des Kathleen-FerrierPreises. 2005 trat sie unter der Leitung Kurt Masurs an der
Last Night of the Proms in Mendelssohns »Elias« auf. Seitdem
ist sie dem BBC Symphony Orchestra und dem Scottish Symphony
Orchestra, dessen »Associated Artist« sie war, eng verbunden. Aus
dieser Zusammenarbeit gingen u. a. Aufnahmen von Berlioz’ »Les nuits
d’été« und »La mort de Cléopâtre« unter der Leitung von Robin Ticciati
hervor, die im Juni 2013 vom Grammophon-Magazin zur »Aufnahme des
Monats« gekürt wurden.
Karen Cargill gastiert regelmäßig in den großen Konzert- und
Opernhäusern. Geistliche Programme – u. a. Bachs Matthäuspassion,
Dvořáks »Stabat Mater« und Bruckners Te Deum – gehören dabei ebenso
zu ihrem Repertoire wie das symphonische Fach mit Gustav Mahlers
zweiter, dritter und vierter Symphonie sowie dem »Lied von der Erde«,
den »Kindertotenliedern« und Richard Wagners »Wesendonck-Liedern«.
Karen Cargill arbeitet häufig mit den großen amerikanischen Orchestern
in Boston, Chicago, Cleveland und Philadelphia sowie mit dem Chamber
Orchestra of Europe, dem London Symphony Orchestra und dem London
Philharmonic Orchestra, dem Concertgebouw Orchester sowie den
Berliner Philharmonikern. James Levine, Valery Gergiev, Yannick NézetSéguin, Myung-Whun Chung, Bernard Haitink, Sir Simon Rattle und
Robin Ticciati zählen dabei zu ihren musikalischen Partnern.
Neben ihren weltweiten Engagements im Opernfach – u. a. in
Covent Garden London, an der New Yorker Met sowie der Deutschen Oper
Berlin – pflegt Karen Cargill gemeinsam mit dem Pianisten Simon Lepper
auch ein umfangreiches kammermusikalisches Repertoire, aus dem sie
u. a. in der Wigmore Hall London, im Concertgebouw Amsterdam, im
Kennedy Centre Washington und in der Carnegie Hall gesungen hat.
CD-Aufnahmen runden ihr Schaffen ab. Kürzlich hat sie gemeinsam mit
ihrem Liedbegleiter Simon Lepper eine von der Kritik gefeierte Aufnahme
mit Liedern von Alma und Gustav Mahler vorgelegt.
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4. SYMPHONIEKONZERT
»Ich male nur Bilder und keine Bilderrätsel!«, soll Arnold Böcklin auf die Frage nach
der Bedeutung seiner mehrfach ausgeführten »Toteninsel«-Gemälde geantwortet
haben. Zu sehen sind unentrinnbare Vorgänge des Lebens, »wie man nichts halten
soll, alles sich auflöst, wonach wir greifen«, wie Hofmannsthals Marschallin
im »Rosenkavalier« konstatiert. Das hier abgedruckte Bild ist die dritte, 1883
entstandene Fassung aus der »Toteninsel«-Reihe. Über dem Eingang der rechten
Grabkammer hat Böcklin seine Signatur hinzugefügt. Die Darstellung des eigenen
Grabes ist nicht neu, sie steht in der Tradition namhafter Künstler wie Caspar David
Friedrich, Karl Blechen oder Gustave Courbet. Bekannt ist Böcklins »Selbstbildnis
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mit fiedelndem Tod«, das den barocken Vanitas-Gedanken im Schimmer des Fin
de siècle wiederbelebt. Man feiert die Grablegung einer Epoche. 1882, ein Jahr vor
Entstehung des Werkes, fragt Friedrich Nietzsches toller Mensch in der »Fröhlichen
Wissenschaft«: »Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den
Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was thaten wir, als wir diese
Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir
uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend?« Das Meer, ob still, ob
rauschend, glättend oder stürzend, wird zum bezwingenden Bild eines sehnsuchtstrunkenen Eintauchens ins Ungewisse.
4. SYMPHONIEKONZERT
Sergej Rachmaninow
* 1. April 1873 in Weliki Nowgorod, Russland
† 28. März 1943 in Beverly Hills, Kalifornien
DIE FEIER DES VERGÄNGLICHEN
Rachmaninows »Die Toteninsel«
»Die Toteninsel«
E
Symphonische Dichtung
zum Gemälde von A. Böcklin
für großes Orchester op. 29
ENTSTEHUNG
BESETZUNG
1908 / 09
3 Flöten (3. auch Piccoloflöte),
2 Oboen, Englischhorn,
2 Klarinetten, Bassklarinette,
2 Fagotte, Kontrafagott,
6 Hörner, 3 Trompeten,
3 Posaunen, 1 Tuba, Pauken,
Schlagzeug, Harfe, Streicher
WIDMUNG
Nicolas von Struve
U R AU F F Ü H R U N G
18. April 1909 in Moskau
DAU ER
ca. 22 Minuten
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in Bild von suggestiver Kraft. Aus spiegelglatter See ragt ein
Eiland auf, dahinter bewegter Himmel. Im Vordergrund ein
gleitender Nachen mit einer stehenden, in Weiß verhüllten
Gestalt. Gerahmt von leicht nach außen gespreizten Felswänden
drängen sich in der Mitte der Insel dicht emporwachsende
Zypressen. In den Felsblöcken finden sich Spuren menschlichen Wirkens.
Steinerne Öffnungen weisen auf Eingänge in ein anderes Reich und
machen deutlich, worauf der Betrachter blickt: auf einen mythischen
Grenzort, wo das Leben in ein neues Stadium übergeht. Arnold Böcklin
hat sein Bild »Die Toteninsel« genannt und es zwischen 1880 und 1886 in
fünf Versionen ausgeführt. Seine Auftraggeberin, die junge Witwe Marie
Berna, spätere Gräfin von Oriola, hat bei ihm »ein Bild zum Träumen«
bestellt. Im Vorfeld seiner Studien schreibt Böcklin an die Witwe: »Das
Bild muss so still werden, dass man erschrickt, wenn an die Türe gepocht
wird.« Die erste Fassung des Werkes scheint darauf Bezug zu nehmen,
sie heißt »Ein stiller Ort«. Erst mit der dritten Version 1883 erhält das
Gemälde seinen bekannten Namen und bezeichnet den Endpunkt einer
nach-idealistischen Epoche. Immerhin, im selben Jahr stirbt Richard
Wagner in Venedig – in der legendenreichen Lagunenstadt, die unter
südlichem Himmel gleichermaßen von mediterranem Wasser umspült
ist und wo die Stilisierung einer sterbenden Kultur mit Aplomb zele­
briert wird und die jahrhundertealten Palazzi als mahnende Metapher
für Bedrohtheit und Vergänglichkeit menschlichen Schaffens stehen. In
der Überhöhung des Mythos gegenüber Historie und Zivilisation liegt
nicht nur ein schöpferisch ergiebiger Kulturpessimismus. Zu spüren ist
eine Regenerationshoffnung, ein Abschied und Neubeginn, ein Stirb
und Werde. Böcklins »Toteninsel« erzählt keine Geschichte, das Werk
beschreibt eine Situation. Wie der Maler sein Bild anlegt, es struktu­
riert, verrät zudem Böcklins ureigene Musikalität. Der in Basel gebo­
rene Künstler spielt mit Trommel, Querflöte und Harmonium nicht nur
mehrere Instrumente und singt in Rom in einem Vokalquartett u. a. mit
seinem deutschen Malerkollegen Anselm Feuerbach, der 1880 in Venedig
stirbt, er komponiert außerdem gelegentlich und soll sich auch im
4. SYMPHONIEKONZERT
wo der russische Impresario Serge Diaghilew – auch dieser wird später in
Venedig sterben – im Mai seine Saison Russe mit fünf Konzerten durchführt und im vierten Konzert, am 26. Mai, Rachmaninows zweites Klavierkonzert in der Interpretation des Komponisten zur Aufführung kommt.
