Verkörperung von Märchensymbolen in der

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Verkörperung von Märchensymbolen in der
Diplomarbeit
im Rahmen der Ausbildung zur Tanztherapeutin am
Zentrum für Tanz & Therapie
München
Verkörperung von Märchensymbolen in der
Systemischen Tanztherapie
Lynn A. (Friese-) Baginski
März 2007
Verkörperung von Märchensymbolen in der Systemischen
Tanztherapie
Zusammenfassung
Diese Studie befasst sich mit der Frage, ob durch die Verkörperung von Märchen und deren
Symbolgehalt ein Weg zu „inneren Bildern“ gefunden und diese exploriert werden können.
Mit „inneren Bildern“ sind individuelle Symbole gemeint, die der Mensch als unbewusste
Motive aufgrund unterschiedlicher Lebenserfahrungen schafft.
Der erste, theoretische Teil befasst sich mit Definitionen zu den Begriffen rund um das
Märchen und mit der kulturhistorischen Entwicklung, hauptsächlich in Bezug auf die
Märchensammlungen der Gebrüder Grimm. Darüber hinaus findet sich in diesem Teil die
Auseinandersetzung der Psychoanalyse mit dem Thema Märchen und wie die Tanztherapie z.
B. mit der Methode der aktiven Imagination Symbolarbeit anwendet.
Im praktischen Teil wird anhand von fünf Einzelfallstudien überprüft, ob die Verkörperung
von Märchensymbolik über die aktive bewegte Imagination im Rahmen der Tanztherapie
anwendbar ist.
Im letzten Kapitel werden die Erfahrungen der Einzelfallstudien ausgewertet.
Abstract
This study discusses the question, if it is practicable to find a way to „inner pictures“ and to
explore them by embodiment of fairy-tails. “Inner pictures” means individual symbols created
by a person as an unconscious motive caused by different experiences of life.
The first, theoretical part concerns with definitions of notions of fairy-tails and with the
cultural development mainly in relation to the collection of fairy-tails by the Brothers Grimm.
In addition you will find in this part an argument of psychoanalysis with the theme fairy-tail
and how dancetherapy uses for example the method of the active imagination working with
symbols.
The practical part will check by means of five single studies if the theory of application over
the active moving imagination is applicable.
In the last chapter the experiences of the single studies will be evaluated.
Vorwort
Bei der vorliegenden Diplomarbeit arbeitete ich mit fünf KlientInnen, denen ich herzlich
danke für ihr Vertrauen und ihre Bereitschaft, sich gemeinsam mit mir auf die Reise in ihre
eigene Märchenwelt zu begeben.
Besonderer Dank gilt meiner Frau Holle, Giulietta Tibone, die mir zur rechten Zeit meine
Spindel zurück gab und der ich diese Arbeit widme.
Außerdem danke ich einer sehr mutigen Frau, die als 12. Fee einen niemals enden wollenden
Schlaf auf 100 Jahre verkürzte.
And last not least danke ich Albert Schwarzer, weil er kein Wolf ist – auch keiner im
Schafspelz – und der mir eine große Unterstützung bei diesem Werk war!
Inhaltsverzeichnis
Einleitende Gedanken zur Entstehung der Diplomarbeit
4
Teil A – Theoretischer Überblick
7
1. Definition von Märchen
7
2. Definition von Mythos
7
3. Definition von Symbol
8
4. Märchen – kulturhistorisch
10
4.1 Die „ersten“ Märchen
10
4.2 Zeit der Aufklärung
11
4.3 Zeit der Klassik
11
5. Die Märchensammlungen der Gebrüder Grimm
12
5.1 Das Leben der Gebrüder Grimm
12
5.2 Beginn der Sammlungen
12
5.3 Zensur
12
5.4 Die Grimmschen Märchen während der NS-Zeit
13
5.5 Kritik am Märchen nach dem 2. Weltkrieg
14
5.6 Märchen in den 1970-ern
14
5.7 Weltdokumenterbe
15
6. Märchen aus heutiger wissenschaftlicher Sicht
15
6.1 Wissenschaftsbereiche
15
6.2 Diskussion um Nutzen und Sinn der Märchen
15
7. Märchen aus psychoanalytischer Sicht
16
1
7.1 Die Archetypen nach C. G. Jung
16
7.2 Anwendung der Archetypenlehre auf Märchen
18
7.3 Beispiele aus psychotherapeutischer Praxis
19
8. Zugang zu „inneren Bildern“ durch die Tanztherapie
20
9. Der Begriff „Symbol“ in der Tanztherapie
21
9.1 Körper und Symbol
21
9.2 Symbolische Tänze
21
9.3 Symbolik im Sinne von M. Chace
22
9.4 Verkörperung von Symbolen
22
Teil B – Umsetzung in die Praxis
24
1. Gedanken zur Entwicklung der Einzellfallstudien
24
1.1 Das Setting
24
1.2 Drei Leitfragen
25
1.3 Die Rolle der Tanztherapeutin
25
1.4 Methode
26
1.5 Erklärung zum Fragebogen
27
1.6 Die Märchentitel
28
2. Fünf Einzelfallstudien
29
2.1 „Der einsame, empörte Page“
29
2.2 „Der störrische Bruder“
35
2.3 „Die Oasenbauerin“
40
2.4 „In Großmutters Schürze“
45
2.5 „Eine spielerische Beziehung“
50
2
Teil C – Auswertung
55
1. Reflexion
55
1.1 Das Warm-up
55
1.2. Die bewegte Imagination
55
1.3. Die Märchensymbole
56
1.4. Das Reflexionsgespräch
57
1.5. Der Rückweg
58
2. Resümee
58
2.1 Eigene Märchenbilder
58
2.2 Aktive bewegte Imagination
59
2.3 Bewegungsanalyse und Gespräch
59
2.4 Innere Ressourcen
59
2.5 Verkörperung
60
2.6 Fortsetzung folgt
60
2.7 Das Klientel
60
2.8 Aktuelle Bedürfnisse und Themen
61
2.9 Und in Zukunft?
61
3. Schlussbemerkung
62
Literaturverzeichnis
64
3
Einleitende Gedanken zur Entstehung der Diplomarbeit
„Alles Poetische muss märchenhaft sein. Im Märchen glaube ich am besten meine
Gemütsstimmung ausdrücken zu können. Alles ist ein Märchen.“ Novalis (Lüthi, 1981,
S. 5)
„Das Märchen spricht zu uns in Symbolen, in Bildern, die in ganze Prozesse
eingebunden sind. Insofern haben Märchen eine Nähe zum Traum, zu den unbewussten
Prozessen ganz allgemein, aber auch zu den Mythen.“ (Kast, V., 2002, S. 9) Diese
Aussage war für mich Inspiration genug, mich mit der Frage zu beschäftigen, ob
Märchen und deren Symbolgehalt nicht nur „auf der Couch“, sondern auch am eigenen
Leib erlebbar – nämlich in der Tanztherapie – einem Menschen zu tieferem Einblick in
sein Seelenleben verhelfen können. Ausgehend davon, dass Märchen wie Träume in
unbewussten Bildern zu uns sprechen, welche sich anschauen, analysieren und
verarbeiten lassen, stellt sich die Frage, ob es möglich ist, durch verschiedene Methoden
der Tanztherapie die einzelnen Sequenzen be-greifbar zu machen.
Märchen gibt es vermutlich, seitdem es Menschen gibt (siehe Kapitel 4.1). Schon zu
Urzeiten erklärten sich Menschen Naturereignisse und Begebenheiten aller Arten
anhand von Mythen. Sie schufen sich Abbilder der Planeten als Gottheiten und ein
Naturschauspiel wurde zu einer Göttersage. Diese Mythen wurden mündlich überliefert.
Es gibt sie in allen Kulturen und zu allen Zeiten. Märchen, die nur einer Kultur
angehören, findet man selten. Es gibt existenzielle Vorgänge, die so einfach sind, dass
sie universell wiederkehren, z.B. der Auf- und Untergang der Sonne, der mythisch
aufbereitet in einem indischen Märchen als die Abendröte, die von der Nacht
verschlungen wird, Parallelen zu unserem Märchen „Rotkäppchen“ aufweist. Es scheint
also ein Kollektiv in allen Völkern zu geben, wenn es darum geht Erfahrung
aufzubereiten. Für C. G. Jung waren die im „kollektiven Unbewussten“ angesiedelten
Urbilder menschliche Vorstellungsmuster. Er nannte sie „Archetypen“ (siehe Kapitel
7.1).
Die Märchen veränderten sich regional im Laufe der Jahrhunderte. Da sie mündlich
überliefert wurden, kann man davon ausgehen, dass sie vom jeweiligen Erzähler
entsprechend umgewandelt wurden. Es gibt französische Fassungen, die sich inhaltlich
ganz anders darstellen, als die uns bekannten Versionen. Die Gebrüder Grimm machten
4
die Volksmärchen unvergesslich, wenngleich auch sie die ursprünglichen Fassungen
zensierten und nicht die ersten waren, die sich die Mühe machten, die Märchen
schriftlich festzuhalten (siehe Kapitel 5.2). Es gab quasi keine Zeit ohne Märchen. In
irgendeiner Form setzte sich jede Generation mit ihnen auseinander. Sei es, indem sie
verunglimpft und kritisiert oder indem sie bearbeitet und zensiert wurden. Märchen
schienen gleichzeitig zu faszinieren und zu ängstigen. Was macht Märchen sowohl für
Kinder, als auch für Erwachsene so fesselnd? Heute werden Märcheninhalte in der
Werbung eingesetzt. Fast kein Kinderfilm kommt ohne Märchenzitat aus. Es muss
etwas in den Märchen sein, das jeden Menschen auf irgendeiner Ebene anspricht.
Der Pädagoge und Psychologe Bruno Bettelheim schreibt in seinem Buch „Kinder
brauchen Märchen“ (2006), dass die Märchen im Laufe der Jahrhunderte, wenn nicht
gar Jahrtausende, in denen sie immer wieder neu erzählt und schließlich immer stärker
durchgeformt wurden, allmählich einen offenen und einen versteckten Sinn annahmen.
In ihrer jetzigen Gestalt sprechen sie alle Ebenen der menschlichen Persönlichkeit
gleichzeitig an.
Märchen sind also in vielerlei Hinsicht bedeutsam: Sie bieten uraltes Wissen, sie zeigen
innermenschliche Dimensionen auf, sie dienen der Verarbeitung von Erlebnissen, sie
bieten die Möglichkeit der Angst- und Aggressionsbewältigung und sie bieten
Hoffnung, denn die Hauptperson muss Widrigkeiten überwinden, um am Ende zu
siegen. Mit dieser hoffnungsfrohen Wendung endet beinahe jedes Märchen. Gerade in
der Therapie gibt ein solcher Ausblick dem Klienten/der Klientin Hoffnung auf die
Klärung eines Problems. Märchenbilder sind Verschlüsselungen. Was sie für jeden
Einzelnen bedeuten, bleibt so lange ein Geheimnis, bis sie exploriert werden.
Diesem Geheimnis kann sich sensibel angenähert werden. Ein Lieblingsmärchen kann
ein Hinweis auf verschiedene Dinge sein: Es besteht die Möglichkeit, dass damit eine
besondere Lebensphase erinnert wird oder ein lang gehegter Wunsch, eine Angst oder
eine Parallele zu etwas Erlebtem.
Eine Sequenz, die vom Klienten/einer Klientin unbewusst verändert oder gar vergessen
wurde, kann ein Hinweis auf eine Verdrängung, Verharmlosung oder einen Wunsch
sein.
Als Hinführung zur Verkörperung der Märchensymbole nutze ich die Methode der
Aktiven Imagination, die bereits Mary Whitehouse in der Tanztherapie anwandte, um
die Klienten zum Explorieren bestimmter Lebensthemen zu bewegen. (Willke, E.,
1999) Ich möchte diese Methode aktive bewegte Imagination nennen, da sie sich
5
grundlegend von C. G. Jungs Verfahren des rein abstrakten Assoziierens auf der
sprachlichen Ebene unterscheidet.
Zu Beginn meiner Auseinandersetzung mit diesem Thema ließ ich von Erwachsenen
Fragebögen ausfüllen, in denen sie unter anderem ihre Lieblingsmärchen nennen
sollten. Dabei stellte sich heraus, dass 90% der Befragten ein Grimmsches Märchen
nannten. Auch unter der Frage, welches Märchen sie spontan erinnern, kamen zu etwa
90% Grimmsche Fassungen zur Antwort. Dies war für mich Entscheidungshilfe, mich
bei meinen Einzelfallstudien auf die Märchen der Gebrüder Grimm zu beschränken und
keine Kunstmärchen einzubeziehen.
„In Bewegung umgesetzt , wecken Symbole des Märchens Bilder der Heilung; denn der
tänzerische Nachvollzug dieser Symbole spricht uns auf seelischer wie auf körperlicher
Ebene an.“ (Hahn, 2004, S. 16)
6
Teil A – Theoretischer Überblick
1. Definition von Märchen
•
„(mittelhochdeutsch maere, „Kunde, Erzählung“) eine kurze, mündlich oder
schriftlich verbreitete Prosaerzählung, die von fantastischen Zuständen und
Vorgängen berichtet. (...) Märchenhafte Motive und Erzählformen finden sich zu
allen Zeiten und in allen Regionen der Welt. Vorformen existieren etwa im
Gilgamesch-Epos, in der indischen Fabelsammlung Pancatantra (vor 500 n.
Chr.) oder in der christlich-mittelalterlichen Gesta Romanorum.“ (...) „Märchen
waren ursprünglich für Erwachsene gedacht, erst im Verlauf des 19.
