Grundkurs Deutsche Literatur, 1. Stunde

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Grundkurs Deutsche Literatur, 1. Stunde
Grundkurs Deutsche Literatur, 1. Stunde
Grundbegriffe der Textinterpretation, Analyse von epischen Texten I
A. Inhalt, Stoff, Motiv, Thematik, Aufbau
Inhalt einer Textpassage: das äußere Gerüst einer Geschichte, also z. B. der Handlungsverlauf und
die Figurenkonstellation.
Fabel: Reduziert man den reinen Handlungsverlauf auf seine äußerste Knappheit, auf das bloße
Schema der Handlung, erhält man die Fabel eines Werks.
Stoff: Der Stoff kann zwar im Handlungsverlauf greifbar werden, aber er darf nicht mit dem Inhalt
oder der Fabel verwechselt werden. Unter „Stoff“ wird im Allgemeinen ein „vor und außerhalb der
Dichtung“ (Elisabeth Frenzel) existierendes Faktum verstanden: ein Bericht, ein Erlebnis, ein historisches Ereignis, das Schicksal einer historischen Person, auch ein anderes literarisches Werk etc.),
das den Autor inspiriert hat und das der Autor für sein Werk bearbeitet.
Motiv: Als „Motiv“ bezeichnet man eine „kleinere stoffliche Einheit“ (Frenzel). Goethe hat seinerzeit den Stoff für sein Werk Die Leiden des jungen Werthers seinen eigenen Erfahrungen in Wetzlar
entnommen. In dem Werk lassen sich u. a. folgende Motive ausmachen: eine Frau zwischen zwei
Männern, die unglückliche Liebe eines Mannes zu einer verheirateten Frau und der daraus resultierende Selbstmord des Liebhabers.
Stoff- und Motivgeschichte: Teil der Literaturgeschichte, welcher untersucht, wann, wo und wie
verschiedene Stoffe und Motive behandelt worden sind und wie. Etwa das Motiv von den zwei
feindlichen Brüdern: in 1. Moses 4, in Friedrich Maximilian Klingers Drama Die Zwillinge, in
Franz Grillparzers Drama Ein Bruderzwist in Habsburg, in Thomas Manns Buddenbrooks etc.
Thema/Thematik einer Textpassage: eigentlicher Aussagegehalt, Problematik. Tektonik einer
Textpassage: äußerer und innerer Aufbau.
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B. Zum Erzähler
In der Literaturwissenschaft geht man grundsätzlich davon aus, dass es in den Texten einen Erzähler (einen Narrator/ein episches Medium) gibt, der uns die Geschehnisse vermittelt. In manchen
Texten haben wir einen Ich-Erzähler, in anderen zum Beispiel einen auktorialen Erzähler (zu diesen
Begriffen siehe weiter unten). Der Erzähler darf in fiktionalen Texten nicht mit dem Autor
gleichgesetzt werden. Vielmehr ist der Erzähler eine vom Autor erfundene Figur, eine Kunstfigur,
die sich innerhalb des Bereichs der Fiktion befindet.
Der Erzähler kann die Geschehnisse und Figuren aus der Distanz von außen betrachten (Außenperspektive), aber er kann auch Einblick haben in die Gedanken und Gefühle einer Figur oder mehrere
Figuren (Innensicht). Außenperspektive und Innensicht schließen jedoch einander nicht aus.
Typische Darstellungsformen der Innensicht sind der innere Monolog und die erlebte Rede. Beim
inneren Monolog werden die Gedanken einer Figur direkt wiedergegeben, und zwar in der Weise,
wie man annimmt, dass die Figur sie denkt:
Und siehe da: plötzlich war es, als wenn die Finsternis vor seinen Augen zerrisse, wie
wenn die samtne Wand der Nacht sich klaffend teilte und eine unermesslich tiefe, eine
ewige Fernsieht von Licht enthüllte… Ich werde leben! sagte Thomas Buddenbrook
beinahe laut und fühlte, wie seine Brust dabei vor innerlichem Schluchzen zitterte.