Im Frühjahr 1909 vollendet Rachmaninow in Dresden seine sympho­
nische Dichtung »Die Toteninsel«. Gegenüber Freunden erklärt er, dass
ihn die Schwarz-Weiß-Reproduktion mehr fasziniert habe als die farbigen
Versionen: »Hätte ich das Original zuerst gesehen, hätte ich ›Die Toten­
insel‹ womöglich nicht geschrieben.« Was meint das? Liefert der SchwarzWeiß-Kontrast strengere Konturen für eine Ahnung von Vergänglichkeit?
Ist Rachmaninow stärker von den Linien und einer sich daraus erge­
benden Symbolik gefesselt als von der Farbgestaltung? Bei Böcklin rückt
die Bedeutung der Farbe zweifellos in den Vordergrund, wird fast schon
ihre Verselbständigung gefeiert. Der Maler arbeitet an einem »Klang der
Farben« und erzielt daraus eine außergewöhnliche Wirkung.
»… wiederum ein erstklassiges Orchester«
Sergej Rachmaninow
Gespräch reflektiert über Musik geäußert haben. Böcklin ist überzeugt,
dass Musik und Malerei gemeinsamen Gesetzmäßigkeiten unterliegen.
Er strebt danach, das Gemüt durch Bilder so zu packen, wie Musik es
vermag: »Er suchte in der Musik das Uranfängliche, weil dies nicht mit
dem Verstande begriffen werden muss, sondern dem Menschen im Blute
liegt.« (Max Schneider) Kein Wunder, dass sich zahlreiche Komponisten
von Böcklins Werken, vor allem von seiner »Toteninsel«, angeregt fühlen,
unter ihnen Max Reger und sein Schüler Fritz Lubrich. Sergej Rachma­
ninow lernt Böcklins Gemälde 1907 als Schwarz-Weiß-Reproduktion
kennen, vermutlich in der 1890 von Max Klinger geschaffenen Radierung
der dritten Version. Rachmaninow hält sich zu dieser Zeit in Paris auf,
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Zumindest lässt sich feststellen, dass Rachmaninow das Gefühl einer
Beklemmung für schöpferische Impulse für notwendig hält. Am
8. März 1909 notiert der Komponist in Dresden: »Meine Meinung über
die neuen Werke ist dieselbe, d. h. sie gelingen mir schwer, und ständig
bin ich unzufrieden mit ihnen. Es ist eine einzige Qual.« Gleichwohl
erliegt er später im amerikanischen Exil der Verklärung: »Beim Kompo­
nieren finde ich es von großer Hilfe, ein Buch im Sinn zu haben, ein
schönes Bild oder ein Poem … Und sie kommen: alle Stimmen zugleich.
Nicht ein Stück hier, ein Stück da. Alles. Das Ganze entsteht. So die
›Toteninsel‹. Im April und Mai war alles getan. Wann es kam, wie es
begann – wie kann ich es sagen. Es entstand in mir, wurde gehütet und
niedergeschrieben.« Nach 2 ½ Jahren an der Elbe verlassen die Rach­
maninows im April 1909 endgültig die sächsische Residenzstadt. Wenige
Wochen zuvor schreibt er an Tanejew: »Wie schön ist es hier in Dresden,
Sergej Iwanowitsch! Und wenn Sie wüssten, wie mich die Trauer packt,
dass ich hier den letzten Winter verlebe! Wenn Sie mich fragen, warum
ich nicht auch weiterhin hierbleibe, dann antworte ich Ihnen darauf
erstens, dass die Aufgaben der Musikgesellschaft (Direktionsmitglied)
und die Konzerte der Musikgesellschaft (Dirigent) mich nach Moskau
rufen, und zweitens, dass ich auch bezüglich Dresdens einen Kontrakt
abgeschlossen habe – diesmal nicht mehr mit einem Agenten – sondern
mit meiner Frau, kraft dessen ich versprach, nicht länger als drei Jahre
im Ausland zu leben. Und diese Jahre sind schon vergangen.« Getrieben
von den politisch prekären Verhältnissen in Russland suchen die Rach­
4. SYMPHONIEKONZERT
maninows 1906 einen Ort wirtschaftlicher und kultureller Stabilität und
finden ihn in Dresden, das nicht nur für das kulturbeflissene Bürgertum
mitten in Europa ein attraktiver Wohnort ist: »Die Stadt selbst gefällt
mir sehr: Sehr sauber, sympathisch und viel Grün in den Gärten. Wer es
braucht, findet großartige Geschäfte, und ihre Vitrinen sind verführe­
risch und raffiniert angerichtet«, berichtet Rachmaninow nach Russland.
Nach ihrer Ankunft in Dresden 1906 mietet die Familie in der Sidonien­
straße 6 zwischen Hauptbahnhof und Großen Garten eine komfortable
Villa, in der sich Rachmaninow sichtlich wohl fühlt. An seinen Freund
Morosow in Moskau schreibt er: »Heute sind wir endlich in unsere
Wohnung eingezogen. Vor allem sage ich, dass diese Wohnung oder wie
sie sie hier nennen, Gartenvilla, einfach zauberhaft ist. Keine einzige
Wohnung gefiel mir so sehr wie diese. Das Haus steht in der Mitte eines
Gartens. Es hat sechs Zimmer. Drei unten, drei oben (alle zur Sonnen­
seite). Auf diese Weise begünstigt die Lage der Zimmer auch meine
Arbeit. Die Schlafräume sind oben, aber mein Arbeitszimmer und das
Esszimmer sind unten. Ich bin unten allein und kann ganz herrschaft­
lich residieren.« In Dresden komponiert Rachmaninow in den folgenden
Jahren neben der »Toteninsel« u. a. seine erste Klaviersonate und die
zweite Sinfonie. Die Stadt mit Oper und reger Künstlerszene – im Juni
1905 haben sich Architekturstudenten und Maler zur Künstlergruppe
»Brücke« zusammengeschlossen, ein halbes Jahr später wird Strauss’
»Salome« in der Semperoper uraufgeführt – bietet ihm Abwechslung
und Anregung zugleich: »Übrigens hörte ich hier Richard Strauss’ Oper
›Salome‹ und geriet in völlige Aufregung. Am meisten über das Orches­ter
natürlich, aber es gefiel mir auch vieles in der Musik … Ich war hier auch
im Symphoniekonzert. Wiederum ein erstklassiges Orchester«, teilt er
nach Russland mit. Vielleicht, so ließe sich mit einiger Übertreibung
denken, trägt er während der Arbeit an der »Toteninsel« den Klang der
Dresdner Hofkapelle im Ohr. Auszuschließen ist es nicht.
Die Verschlingung von Leben und Tod
Die symphonische Dichtung wird am 18. April 1909 in Moskau mit
positiver Resonanz uraufgeführt. Sie beginnt in gleichsam tönender
Stille, so wie es Böcklin vorschwebt, als er an die erste Ausführung
seines Gemäldes geht. Aus der Tiefe heraus wird der Mythos des Seins
geboren, verschattet nimmt das Leben seinen Anfang. Wagners wogendes
»Rheingold«-Vorspiel ist nicht weit entfernt davon. Die Urszene eines
In-die-Welt-Kommens vermag das Vergängliche des Vorgangs erst
wirkungsvoll abzubilden. Alles Sterbliche hat seine Vergangenheit, alle
Vergangenheit ihre Zukunft. Darauf baut sich ein Spannungsbogen auf,
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Dresden Blick vom Rathausturm, um 1910
der Rachmaninows Tondichtung bis zum Schluss trägt. Gedämpfte Strei­
cher und Harfe erwecken zu Beginn in einer wellenartigen fünftönigen
Spielfigur die Assoziation einer seicht bewegten See. In diesem Punkt ist
Böcklins Version allerdings radikaler: An den Klippen der Insel herrscht
kaum Brandung. Das Meer ist still, fahl, bewegungslos. Bei Rachmaninow
schwingt der Impuls des Lebens indes mit. Der Komponist begreift das
Meer mit seinem lebensspendenden Element des Wassers als Gegen­
welt zu einer Insel, auf der der Tod herrscht. Das Meer umspült den Tod
und nimmt dadurch dessen Macht, es bannt ihn an einen festen Ort.