Jahrhunderts wurden sie wegen ihrer vermeintlichen Irrationalität der
Kinderliteratur zugeordnet. Die Bezeichnung Volksmärchen spiegelt die in der
Romantik geprägte Annahme wieder, es handele sich hierbei um „im einfachen
Volk“ entstandene und nur mündlich weitergegebene Texte.“ (http://wissen.de,
Nov. 2005)
•
„Man unterscheidet gewöhnlich zwischen Volksmärchen (mit anonymer
Herkunft) und Kunstmärchen, die in der Regel Werke einzelner Autoren sind
(z.B. von H. Chr. Andersen, L. Bechstein, W. Hauff, u.a.). Jede Nationalliteratur
hat ihre Volksmärchen und ihre Kunstmärchen.“ (Lexikon der Kinder- und
Jugendliteratur, zweiter Band I-O, 1977, S. 422)
Meine persönliche Definition von Märchen: Es handelt sich um heute schriftlich
niedergelegte, ursprünglich mündlich überlieferte Erzählungen. In ihren Symbolen
finden sich die Erfahrungen vieler Völker über Jahrhunderte zusammengetragen. Auch
heute haben sie noch Entsprechungen zu unseren Lebensproblemen. Märchen dienten
und dienen der Bewusstmachung von Entwicklungen im Menschenleben und spiegeln
das kollektive Unbewusste.
2. Definition von Mythos
Der Begriff Mythos wird hier als Definition eingefügt, da er untrennbar mit der
Entstehung der Märchen verbunden ist.
7
„Der Mythos ist eine sinndeutende Verarbeitung menschlicher Urerlebnisse und damit
eine Grundform menschlichen Erschließens der Wirklichkeit. Er erzählt von
Geschehnissen, durch welche sich der Mensch die Herkunft und den Sinn der
fundamentalen Welt- und Lebensgegebenheiten vergegenwärtigt: die Erschaffung der
Welt, den Ursprung der Götter und der Menschen, die Aneignung und Bewältigung der
wilden Natur, das Spiel von Macht und Moral.“ (http://www.grimms.de, Jan. 2007)
„Aller Sage Grund ist nun Mythus.“ (Jakob Grimm)
3. Definition von Symbol
•
Sinnbildgehalt (einer Darstellung). (Duden, Band 5, 1974)
•
„Das
Wort
Symbol
stammt
vom
griechischen
Wort
symbolon,
ein
Erkennungszeichen. Wenn sich im alten Griechenland zwei Freunde trennten,
zerbrachen sie eine Münze, ein Tontäfelchen oder einen Ring. Wenn nun der
Freund oder jemand aus seiner Familie zurückkehrte, dann hatte er seine Hälfte
vorzuweisen. Paßte diese Hälfte zur anderen zurückgebliebenen Hälfte, dann
hatte er sich als der Freund oder als ein Freund zu erkennen gegeben und hatte
ein Recht auf Gastfreundschaft. Das Zusammenpassen zweier Hälften
(symbàllein = zusammenwerfen, zusammenfügen) spielt als Motiv auch eine
Rolle in vielen Romanen; als Erkennungszeichen gilt z. B. auch die Hälfte eines
Perlmutttischs, die sich nahtlos an die andere Hälfte fügt.“ (V. Kast, 1996, S. 19)
•
„Das Symbol ist ein Zeichen, das auf eine unsichtbare Wirklichkeit verweist, mit
der es den Menschen in Kommunikation setzt, indem es seine Intelligenz vom
Sichtbaren zum Unsichtbaren vordringen lässt.“ (Ries in Spineto, 2003, S. 7)
•
Erich Fromm (2004) unterscheidet bei den Symbolen zwischen drei Arten: dem
konventionellen, dem zufälligen und dem universalen Symbol. Er stellt die
Frage, welcher besondere Zusammenhang zwischen dem Symbol und dem, was
es symbolisiert, besteht. Die beiden letzteren Arten von Symbolen drücken
seiner Meinung nach innere Erfahrungen so aus, als ob es sich um
8
Sinneswahrnehmungen handelte, und nur diese weisen die Merkmale der
Symbolsprache auf.
Konventionelles Symbol
z. B. Übereinkunft, einen besonderen Gegenstand mit einem besonderen Namen zu
bezeichnen, sodass eine bleibende Assoziation entsteht.
Zufälliges Symbol
Gegenteil zum konventionellen Symbol. Ein mit einer Sache verbundenes, persönliches
Erlebnis, das sich z. B. in einer Stimmung ausdrückt.
Universales Symbol
Innere Beziehung zu dem Symbol und dem, was es repräsentiert. Wurzelt in der
Erfahrung von der inneren Beziehung zwischen Emotion oder Gedanke einerseits und
der sinnlichen Erfahrung andererseits.
(Fromm 2004)
„Die Symbole kommen aus einer allzu weiten Ferne, als dass sie sterben könnten: sie
bilden einen Teil des Menschseins.“ Mircea Elid
Meine Definition von Symbol: Es ist etwas, das stellvertretend für etwas anderes steht.
Symbole sind z. B. kreative Ausdrucksmöglichkeiten des Menschen, um auf bewusster
Ebene durch Handlungen miteinander in Kontakt und Kommunikation zu treten, z. B.
indem Verbindlichkeiten und Beziehungen geschaffen und gestärkt werden, wie es
Verena Kast am Beispiel der Münzen und Tontäfelchen zeigt. Andererseits sind
Symbole
unbewusste
Tendenzen,
die
durch
die
Auseinandersetzung
und
Bewusstwerdung etwas von einer Person sichtbar machen. Es gilt in jedem Fall zu
klären, welcher Zusammenhang zwischen dem Symbol und dem, was es symbolisiert,
besteht.
9
4. Märchen - kulturhistorisch
4.1 Die „ersten“ Märchen
„Daß in Deutschland seit alters her Märchen erzählt wurden, beweisen verschiedene
Zeugnisse. Wahrscheinlich sind Märchen im 10. Jahrhundert schon dagewesen. Im
Gudrunlied erzählt Wate, als die Schiffe nach Givers an den Magnetfelsen treiben,
tröstend ein Schiffermärchen, das er als Kind gehört, vom dem großen, schönen
Königreich zu Givers. Luther sagt: ‚Ich möchte mich der wundersamen Historien, so ich
aus zarter Kindheit herübergenommen, oder auch wie sie mir vorgekommen sind in
meinem Leben, nicht entschlagen, um kein Geld’.“ (Köster, 1972, S. 151) 1581 spricht
Kirchhoff im „Wendunmuth“ von einem Märchen, das er in seinen kindischen Jahren
spinnende „Maidlein“ abends hat sagen hören. Schriftliche Aufzeichnungen und
Sammlungen findet man in Deutschland aus dieser Zeit offenbar nicht. Allerdings
wurde man in anderen Völkern fündig. Diese waren wohl auch nicht ohne Einfluss auf
Deutschland geblieben. Indien z. B. ist das Land, mit dem sich kein anderes im
Märchenreichtum messen kann. Schon im 3. Jahrtausend vor Christus sind Märchen für
Indien nachweisbar. Indien besaß drei große Erzählwerke: Vikramatscharitra,
Cukasaptai, Pantschatantra. Vieles davon ging ins Hebräische, Persische und
Lateinische ein. Letzteres wurde im letzten Viertel des 15. Jahrhunderts ins Deutsche
übersetzt. (Köster, 1972, S. 151, 152)
Im Mittelalter entstand das berühmte arabische Märchenbuch „Tausend und eine
Nacht“. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts wurden die Märchen aus „Tausend und einer
Nacht“ ins Französische übertragen. Sehr bald waren diese Märchen in die meisten
europäischen Sprachen übersetzt und zeitgleich in vielen Bearbeitungen der Jugend
zugänglich gemacht. (Köster, a.a.O.)
1550 erscheint eine mailändische Fassung „Ergötzliche Nächte“ von Giovan Francesco
Straparola. Es handelt sich um eine Sammlung von Geschichten, von denen die
Mehrzahl älteren italienischen Novellenschreibern nacherzählt, etwa 20 aber wirkliche
aus dem Volk geschöpfte Märchen sind. Noch wertvoller ist der in neapolitanischem
Dialekt geschriebene „Pentamerone“ des Giambattista Basile (1637). Basile sagt von
10
ihnen in der Einleitung, es seien Geschichten, wie sie die alten Weiber zur Unterhaltung
der kleinen Kinder erzählten. Etwa zwei Drittel daraus finden sich in ihren Grundzügen
auch im Deutschen; z. B. „Der wilde Mann“ (= „Tischlein deck dich“),
„Aschenkätzchen“ (= „Aschenputtel“), „Die Küchenmagd“ (= „Sneewittchen“) und
„Sonne, Mond und Tahia“ (= „Dornröschen“). Felix Lieberecht liefert 1846 in Breslau
eine Übersetzung des Pentamerone. (Köster, 1972)
Der Gelehrte Charles Perrault (1628 – 1703) veröffentlich eine französische Sammlung
mit dem Titel „Erzählungen meiner Mutter Gans“, die unter anderem den Titel „Die
schlafende schöne im Walde“ (= „Dornröschen“) enthält. (Köster, 1972)
4.2 Zeit der Aufklärung
In der Zeit der Aufklärung ging die Bedeutung des Märchens deutlich zurück. Dies war
„eine Folge der Bildung, die vorwiegend auf das Verstandesmäßige ging, dass man die
rechte Freude am Überlieferten verlor. Die Sagen, Märchen und Lieder galten bald für
gemein, auch im Volke selbst.“ (Köster, 1972, S. 154)
Immanuel Kant (1724 bis 1804) hielt Märchen für reine Unvernunft, für abgeschmackt
und Aberglauben. Märchen erzählten sich einfache Leute in Spinnstuben. Mit Literatur
hatten diese Erzeugnisse wenig zu tun. (Köster, 1972)
Als Gegner der Märchen äußerte er: „Die Einbildungskraft der Kinder ist ohnedies stark
genug und braucht nicht durch derartige Erzählungen noch mehr gespannt zu werden.
Die Kinder sind nicht in ein Reich der Täuschung, sondern in das der Wahrheit
einzuführen, und dieses hat ja des Interessanten und Wunderbaren so viel, dass man
nicht zu Märchen seine Zuflucht nehmen braucht.“ (Kant in Köster, 1972, S. 166)
4.3 Zeit der Klassik
Zur Zeit der Klassik allerdings bereitete sich ein Umschwung vor. Herder, dem die
Volkspoesie viel verdankt, schätzt die Märchen folgendermaßen ein: „Im Märchen liegt
eine ewige Ernte an Lehren der Weisheit. Keine Dichtungsart versteht dem
menschlichen Herzen so feine Dinge so fein zu sagen, wie das Märchen.“ (Köster, 1972,
S. 154) In Herders Augen sind Märchen volkstümliche Dichtung, in der Reste des
Volksglaubens vorhanden sind. Musäus (1735 bis 1787) war der erste, der in seiner
11
Veröffentlichung der „Volksmärchen der Deutschen“ das Volksgut zu heben versuchte.
(Köster, a.a.O.)
5. Die Märchensammlungen der Gebrüder Grimm
5.1 Das Leben der Gebrüder Grimm
Die Brüder Jakob Grimm (1785 – 1863) und Wilhelm Grimm (1786 – 1859) begannen,
angeregt durch Brentano, Achim von Arnim und den Kreis der Heidelberger Romantik,
ihr unsterbliches Werk, die Sammlung der „Kinder- und Hausmärchen“. Für die
deutsche Literatur waren die Gebrüder Grimm von großer Bedeutung. Zeitweilig waren
sie Bibliothekare am Hessischen Hof in Kassel und nahmen 1830 einen Ruf an die
Universität Göttingen an. 1837 zählten beide Professoren zu den „Göttinger Sieben“,
die aufgrund ihres Protestes gegen die willkürliche Aufhebung der Verfassung durch
den König in Hannover aus dem Dienst entlassen und des Landes verwiesen wurden.
Durch einen von Wilhelm IV. von Preußen ergangenen Ruf, avancierten sie zu
Mitgliedern der Akademie der Wissenschaften und wurden zu Professoren der Berliner
Universität. 1824 erschienen unter anderem ihre ersten vier Bände des „Deutschen
Wörterbuchs“. (Beltz, 1977, S. 466)
5.2 Beginn der Sammlungen
Etwa um das Jahr 1806 fingen die Gebrüder Grimm an, Märchen zu sammeln, indem
sie sich diese erzählen ließen und sie dann niederschrieben.
„Sie sammelten hauptsächlich in Hessen, in der Main- und Kinziggegend der Grafschaft
Hanau. Besonders Achim von Arnim drängte die beiden Brüder zur Herausgabe einer
schriftlichen Sammlung.“ (Köster, 1972, S. 156/157)
5.3 Zensur
„Der Titel der Erstausgabe der Grimmschen ‚Kinder- und Hausmärchen’ (1812) lässt
darauf schließen, dass Märchen vom Bürgertum bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts
als Kinderlektüre eingestuft wurden. Die Märchen waren jedoch zunächst nicht für
12
Kinder gedacht. Jakob Ludwig Carl Grimm betrachtete die Texte als ‚von Erwachsenen
für Erwachsene’“. (Beltz, 1977, S. 424)
Zahlreiche kritische Stimmen forderten bereits eine stärkere pädagogische Bearbeitung
der Märchen für Kinder. W. Grimm bearbeitete daraufhin die Märchen in den folgenden
16
Auflagen
bis
1858
immer
stärker
psychologisierend
im
Sinne
ihrer
„Kindertümlichkeit“ und schuf damit ein grundlegendes Werk der nationalen und
internationalen (Kinder-)Literatur. Die ästhetische und inhaltliche Bearbeitung W.
Grimms bestand vor allem in der Entschärfung sexueller Symbolik, Milderung in der
Darstellung sozialer Konflikte und stärkerer Propagierung bürgerlich-ethischer Werte.
(Beltz, a. a. O.)
Die Grundsubstanz blieb zwar erhalten, allerdings wird man Wendungen wie bei Basile,
der bereits 1634 die erste schriftliche Märchensammlung herausgab, nicht finden.