(Aus Thomas Mann:Buddenbrooks)
Diese Textpassage zeigt, dass der Erzähler in Thomas Manns Roman die Innensicht in die Figur
Thomas Buddenbrook besitzt, denn er kennt die Gedanken und Gefühle dieser Figur. Der Satz „Ich
werde leben!“ kann hier als innerer Monolog (fi. sisäinen monologi) klassifiziert werden. Typisch
für den inneren Monolog ist, dass die grammatische Person wechselt (er > ich) und hier auch die
Zeitform (Imperfekt > Präsens).
Hier ein Auszug aus Thomas Manns novellistischer Studie Schwere Stunde, die aus dem Leben
Friedrich Schillers erzählt:
Er stöhnte, presste die Hände vor die Augen und ging wie gehetzt durch das Zimmer.
Was er eben gedacht, war so furchtbar, dass er nicht an der Stelle zu bleiben vermochte, wo ihm der Gedanke gekommen war. Er setzte sich auf einen Stuhl an der
Wand, ließ die gefalteten Hände zwischen den Knien hängen und starrte trüb auf die
Diele nieder.
Das Gewissen… Wie laut sein Gewissen schrie! Er hatte gesündigt, sich versündigt
gegen sich selbst in all den Jahren, gegen das zarte Instrument seines Körpers. Die
Ausschweifungen seines Jugendmutes, die durchwachten Nächte, die Tage in tabakrauchiger Stubenluft, übergeistig und seines Leibes uneingedenk, die Rauschmittel,
mit denen er sich zur Arbeit angestachelt – das rächte, rächte sich jetzt!
Dem Leser wird bald klar, dass der Erzähler in das Innenleben der Figur zu blicken vermag und
schließlich dazu übergeht, die Perspektive der Figur zu wählen. Im Verlauf des zweiten Abschnittes
hat der Leser das Gefühl, dass hier die Gedanken der Figur wiedergegeben werden, ohne dass sich
die grammatische Person und Zeitform ändert. Besonders in der Stelle ganz zum Schluss, mit dem
Komma und der Wiederholung des Verbs (… das rächte, das rächte sich jetzt!), scheint uns, als
spreche hier die Figur. Man könnte behaupten, dass hier die erlebte Rede (fi. vapaa epäsuora esitys) vorliegt, aber bei dergleichen Entscheidungen sind stets auch der Kontext und der Figurenstil
etc. mit zu berücksichtigen.
Hierzu noch ein Beispiel:
Jetzt ging er wieder zurück und stellte eine recht traurige Betrachtung bei sich selbst
an, was er für ein armer Mensch sei unter so vielen reichen Leuten in der Welt.
(Johann Peter Hebel: Kannitverstan)
Den letzten Teilsatz (ab … was für ein…) kann man hier als erlebte Rede deuten: Ein Gedanke der
Figur wird wiedergegeben, aber die grammatische Person wechselt hier (anders als beim inneren
Monolog) nicht von er zu ich. Als grammatischen Modus haben wir hier den Konjunktiv I, der im
Deutschen ein Kennzeichen für die indirekte Rede ist. Bei der erlebten Rede haben wir jedoch nicht
unbedingt stets Konjunktivformen (siehe das Zitat darüber).
Das häufige Auftreten von innerem Monolog und erlebter Rede hängen mit dessen Tendenz zur
Psychologisierung der Figuren zusammen. Wenn aneinandergereihte innere Monologe die Gedanken einer Figur in deren assoziativer Folge wiedergeben, spricht man auch vom Bewusstseinsstrom
(„stream of conciousness“, fi. tajunnanvirta).
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C. Verschiedene Erzählsituationen
1) Auktoriale Erzählsituation
In der auktorialen Erzählsituation gehört der Erzähler selbst nicht zu der Geschichte, die er erzählt,
sondern tritt deutlich als Urheber und Vermittler der Geschichte in Erscheinung. Der Erzähler ist
also selbst nicht Teil der dargestellten Welt, sondern schildert sie „allwissend“ von außen, weswegen er auch oft als allwissender Erzähler (fi. kaikkitietävä kertoja) bezeichnet wird. So kann er
etwa Zusammenhänge mit zukünftigen und vergangenen Ereignissen herstellen, diese kommentieren und Wertungen (in Erzählerrede) abgeben, Handlungen verschiedener Figuren zur gleichen Zeit
an unterschiedlichen Orten schildern etc. Generell weiß er mehr als seine Figuren, und er kennt deren Gedanken- und Gefühlswelt. Grundlegend ist dabei, dass Erzähler, Figuren und Leser ein Wertesystem und ein Weltbild teilen, so dass die Identifikation des Lesers mit der Hauptfigur leicht erreicht wird.