Folgerichtig kehrt Rachmaninows Wellenfigur am Ende wieder zurück.
Beide Künstler feiern die Verschlingung von Leben und Tod. Während
sich bei Rachmaninow in wogendem -Takt der Drang des Lebens im
Wasser mitteilt und das Werk an zahlreichen Stellen grundiert, sind es
bei Böcklin dicht aufragende Zypressen, die der Toteninsel ein seltsam
üppig wucherndes Leben abtrotzen. Die Grenzen zwischen Tod und Leben
verlaufen fließend. In Rachmaninows symphonischer Dichtung zeigt
sich die Verschränkung bereits in der wellenartigen Figur des Anfangs:
Die ersten drei Töne bilden umgekehrt das Tonmaterial des Beginns der
mittelalterlichen »Dies irae«-Sequenz, nach der in christlicher Vorstellung
die Toten am Tag des Jüngsten Gerichts auferstehen und in den Himmel
oder die Hölle eintreten. Kurz vor Ende des Werks intoniert Rachmaninow
in den Bässen den ersten Vers des Hymnus und nimmt jenem tränen­
reichen Tag durch Schönheit seinen Schrecken. Er sinkt in die Tiefe,
woher er kam.
ANDRÉ PODSCHUN
4. SYMPHONIEKONZERT
DAS MEER UND DIE SEELE
Edward Elgar
* 2. Juni 1857 in Broadheath, Worcestershire
† 23. Februar 1934 in Worcester
Elgars »Sea Pictures«
»Sea Pictures«
Zyklus von fünf Liedern für
Mezzosopran und Orchester op. 37
1. Sea Slumber-Song
2. In Haven (Capri)
3. Sabbath Morning at Sea
4. Where Corals lie
5. The Swimmer
»S
ENTSTEHUNG
BESETZUNG
1899
2 Flöten, 2 Oboen, 2 Klari­
netten, 2 Fagotte, Kontrafagott,
4 Hörner, 2 Trompeten,
3 Posaunen, 1 Tuba,
Pauken, Schlagzeug, Harfe,
Orgel (ad lib.), Streicher
U R AU F F Ü H R U N G
5. Oktober 1899 im Rahmen
des Norwich-Festivals
DAU ER
ca. 25 Minuten
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ea-sound, like violins«, heißt es im ersten Lied der »Sea Pictures«
von Edward Elgar. Meeresklang, der Geigen gleicht. Ein Satz
wie ein Tongemälde, stimmungsgeleitet, traumumwittert, das
Tremolo der Geigen herausfilternd bis zur spiegelnden Glätte
gereinigter Wahrnehmung. Was zählt, sind Linien, pur und
natürlich in ihrem Fließen. Das Meer kommt zur Ruhe, es raunt sein
Schlummerlied (Sea murmurs her soft slumber-song) auf trübem Sand:
»Des Meeres dämmrige Macht haucht gute Nacht« (Ocean’s shadowy
might breathes good-night), wie es am Ende des ersten Liedes zu hören
ist. Was für eine Verheißung. Ruhe am Ort der Ruhelosigkeit. Ruhe, wo
das Kräuseln der Wellen sein unablässiges Spiel treibt. Wo im Wechsel
von Spannung und Entspannung Kräfte auf- und abtauchen, wo Bewe­
gung im Augenblick des Stillstands immer noch in Schwingung ist, weil
das Stillstehende nur ein anderer Ausdruck ist für ein geheimnisvolles
Weiterfließen. Weil unter der beruhigten Meeresoberfläche verborgene
Mächte walten, unsichtbar zwar, doch unablässig wirkend auf alles
Gestalthafte. Im ersten Lied der »Sea Pictures« vollzieht sich eine Verla­
gerung der Bewegung. Auch wenn sie zur Ruhe kommt, pulsiert sie in
verhüllter Regung. Der Atem geht weiter, selbst im Schlaf der Dinge.
Und auch der Traum kann sich von bewegtem Grund nicht lösen. Im
Schimmer seiner Bilder zeichnen sich die Tiefen der Seele ab wie die
Umrisse eines versunkenen Schiffes. Er prägt den Tag und treibt sein
undurchsichtiges Spiel in der Nacht. Meer und Nacht und Traum – sie
alle stehen für die Erfahrung einer Entgrenzung. Was sich auftut, ist
eine Öffnung zur Fülle, ein Rauschen, das von fern zusammenschmilzt
und den Blick nach innen wendet. Alles scheint möglich im Austausch
zwischen Innen und Außen. Mit den Klippen des Meeres, so wird klar,
werden die Riffe der Seele umschifft.
4. SYMPHONIEKONZERT
Die Vermessung einer Seelenlandschaft
Edward Elgars »Sea Pictures« handeln von der Vermessung einer Seelen­
landschaft. 1899, als der Liederzyklus komponiert und uraufgeführt wird,
erscheint die Erstausgabe von Sigmund Freuds »Die Traumdeutung«,
in der Freud über Strategien der Verdrängung und Unterdrückung
seelischer Regungen nachdenkt. Für Elgar bilden die Untiefen des
Gemüts den Ausgangspunkt seiner Wanderungen in eine Landschaft,
die endlose Schattierungen der menschlichen Natur offeriert. Elgars
Interesse an den Wirrungen der Seele dürfte unter anderem auch damit
zusammenhängen, dass er mehrere Jahre zuvor in unmittelbarer Nähe
erlebt, welche Abgründe sich in ihr auftun und wie schnell man sich in
ihren Weiten verirren kann. Mit Anfang 20 übernimmt er die ungewöhn­
liche Position des Musikdirektors der Irrenanstalt von Powick (Worcester
County Pauper and Lunatic Asylum). Das Direktorium der Anstalt vertritt
die Auffassung, dass Musik einen therapeutischen Effekt erzielt, und
stellt aus der Belegschaft ein Musikensemble zusammen, das für die
freitags stattfindenden Tanzabende von einem Dirigenten geleitet werden
soll. 1878 bewirbt sich Elgar und wird zum 1. Januar 1879 als Musikdi­
rektor der Einrichtung eingestellt. Sein Gehalt beläuft sich auf 30 Pfund
pro Jahr, zudem erhält er 5 Shilling für jede komponierte Quadrille oder
Polka. Fünf Jahre arbeitet der junge Elgar in dieser Position und macht
Erfahrungen, die sein Leben prägen. Nicht zufällig greift er auf Komposi­
tionen aus der Powick-Zeit zurück, als er an den »Sea Pictures« arbeitet.
So sind im Beginn des »Sabbath Morning« Umrisse der Polka »Helica«
zu erkennen und lässt sich das Lied »Where Corals lie« auf eine Quadrille
aus jenen Jahren zurückführen. Die Spuren seiner Zeit in Worcester
County liegen tief. Noch Jahre später, 1917, schreibt er an den Freund
Ernest Newman: »Eine Irrenanstalt ist, wenn man den ersten Schock
hinter sich hat, kein durch und durch trauriger Ort. So wenige Patienten
sind sich der Eigenartigkeit ihrer Situation bewusst. Die meisten von
ihnen sind heiter und in einem völlig verrückten Zustand der Ruhe. Aber
das Grauen des gefallenen Intellekts – das Wissen, was einst da war, und
das Wissen darum, was daraus geworden ist – kann in seiner Schreck­
lichkeit nicht mit Worten ausgedrückt werden.«
Trennung mischt sich mit Aufbruch
Den Anstoß für die Komposition der »Sea Pictures« liefern die Verant­
wortlichen des Norwich-Festivals, die im Oktober 1898 bei Elgar
anfragen, für das im Folgejahr wieder stattfindende Festival ein »kurzes
Chorstück« zu schreiben. Der Komponist sagt zwar zu, steckt aber mitten
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Edward Elgar um 1900
in der Fertigstellung seines ersten großen Orchesterwerks, das ein Jahr
später unter dem Titel »Enigma-Variations« für Furore sorgt und ihn
schlagartig zu einem der führenden englischen Komponisten macht.