Liebesszenen wurden gestrichen, während Gewaltszenen weitgehend unzensiert
blieben. (Beltz, a. a. O.)
Wie sehr die Märchen inhaltlich und stilistisch von W. und J. Grimm verändert wurden,
wird anhand einiger Beispiele deutlich: Bei Perrault wird das berühmte „Rotkäppchen“
vom Wolf gefressen, nachdem dieser das Mädchen aufgefordert hatte, sich zu
entkleiden und sich zu ihm ins Bett zu legen. Dem Märchen ist eine Mahnung in Versen
angefügt, die Kinder und besonders Mädchen ängstigen soll. Sinngemäß geht es in dem
Vers darum, dass sich Mädchen nicht den Schmeicheleien der Herren hingeben, sondern
artig auf ihre Mütter hören sollten. (Ré Soupault, 1963)
In einer ursprünglichen Fassung des Märchens „Der Froschkönig“ heißt es: „Der Frosch
kommt nun an drei Abenden zu Besuch, das Mädchen lässt es zweimal geschehen, dass
er zu ihren Füßen liegt, die dritte Nacht verbringt er unter ihrem Kopfkissen; am
Morgen ist aus ihm ein schöner Prinz geworden ... „ (C. Federspiel, 1968, S. 94)
„Rapunzel“ wurde von der bösen Fee aus dem Turm verbannt, weil sie von ihrem
Prinzen, mit dem sie sich lange Zeit vergnügt hatte, schwanger war und
„Schneewittchen“ wurde nicht von der Stiefmutter, sondern der leiblichen, die recht
eitel war, verstoßen. Anschließend versucht diese mehrfach, ihr Kind zu töten, doch
letztendlich wird Schneewittchen von ihrem Vater, dem König, gerettet. (Rölleke, 2003)
5.4 Die Grimmschen Märchen während der NS-Zeit
13
„Im Faschismus wurde das Märchen – und insbesondere die ‚Gattung Grimm’, die
längst ein wichtiger Teil nationaler Tradition war – zum Bestandteil einer völkischen
Ideologie umgemünzt und als ‚Beitrag für den Kampf um ein inneres Deutschtum’
verstanden – so Br. Schliepenhacke im Vorwort zur 2. Auflage seines Buches
‚Märchen, Seele und Kosmos’ (1942). Die Kinder- und Hausmärchen wurden als
‚wichtigste unserer heiligen Schriften’ betrachtet und entsprechend zur Rassenerziehung
eingesetzt. (R. F. Viergutz) Das galt nicht nur für Märchen mit antisemitischem Gehalt,
wie etwa ‚Der Jude im Dorn’, sondern auch für die bekannten Märchen wie
‚Rotkäppchen’ oder ‚Aschenputtel’, in dem die Stiefmutter und Stiefschwestern der
Titelfigur als artfremde Elemente angesehen wurden, die im Kampf mit dem ‚rassisch
Guten’ notwendig unterliegen.“ (Beltz 1977, S. 425)
Ein nationalsozialistischer Verfasser veröffentlichte 1940 einen Aufsatz in der
„Jugendschriften-Warte“
in
dem
er
die
Märchen-Rezeptionen
vergangener
Generationen kritisierte. Seiner Meinung nach hätten die Märchen planmäßig und
zielbewusst für die Erziehung des deutschen Volkes dienstbar gemacht werden müssen.
Märchen seien als ‚Ausdruck einer Weltgemeinschaft’ zu verstehen und als solche zu
vermitteln. (Beltz, a. a. O.)
.
5.5 Kritik am Märchen nach dem 2. Weltkrieg
„Im Verlauf der Diskussion um Grausamkeit und Wert der deutschen Märchen, die nach
1945 durch die britische Militärregierung eingeleitet wurde, durchsuchte man die
Lesebücher nach ‚brutalen’ Märchen. Die Märchen-Gegner warfen den Märchen vor,
die psychologischen Vorbedingungen in der Bevölkerung für die Grausamkeiten des
nationalsozialistischen Regimes geschaffen zu haben. Die volkskundliche Richtung
verteidigte die Märchen damit, dass sie eigentlich nicht für Kinder gedacht seien und
darüber hinaus Relikte historischer Gesellschaften und primitiver Kulturen enthalten,
die nicht mit Maßstäben der heutigen Moralpädagogik gemessen werden dürften.“
(Beltz 1977, S. 425)
5.6 Märchen in den 1970-ern
Zu Beginn der Siebziger Jahre waren Märchen pädagogisch verpönt. Es wurde
insbesondere darüber heftig diskutiert, inwieweit man Kindern das Böse, das Grausliche
14
der Märchen zumuten könne. Wölfe mit aufgeschlitzten Bäuchen, verbrannte Hexen,
Stiefmütter, die elendiglich zu Tode kamen ... schienen schädlich für das kindliche
Gemüt zu sein. Diese Einstellung hat sich inzwischen gewandelt, und nicht zuletzt
durch die intensive Beschäftigung der Psychologie mit den Märchen wurde ihre
tiefliegende, ja mitunter sogar heilende Dimension erkannt.
(http://jungschar.untermais.net/wissen/maerchen.htm, Januar 2007)
5.7 Weltdokumenterbe
2005 wurden die Kasseler Handexemplare der „Kinder und Hausmärchen“ von der
UNESCO zum Weltdokumenterbe erklärt. Sie befinden sich im Besitz der
Universitätsbibliothek Kassel. (http://de.wikipedia.org/wiki/grimm, Januar 2007)
6. Märchen aus heutiger wissenschaftlicher Sicht
6.1 Wissenschaftsbereiche
Inzwischen erfreut sich das Volksmärchen der Aufmerksamkeit einer ganzen Reihe von
Wissenschaften. Es ist namentlich Forschungsgegenstand der Volks- und Völkerkunde,
der Psychologie und der Literaturwissenschaft. Erstere untersucht die Märchen als
kultur- und geistesgeschichtliche Dokumente und beobachtet ihre Rolle in der
Gemeinschaft. Als Ausdruck seelischer Vorgänge betrachtet die Psychologie die
Erzählungen und fragt nach ihrem Einfluss auf den Hörer, bzw. Leser. Die
Literaturwissenschaft möchte die Wesensart der Gattung und auch der einzelnen
Erzählungen erfassen. Sie fragt danach, was das Märchen zum Märchen macht und
stellt zudem die Frage nach
Ursprung und Geschichte der verschiedenen
Märchentypen. Der Volkskundler interessiert sich demnach primär für die Funktion der
Märchen, die Biologie für die Gebilde, die Psychologie für deren Ableitung aus den
Bedürfnissen der menschlichen Seele, die Literaturwissenschaft für die Gebilde an sich
und deren Stelle in der Welt der Dichtung.
(Lüthi, 1981)
6.2 Diskussion um Nutzen und Sinn der Märchen
15
Die Diskussion um Schädlichkeit oder Nutzen der Märchen für Kinder blüht nach wie
vor. Zeitgleich stellt sich die Frage, warum sich der Mensch seit Generationen mit
diesem Thema auseinandersetzt.
Max Lüthi z. B. setzt sich mit der Frage auseinander, wieso gerade das Märchen als eine
Art Erzählung den Menschen zu unterhalten vermag. „Unsere Einstellung zum Märchen
ist zwiespältig. ‚Erzähl mir doch keine Märchen’, sagen wir abschätzig – das Wort ist
da nur ein höflicherer Ausdruck für Lügen, für besonders kunstvoll gebaute Lügen. (...)
Im Leben des Einzelnen gibt es Zeiten der Bezauberung durch das Märchen und Zeiten
des Abstandnehmens (...) Wenn etwas in solch entschiedener Weise anzuziehen und
abzustoßen vermag, darf man vermuten, dass es da um Wesentliches gehe. Es ruft zur
ausgesprochenen oder unausgesprochenen Auseinandersetzung auf. Die Rolle, die das
Märchen im Leben der Kinder spielt, die Rolle, die es in der buchlosen Zeit
jahrtausendelang auch im Leben der Erwachsenen gespielt hat, bestärkt uns in der
Annahme, dass es sich um eine Dichtung besonderer Art handelt, eine Dichtung, die
den Menschen als solchen angeht.“ (Lüthi, 1983, S. 5)
In seinem Buch „Kinder brauchen Märchen“ (2006) schreibt B. Bettelheim, dass
Märchen in ihrer jetzigen Gestalt alle Ebenen der menschlichen Persönlichkeit
gleichzeitig ansprechen „Sie erreichen den noch unentwickelten Geist des Kindes
genauso
wie
den
differenzierten
Erwachsenen.
Mit
den
Begriffen
des
psychoanalytischen Persönlichkeitsmodells ausgedrückt: Die Märchen vermitteln
wichtige Botschaften auf bewusster, vorbewusster und unbewusster Ebene entsprechend
ihrer jeweiligen Entwicklungsstufe.“ (Bettelheim, B., 2006, S.12) Bettelheim vertritt die
Theorie, dass Märchen eine Möglichkeit bieten, unbewusstes Material bis zu einem
gewissen Grad ins Bewusstsein treten zu lassen, so dass es von der Fantasie
durchgearbeitet werden kann. Außerdem bereiten Märchen seiner Ansicht nach das
Kind auf das spätere Leben mit all seinen Schattenseiten vor. So wie die Psychoanalyse
dem Menschen helfen soll, das Problematische des Lebens zu akzeptieren, ohne sich
davon besiegen zu lassen oder in eine eskapistische Haltung auszuweichen, sollen
Märchen dem Kind die Botschaft vermitteln, dass das Leben ein Kampf gegen
Schwierigkeiten sein kann und diese untrennbar zur menschlichen Existenz gehören.
Wenn man alle Hindernisse überwindet und Bedrängnissen standhaft gegenübertritt,
geht man schließlich als Sieger aus dem Kampf hervor. (Bettelheim, 1980)
7. Märchen aus psychoanalytischer Sicht
16
7.1 Die Archetypen nach C. G. Jung
Für C. G. Jung (Schweizer Psychoanlaytiker 1875 – 1961) waren Märchen und Mythen
ein wohlbekannter Ausdruck der „Archetypen“, denn auch bei ihnen handelt es sich um
spezifisch geprägte Formen, welche durch lange Zeiträume übermittelt wurden. Viele
Märchen verdeutlichen außerdem C.G. Jungs Theorie vom kollektiven Unbewussten.
Jung zufolge beruht die ganze Welt auf einem Urgrund und steht im Einklang mit der
psychischen Substanz des Menschen. Gerade das Märchen ist für Jung das beste Mittel,
um die Archetypen am Inhalt des Unbewussten zu veranschaulichen. (Jung, 2004)
„Der Archetypus stellt wesentlich einen unbewussten Inhalt dar, welcher durch seine
Bewusstwerdung und das Wahrgenommensein verändert wird, und zwar im Sinne des
jeweiligen individuellen Bewusstseins, in welchem er auftaucht.“ (Jung, 2004, S. 9)
Der Begriff „Archetypus“ bezeichnet nach Jung nur jene psychischen Inhalte, welche
noch keiner bewussten Bearbeitung unterworfen wurden und somit eine unmittelbare
seelische Gegebenheit darstellen. Jung zieht hier Vergleiche zu Träumen und Visionen,
die viel individueller, unverständlicher und naiver sind als der Mythos. Er bezeichnet
Mythen in erster Linie als psychische Manifestationen, welche das Wesen der Seele
darstellen. Dem liegt zugrunde, dass der primitive Mensch einst ein unabweisbares
Bedürfnis hatte, alle äußeren Sinneserfahrungen an seelisches Geschehen zu
assimilieren. Äußere Erscheinungen, wie z.B. das Auf- und Untergehen der Sonne,
mussten mit der Wandlung des Schicksals in Form eines Gottes oder Helden zu tun
haben, der im Grunde genommen nirgends anders wohnt als in der Seele des Menschen.
Jungs Ansichten über die „archaischen Überreste“ oder „Urbilder“ sind immer wieder
von Autoren kritisiert worden, die keine ausreichende Kenntnis über Traumpsychologie
oder Mythologie hatten. Der Ausdruck „Archetyp“ wurde oft als bestimmtes
mythologisches Bild oder Motiv missverstanden. Der Archetypus ist jedoch zu
verstehen als eine angeborene Tendenz, bewusste Motivbilder zu formen, so wie eine
instinktive Neigung bei Tieren, z.B. organisierte Kolonien zu bilden.
Der Unterschied zwischen Instinkt und Archetyp ist der, dass es sich bei ersterem um
physiologische Impulse handelt, die mit den Sinnen „außen“ wahrgenommen werden.
Im zweiten Fall erscheinen physiologische Impulse in der Fantasie, also „innen“ und
verraten ihre Gegenwart durch symbolische Bilder. Ihren Ursprung kennt man nicht und
sie tauchen überall auf der Welt auf.
17
Laut analytischer Psychologie manifestiert sich ein unterdrücktes archetypisches
Verhalten in einem „Schatten“. Dieser kann sich verdeutlichen, indem das Individuum
z.B. durch Projektion auf etwas hinweist, was es an sich selbst verdrängt, ablehnt oder
auch wünscht. (Jung u.a., 1988, Jung, 2004)
Die vier Hauptkategorien der archetypischen Symbole:
1. Der
Schatten
(hier
befinden
sich
unterdrückte
oder
verdrängte
Persönlichkeitsanteile)
2. Anima und Animus (gegengeschlechtliche psychische Anteile)
3. Die alte Weise/der alte Weise (die Weisheitsschicht der Psyche)
4. Archetyp des Selbst (umfasst sowohl das Ich, als auch das Unbewusste, stellt
das Zentrum und den Umfang der Gesamtpsyche dar und dient als
Selbststeuerungs- und Entwicklungsinstanz der Psyche)
(nach: Trautmann-Voigt, Schmeißer, Zeitschrift f. Tanztherapie. 23/2006)
7.2 Anwendung der Archetypenlehre auf das Märchen
Märchen sind wie Träume eine Möglichkeit der Bewältigung von Ereignissen. Im
Märchen werden Probleme bewältigt und durch die Überwindung des Bösen gelöst. Das
Gerechte siegt und alles Leid hat ein Ende. „Schattengestalten“ werden sichtbar und
bekommen einen Namen. Es erscheinen übermenschliche Gestalten, die als Hilfe oder
Bedrohung erlebt werden. Kinder- Männer- und Frauentypen erscheinen, die einem der
Archetypen zugeordnet werden können. Symbolische Ereignisse und Gegenstände
erscheinen und dienen uns. Der Schauplatz mit allen Begebenheiten ist Ausdruck einer
innerpsychischen
Befindlichkeit.