Die Aussagen des auktorialen Erzählers sind immer wahr, glaubhaft und entsprechen dem gesellschaftlichen Konsens der Entstehungszeit. In den Romanen, Novellen und Erzählungen des 19.
Jahrhunderts finden wir typischerweise auktoriale Erzähler.
2) Personale Erzählsituation
Die Erzählhaltung eines personalen Erzählers (fi. persoonallinen kertoja) tritt eigentlich erst im
Roman der Moderne, z. B. bei Franz Kafka, zutage. Die Anwesenheit des Erzählers wird dem Leser
nicht bewusst. Der Leser nimmt die Erzählung aus der Sicht einer bestimmten Figur, der sogenannten Reflektorfigur, wahr. Die Seinsbereiche von Erzähler und Figur sind jedoch nicht identisch.
In den erzählten Passagen ist die dritte Person („er“/„sie“) vorherrschend, es wird aber vorwiegend
aus der Innenperspektive der Reflektorfigur erzählt. Daher sind Voraussagen oder Kenntnisse darüber, was an anderen Orten geschieht, nicht zu erwarten. Der Leser erhält normalerweise keine Einblicke in die Gefühls- und Gedankenwelt anderer Figuren als der Reflektorfigur.
3) Ich-Erzählsituation
In der Ich-Erzählsituation ist der Ich-Erzähler (fi. minäkertoja) mit einer Figur der Erzählung identisch, er tritt also mit in die Handlung ein. Man spricht hier von der Identität der Seinsbereiche von
Erzähler und Figuren. Das „erzählende Ich“ ist jedoch oftmals die erfahrenere und reifere Version
des „erlebenden Ichs“ (Unterschied: erzählendes Ich ≠ erzähltes Ich). Allerdings ist zu beachten,
dass ein Ich-Erzähler unterschiedlich stark am erzählten Geschehen beteiligt sein kann, also er
braucht nicht unbedingt immer die Hauptfigur in der Handlung zu sein, sondern kann auch in der
Rolle eines kaum beteiligten Beobachters eines Geschehens bzw. als Nebenfigur auftreten.
Direkte Rede, auch ohne Kennzeichnung durch besondere Satzzeichen oder redeeinleitende Sätze,
Darstellung subjektiver Gefühlszustände, Meinungen und Sichtweisen, all dies sind recht typische,
zu erwartende Merkmale einer Ich-Erzählung. Der Ich-Erzähler hat meist keine kritische Distanz zu
seiner Erzählung.
Wenn es in einem literarischen Text einen Ich-Erzähler gibt, so erscheint es uns als sehr unnatürlich, wenn im Text auch Gedanken von anderen Figuren wiedergegeben werden. Dies empfinden
wir als Regelbruch, als einen Verstoß gegen die Konventionen des Erzählens.
Die Ich-Erzählsituation erscheint natürlich. Wenn jemand erzählt, was ihm passiert ist, spricht er
aus der Ich-Perspektive. In der Regel ist diese Perspektive besonders geeignet, ein Identitätsgefühl
mit dem Erzähler beim Leser zu wecken. Das Gefühl also, der Leser erlebe selbst, was dem Erzähler als Figur des Textes geschieht.
Der Leser hat eine starke Neigung dazu, dem Erzähler (dem Ich-Erzähler wie auch dem auktorialen
Erzähler) alles zu glauben. Jedoch muss man auch mit der Möglichkeit rechnen, dass solch ein Erzähler unzuverlässig sein kann. Einen unzuverlässigen Erzähler (fi. epäluotettava kertoja) haben
wir zum Beispiel beim kleinen Trommler Oskar Mazerath in Günter Grass’ Blechtrommel oder bei
Thomas Manns Figur Felix Krull im Roman Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull. Häufig
baut der Autor in den Text Signale und Widersprüche ein, die dem Leser die Unzuverlässigkeit der
Erzählerfigur andeuten.