Als das Norwich-Festival im Januar 1899 eine Veränderung vorschlägt,
kann Elgar leicht darauf reagieren, da er zu diesem Zeitpunkt noch
keine maßgebliche Idee für das beauftragte Chorwerk entwickelt hat.
Das Festival hat unterdessen die 27-jährige Mezzosopranistin Clara
Butt engagiert und wünscht von ihm eine »Scena« für die Sängerin.
Wie diese »Scena« beschaffen sein soll, bleibt allerdings offen. Am
9. Januar 1899 sucht Elgar die Mezzosopranistin in London auf, um
4. SYMPHONIEKONZERT
sich mit ihr auszutauschen, wird
von ihr jedoch kapriziös abge­
wiesen, da sie angeblich dabei
ist, ein Bad zu nehmen. Im Zorn
auf die Diva beschwert er sich bei
ihrem Agenten, der ein weiteres,
tatsächlich stattfindendes Treffen
fünf Tage später arrangiert.
Nach einem Besuch bei Granville
Bantock, einem kenntnisreichen
englischen Musiker, der später
die Werke von Jean Sibelius dem
englischen Publikum vorstellen
wird und Widmungsträger von
Sibelius’ dritter Symphonie ist,
orchestriert Elgar die Lieder
im Juli, geht sie am 11. August
Clara Butt 1899
mit Clara Butt in London durch
und dirigiert sie trotz schwerer
Erkältung am 5. Oktober beim Norwich-Festival. Die Uraufführung wird
ein großer Erfolg, wenngleich Clara Butt ihre Exzentrizität durch ihr
Auftreten in einem Meerjungfrauenkostüm erneut unter Beweis stellt.
Zwei Tage später singt sie vier der Lieder mit Elgar am Klavier in der
Londoner St. James’s Hall. Im schottischen Balmoral Castle führen beide
vierzehn Tage später zwei der Lieder vor Queen Victoria auf.
An fernen Küsten
Was Elgar letztlich bewogen hat, Gedichte zu vertonen, die das Meer
zum Gegenstand der Reflexionen machen, bleibt offen. Gern wird die
Tatsache angeführt, dass in England kein Ort mehr als hundert Kilometer
vom Meer entfernt liegt – was bezogen auf Inspiration und Phantasie
einer Künstlerseele nicht unbedingt ausschlaggebend ist. Ein Anlass
könnte vielmehr in Elgars biographischem Umfeld liegen. Während er
an den »Sea Pictures« schreibt, vollendet er seine »Enigma-Variations«,
die der Mäzenin Lady Mary Lygon gewidmet sind. Zu ihr fühlt er sich
hingezogen und leidet letztlich darunter, als sie ihrem Bruder, dem Earl
of Beauchamp, 1899 über das Meer (!) ins australische New South Wales
folgt, nachdem dieser zum Gouverneur der dortigen Provinz ernannt
worden war. Eine der Variationen aus Elgars »Enigma-Variations« trägt
den Titel »Romanza (***)« und bezieht sich mutmaßlich auf Lady Mary
Lygon. Die Sternchen, so schreibt der Komponist knapp 30 Jahre nach
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der Arbeit an seinem Erfolgsstück, stehen »an der Stelle des Namens
einer Dame, die zur Zeit der Komposition auf einer Seereise war«. Elgars
frühere Verlobte Helen Weaver war bereits 1885 nach Neuseeland ausge­
wandert und hatte gleichermaßen den damals üblichen Seeweg für ihre
Reise genommen. Das Meer als Grenzort lässt keinen Kompromiss zu.
Längst überwunden geglaubte Strategien der Bewältigung scheinen bei
Elgar aufzubrechen, als Mary Lygon, wie zuvor Helen Weaver, auf einem
anderen Kontinent ein neues Leben sucht – an fernen Küsten jenseits des
Meeres. Im Dämmer des Zurückgelassenen versinken einstige Verspre­
chen in der Brandung der Seele. »Das Schiff zog fort mit ernstem Blick /
erhaben nahm das Schiff den Kurs / ins Dunkel auf den Tiefen. / Erschöpft
sank ich hin, wo ich stand, / denn Abschiedsschmerz und / Schlafens­
wunsch beschwerten mir die Lider«, heißt es im dritten Lied, das mit
»Sabbath Morning at Sea« überschrieben ist. Trennung mischt sich mit
Aufbruch. Bezüge zwischen den Liedern treten hervor und zeigen, dass
es sich in »Sea Pictures« um einen Zyklus handelt. Der erste Themenkom­
plex im »Sea Slumber-Song« deutet in den Streichern auf unvermittelt
aufwallende Traumfetzen. Elgar verwendet Teile daraus im dritten Lied
neuerlich, wenn in der Feier des ewigen Sabbats – gemeint ist der ewige
Schlaf – von einem Wasserfeuermeer die Rede ist. Die drastische Meta­
pher verbindet die unvereinbaren Elemente Wasser und Feuer und weckt
nicht zufällig Assoziationen an den Jüngsten Tag. Die ewige Ruhe kommt
nicht zur Ruhe, vielmehr tönt die Feier des permanenten Sabbats in
Wagners fließender Harmonik und trägt Züge eines solennen Marsches.
Solange der Mensch von den Gestaden der vollkommenen Ruhe träumt,
wird diese von dem unablässigen Wogen der Wellen umspült und ist
Ruhe nur Ausdruck einer Sehnsucht. Vielleicht steckt darin die Furcht
vor absoluter Stille, vor den Fängen des Nichts. Und vielleicht liegt hier
auch der Grund, warum Elgar im letzten Lied den in »Sabbath Morning
at Sea« angedeuteten Marsch klanglich weiter ausbaut und idiomatisch
seiner später entstandenen Marschsammlung »Pomp and Circum­
stance« vorgreift. Im auftrumpfenden Spiel überwindet sich die Angst
vor dem Nichts. Wenn im letzten Lied in sturmbewegter See die Vision
eines heiteren Himmels mit hellem Sand und »Plätschern und Plappern,
Kräuseln und Murmeln« (Babble and prattle, and ripple and murmur)
aufblitzt, flicht Elgar den dritten Themenkomplex aus dem »Sea SlumberSong« ein, wo mit »Inseln im Elfenlicht« (Isles in elfin light) ebenfalls eine
Gegenwelt aufflackert. In krisenhafter Zuspitzung gewinnt ein verhei­
ßungsvolles Land auf der anderen Seite des Meeres umso deutlichere
Konturen. Im Glauben daran scheinen Träume sich zu manifestieren.
ANDRÉ PODSCHUN
4. SYMPHONIEKONZERT
LIEDTEXTE
Edward Elgar
2. In Haven (Capri)
»Sea Pictures«
G E B. R O B ER T S (18 4 8 -19 2 0)
Zyklus von fünf Liedern für
Mezzosopran und Orchester op. 37
1. Sea Slumber-Song
22
23
Closely let me hold thy hand,
Storms are sweeping sea and land;
Love alone will stand.
Lass dich halten bei der Hand,
Sturm braust über Meer und Land;
nur die Lieb’ hält stand.
Closely cling, for waves beat fast,
Foam-flakes cloud the hurrying
blast;
Love alone will last.
Halt dich fest, hart brandet’s an,
Bö jagt Gischt um Gischt
heran;
nur die Lieb’ hält an.
Kiss my lips, and softly say:
Joy, sea-swept, may fade to-day;
Love alone will stay.
Küsse mich, dann lass mich sehn:
Wonne mag im Sturm verwehn;
Liebe bleibt bestehn.
3. Sabbath Morning at Sea
Sabbatmorgen auf See
Meeresschlummerlied
T E X T: R O D E N N O E L (18 3 4 -18 94)
Sea-birds are asleep,
The world forgets to weep,
Sea murmurs her soft
slumber-song
On the shadowy sand
Of this elfin land;
“I, the Mother mild,
Hush thee, O my child,
Forget the voices wild!
Isles in elfin light
Dream, the rocks and caves,
Lull’d by whispering waves,
Veil their marbles bright.