(Trautmann-Voigt,
Schmeißer,
Zeitschrift
für
Tanztherapie. 23/2006)
Hier ein Beispiel, wie C. G. Jung seine Archetypenlehre auf das Märchen anwendet:
18
„Viele Mythen und Märchen erzählen uns, wie ein Prinz, der durch Zauberei in ein Tier
oder Monstrum verwandelt wurde, von einer Frau erlöst wird. Das ist eine symbolische
Darstellung der Bewusstwerdung des Animus. Oft darf die Heldin keine Fragen an ihren
geheimnisumwobenen Liebhaber stellen, oder sie darf sich mit ihm nur in der
Dunkelheit treffen. Sie sollte ihn durch blindes Vertrauen und Liebe erlösen, doch
gelingt es nie in dieser Form. Immer bricht sie ihr Versprechen und kann ihren
Geliebten erst nach einer langen Suchwanderung wiederfinden. Wie die Anima, so
erzeugt auch der Animus in der Frau Besessenheitszustände. In Mythen und Märchen ist
dies dadurch veranschaulicht, dass oft der Teufel oder ein ‚Alter im Berge’, das heißt,
ein heidnischer Gott, ein Troll oder Oger die Heldin gefangen hält und sie dazu zwingt,
alle Männer, die sich ihr nahen, zu töten oder an den Dämon auszuliefern, oder der
Vater der Heldin sperrt sie in einen Turm, ein Grab oder setzt sie auf einen Glasberg, so
dass niemand sich ihr nahen kann. In solchen Fällen kann die Heldin oft nichts anderes
tun als geduldig auf einen Erlöser warten, der sie aus ihrer Lage befreit. Durch ihr
Leiden kann sich der Animus (denn der Dämon und der Befreier sind beide zwei
Aspekte der gleichen inneren Macht) allmählich in eine positive innere Kraft
verwandeln.“ (Jung, 1988, S. 193)
7.3 Beispiele aus der psychotherapeutischen Praxis
Verena Kast, (geb. 1943, Professorin für Psychologie, Dozentin, Lehranalytikerin am C.
G. Jung-Institut, Autorin) schreibt, dass Märchen zu uns in Symbolen sprechen, in
Bildern, die in ganze Prozesse eingebunden sind. Insofern haben Märchen eine Nähe
zum Traum, zu den unbewussten Prozessen und auch zu Mythen. (Kast, 2002)
Bei der tiefenpsychologischen Märchendeutung, bei der sich Märchenprozesse auf
typische
menschliche
Entwicklungsprozesse
beziehen,
kann
man
sich
der
Deutungstechniken bedienen, die auch aus der Traumarbeit bekannt sind: bei der
Deutung auf der Subjektebene sind Nebenpersonen Persönlichkeitszüge der Hauptfigur.
(Es sei hier erwähnt, dass dies nur eine Möglichkeit der Traumdeutung unter vielen
anderen Möglichkeiten darstellt.)
Deutungen beanspruchen niemals alleinige Wahrheit. Wenn Märchen gedeutet werden,
soll es ein spielerisches Nachdenken über das Leben sein, über existentielle Fragen und
psychische Prozesse.
19
Märchenmotive, die uns ansprechen, werden zu Symbolen für einen psychischen
Zustand von uns selbst, den wir durch eine Bearbeitung fassen können. Konflikte, die
wir nicht wirklich in Worte fassen können, die oft nur Unbehagen auslösen, können im
Symbol des Märchens ein Bild finden.
Therapeutisches Arbeiten mit Märchen kann auf verschiedenen Ebenen stattfinden. Es
kann mit Märchen gearbeitet werden, die eine Klientin, einen Klienten schon immer
begleitet haben, die jemanden mit seiner Kindheit und Lebensgeschichte verbinden.
Anhand des Märchens kann herausgefunden werden, welche Probleme sich manifestiert
haben und wie das Märchen vorschlägt, dass wir mit diesen Problemen umgehen. Das
Märchen stellt hierbei einen „Lebensspiegel“ dar.
Es können aber auch momentane Entwicklungsprozesse über ein Märchen exploriert
werden. Wie in Märchen die Helden zum Schluss „verwandelt“ werden, gibt den
Klienten, Klientinnen die Hoffnung, auf eine Bewältigung von Schwierigkeiten.
In die Transaktionsanalyse nach Eric Berne (amerikanischer Psychiater und
Psychotherapeut) hielt das Märchen ebenfalls Einzug. In diesem Fall wird mit dem
Lieblingsmärchen aus der Kindheit und den Geschichten, die später im Leben
bedeutungsvoll für die/den Betreffenden wurden, gearbeitet. Im Märchen wird nach
dem persönlichen „Lebensdrehbuch“, dem Skriptmuster einer Person gesucht. (Riedel,
1995)
8. Zugang zu „inneren Bildern“ durch die Tanztherapie
Während der Entwicklung der Tanztherapie kristallisierten sich mehr und mehr
verschiedene Ansätze heraus, um mit Klienten/Patienten zu unbewussten Schichten der
Persönlichkeit zu finden.
Mary Starks Whitehouse (1911 – 1979, jungianische Tanztherapeutin) z. B. bezog sich
bei ihrer Arbeit mit Klienten/Patienten auf die Tiefenanalyse von C. G. Jung. Für sie
war die Zusammenarbeit von Klient und Analytiker Voraussetzung um Zugang zum
Unbewussten, also jenem Bereich in uns, der unterhalb des normalen alltäglichen
Bewusstsein liegt, zu erlangen. (Willke, 1991, S. 149) Die „aktive Imagination“ nach
Jung wird auch das „Fenster zur Seele“ genannt. Jung hat diesen Ansatz in seiner
Analytischen Psychologie vielfältig genutzt. Bei „aktiven Imaginationen“ hat der
Mensch anders als in Träumen Entscheidungsmöglichkeit. Er kann in die erlebten
märchenhafte Abläufe der inneren Welt eingreifen, um Konflikte zu lösen und innere
20
Ordnung zu fördern. Jung ließ bei dieser Praxis den Bildern aus dem Unbewussten sehr
viel Raum und gab wenig Vorgaben von außen. (http://www.psychoanalyselaienforum.de, Februar 2007)
Mary Whitehouse nutzte Fantasiereisen, um ein Verständnis von inneren und äußeren
Lebensereignissen zu erhalten. Dabei ging es ihr darum, die lebendige Realität des
Unbewussten kennen zu lernen und zu integrieren. Bei der „aktiven Imagination“ darf
das Unbewusste frei sprechen. Die Sprache, in der sich das Unbewusste mitteilt, besteht
aus Bildern, die in Malerei, biblischer Sprache, Dichtung, Bildhauerei und Tanz ihren
Ausdruck finden. „Der Gebrauch der Aktiven Imagination ist im Bereich Bewegung
besonders wertvoll. Alles, was ich mir ausdenken kann, um Menschen den Zugang zu
ihren eigenen Phantasien und Bildern zu ermöglichen, ja auch die Darstellung ihrer
Träume in der Bewegung, liefert ihnen grundlegendes Material, um sich selber zu
verstehen.“ (Willke, 1991, S. 149) Der Grund für die besondere Bedeutung der
Bewegungsform bei der Aktiven Imagination liegt für Whitehouse darin, dass sie
schwer zu zensieren ist. „Man bewegt sich, bevor man weiß, was passiert“. (Willke,
1991, S. 150) Spontane Bewegungen bezeichnet sie als flüchtig, so wie Träume es sind.
Sie zeigen somit innere Prozesse, die physisch Gestalt annehmen. Auf diese Weise
werden sie sichtbar und ermöglichen ein Verständnis für ihre Bedeutung. Für
denjenigen, aus dessen Körper die Bewegung stammt, hat diese besonderen Wert.
9. Der Begriff „Symbol“ in der Tanztherapie
9.1 Körper und Symbol
Unsere Seele drückt sich in unserem Körper aus. Sind wir z. B. wütend, steigt uns das
Blut in den Kopf, Schweißperlen treten auf die Stirn, wenn wir Angst haben; unser Herz
schlägt schneller, wenn wir uns ärgern und unser gesamter Körper zeigt einen anderen
Tonus, wenn wir glücklich sind, als wenn wir traurig sind. Stimmungen werden durch
den Gesichtsausdruck deutlich und unsere Einstellung und unsere Gefühle kommen in
unseren Bewegungen und Gesten so genau zum Ausdruck, dass andere sie eher aus
unserem Verhalten, als aus unseren Worten ablesen. „Der Körper ist in der Tat ein
Symbol – und keine Allegorie – der Seele. Ein tiefes, echtes Gefühl, ja sogar ein echt
empfundener Gedanke findet seinen Ausdruck in unserem gesamten Organismus. Beim
universalen Symbol (siehe Definition „Symbolik“) treffen wir auf den gleichen
21
Zusammenhang zwischen seelischen und körperlichen Erlebnissen. Gewisse körperliche
Erscheinungen deuten durch ihre ganze Art auf gewisse emotionale und seelische
Erlebnisse hin, und wir drücken unsere emotionalen Erfahrungen in der Sprache
körperlicher Erlebnisse, d. h. symbolisch, aus.“ (Fromm, 1981, S. 21)
9.2 Symbolische Tänze
Symbolische Tänze gab es bereits bei Urvölkern und werden auch heute noch in allen
Kulturen zelebriert. Meistens handelt es sich dabei um Kreistänze, die mit
Begebenheiten der Jahreszeiten oder mit religiösen Inhalten zu tun haben. Bei diesen
Tänzen wird die Zusammengehörigkeit einer Gruppe gestärkt und/oder ein Ritual
zelebriert, manchmal bis zu einem tranceähnlichen Zustand. Bei alten deutschen
Volkstänzen gibt es auch noch immer Maskierungen, z.B. als Hexen und Zauberer mit
Tiermasken u.ä. Kreistänze in der Tanztherapie haben in gewisser Weise ebenfalls
symbolischen Charakter, da sie das Zusammengehörigkeitsgefühl der Gruppe
unterstützen sollen. Der Kreis ist hierbei das Symbol für Geschlossenheit,
Verbundenheit und Halt.
„Wandernd in kreisender Drehung, all-umschlingendes Band, Wächter von Äther und
Erde ... „
(Orphischer Hymnus an Uranos)
9.3 Symbolik im Sinne von M. Chace
Für M. Chace (1896-1970, Mitbegründerin der American Dance Therapy Association,
Pionierin der Tanztherapie in den USA), ist der Tanz selbst eine symbolische
Körperaktion. Die Körperaktion wird vom Klienten/Patienten genutzt, um zu
kommunizieren. Subjektive Gefühle finden durch den Tanz Ausdruck. Gefühle,
Bedürfnisse und Wünsche werden sozusagen durch das Einkleiden von Bewegungen in
eine symbolische Form ausgedrückt. Chace nimmt an, dass Probleme auf einer rein
symbolischen Ebene bearbeitet werden können ohne auf Interpretationen oder Analyse
zurückgreifen zu müssen. (Willke, 1991, S. 20)
9.4 Verkörperung von Symbolen
22
„Im kreativen Prozeß der Symbolbildung, der sich u.a. im Tanzen (...) vollzieht,
integriert das Individuum unbewusste Inhalte in das Bewusstsein. Hierbei werden die
Symbole als Bedeutungsträger und ‚Energietransformatoren’ gedeutet“. (Jacobi 1977 in
Willke, 1991, S. 469)
Verkörperung eines Symbols heißt für mich demnach, dass dem inneren Prozess auf
kreative Weise Ausdruck verliehen wird. Das beginnt damit, auf welche Weise die
Klientin/der Klient den Raum einnimmt, wie sich Körperbewegungen darstellen, mit
welcher Energie an ein Thema herangegangen wird, bis dahin, wie sich Atemmuster
verändern usw. Die Art und Weise wie dies geschieht, passiert unbewusst und gibt der
Tanztherapeutin somit Informationen, die diese mit der Klientin/dem Klienten
interpretieren kann. Laut Kast fühlen wir uns lebendiger und emotionaler, wenn
Symbole in einem therapeutischen Prozess erlebbar gemacht werden. (Kast, 1996)
Erlebbar heißt nichts anderes, als diese am eigenen Leib zu erleben
„Am Symbol werden unsere ganz speziellen aktuellen Schwierigkeiten sichtbar, aber
auch unsere ganz besonderen Lebens- und Entwicklungsmöglichkeiten; in den
Schwierigkeiten liegen ja auch unsere Entwicklungsmöglichkeiten. (Kast 1974, S. 125)
„Das Ausleben und Ausgestalten kreativer Potentiale im Tanz ermöglicht dem
Individuum Selbstgestaltung und „Selbstausdruck“, Ausdruck des Unbewussten
„gepaart mit Realisierungskraft des Bewusstseins“.“ (Kast 1974, S. 125)
23
Teil B – Umsetzung in die Praxis
Die Auseinandersetzung mit den Erfahrungen verschiedener Psychotherapeuten,
Märchen in einem therapeutischen Prozess zu nutzen, weckte in mir die Neugier, ob
dies auch in der Tanztherapie praktikabel ist und welche Erkenntnisse sich sowohl für
mich als Therapeutin, als auch für die Teilnehmerin/den Teilnehmer daraus ziehen
lassen. Die Fragen lauten: Ist es möglich durch die aktive – und wie ich sie auch nennen
möchte - bewegte Imagination ins „Reich der inneren Bilder“ einzutreten und diese zu
verkörpern? Haben spontan erinnerte Märchen oder Szenen und Bilder tatsächlich etwas
mit dem Teilnehmer/der Teilnehmerin zu tun? In welchem Maße lässt sich eine
Auseinandersetzung mit Märchensymbolen verwirklichen und welchen Nutzen ziehen
wir daraus?
Fünf KlientInnen stellen sich mir zur Verfügung, damit ich über Einzelfallstudien
Erkenntnisse über die oben gestellten Fragen erlangen kann. Bevor wir jedoch die
„Reise“ in die Märchensymbolik unternehmen, sind einige Gedanken zur Entwicklung
der Einzelfallstudien unabdingbar.
1. Gedanken zur Entwicklung der Einzellfallstudien
1.1 Das Setting:
Bei meinen Studien nutze ich das Setting der Einzeltherapie. Der Grund ist, dass ich
mich bei meinen Beobachtungen auf wenige Symbole und die Vertiefung in die
Verkörperung eines einzelnen Klienten reduzieren wollte, um damit zu einer
differenzierten Auswertung zu gelangen.
Im Bewegungsraum befinden sich verschiedene Materialien. (Zunächst allerdings nicht
sichtbar, um durch ein Überangebot nicht zu verwirren, werden aber auf Wunsch zur
Verfügung gestellt.) Musik wird eingesetzt, wenn ich den Eindruck habe, dass sie
unterstützend sein kann.
Der zeitliche Rahmen für eine Einzelstunde beträgt 90 Minuten pro Klient/Klientin.
Für die spätere Reflexion und Ausarbeitung werden die Stunden mit einem Diktiergerät
aufgenommen.
Wenn
erforderlich,
werde
ich
schriftliche
Notizen
machen.
(Einverständnis des Klienten/der Klientin vorausgesetzt.) Bei meinen Einzelfallstudien
nehme ich für den Leser biographische Veränderungen vor.
24
1.2 Drei Leitfragen
Auf die Beantwortung der folgenden drei Fragen zielt die Stunde ab:
•
Welches Märchen wird erinnert? (Der Titel des Märchens ruft erste
Assoziationen und Erinnerungen wach. Die Erinnerungen können sich beziehen
auf: 1.) das Märchen selbst 2.) den Zeitpunkt, zu dem das Märchen gehört
wurde 3.) die Person, das Ereignis, durch das jenes Märchen bekannt wurde.
•
Welche Passagen aus dem Märchen sind besonders intensiv in Erinnerung
geblieben? (Diese Frage zielt auf den ersten Hinweis, was das Märchen direkt in
einem anspricht.)
•
Welche Passagen des Märchens werden vergessen? Darauf kann aufmerksam
gemacht werden, wenn es dem Prozess dient, denn es kann ein Hinweis auf eine
verdrängte Erinnerung sein und hat sicher einen Grund. (Dieser Punkt wird erst
im Verlauf der Stunde sichtbar, wird also zu Beginn nicht erwähnt und auch
während der Stunde wird nicht „berichtigend“ eingegriffen.)
1.3 Die Rolle der Tanztherapeutin
In meiner Arbeit mit der Symbolik von Märchen bediene ich mich gewissermaßen der
Methode der aktiven Imagination, da der Klient/die Klientin zu einem „inneren Bild“,
einer Erinnerung, die verkörpert wird, frei assoziieren kann. Durch das Begleiten in die
Märchensymbolik wird unbewusst eine Haltung eingenommen, die aufschlussreich ist.
Der Begriff der „ aktiven bewegten Imagination“ wäre hier sicher besser angebracht.
Es stellt sich die Frage, ob durch die Verkörperung der erinnerten Märchenbilder dem
Klienten der Weg zu „inneren“, also unbewussten Bildern ermöglicht wird.
Wesentlicher Bestandteil ist die Kommunikation zwischen dem Klienten/der Klientin
und mir und meine Rolle sowohl als beobachtende „Zeugin“, als auch derjenigen, die
ggf. einen weiteren „Weg“ vorschlägt. Zu Beginn jeder Stunde begleite ich die
Betreffenden bei der aktiven, bewegten Imagination ein Stück weit in eine
Fantasielandschaft und nehme ab einem gewissen Punkt eine räumliche Distanz ein, die
25
es mir ermöglicht, zu beobachten und der Klientin/dem Klienten das Gefühl gibt, ihre
Intimsphäre wird gewahrt und respektiert.
Die Tanztherapeutin und die Klientin/der Klient werden zu „gemeinsam Reisenden“,
ein Begriff, den Irvin D. Yalom in seinem Buch „Der Panama-Hut“ (2002) beschreibt.
Yalom will damit verdeutlichen, dass er die Unterscheidung zwischen „ihnen“ (den
Leidenden) und „uns“ (den Heilern) aufhebt, denn er geht davon aus, dass niemand,
auch Therapeuten nicht, gegen die inhärenten Tragödien des Daseins gefeit sind.
(Yalom, 2002, S. 21-25)
Demzufolge sind Klient/Klientin und Tanztherapeutin gleichgestellt und können
gemeinsam über das, was sie im Laufe einer Therapie entwickeln und erfahren, staunen.
Es ist möglich, dass ich Eindrücke und Beobachtungen der Klientin/dem Klienten
schildere, dabei aber auf der „Bildebene“ bleibe, um keine vorschnellen Interpretationen
zu liefern oder das Gefühl zu vermitteln, dass ich weiß, was der Klient/die Klientin
nicht weiß. Fakt ist, dass die Tanztherapeutin gar nichts weiß.
Symbole, die zur Sprache kommen oder auf der Körperebene exploriert werden, dürfen
nicht allgemeingültig interpretiert werden. Dies bedeutet, dass z.B. das Symbol Wasser
für die betreffende Person eine völlig andere Bedeutung haben kann, als für die
Tanztherapeutin. Ressourcenorientierte Sichtweise ermöglicht der Tanztherapeutin, im
wahrsten Sinne des Wortes „den Schatz zu heben“.
„Der Körper bewegt sich ständig, er braucht kein Werkzeug, keinen bestimmten
Zeitpunkt oder Ort; er ist immer da, er braucht nur beachtet zu werden. Ein bestimmtes
Maß an Ehrlichkeit und das Bedürfnis nach Selbsterkenntnis vorausgesetzt, ist es die
Trommel, die Stimme, die dem Helden berichtet, wo der Kampfplatz liegt, so dass er
hingehen und die Prinzessin befreien kann.“ (Willke, 1999, S. 151)
1.4 Methode
¾ Die Tanztherapeutin führt die Klientin/den Klienten durch die aktive bewegte
Imagination in eine märchenhafte Landschaft und lässt die/den Betreffenden
anschließend imaginativ eine eigene Landschaft erstellen.
¾ Der Klient/die Klientin erfährt „am eigenen Leib“ über die Fantasie hinaus auf
einer körperlichen Ebene die Bedeutung jeder einzelnen Begebenheit. Sei dies
26
die imaginäre Begegnung mit einer Person, die zur Handlung beiträgt, einem
Gegenstand oder einer Stimmung.
¾ Der Klient/die Klientin kann sich in eine Sequenz hineinbewegen. Dadurch kann
er Informationen aus der Gegenwart oder Vergangenheit aus dem Unbewussten
hervorholen. Lebensthemen, Konflikte, Erinnerungen werden bildhaft, können
bearbeitet werden. Wie im Märchen kann eine Lösung gefunden, etwas
überwunden werden.
¾ Auch Schattenthemen können beleuchtet werden, denn Nebenfiguren aus
Märchen oder angstmachende, abgelehnte Wesen haben mit einem selbst
genauso zu tun wie Ersehntes, Erwünschtes. Der Klient/die Klientin kann sich in
eine Rolle bewegen, die er/sie sich schon lange erträumte.
¾ Eventuell wird das Märchen abgeändert, wenn der Klient/die Klientin feststellt,
dass bisher Gelebtes einschränkend oder verhindernd war. Eine neue Märchenund „Lebenschoreographie“ kann erarbeitet und erlebt werden.
¾ Die Tanztherapeutin ist Begleiterin und Zeugin, schafft den Raum und einen
vertrauten Rahmen, in dem sich die Klientin/der Klient bewegen kann. Material
und Musik können angeboten werden.
¾ Durch ein abschließendes Reflexionsgespräch wird Erlebtes kommuniziert und
nochmals bewusst gemacht.
¾ Der Klient/die Klientin wird aus der „Märchenwelt“ entlassen, indem er/sie
durch die aktive bewegte Imagination zurückgeführt und ein deutlicher
Schlusspunkt gesetzt wird.
1.5 Erklärung zum Fragebogen
Zunächst diente der Fragebogen meiner Entscheidungshilfe. Nach den ersten beiden
Einzellfallstudien allerdings bekam er für mich eine weitere Bedeutung, denn es wurde
deutlich, dass die spontanen geschriebenen Erinnerungen der Betreffenden auf dem
Papier andere waren, als in den anschließenden Einzellfallstudien. Für mich ergab sich
daraus die Frage, ob die spontanen Erinnerungen also stets mit aktuellen Begebenheiten
zu tun haben oder mit dem besonderen Rahmen einer Therapiestunde mit all seinen
Gegebenheiten. Um diese Unterschiede zu dokumentieren, fügte ich sie den
Einzelfallstudien hinzu, obwohl dies ursprünglich nicht meine Absicht war. Bei der
abschließenden Auswertung werde ich dies ausführlicher dokumentieren.
27
1.6 Die Märchentitel
Die Märchentitel veränderte ich nachträglich individuell dem Thema des Klienten/der
Klientin entsprechend. Somit wurde die Bedeutung der Märchensymbole für die
Betreffenden zum Titel des Märchens und bekamen eine persönliche Note.
Die Märchentitel wurden folgendermaßen verändert:
„Der Froschkönig und der eiserne Heinrich“ Ö „Der einsame, empörte Page“
„Brüderchen und Schwesterchen“ Ö „Der störrische Bruder“
„Dornröschen“ Ö „Die Oasenbauerin“
„Der Teufel mit den drei goldenen Haaren“ Ö „In Großmutters Schürze“
„Brüderchen und Schwesterchen“ Ö „Eine spielerische Beziehung“.
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2. Fünf Einzelfallstudien
2.1 „Der einsame, empörte Page“
J., männlich, 50 Jahre alt.
Im Januar 2006 beantwortete J. den Fragebogen wie folgt:
An welches Märchen erinnerst du dich spontan?
Rotkäppchen
An welche Szene/Szenen daraus erinnerst du dich?
Korb mit Kuchen im Wald
Hat das Märchen einen Bezug zu deinem Leben?
Zur Vergangenheit
Mit welcher Rolle könntest du dich aktuell identifizieren?
Mit dem Jäger
Welches Märchen ist dein Lieblingsmärchen?
„Das tapfere Schneiderlein“
Tanztherapeutische Stunde
Im November 2006
Wir beginnen die Stunde mit einem Warm-up: wir stehen uns gegenüber, Füße parallel,
ich gebe Klopfmassage vor, J. macht diese nach. „Reise durch die Wirbelsäule“ durch
langsames Auf- und Abrichten, dabei sind die Knie leicht gebeugt. Anschließend
schütteln wir die Arme und Beine aus, sanfte Auf- und Abbewegungen mit dem Kopf
usw.
Ich fordere J. auf, sich durch den Raum zu bewegen. Hindernisse, wie Stühle, Kissen
usw. soll er in seinen Bewegungsablauf integrieren, indem er darüber klettert oder
steigt.
Bei diesem Teil begleite ich ihn, indem ich mich ebenfalls durch den Raum bewege.
29
Nach ein paar Minuten teile ich J. mit, dass ich ihn jetzt mit einer Imagination begleiten
werde und begebe mich in eine Ecke des Raumes, von der aus ich J. beobachten und
stimmlich begleiten kann. Ich sage, er spaziere gerade durch einen Wald. Es gibt viele
Bäume, um die er herumspaziert, Wurzeln und Baumstümpfe, über die er klettert, eine
Lichtung, die er betrachtet usw. Er soll sich im eigenen Tempo durch diesen Wald
bewegen und die Stimmung wahrnehmen. Kann er einen Geruch wahrnehmen? Kann er
eine Temperatur fühlen? Wie ist das Licht?
Nach weiteren Minuten sage ich, dass er nun seine eigene Landschaft erfinden soll,
während er weiter spaziert. Er soll sich umgucken, was sich um ihn herum befindet und
sich Zeit lassen beim Erforschen seiner Landschaft.
Schließlich soll J. innerhalb seiner Landschaft einen Platz suchen und sich an diesem
nieder lassen. Ich frage ihn, wo er sich nun befindet. Er antwortet, dass er sich in einer
Steppe befindet. Er lehne sich an einen Hügel (= Sessel). Auf meine Frage, wie er sich
gerade fühlt, sagt er, er habe von hier aus die Übersicht und fühle sich geborgen. Wir
vereinbaren, dass ich ihm gegenüber Platz nehme, ca. 3 m von ihm entfernt.
Ich frage ihn, an welches Märchen er sich jetzt an diesem Platz spontan erinnert. Er
sagt, an den „Froschkönig“. Auf meine Frage, welche bestimmte Szene ihm sofort
einfällt sagt J., dass er sich an die Stelle erinnert, an der die goldene Kugel in den
Brunnen fällt und der Frosch sie hoch bringt. Daraufhin soll die Prinzessin dem Frosch
einen Wunsch erfüllen und der Frosch sagt, er wolle bei der Prinzessin schlafen.