Foam glimmers faintly white
Upon the shelly sand
Of this elfin land;
Sea-sound, like violins,
To slumber woos and wins,
I murmur my soft
slumber-song,
Leave woes, and wails, and sins,
Ocean’s shadowy might
Breathes good-night.”
Im Hafen (Capri)
T E X T: C A R O L I N E A L I C E ELG A R ,
Seevögel nicht mehr wach,
die Welt vergisst ihr Ach,
die See raunt sanft ihr
Schlummerlied
auf dämmrigem Sand
im Elfenland:
»Ich, die Mutter mild,
bring’ dich zur Ruh’, mein Kind,
vergiss die Stimmen wild!
Inseln im Elfenlicht
Traum, Fels und Höhlen am Kliff,
von flüsternden Wellen gewiegt,
verhüllt ist die marmorne Pracht.
Gischt schimmert zaghaft weiß
auf dem muschligen Sand
dort im Elfenland;
Meeresklang Geigen gleicht,
Flirten dem Schlummer weicht,
ich singe mein sanft’
Schlummerlied,
geht, Jammer, Sünd’ und Leid.
Meeres dämmrige Macht
haucht gute Nacht.«
T E X T: EL I Z A B E T H B A R R E T T
B R OW N I N G (18 0 6 -18 61)
The ship went on with solemn face;
To meet the darkness on the deep,
The solemn ship went onward.
I bowed down weary in the place;
For parting tears and present sleep
Had weighed mine eyelids
downward.
Das Schiff zog fort mit ernstem Blick;
erhaben nahm das Schiff den Kurs
ins Dunkel auf den Tiefen.
Erschöpft sank ich hin, wo ich stand,
denn Abschiedsschmerz und
Schlafenswunsch beschwerten
mir die Lider.
The new sight,
The new wondrous sight!
The waters around me, turbulent,
The skies, impassive o’er me,
Calm in a moonless, sunless light,
As glorified by even the intent
Of holding the day glory!
Welch neuer, wundersamer Blick!
Die Wasser um mich, ungestüm,
und ungerührt der Himmel
ruhig im Licht ohn’ Mond und Sonn’,
als wär er schon verklärt
durch den Entschluss,
des Tages Pracht zu preisen.
4. SYMPHONIEKONZERT
Love me, sweet friends,
This Sabbath day.
The sea sings round me
While ye roll
Afar the hymn, unaltered,
And kneel, where once I knelt to pray,
And bless me deeper in your soul
Because your voice has faltered.
Liebt mich, Freunde,
an diesem Tag.
Ihr schlingert fernab,
wenn die See
mir singt denselben Hymnus
und kniet, wo betend ich gekniet,
in eurer Seele segnet mich,
da euch die Stimme stockte.
And though this sabbath comes to me
Without the stolèd minister,
And chanting congregation,
God’s Spirit shall give comfort. He
Who brooded soft on waters drear,
Creator on creation.
Obgleich mir dieser Sabbat naht
ohne den Priester im Ornat
und singender Gemeinde,
wird Gottes Geist mich trösten. Er,
der über düstern Wassern sann,
der Schöpfer aller Schöpfung.
He shall assist me to look higher,
Where keep the saints,
With harp and song,
An endless sabbath morning,
And, on that sea commixed with fire,
Oft drop their eyelids raised too long
To the full Godhead’s burning.
Er steht mir bei, dorthin zu schaun,
wo Heilige mit
Harf’ und Sang
den ew’gen Sabbat feiern,
auf jenes Wasserfeuermeer,
fällt oft ihr Blick, der allzu lang
auf Gottes Licht gerichtet.
4. Where Corals lie
Wo die Korallen blüh’n
T E X T: R I C H A R D G A R N E T T
(18 3 5 -19 0 6)
24
The deeps have music soft and low
When winds awake the airy spry,
It lures me, lures me on to go
And see the land where corals lie.
Aus Tiefen tönt es leis und sacht,
im Wind die weiße Gischt erwacht,
es lockt mich hinzuziehn
ins Land, wo die Korallen blüh’n.
By mount and mead, by lawn and rill,
When night is deep,
and moon is high,
That music seeks and finds me still,
And tells me where the corals lie.
Auf Berg und Au, an Wies’ und Bach,
bei Mondes Schein
in tiefer Nacht
tönt es mir zu und kündet mir
vom Land, wo die Korallen blüh’n.
25
Yes, press my eyelids close, ’tis well,
But far the rapid fancies fly
To rolling worlds of wave and shell,
And all the lands where corals lie.
Ja, drück mir fest die Augen zu,
und doch fliegt meine Phantasie
ins Reich der Wogen und dorthin,
wo Muscheln sind, Korallen blüh’n.
Thy lips are like a sunset glow,
Thy smile is like a morning sky,
Yet leave me, leave me, let me go
And see the land where corals lie.
Wohl küsst du wie die Abendsonn’
und lächelst wie der neue Tag,
doch geh’ von mir, geh, lass mich ziehn
ins Land, wo die Korallen blüh’n.
5. The Swimmer
Der Schwimmer
T E X T: A DA M L I N D S AY G O R D O N
(18 3 3 -1870)
With short, sharp violent lights
made vivid,
To southward far as
the sight can roam;
Only the swirl of the surges livid,
The seas that climb and the surfs
that comb.
Only the crag and the cliff to
nor’ward,
And the rocks receding, and reefs
flung forward,
Waifs wreck’d seaward and wasted
shoreward,
On shallows sheeted with flaming
foam.
Plötzlich und heftig
erhellt von Blitzen
gen Süden soweit
das Auge reicht
nichts als das Wüten wirbelnder Wellen
brodelt und brandet
die See heran.
Nichts als Klippe und Kliff gegen
Norden,
weichende Felsen und
ragende Riffe,
Treibgut, das an der Küste
zerschellt
auf Untiefen überschäumt
von Gischt.
A grim, grey coast and a seaboard
ghastly,
And shores trod seldom by feet of men
Where the batter’d hull and the
broken mast lie,
They have lain embedded these long
years ten.
Love! when we wandered here
together,
Grimmig, grau, grauenvoll
diese Küste,
und Ufer, die man selten betrat,
wo zerschmettert der Rumpf,
gebrochen der Mast
diese langen zehn Jahre
schon liegen.
Liebe! war es,
als wir Hand in Hand
4. SYMPHONIEKONZERT
26
Hand in hand through the sparkling
weather,
From the heights and hollows of
fern and heather,
God surely loved us a little then.
im Sonnenschein durchs hüglige
Land
wanderten zwischen Heidekraut,
Farn und Sand:
Wir spürten Gottes liebende Hand.
The skies were fairer,
The shores were firmer
The blue sea over the bright sand
roll’d;
Babble and prattle, and ripple and
murmur,
Sheen of silver and
Glamour of gold.
Heit’rer der Himmel,
das Ufer fester
ein blaues Meer rollte über den
hellen Sand;
Plätschern und Plappern, Kräuseln
und Murmeln,
Silbernes Schimmern und
goldener Glanz.
So girt with tempest and wing’d
with thunder,
And clad with lightning and shod
with sleet,
And strong winds treading the swift
waves under
The flying rollers with
frothy feet.
One gleam like a bloodshot
sword-blade swims on
The sky line, staining the green gulf
crimson,
A death-stroke fiercely dealt by a
dim sun,
That strikes through his stormy
winding-sheet.
So, sturmwindgegürtet und
donnergeflügelt,
in Blitzen gewandet,
eisregenbeschuht
trennen die starken Winde auf
flinken Wellen
anfliegende Brecher mit
schäumendem Fuß.
Wie eine blutige Klinge funkelt’s
am Horizont
und färbt die grünfarb’ne Bucht
tiefrot,
ein wilder Todesstreich der letzten
Sonne
durch ihr stürmisches
Leichentuch.
O, brave white horses! you gather
and gallop,
The storm sprite loosens the gusty
reins;
Now the stoutest ship were the
frailest shallop
In your hollow backs, on your
high-arch’d manes.