Schließlich habe die Prinzessin den Frosch an die Wand geworfen und der Frosch sei
ein Prinz geworden. Ich frage ihn, was ihm zu dieser Stelle einfällt, wie er sie
empfindet. Er sagt, er habe es schon als kleiner Junge gemein gefunden, dass der König
der Tochter den Vorwurf macht, sie würde ein Versprechen nicht einhalten und einfach
bestimmt, dass der Frosch bei ihr schlafen darf, obwohl sie das nicht will. Und
außerdem fände er den Frosch auch gemein, weil der sich mit ihr einlässt, obwohl sie so
oberflächlich ist. Sie wollte ihn ja gar nicht, sondern erst, als er zum Prinzen wurde. Der
König sei zwar ordnend, aber überhaupt nicht verständnisvoll gewesen. Alle im
Märchen wären oberflächlich.
J. sagt, es falle ihm aber noch eine andere Stelle ein, die ihn schon als kleines Kind
beschäftigt habe. Es handle sich um die Stelle ganz am Schluss, die eigentlich nichts mit
dem Märchen zu tun hat. Ich bitte ihn, mir die Stelle zu schildern. Er erzählt, es handle
sich um die Stelle, als der König in der Kutsche sitzt und der Page hinten drauf steht
30
und es einen fürchterlich lauten Knall gibt. Der König ruft: „Heinrich, der Wagen
bricht“, der Page antwortet: „Der Wagen nicht, mein Herze bricht.“
Ich frage J., warum ihn diese Stelle schon als Kind beschäftigt hat. Der Page sei der
einzige im Märchen gewesen, der die Gemeinheiten und Zusammenhänge kapiert. Dem
Pagen bricht das Herz, weil er die ganze Heirat schrecklich findet. Das habe er auch als
Kind so empfunden. Alles in dem Märchen sei gemein.
Ich frage, welche Szene ihn mehr berühre – die, wo der Frosch die Kugel aus dem
Brunnen rauf bringt oder die mit dem Pagen und der Kutsche. Er überlegt kurz und
antwortet, es sei die mit dem Pagen. Ich bitte ihn, sich nochmals genau zu erinnern und
mir die Situation zu schildern. Er sagt, der König befände sich in der Kutsche und
hinten drauf stünde der Page. Ich frage, wo sich Prinz und Prinzessin befinden. J. sagt,
die seien weg. Die Hochzeit sei vorbei. Ich frage: „Mit welcher der beiden Figuren, die
übrig sind, könntest du dich identifizieren?“ J. meint, mit dem Pagen.
Ich bitte J., sich hinzustellen und genau die Haltung des Pagen einzunehmen. Er stellt
sich hin, die linke Hand hält sich imaginativ an einer Halterung fest, die andere Hand
steckt er in die Hosentasche. Ich bitte ihn, mir genau zu beschreiben, was er da gerade
tut. Er beschreibt seine Körperhaltung. Ich frage, ob die Kutsche fährt oder steht. Er
sagt, sie fährt. Ich frage, wer da noch ist. Er sagt, in der Kutsche sei der König. Ich
frage: „Kannst du ihn sehen?“ Er sagt: „Ja“. Ich frage: „Was genau kannst du vom
König sehen?“ Er sagt: „Wenn ich mich hier links zum Fenster von der Kutsche beuge,
kann ich ihn sehen.“ Ich frage, ob er sich mit dem König unterhalten könne. Er bejaht
dies. Als ich ihn frage, worüber er mit dem König rede, sagt er, der König sage, der
Wagen bricht, weil es einen Knall gab. Ich frage ihn nach seiner Antwort. Es sei nicht
der Wagen, der bricht, sondern sein Herz. J. möchte sich wieder an seinen Platz setzen,
weil die Haltung ihn anstrenge. Ich sage, er könne sich setzen. Ich frage ihn, in welcher
Stimmung er sich jetzt gerade befindet. Er sagt, er fühle sich melancholisch. Ich frage
ihn, was mit dem König sei – ob der ihn an jemanden erinnert. J. antwortet, er erinnere
ihn an seinen Vater. Auf meine Frage warum, sagt er, weil der immer bestimmend, aber
nicht greifbar war. Er sei immer getrennt gewesen von J. und hat nie verstanden, was
passiert. Das sei auch in seiner Kindheit so gewesen. Die Stimmung innerhalb der
Familie sei auch ähnlich gewesen.
Ich bitte J., sich nochmals auf das imaginäre Treppchen zu stellen und sage: „Bitte
beschreib mir, was du alles siehst und guck dich nochmals genau um.“ Er sagt, er sähe
den König, die Landschaft. Er guckt sich weiterhin um. Ich frage: „Wer lenkt eigentlich
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die Kutsche und treibt die Pferde an?“ J. meint, das wüsste er nicht. Er könne
niemanden sehen. Auf meine Frage, ob auch das etwas aus seiner Familie sei sagt er,
die Familie sei wie ein Räderwerk gewesen, das laufen musste.
Ich sage: „Nimm mal wahr, wie deine Position ist.“ J. sagt, es sei sehr eng alles und der
Wagen führe so schnell, er müsse sich ganz verkrampft festhalten, denn sonst falle er
runter, das Treppchen sei so schmal. Ich sage, er solle mal durch seinen Körper gehen
von Kopf bis Fuß und mir jede Befindlichkeit schildern. Er sagt, sein Kopf wäre frei, er
spüre den Fahrtwind und er hätte einen guten Überblick. Ich sage: „Ja, in dieser Position
stehst du ja auch am höchsten. Sogar höher, als der König.“ J. sagt: „Das stimmt.“ Ich
frage: „Kennst du das?“ Er sagt, ja, er sei der einzige innerhalb der Familie gewesen,
der den Überblick bewahrt habe. Alle hätten sich darauf verlassen. Ich sage: „Der Page
ist ja auch laut deiner Beschreibung der einzige, der den Lug und Trug innerhalb des
Märchens erkennt, dennoch ist dieser Abschnitt hinten an das Märchen drangehängt, so,
als hätte es nichts damit zu tun und du hängst da auf der Kutsche auch hinten dran.“ J.
sagt: „Stimmt, der Page kommt sonst nie im Märchen vor. Der ist nicht integriert. Der
hat zu niemanden eine Beziehung.“
Ich fordere ihn auf, seine Reise durch den Köper fortzusetzen. Was fällt ihm noch auf?
J. sagt, seine linke Hand sei sehr verkrampft. Ich sage: „Die Kutsche fährt schnell, du
hältst dich aber nur mit der linken Hand fest. Ist die andere noch immer in der
Hosentasche?“ J. sagt, die sei noch immer in der Hosentasche. Ich frage, ob er das nicht
komisch fände – er könne sich doch mit beiden Händen festhalten. Er antwortet, nein,
denn das gäbe ihm das Gefühl von Souveränität, Eigenständigkeit und Gelassenheit,
denn ansonsten sähe er doch blöd aus da hinten auf dem Wagen. Auf meine Frage, ob
das eine Alltagsbewegung sein könnte, antwortet er, er nähme gerne eine Position der
Lässigkeit ein. Ich frage ihn nach seinem Brustkorb. Dazu fällt J. nichts ein. Seine
Beinstellung beschreibt er als gerade und eng, das erinnere ihn an das Militär. J. sagt, er
wolle sich wieder setzen, das sei alles so anstrengend. Ich sage, er solle mir
beschreiben, was so anstrengend ist. Er sagt: „Einfach alles. Die ganze Situation: Der
blöde König, der da so unbeteiligt sitzt, die Handhaltung, die Enge.“ Ich frage ihn, ob er
dem König gerne etwas sagen möchte. J. antwortet: „Mein Gott, warum kriegst du das
alles denn nicht mit?“ Ich frage J., was er denn jetzt spontan gerne täte. Er sagt, er
würde gerne abspringen von der Kutsche und davon reiten.
Ich sage, dass er das gerne tun könne, doch er soll sich jeden Schritt, der dazu nötig ist,
bewusst machen. Er beschreibt mir nun den ganzen Vorgang: er lässt den Griff los, er
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steigt vom Treppchen, er geht um die Kutsche herum, er zäumt eines der Pferde ab, er
steigt auf und reitet davon.
Ich lege J. eine Trommelmusik auf, um seinen Ritt zu begleiten, doch er bittet mich,
diese auszumachen. Nach seinem Ritt kommen wir in der Raummitte zusammen und
nehmen Platz. J. ist sichtlich berührt. Ich frage ihn, wie es ihm ginge. Er sagt, das sei ein
befreiendes Gefühl gewesen. Er hätte plötzlich durchatmen können. Ich sage, dass das
Herz des Pagen ja gerade erst gebrochen sei, ob er das im Brustkorb hätte spüren
können. Er sagt, das hätte er erst bemerkt, als er beim Wegreiten durchatmen konnte.
Vorher hätte er sich wohl beengt gefühlt im Brustkorb.
Auf meine Frage, ob er dem König noch gerne etwas zum Abschied gesagt hätte,
verneint er. Der König hätte ihm nur leid getan, weil er mit der Situation alleine
zurückbleiben musste. J. treten Tränen in die Augen. Dann sagt er, aber damit müsse
der König jetzt eben klar kommen.
Ich hole mein Märchenbuch mit den Sammlungen der Gebrüder Grimm hervor und
biete J. an, diese eben erlebte Stelle mit mir gemeinsam zu lesen.
...
Der treue Heinrich hatte sich so betrübt, als sein Herr war in einen Frosch verwandelt
worden, dass er drei eiserne Bande hätte müssen um sein Herz legen lassen, damit es
ihm nicht vor Weh und Traurigkeit zerspränge. Der Wagen aber sollte den jungen
König in sein Reich abholen; der treue Heinrich hob beide hinein, und stellte sich
wieder hinten auf, voller Freude über die Erlösung.
Und als sie ein Stück Wegs gefahren waren, hörte der Königsohn hinter sich, dass es
krachte, als wäre etwas zerbrochen. Da drehte er sich um, und rief: „Heinrich, der
Wagen bricht.“
„Nein, Herr, der Wagen nicht, es ist ein Band von meinem Herzen,
das da lag in großen Schmerzen,
als ihr in dem Brunnen saßt,
als ihr eine Fretsche (Frosch) was’t (wart).“
Noch einmal und noch einmal krachte es auf dem Weg, und der Königsohn meinte
immer der Wagen bräche, und es waren doch nur die Bande, die vom Herzen des treuen
Heinrich absprangen, weil sein Herr wieder erlöst und glücklich war.
(Grimm, 1937, S. 8)
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J. ist sichtlich verblüfft. Nach ein paar Sekunden sagt er, das sei ein völlig anderes
Thema. Er sagt, das rumore in ihm.
Nach einer Weile frage ich, ob er sich erklären kann, warum er das so anders in
Erinnerung hatte. Er sagt, dass er wohl seine eigene Familiengeschichte gespiegelt
haben wollte. Ich sage, du hast Prinz und Prinzessin weggedrängt und an deren Stelle
den König gesetzt. Du und der König waren mit der Kutsche unterwegs. J. sagt, bei ihm
habe es auch keine Bande um das Herz gegeben. Sein Vater habe die Familie mit seinen
Kriegserlebnissen immer belastet. Die ließen ihn nicht los. Die waren eine ständige
Bedrohung und haben J. sehr berührt. Für die beiden anderen Personen (Prinz und
Prinzessin) gab es in seinem Leben keine Entsprechung. Wahrscheinlich ginge es ihm
um die Auseinandersetzung mit seinem Vater, darum habe er diesen in die Kutsche
gesetzt.
Als er von der Kutsche ging, habe er den Vater mit seiner Bedrohung alleine zurück
gelassen, das hätte ihm leid getan.
Ich sage, dass wir nun am Ende der Stunde sind und ich ihn gerne mit einem Tanz
verabschieden würde. Ich lege nochmals die Trommelmusik auf, er sagt, jetzt fände er
sie passend. Wir tanzen getrennt voneinander, haben hin und wieder Blickkontakt. J.
lächelt, wirkt aber sehr beschäftigt.
Plötzlich ruft er, er würde jetzt ganz anders tanzen als sonst. Da sei mehr Kraft.
Nach dem Tanz frage ich ihn, wie er denn seine Bewegungen empfunden habe. Er sagt,
schwerer und breitbeiniger. Er hätte sich mehr in der Körpermitte und in den
Oberschenkeln gespürt. Das würde für ihn mehr Selbstbewusstsein und Standfestigkeit
bedeuten.
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2.2 „Der störrische Bruder“
K., weiblich, 51 Jahre
Im November 2006 beantwortete K. den Fragebogen wie folgt:
An welches Märchen erinnerst du dich?
Hänsel und Gretel
An welche Szene/Szenen daraus erinnerst du dich?
Wie Gretel die Hexe in den Ofen schubst
Hat das Märchen einen Bezug zu deinem Leben?
Ja, zur Vergangenheit
Mit welcher Rolle könntest du dich aktuell identifizieren?
Mit der Gretel
Welches Märchen ist dein Lieblingsmärchen?
Schneewittchen
Tanztherapeutische Stunde
Anfang Januar 07
Wir beginnen damit, dass wir uns gegenüberstehen und strecken. Zunächst macht jede
ihre eigenen Bewegungen, allmählich spiegle ich die Bewegungen von K. Zu diesem
Warm-up begleitet uns leise Klaviermusik von einer CD. Am Ende des Liedes schalte
ich den CD-Player aus und fordere K. auf, mit mir gemeinsam durch den Raum zu
spazieren. K. ist der Raum vertraut, von daher beginne ich recht schnell damit, mich mit
ihr auf die „Reise“ zu machen. Ich erzähle ihr, dass wir uns auf eine Wiese begeben.
Allmählich soll sie sich das Gras unter ihren Füßen genau betrachten. Welche Farbe hat
es und welche Beschaffenheit, ist es hoch oder eher niedrig, wie fühlt es sich an usw.
Wir gehen gemeinsam, doch getrennt weiterhin durch diese Landschaft, dabei spiegle
ich ihr Tempo.