O wackere Schimmel! Ihr schart
euch und sprengt,
die Windsbraut lockert die Zügel
der Böen;
das robusteste Schiff wär’ dann
das zerbrechlichste Boot
auf euren gesenkten Rücken und
euren flatternden Mähnen.
27
I would ride as never man has
ridden
In your sleepy, swirling surges
hidden;
To gulfs foreshadow’d through
strifes forbidden,
Where no light wearies and no
love wanes.
Ich ritt euch wie nie je ein Mensch
zuvor,
verborgen in euren müden
rollenden Wogen,
zu erahnten Buchten durch
verbotene Engen,
wo kein Licht ermüdet, keine Liebe
vergeht.
Deutsche Übersetzung:
Bertram Kottmann
4. SYMPHONIEKONZERT
»O SANTA INSPIRAZIONE!«
Jean Sibelius
* 8. Dezember 1865 in Hämeenlinna, Finnland
† 20. September 1957 in Järvenpää, Finnland
Die erste Symphonie von Jean Sibelius
Symphonie Nr. 1 e-Moll op. 39
1. Andante, ma non troppo – Allegro energico
2. Andante, ma non troppo lento
3. Scherzo. Allegro – Lento, ma non troppo – Allegro
4. Finale. Quasi una fantasia
ZUM 150. GEBURTSTAG DES KOMPONISTEN
ENTSTEHUNG
BESETZUNG
1898 / 99
2 Flöten (2. auch Piccoloflöte),
2 Oboen, 2 Klarinetten,
2 Fagotte, 4 Hörner,
3 Trompeten, 3 Posaunen,
1 Tuba, Pauken, Schlagzeug,
Harfe, Streicher
U R AU F F Ü H R U N G
26. April 1899 vom Philhar­
monischen Orchester Helsinki
unter Sibelius’ Leitung
DAU ER
ca. 40 Minuten
28
29
»B
ilde, Künstler! Rede nicht!« Goethes Satz, von Richard Strauss
gern zitiert, trifft für Jean Sibelius gleichermaßen zu – und
konnte seine Musik dennoch nicht vor äußerer Zuschreibung
bewahren. Als Sibelius’ erste Symphonie am 26. April 1899 mit
seinen Werken »Die Waldnymphe« und »Gesang der Athener«
uraufgeführt wird, erscheint sie vielen seiner Zeitgenossen als ein veri­
tables Tondrama. Sibelius’ Biograf Erik Furuhjelm glaubt im Kopfsatz
einen mythischen Schauplatz zu erkennen, auf dem sich eine heroische
Tragödie abspielt. Doch vermeidet er die Beschreibung einer konkreten
Handlung. Ein anderer, der finnische Musikwissenschaftler und Kompo­
nist Ilmari Krohn, vermutet ein genaues literarisches Programm und
bringt die erste Symphonie in Verbindung zu Sibelius’ erfolgreicher
Tondichtung »Kullervo«, eigentlich eine fünfsätzige Symphonie, die von
dem schicksalhaft-verwickelten Leben des Knaben Kullervo erzählt. Der
Mythos stammt aus dem »Kalevala«, ein im neunzehnten Jahrhundert
auf Grundlage mündlich überlieferter finnischer Mythologie zusam­
mengestelltes Epos, das maßgeblich zur Entwicklung des finnischen
Nationalbewusstseins beiträgt. Auch mit seinem »Gesang der Athener«
liefert Sibelius einen Beitrag zu einer stärkeren finnischen Profilierung
gegenüber Russland. Im Angstruf der Athener »Der Gote kommt, der
Gote kommt« vermeint das finnische Publikum nichts anderes zu hören
als »Der Russe kommt, der Russe kommt«. Die Zeilen »Herrlich der Tod,
wenn mutig in erster Reihe du fällst, du fällst im Kampf für dein Land,
stirbst für die Stadt und dein Heim« heizen die Stimmung weiter auf. Am
Ende des »Gesangs der Athener« muss das Werk im Konzert am 26. April
unter Tumult wiederholt werden. Die Aufwallung der Finnen hat einen
Grund. Anfang des Jahres 1899 versucht Zar Nikolaus II. im sogenannten
Februarmanifest, die Autonomie des Großfürstentums Finnland erheb­
4. SYMPHONIEKONZERT
lich einzuschränken. Für Finnland geltende Sonderrechte sollen massiv
aufgelöst werden. Druck erzeugt allerdings Gegendruck. Die finnische
Nation mobilisiert sich in einer Unabhängigkeitsbewegung und sieht in
Sibelius einen ihrer auffälligsten Fürsprecher. Doch lässt sich der Kompo­
nist im Klima allgemeiner Erregung nicht ohne weiteres vereinnahmen.
Er wittert eine Reduzierung seiner künstlerischen Persönlichkeit, die er,
wo er ihr begegnet, polternd zurückweist. Am Tag nach dem genannten
Konzert begegnet er auf der Straße einem ehemaligen Schulkameraden,
der kein Verständnis für seine Symphonie aufbringt, ihn aber aufrichtig
zum »Gesang der Athener« beglückwünscht. Worauf ihn Sibelius ins
Visier nimmt und ihm entgegnet: »So so, du denkst auch wie der Mob« –
und sich jäh von ihm abwendet. Die Ehrerbietung des Klassenkameraden
entspricht der Stimmung seiner Landsleute. Im Erwachen eines natio­
nalen Bewusstseins fordern die Finnen von ihren Künstlern die Formu­
lierung eines klaren politischen Standpunkts, sei er auch angedeutet
in Mythos oder Geschichte. Man erwartet eine Funktio­nalisierung der
Kunst, ihre Ablösung vom Sockel des Absoluten. Kunst soll sich in den
gesellschaftlichen Diskurs einmischen. Dass Sibelius darauf allergisch
reagiert, macht klar, dass es ihm um alles andere als um eine Verkürzung
des ästhetischen Anspruchs geht. »Bilde, Künstler! Rede nicht!«
»Quasi una fantasia«
Nach der Uraufführung der ersten Symphonie im denkwürdigen Konzert
des 26. April schreibt Richard Faltin in der Nya Pressen, die Symphonie­
form habe Sibelius’ Phantasie »keine Fesseln angelegt. Im Gegenteil,
er bewegt sich mit bewundernswerter Freiheit in ihr, er folgt seinem
Geistesflug und erlaubt sich die Abweichungen vom Gewohnten, die er
für gut befindet. Irgendwelche speziell finnischen Züge sind in dieser
Symphonie nicht zu erkennen: Der Komponist spricht hier eine allgemein
menschliche, aber doch gleichfalls seine eigene Sprache.« In ähnlicher
Weise äußert sich Sibelius viele Jahre später in einem Interview mit
Walter Legge, als dieser ihn über das Absolute und Programmatische
in seiner Musik anspricht: »Meine Symphonien sind Musik, in musika­
lischen Begriffen konzipiert und ausgearbeitet und ohne literarische
Vorlage. Ich bin kein literarischer Musiker; für mich beginnt die Musik
da, wo die Worte aufhören … Eine Symphonie muss Musik sein, von
Anfang bis Ende. Natürlich ist es vorgekommen, dass sich im Zusam­
menhang mit einem Satz, den ich gerade zu schreiben im Begriff stand,
unerwartet irgendeine Vorstellung in mein Bewusstsein gedrängt hat,
aber die Samen für meine Symphonien und ihre Befruchtung waren rein
musikalischer Art.«
30
31
Jean Sibelius 1900
4. SYMPHONIEKONZERT
In seiner »Symphonie fantastique« von 1830 verwendet Hector Berlioz,
hier linke Abbildung, eine Idée fixe, deren weit ausholende Gestalt mit
dem dritten Thema des ersten Satzes aus Sibelius’ erster Symphonie eine
entfernte Verwandtschaft eingeht. Das Pathos der melodischen Erfindung in
den Werken des großen russischen Komponisten Pjotr I. Tschaikowsky hat
Eingang in das erste Thema des Finalsatzes in Sibelius’ Symphonie gefunden.
»O santa dea!«
Die Entstehung der ersten Symphonie fällt in das Jahr 1898, als Sibelius
im Frühjahr in Berlin Quartier in der Potsdamer Straße nimmt. Am
21. Februar 1898, kurz nach seiner Ankunft an der Spree, beeindruckt ihn
eine Berlioz-Aufführung mit den Berliner Philharmonikern unter Arthur
Nikisch. »Hörte Sinfonie fantastique. O santa inspirazione! O santa dea!«,
notiert er am 2. März in sein Skizzenheft. Die heilige Göttin der Einge­
bung, hier in Gestalt des großen französischen Phantasten, scheint den
Anstoß zu geben für ein neues symphonisches Werk. Ein Notenblatt mit
Themenskizzen zum Finale enthält denn auch die Randnotiz: »Berlioz?«
Neben dem unruhigen französischen Feuerkopf liefert Tschaikowskys
»Pathétique« eine weitere Inspiration. Tschaikowskys Werk hat Sibelius
ein Jahr zuvor in Helsinki gehört und findet Widerklang in ihm: »In dem
Mann gibt es vieles, was auch ich habe«, antwortet Sibelius einigen
schwedischen Komponisten, die ihn auf Ähnlichkeiten seiner Ersten mit
der Sechsten des Russen ansprechen. Leicht auszumachen ist Tschai­
32
33
kowskys Vorbild am Pathos des Finales besonders daran, wie sich das
Thema der Einleitung als Schicksalsthema wiederholt. Derweil geht die
Komposition zügig voran: »Habe drei Tage fleißig gearbeitet. Es war so
herrlich, so herrlich. Das neue ›alla sinfonia‹«, schreibt er Ende April.
Die Idee einer gleichwie programmatisch ausgerichteten Symphonie à la
Berlioz oder Tschaikowsky nimmt in dieser Zeit die Form eines abso­
luten, rein musikalischen Werkes an. Im »Quasi una fantasia«, das dem
Finalsatz als Bezeichnung hinzugefügt ist, liegt ein deutlicher Verweis
auf Beethovens »Mondscheinsonate« cis-Moll op. 27 Nr. 2. Doch meint
»wie eine Phantasie« noch lange kein ausgewiesenes Programm. Es geht
um Schilderung, um Beschreibung eines Zustandes, um das Einfangen
einer Atmosphäre, in der sich ein Gefühl verbreitet, für das Worte nicht
ausreichen. Wenn Sibelius im Zusammenhang mit seiner Tondichtung »En
Saga« (Eine Sage) vom »Ausdruck eines Seelenzustandes« spricht, trifft
das in ähnlicher Weise auch auf seine Symphonien zu, ohne jedoch diesen
»Ausdruck« näher fassen zu können oder zu wollen. Denn was ist Inspi­
ration anderes als ein Vorgang der Beseelung, von dem man nicht gleich
zu sagen vermag, in welche Richtung er geht? Das Nichtfassliche eines
Zustands produktiver Erregung macht den Reiz schöpferischer Hervor­
bringung aus – und leitet nicht selten den Hervorbringenden in intuitiver
Weise. Dabei entzündet sich künstlerische Einfühlung durch Kontrastie­
rung. Das wirkungsvolle Tutti zu Beginn des Kopfsatzes steigert Sibelius
noch dadurch, indem er die Klarinette am Anfang über mehrere Takte
solo spielen lässt, lediglich grundiert von einer im Pianissimo wirbelnden
Pauke, die wenig später gänzlich aussetzt. Es ist die Melodie eines Tastens
und langsamen Abgleitens, das sich aus dem Unmittelbaren heraus zu
einem fernen Punkt entwindet und gleichsam die Szene einer Urdäm­
merung einfängt. Der Kontrast ist erreicht, wenn das Hauptthema wenig
später im Allegro energico in vordringlicher Präsenz auftritt, vorbereitet
von einem signalhaften Tremolo in Terzabstand der zweiten Violinen. Der
Tonabstand dieses Tremolos wird für den gesamten Satz konstitutiv. Er
setzt an zentralen Stellen Spannung frei, deren Auflösung harmonisch
oft genug nicht eindeutig ist. Noch ganz am Ende bauen die Celli und
Fagotte unter mächtig wirbelnder Pauke eine drohend aufsteigende Linie
innerhalb der Terz auf, um die wachsende Dynamik gleichsam in die
folgenden Sätze hinüberzunehmen. Harmonisch ist die Melodiebildung
nicht eindeutig festgelegt, mehrfach schwebt das erste Thema zwischen
seiner eigentlichen Zieltonart und ihrer Parallele und gewinnt aus dieser
Uneigentlichkeit den Impuls für das Kommende. Auch hier wird das
Mittel der Kontrastierung zum kompositorischen Prinzip. Wenn etwa das
flatternde Überleitungsthema in den Holzbläsern mit dem träumerischen
Nebenthema kombiniert wird und eine Steigerung ansetzt, die auf ihrem
4. SYMPHONIEKONZERT
Gipfelpunkt in ein kurzzeitiges Nichts abstürzt. Doch dient der jähe
Abbruch lediglich als Etappe innerhalb einer weiterführenden Entwick­
lung, die sich aus neuerlich ansetzenden Schüben wellenartig zusammen­
fügt und daraus einen groß angelegten Bogen spannt. Im zweiten Satz
(Andante) scheint die Sehnsucht zu sich selbst zu kommen und erinnert
atmosphärisch an ein Gedicht des finnlandschwedischen Dichters Bertel
Gripenberg, einem der Lieblingspoeten von Sibelius, wo von »blauen
Nächten der Gärten unserer Jugend« zu lesen ist. Der Atem der Sehnsucht
fordert Raum zur Entfaltung von Phantasie und leiser, unterschwelliger
Wehmut, in der die Heraufbeschwörung eines Zustands aus dem Traum
herauszutreten scheint und die Gegenwart ausfüllt. Bemerkenswert ist
ein Fugato, dessen Thema vom Fagott auf weitere Blasinstrumente über­
tragen wird und sich das Gegenwärtige fast schon wieder hineinstülpt
in den Mantel der Erinnerung – auch hier hervorgerufen durch Kontras­
tierung zum Vorangegangenen. Demgegenüber verweisen der pulsie­
rende Rhythmus und das scharfe Profil des Scherzo-Themas deutlich auf
Bruckners Scherzi. Der Finalsatz trägt Tschaikowskys Zugriff offen zur
Schau. Das einleitende Klarinettensolo des ersten Satzes wird nunmehr
schicksalsschwer und mit Pathos von den Streichern gespielt und evoziert
eine Stimmung, die in der Folge weit aufgeladener und kompromissloser
ausgeführt wird als bei Tschaikowsky. Als Kritiker Sibelius’ Stil mit dem
des großen russischen Komponisten vergleichen, äußert er sich verärgert.
Seine Symphonien, so sagt er später, seien »härter«. Aus dieser Haltung
heraus ist Beethovens Gestus »Quasi una fantasia« als intimes, abgedun­
keltes Kammerstück nicht mehr möglich. An seine Stelle tritt die lastende,
weit ausgreifende Leidenschaft des Art Nouveau. So scheint es folge­
richtig, dass im gesanglichen Bogen des zweiten Themas der Abschied
vom neunzehnten Jahrhundert aufflackert – ein Abschied, der das Pathos
einer ganzen Epoche mit großer Geste feiert und bereits in den Abgründe
des Nihilismus blickt. Dass dabei alles miteinander verknüpft ist, zeigt
die innermusikalische Konvergenz der Symphonie. Die Terz als Mittel der
kompositorischen Verdichtung kehrt im Finale zurück, wenn das Haupt­
thema von den Holzbläsern in variierter Form in Terzparallelen aufge­
griffen wird. Mehr noch: Auch die letzten beiden Töne in den Violinen
stehen im Bann des Intervalls. Was hier in einem nach unten gerich­
teten Terzsprung im Pizzicato unter Paukenwirbel wie beiläufig seinen
Abschluss findet, ist die Antwort auf das Ende des ersten Satzes, als
Celli und Fagotte in aufsteigender Terz neuerliche Spannung aufbauten,
überdies in der gleichen Tonart e-Moll. Ein Kapitel – das erste in Sibelius’
symphonischem Œuvre – schließt sich und mit ihm der Blick zurück in die
Nebel des neunzehnten Jahrhunderts.