Nach einer Weile erzähle ich ihr, dass wir auf einen Wald zusteuern, der die Wiese
begrenzt. K. verringert deutlich ihr Tempo. Ich begebe mich neben sie. Sie geht
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langsam in den Wald hinein und ich erzähle ihr, dass wir uns nun auf einem Waldpfad
befinden, sage, wir müssten auch mal über Wurzeln oder querliegende Äste klettern.
K. verändert ihre Bewegungen nicht. Sie bewegt sich langsam und vorsichtig vorwärts.
Ich fordere sie auf, sich alles genau anzusehen, die Temperatur zu fühlen, den Wald zu
riechen. Sie geht mit zusammengekniffenen Augen weiter, wirkt sehr konzentriert auf
mich. Ihre Schultern sind hochgezogen. Nach einiger Zeit sage ich, dass sie durch die
Bäume eine lichtdurchflutete Lichtung erkennen kann und darauf zugehen soll. Sie
beschleunigt ihr Tempo ein wenig und kommt bei der Lichtung an.
Nun begebe ich mich an eine Stelle des Raumes, von der aus ich sie gut beobachten
kann und lasse mich nieder.
K. steht mit geschlossenen Augen beinahe in der Mitte des Raumes. Ich sage, sie solle
sich alles genau vorstellen. Dann frage ich sie, wie es ihr da geht, auf der Lichtung. Sie
sagt, es ginge ihr besser als im Wald. Dabei seufzt sie und lässt Arme und Schultern
sinken.
Ich sage, dass sie sich jetzt eine eigene Landschaft kreieren und von der Lichtung aus
starten kann, um sie zu erforschen.
Eine Weile steht K. mit geschlossenen Augen da. Ich sage, sie könne mir auch gerne
alles beschreiben, was sie „sieht“. Sie sagt, da wäre ein Bach und den würde sie jetzt
entlang spazieren. Der Weg sei steinig und zeitweise ginge es bergauf. K. bewegt sich
durch den Raum. Ihre Schritte empfinde ich als vorsichtig. Sie sagt, die Sonne würde
scheinen, es sei ein schöner Tag und auf jeden Fall sei es sehr viel besser am Bach, als
im Wald.
Nach einiger Zeit fordere ich sie auf, sich einen Platz zu suchen, der ihr gut gefällt und
an dem sie sich wohl fühlt. K. lässt sich nieder. Sie sagt, sie würde gerne die Füße ins
Wasser hängen lassen und winkelt die Beine so an, dass es aussieht, als würden die
Füße im Wasser stehen. Sie sagt, hier gefiele es ihr gut.
Nun bitte ich K., sich spontan an ein Märchen zu erinnern. Sie antwortet, das hätte sie
schon im Wald getan. Da sei plötzlich ein Bild von einem Reh aufgetaucht und sie
glaube, das habe zu tun mit dem Märchen „Brüderchen und Schwesterchen“. Sie hätte
auch das Mädchen gesehen. Allerdings könne sie sich überhaupt nicht mehr an dieses
Märchen erinnern. Irgendwie ginge es doch wohl darum, dass das Mädchen das Reh
von dem Bach fern halten will, damit es nicht daraus trinkt.
Ich frage K., ob denn da im Wald ein Bach gewesen wäre. Sie bejaht dies. Aber das sei
ein anderer Bach gewesen, als der, an dem sie sich jetzt befindet. Der Bach im Wald
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war ganz anders. Der hier sei viel klarer. Ich sage: „Du bist also zweimal an einem Bach
entlang gegangen. Waren das also zwei verschiedene Bäche?“ Sie bejaht dies.
Im Laufe des Gespräches kommen wir darauf, dass sie bei dem Bach im Wald mit dem
Wasserlauf gegangen ist und später, als sie von der Lichtung aus startete, gegen den
Wasserlauf eines Baches. Das fiel mir auf, da sie ja eine Zeit lang bergauf ging. Ich
frage sie, was diese beiden Bäche für sie bedeuten könnten. K. presst die Lippen
zusammen. Sie wirkt, als wolle sie sich beherrschen, um nicht weinen zu müssen.
Schließlich antwortet sie, das sei für sie das Symbol für das Leben, das wegfließt.
Ich sage, bei dem Bach im Wald ist das Wasser von dir weggeflossen oder mit dir
geflossen. Bei dem Bach, an dem du dich jetzt befindest, bist du gegen den Fluss
gelaufen, sozusagen dem Leben entgegen. Jetzt stecken deine Füße drin. Sozusagen
mitten im Leben. Wie ist das?
Wir lachen. Sie wischt sich die Augen.
Dann erzählt sie wieder von dem Reh. Es sei sehr tröstlich gewesen, dieses Reh zu
sehen im Wald. Sie erzählt nun viel. Zwischendrin bitte ich sie, sich in eine der beiden
Figuren hineinzuversetzen. Sie sagt, sie wäre die Schwester. Plötzlich meint sie, da gäbe
es eine Parallele zum Märchen „Hänsel und Gretel“. Ich frage sie, was die Parallele sei.
K. denkt lange nach. Sie kann sich nichts vorstellen. Dann sagt sie, dass die Schwester
auf den Bruder aufpassen und ihn vor irgendwas bewahren muss. Während sie dies sagt,
fasst sich K. spontan mit der linken Hand an die rechte Schulter. Ich kommentiere diese
Geste mit den Worten: „Du trägst viel Verantwortung.“ Sie seufzt und sagt ja, das
stimme.
Ich bitte sie, sich an die Stelle im Wald zu begeben, wo sie das Mädchen mit dem Reh
gesehen hatte und sich die Situation genau vorzustellen.
Mit vor dem Bauch verschränkten Armen begibt sie sich dort hin. Sie sagt, das Reh
wolle immer von dem Wasser trinken, doch das sei nicht gut für das Reh. Sie wolle es
immer daran hindern, doch das sei so störrisch. Ich sage, sie solle die Szene mal
nachstellen. Sie sagt, der ließe sich da nicht wegbringen, bestenfalls durch gutes
Zureden. K. wirkt angespannt auf mich. Ich frage, ob sie das Reh an einer Leine halte
oder ob es frei laufe. Sie antwortet, sie hätte es an der Leine, aber es ließe sich nicht
wegzerren. Ich frage, wo sie das Reh denn gerne hinbringen wolle. Sie sagt, an den
anderen Bach.
Plötzlich sagt sie, jetzt wisse sie, was das sei. Das sei tatsächlich die Situation mit ihrem
realen Bruder. Sie bewegt sich langsam auf mich zu und nimmt mir gegenüber Platz.
37
Sie beginnt zu erzählen, dass ihr Bruder an einer Krankheit leide und sich zeitweise
über die Anweisung des Arztes hinwegsetzt, indem er seine Medikamente nicht
einnimmt. Das würde alle sehr belasten. Und auch sie habe darunter zu leiden.
Ich sage, da habe sie ja tatsächlich einen störrischen Bruder. K. nickt.
Sie erzählt mir, dass sie für ihren Bruder eine besondere Bedeutung während der
Kindheit hatte und es für ihn wohl sehr schwer war, als sie von der Familie wegzog. Sie
fühle sich noch immer für ihn verantwortlich.
Wir reden lange über dieses Gefühl und ihre Beziehung zu dem Bruder. Schließlich
sage ich, dass sie ihren Bruder wohl gerne an diesen schönen Bach bringen würde, weil
der ja auch für sie viel besser ist, als der Bach im Wald. Sie bejaht dies. Ich frage, da sie
zu diesem anderen Bach gefunden habe, ob sie das mit dem Bruder teilen wolle? Sie
nickt. Ich sage, sie könne es ja nochmals versuchen. Sie sagt, das hätte keinen Sinn.
Auch könne sie die Verantwortung für seine Lebensgestaltung nicht mehr tragen.
Wieder fasst sie sich an die Schulter. Sie sagt, in dem Moment, wo ich das mit der
Verantwortung gesagt hätte, hätte sie Nackenschmerzen bekommen. Diese Schmerzen
kenne sie gut. Ich sage, dass sie auch die Arme vor dem Bauch verschränkt hätte, als sie
zu der Stelle im Wald zurückkehren sollte, an der sich das Mädchen mit dem Reh
befand. K. sagt, das mache sie immer, wenn sie sich unwohl fühle. Außerdem wollte sie
sich im wahrsten Sinne des Wortes „zusammennehmen“, um nicht losheulen zu müssen.
Ich frage K., was sie denn jetzt mit dem Brüderchen gerne machen würde, es stünde
noch immer am Bach. Sie sagt, sie würde die Verantwortung gerne ablegen können,
aber sie wolle den Bruder da nicht alleine stehen lassen. Ich antworte, sie habe doch ein
Seil. – Vielleicht ginge es sozusagen mit einer „langen Leine“, ohne eine „Entwederoder-Entscheidung“, sondern mit einer „Sowohl-als-auch-Entscheidung“. K. sagt, das
wisse sie nicht.
Ich bitte sie, nochmals zu der Stelle zu gehen und es auszuprobieren. Sie begibt sich
wieder an die Stelle. Nach einer Weile bückt sie sich, dann kehrt sie zu mir zurück. Sie
sagt, sie habe die Leine abgelegt. Ich frage sie, ob das im Moment für sie gut wäre. K.
sagt, das sei gut so.
Ich sage, sie solle sich jetzt wieder zu dem Platz an dem Bach begeben, an dem sie ihre
Füße ins Wasser baumeln ließ. Ich kündige ihr an, dass sie von dort aus den Weg
zurück zur Lichtung gehen soll, dass wir uns dann auf der Lichtung treffen und dann
gemeinsam durch den Wald, über die Wiese zurück in diesen Raum spazieren. Ich frage
sie, ob sie sich für den Rückweg eine Musik wünsche. Wir suchen gemeinsam ein
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passendes Stück aus und K. startet vom Bach aus ihren Rückweg. Als sie an der
Lichtung ankommt, gehen wir gemeinsam weiter und ich kommentiere wieder, wo wir
uns gerade befinden. Wir gehen dicht nebeneinander her. Ich passe mich ihrem Tempo
an.
Gemeinsam im Raum angekommen nehmen wir wahr, dass es inzwischen ein wenig
dunkler geworden ist, das sich aber sonst nichts verändert hat.
Abschließend schütteln wir uns zu Trommelmusik aus, tanzen dann gemeinsam. K.
umarmt mich dabei spontan. Wir lachen.
Bei einem kurzen Reflexionsgespräch sagt K., es wäre gut gewesen, wenn sie ein reales
Seil gehabt hätte, um es ablegen zu können, denn das hätte den symbolischen Akt
unterstrichen.
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2.3 „Die Oasenbauerin“
V., weiblich, Ende 30, im achten Monat schwanger
V. beantwortete im Oktober 2006 den Fragebogen wie folgt:
An welches Märchen erinnerst du dich spontan?
Aschenputtel
An welche Szene/Szenen daraus erinnerst du dich?
Wie sie am Grab der Mutter steht, dort ist ein Baum, der sie mit den herrlichen Gaben
(Kleider) versorgt.
Hat das Märchen einen Bezug zu deinem Leben?
Zur Vergangenheit: Einsamkeit, das Gefühl, nicht dazuzugehören, habe ich teilweise
auch erlebt.
Zum Alltag: am ehesten wiederholt sich das im Arbeitsbereich in dem Gefühl, dass alles
Reden nichts hilft
Mit welcher Rolle könntest du dich aktuell identifizieren?
Mit dem gutherzigen, aber blinden Vater.
Welches Märchen ist dein Lieblingsmärchen?
Rotkäppchen
Tanztherapeutische Stunde
Mitte Januar 07
Beim warm-up stehen wir uns gegenüber und machen Dehn- und Streckübungen. V.
sagt, aufgrund ihres dicken Bauches sei sie nicht besonders beweglich. Ich sage, sie
solle soweit mitmachen, wie es für sie gut ist. Wir bewegen hauptsächlich die Arme und
Beine, lassen die Gelenke kreisen. Im Hintergrund läuft Entspannungsmusik. Während
der Übung erzählt mir V., dass sich der Alltag durch den Bauch etwas anstrengend
gestaltet. Wir unterhalten uns über Schwangerschaftserfahrungen, z.B., dass sich die
Schuhe nicht mehr binden lassen usw.
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Ich schlage vor, dass wir uns langsam durch den Raum bewegen, während wir uns
aufwärmen. Als die Musik zu Ende ist, sage ich, dass wir gemeinsam einen Spaziergang
durch den Raum unternehmen. Da V. den Raum nicht kennt, rege ich an, sie könne sich
mal die Bilder ansehen und alles, was es so zu entdecken gibt.
Nach einer Weile beginne ich mit der Imagination auf der Wiese. Wir gehen in flottem
Tempo durch den Raum. Als wir uns dem Wald nähern, geht es im selben Tempo
weiter. Ich gehe nun hinter V. her und spiegle ihren Schritt. Nach einiger Zeit sage ich,
dass sich Äste auf dem Waldweg befinden. V. steigt imaginär darüber. Das Tempo
bleibt unverändert. Schließlich sage ich, durch die Bäume falle Licht – das käme von
einer Lichtung, die sich irgendwo zwischen den Bäumen verbirgt. Wir müssten nun
vom Pfad abkommen und uns durch die Bäume auf diese Lichtung zu bewegen.
V. macht eine Bewegung nach rechts und verändert nun ihre Gangart. Sie macht enge
Schritte, setzt dabei immer einen Fuß direkt vor den anderen. Das Tempo ist
unverändert. Ich folge ihr und spiegle ihre Bewegungen.
Als sie auf der Lichtung ankommt, nehme ich zwei Meter von ihr entfernt Platz.