34
ANDRÉ PODSCHUN
35
Programmzettel der Dresdner Erstaufführung von Sibelius’ erster Symphonie
durch die Hofkapelle am 17. November 1903, 4 ½ Jahre nach der Uraufführung.
4. SYMPHONIEKONZERT
4. Symphoniekonzert 2015 | 2016
Orchesterbesetzung
1. Violinen
Kai Vogler / 1. Konzertmeister
Michael Eckoldt
Thomas Meining
Jörg Faßmann
Federico Kasik
Michael Frenzel
Christian Uhlig
Volker Dietzsch
Brigitte Gabsch
Johanna Mittag
Birgit Jahn
Wieland Heinze
Anja Krauß
Anett Baumann
Anselm Telle
Yoriko Muto
2. Violinen
Matthias Meißner
Annette Thiem
Holger Grohs
Stephan Drechsel
Jens Metzner
Ulrike Scobel
Olaf-Torsten Spies
Beate Prasse
Emanuel Held
Kay Mitzscherling
Christoph Schreiber-Klein
Yukiko Inose
Hannah Burchardt**
Steffen Gaitzsch*
Bratschen
Eberhard Wünsch* / Solo
Stephan Pätzold
Michael Horwath
Uwe Jahn
Ulrich Milatz
Susanne Neuhaus
Juliane Böcking
Uta Scholl
Veronika Lauer**
Björn Sperling**
Elke Bär*
Andreas Kuhlmann*
Violoncelli
Nikolaus Trieb* / Konzertmeister
Simon Kalbhenn / Solo
Martin Jungnickel
Uwe Kroggel
Johann-Christoph Schulze
Jörg Hassenrück
Jakob Andert
Anke Heyn
Matthias Wilde
Stefano Cucuzzella**
Kontrabässe
Christian Ockert* / Solo
Torsten Hoppe
Christoph Bechstein
Fred Weiche
Reimond Püschel
Thomas Grosche
Johannes Nalepa
Paweł Jabłczyński
Flöten
Rozália Szabó / Solo
Bernhard Kury
Dóra Varga
Oboen
Sebastian Römisch / Solo
Sibylle Schreiber
Michael Goldammer
Klarinetten
Robert Oberaigner / Solo
Dietmar Hedrich
Christian Dollfuß
Fagotte
Joachim Hans / Solo
Joachim Huschke
Andreas Börtitz
Hörner
Posaunen
Uwe Voigt / Solo
Jürgen Umbreit
Frank van Nooy
Tuba
Jens-Peter Erbe / Solo
Pauken
Thomas Käppler / Solo
Schlagzeug
Bernhard Schmidt
Simon Etzold
Harfe
Astrid von Brück / Solo
Orgel (ad lib.)
Johannes Wulff-Woesten
Jochen Ubbelohde / Solo
Robert Langbein / Solo
Andreas Langosch
Julius Rönnebeck
Miklós Takács
Miho Hibino
Trompeten
Tobias Willner / Solo
Siegfried Schneider
Gerd Graner
* als Gast
** als Akademist / in
36
37
4. SYMPHONIEKONZERT
Vorschau
Sonderkonzert zum 70. Geburtstag
von Rudolf Buchbinder
S O N N TAG 10 .1.16 11 U H R
S E M P ER O P ER D R E S D E N
Rudolf Buchbinder Klavier und Leitung
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LLE DR
IN K O O S TA AT S K A P E
N
E
H
C H S IS C
Carl Maria von Weber
Konzertstück f-Moll op. 79
Wolfgang Amadeus Mozart
Klavierkonzert C-Dur KV 467
Klavierkonzert B-Dur KV 595
5. Symphoniekonzert
S A M S TAG 2 3.1.16 2 0 U H R
S O N N TAG 2 4 .1.16 11 U H R
M O N TAG 2 5 .1.16 2 0 U H R
S E M P ER O P ER D R E S D E N
Robin Ticciati Dirigent
Leonidas Kavakos Violine
Gustav Mahler
»Blumine«, Symphonischer Satz
Jean Sibelius
Violinkonzert d-Moll op. 47
Maurice Ravel
»Valses nobles et sentimentales«
Claude Debussy
»La mer«
Kostenlose Konzerteinführungen jeweils 45 Minuten
vor Beginn im Foyer des 3. Ranges der Semperoper
4. SYMPHONIEKONZERT
IMPRESSUM
Sächsische
Staatskapelle Dresden
Künstlerische Leitung/
Orchesterdirektion
Sächsische Staatskapelle Dresden
Chefdirigent Christian Thielemann
Spielzeit 2015 | 2016
H E R AU S G E B E R
Sächsische Staatstheater –
Semperoper Dresden
© November 2015
R E DA K T I O N
André Podschun
G E S TA LT U N G U N D L AYO U T
schech.net
Strategie. Kommunikation. Design.
DRUCK
Union Druckerei Dresden GmbH
ANZEIGENVERTRIEB
Christian Thielemann
Chefdirigent
Juliane Stansch
Persönliche Referentin
von Christian Thielemann
Jan Nast
Orchesterdirektor
Tobias Niederschlag
Konzertdramaturg,
Künstlerische Planung
André Podschun
Programmheftredaktion,
Konzerteinführungen
Matthias Claudi
PR und Marketing
Agnes Monreal
Assistentin des Orchesterdirektors
EVENT MODULE DRESDEN GmbH
Telefon: 0351 / 25 00 670
e-Mail: [email protected]
www.kulturwerbung-dresden.de
Elisabeth Roeder von Diersburg
Orchesterdisponentin
B I L D N AC H W E I S E
Agnes Thiel
Dieter Rettig
Notenbibliothek
Simon Pauly (S. 5); K. K. Dundas (S. 6); Alte
Nationalbibliothek Berlin (S. 8/9); S. W. Rachmaninow, Musikverlag, Moskau 1988 (S. 12);
https://commons.wikimedia.org/wiki/
File:Dresden-blickvomrathausturm1910.jpg,
aufgerufen am 17. November 2015 (S. 15);
Peter Joslin, Wokingham (S. 19); EMI Archive
Trust (S. 20); Erik Tawaststjerna, Jean Sibelius,
aus dem Schwedischen und Finnischen von
Gisbert Jänicke, Salzburg und Wien 2005 (S. 31);
Berlioz, Porträt von Émile Signol, 1832 (S. 32
links); Pjotr I. Tschaikowsky, Ölgemälde von
Nikolai Kusnezow, 1893, Tretjakow-Galerie
Moskau (S. 32 rechts); Historisches Archiv der
Sächsischen Staatstheater (S. 35)
Eine Uhr mit Tourbillon garantiert
höchste Ganggenauigkeit.
Jetzt lässt sie sich auch absolut präzise einstellen.
Matthias Gries
Orchesterinspizient
T E X T N AC H W E I S E
Die Einführungstexte von André Podschun sind
Originalbeiträge für dieses Programmheft.
Urheber, die nicht ermittelt oder erreicht
werden konnten, werden wegen nachträglicher
Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten.
Private Bild- und Tonaufnahmen sind aus
urheberrechtlichen Gründen nicht gestattet.
Der 2008 von Lange präsentierte Sekundenstopp machte es erstmals möglich, eine TourbillonUhr gezielt anzuhalten und einzustellen. Mit der 1815 Tourbillon folgt nun der nächste
Entwicklungsschritt: Durch die Integration der Zero-Reset-Funktion springt der Sekundenzeiger
bei Stillstand der Uhr auf null. So kann die Uhr exakt eingestellt und sekundengenau gestartet
werden. Das präzise Zusammenwirken der Mechanismen wird komplettiert durch die LangeUnruhspirale, die individuell auf jedes Kaliber abgestimmt wird. www.alange-soehne.com
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Wir laden Sie herzlich ein, unsere Kollektion zu entdecken:
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Töpferstraße 8 · 01067 Dresden · Tel. +49 (0)351 4818 5050