V. atmet mehrmals tief ein und aus. Ich kann Atemgeräusche hören. Ich sage, sie könne
sich nun erst einmal von dem langen Weg ausruhen. Schließlich soll sie vor ihrem
inneren Auge eine eigene Landschaft kreieren. Nach einer Weile fordere ich V. auf,
diese eigene Landschaft zu erforschen. V. dreht sich um und geht auf die Matratzenecke
zu. Sie kniet sich nieder, drückt mit den Händen auf die Matratze, krabbelt langsam auf
allen Vieren darauf herum. Sie ertastet die Decken und Kissen, die sich dort befinden
und entdeckt dabei die Seile, die ich versteckt hatte. Sie nimmt die Seile auseinander
und legt sie um die gesamte Matratzenecke herum. Danach ordnet sie die Kissen und
Decken und legt sich immer wieder darauf, so als wollte sie eine bequeme Stellung
finden. Dabei entdeckt sie die beiden lebensgroßen Stoffpuppen, die sich auf einer
Matratzenwulst befinden. Sie nimmt die beiden und setzt sie außerhalb des Seilkreises
an die Wand gelehnt hintereinander auf den Boden.
Dann wendet sie sich wieder den Kissen und Decken zu und legt sich irgendwann
dazwischen bzw. darauf, atmet tief ein und aus und guckt auf den Sternenbaldachin über
sich. Ich sage: „Genau, mach es dir bequem, so dass du dich richtig wohl fühlst.“ V.
lacht. Auf meine Frage, ob sie mir erzählen möchte, wo sie jetzt sei, antwortet sie, sie
sei noch immer auf der Lichtung, es sei ein schöner Tag, rundherum sei der Wald. Sie
habe auf der Lichtung diesen Platz gefunden, der sei ganz weich und voller Moos. Es
sei sehr still und angenehm warm. Es sei ein bisschen wie „ankommen“.
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Ich sage, dass sie sich jetzt bitte an diesem Platz ganz spontan an ein Märchen erinnern
soll. Nach ein paar Sekunden fängt V. an zu lachen. Daraufhin frage ich sie, ob sie an
ein bestimmtes Bild denke. Sie lacht weiter und antwortet, ja, sie denke an eine Szene
aus Dornröschen, wo die plötzlich alle für 100 Jahre einschlafen. Das fände sie eine
schöne Vorstellung – für 100 Jahre schlafen zu dürfen. Wir lachen gemeinsam. Ich
frage sie, wie die Vorstellung für sie wäre, 100 Jahre zu schlafen. Sie antwortet, das sei
wie ausschlafen dürfen.
Dann erklärt sie mir genau, an welche Szene sie spontan denken musste, nämlich die
Stelle, an der der Koch dem Küchenjungen mit dem Kochlöffel hinterher rennt und
beide in dieser Stellung erstarren. Sie führt das dann weiter aus. Dass der ganze Hof
erstarrt und auch das Dornröschen irgendwo. Ich frage sie, ob das für sie genauso
angenehm wäre, wie die Vorstellung davon, ausschlafen zu können, denn schließlich sei
das ja eine plötzliche, auferlegte Starre, die dem ganzen Hofstaat widerfährt.
Sie sagt, das sei etwas völlig anderes. Die stünden alle in einer unbequemen Haltung da
und wären wie aus dem Leben gerissen. Das sei eigentlich eine schreckliche
Vorstellung – für so lange Zeit aus dem Leben gerissen zu sein, sich dem nicht
entziehen und sich nicht frei entscheiden zu können. Auf meine Frage, ob sie das kennt,
für längere Zeit aus dem Leben gerissen zu sein, verneint sie.
Im Laufe des Gespräches über ihre Freiheit, sich hinlegen und schlafen zu können,
wann immer sie möchte, gelangt V. zu dem Bild von Dornröschen. Sie denkt längere
Zeit darüber nach, warum es überhaupt zu dem auferlegten Schlaf kam und wo sich
Dornröschen zu dem Zeitpunkt befindet. Als sie sagt, Dornröschen säße in einer
Kammer und überall wüchse alles zu, bitte ich sie, mir dieses Bild genauer zu
beschreiben. Sie sagt, alles wuchere zu. Das ganze Schloss würde unerreichbar. Ich
frage sie, wie das sei, so unerreichbar zu sein. In Ruhe und Stille unerreichbar zu sein
sei für sie nur kurzzeitig als Ausgleich angenehm. Nicht für so lange Zeit und nicht
fremdbestimmt. Ich sage: „So wie es für dich im Moment gut ist, da zu liegen, aber zu
wissen, dass du nachher wieder nach Hause fährst und Mitten im Geschehen stehst.“ Sie
lacht und nickt. Ich sage, dass mich die Ecke, in der sie da gerade liegt mit den Seilen
außen rum auch ein wenig an das zugewucherte Schloss erinnere. Sie sagt, das sei ein
wichtiger Teil von ihr – das Bedürfnis, in Ruhe gelassen zu werden. Sie möge es nicht,
wenn ihr jemand von außen etwas aufzwingen wolle. Sie wolle manchmal richtig
alleine sein, das habe etwas sehr Erholsames. Ich frage, ob sie im Alltag manchmal das
Gefühl habe, sie könne ihre Ruhe haben, ohne gestört zu werden.
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Hier beginnt sie von ihrem Umzug erzählen. Dass es ihr schwer fiel, ihre eigenen vier
Wände zu verlassen, um bei ihrem Freund und dessen beiden Kindern ein Zimmer zu
beziehen. Richtig Angst habe sie davor gehabt. (Sie weint, als sie erzählt, wie sie die
Kisten packte.) Doch ihr Zimmer habe sie sich so eingerichtet, dass sie wirklich
behaupten könne, es sei ihres. Sie beschreibt mir das Zimmer: das gemeinsame Bett
befinde sich darin, doch außen rum habe sie alles so gestaltet, dass es ganz ihre Oase
sei. Sie meint, sie fühle sich auch beschützt in diesem Zimmer. Ich frage, von wem. Sie
sagt, von ihrem Freund, denn der würde ihr Bedürfnis nach ihrer Oase respektieren und
auch seinen beiden Kindern sagen, dass sie V. nicht stören dürfen, wenn sie ihre Ruhe
haben will. Ich sage, die Kinder befänden sich eindeutig außerhalb ihrer Oase und zeige
auf die beiden Puppen außerhalb des Seil-Kreises. Sie guckt zu den Puppen, lacht und
sagt, das sei wahr.
V. spricht nun vom Abschied von ihrer Arbeitsstelle und was es für sie bedeutet, so viel
Eigenes aufgeben zu müssen, auch wenn sie keinen Tag an die Arbeit denkt.
Im Verlaufe des Gespräches erinnert sie sich daran, dass es ihr als kleines Kind schon
ein großes Bedürfnis war, einen eigenen Ort zu haben. Darum sei sie schon mit drei
Jahren von zu Hause zu dem Onkel geflohen. Die vielen Geschwister daheim seien ihr
zu laut und stressig gewesen. Der Onkel habe dann immer Zeit für sie gehabt. Er war
Musiker und V. konnte bei ihm malen und die Ruhe genießen oder machen, was sie
wollte. Das sei auch so was, wie eine Oase gewesen. Wenn die Eltern sie suchten, war
sie meistens dort zu finden.
Ich sage: „Du hast also von klein auf die Fähigkeit, dir eine Oase zu schaffen und sie zu
genießen?“ Sie sagt, das könne man so sagen. Daraufhin schildere ich ihr, wie es auf
mich wirkte, als sie sich hier ihren Platz auf der Lichtung zurecht gemacht hat. Ich sage:
„Das wirkte sehr klar, sehr selbstbewusst und zielgerichtet, wie du dir dein Nestchen
bautest.“ Sie antwortet, hier käme auch keiner hin. Das sei ihr Platz.
V. zieht nochmals Parallelen zu der Oase beim Onkel. Doch plötzlich sei eine neue
Lebensgefährtin da gewesen, die V. nicht wirklich akzeptierte. Das sei sehr schmerzlich
für sie gewesen. V. ging dennoch weiterhin zum Onkel, hauptsächlich, um mit ihm zu
musizieren. Aber es sei nicht mehr die Beziehung gewesen, die sie einmal war. Sie
wären dann zum Musizieren immer im Erdgeschoss in einen Arbeitsraum gegangen.
Ich sage, Musizieren oder grundsätzlich eine kreative Tätigkeit kann auch eine Oase
sein. Sie sagt, das habe sie auch so empfunden.
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Abschließend sage ich, dass ich möchte, dass sie ihre Oase noch ein wenig genießen
kann. Ich frage sie, wie ihr die Musik vom Aufwärmen gefallen hat. Sie sagt, die hätte
ihr gut gefallen. Daraufhin schalte ich die Musik ein, dimme das Licht runter und setze
mich wieder auf meinen Platz.
Am Ende des Liedes sage ich, bevor sie sich von der Oase hier in diesem Raum
verabschieden muss, solle sie sich nochmals all ihre inneren Oasen in Erinnerung rufen
und bewusst machen, dass sie die Fähigkeit besitzt, sich selbstbestimmt ihre Oase zu
bauen. V. atmet mehrmals tief ein und aus. Fast am Ende des zweiten Liedes sage ich,
sie solle noch dreimal tief ein- und ausatmen und anschließend die Augen öffnen.
Sie öffnet die Augen, wackelt mit den Zehen, streckt sich kurz und beginnt, die Seile
aufzusammeln, die Decken zusammenzulegen und Kissen zu ordnen. Auch die beiden
Puppen werden wieder auf die Matratzenwulst gesetzt.
Auf meine Frage, ob sie noch etwas für sich bräuchte, antwortet sie, nein – es ginge ihr
sehr gut. Sie habe gar nicht gewusst, was für eine tolle Oasenbauerin sie ist.
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2.4 „In Großmutters Schürze“
A., männlich, Mitte 50
Im November 2006 beantwortete A. den Fragebogen wie folgt:
An welches Märchen erinnerst du dich?
„Der Teufel mit den drei goldenen Haaren“
An welche Szene/Szenen daraus erinnerst du dich?
Wie des Teufels Großmutter dem Teufel während er schlief die drei goldenen Haare
ausgerupft hat.
Hat das Märchen einen Bezug zu deinem Leben?
Nein. Höchstens als Erinnerung an meine Kindheit.
Mit welcher Rolle könntest du dich aktuell identifizieren?
Mit der Großmutter.
Welches Märchen ist dein Lieblingsmärchen?
„Hänsel und Gretel“
Tanztherapeutische Stunde
Ende Januar 2007
Wir beginnen die Stunde damit, dass wir uns gegenüber stehen und die Füße
schulterbreit parallel stellen. Ich sage A., er solle leicht in die Knie gehen und den
Kontakt zum Boden spüren. Schließlich beginnen wir damit, die Füße über den
Bodenkontakt zu massieren. Ich gebe jeden einzelnen Schritt vor. A. schließt die Augen
und folgt meinen Vorgaben. Im Hintergrund läuft leise eine orientalische Flötenmusik
mit meditativen Charakter. Als sie lebhafter wird, mache ich sie aus.
Nachdem wir die Füße sowohl gleichzeitig, als auch einzeln auf diese Weise massiert
haben, fordere ich A. auf, sich im eigenen Tempo durch den Raum zu bewegen und
dabei den Bodenkontakt bewusst wahrzunehmen. Ich begleite ihn dabei und spiegle
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sowohl sein Tempo, als auch seine Bewegungsqualität. A. bewegt sich getragen und
leicht.
Ich sage ihm, dass er innere Bilder einer Landschaft entstehen lassen soll, während er
geht und alles genau zu „beobachten“: die Beschaffenheit des Bodens, die Temperatur,
das Wetter, den Geruch usw. Schließlich soll er sich in dieser eigenen Landschaft einen
Platz suchen, der ihm gut gefällt. A. geht weiterhin durch den Raum. Nach einer Weile
sage ich, wenn er diesen Platz tatsächlich gefunden hat, solle er sich dort nieder lassen.
Er nimmt mir gegenüber mit einer Entfernung von ca. 2 m Platz. Ich frage ihn, wo er
jetzt gerade sitzt. A antwortet, er befände sich auf einem Sandboden oder etwas in der
Art. Er sei sich nicht sicher, ob er sich in der Lüneburger Heide oder in den Dünen
befände, er glaube jedoch eher in Dünen. Es sei nicht warm, aber auch nicht kalt, ein
frischer Wind blase. Er befände sich in einer Mulde. Aus dem Wind zu sein, wäre schon
ganz schön.
Auf meine Frage, wie er sich fühle, sagt er, eigentlich schön entspannt. Ich sage, er solle
es sich in diesem entspannten Zustand gerne noch gemütlicher machen und wenn er
mag, ein Kissen oder eine Decke holen. A. holt sich eine Decke und ein Kissen, die
Decke legt er unter das Kissen, auf das er sich setzt. Er meint, seine Füße würden sonst
ohne Decke kalt. Ich hole mir ebenfalls ein Kissen. Ich wiederhole, dass er sich in den
Dünen in einer Mulde befindet, windgeschützt, und dass er sich wohl und entspannt
fühlt. Er stimmt dem zu. Nun bitte ich ihn, sich an diesem Platz an ein Märchen oder an
eine Szene aus einem Märchen zu erinnern. Er sagt, das sei immer dasselbe Märchen,
nämlich „Der Teufel mit den drei goldenen Haaren“ und zwar die Szene, an der die
Großmutter dem schlafenden Teufel die drei Haare rausrupft. Er sagt, wann immer man
ihn nach einem Märchen frage, würde er dieses Märchen nennen. Ich sage, das sei wohl
sein Märchen.
Im Laufe des Gespräches kommen wir darauf, dass es ihm stets um diese bestimmte
Szene ginge. Er schildert mir die Szene in allen Details. Ich frage, wo sich das alles
abspiele – an welchem Ort. Er sagt, in einer Höhle, aber eigentlich in der Hölle, einer
Art Fegefeuer. Die Höhle befände sich in einem Berg, eine Feuerstelle wäre da.
Auf meine Frage nach der Stimmung antwortet er, der Junge befände sich geschützt in
der Schürzenfalte der Großmutter. Der Teufel würde schlafen. Alle wären viel größer
als der Junge. Die Stimmung wäre furchtbar, aber nicht ganz so fürchterlich, denn der
Junge wäre ja geschützt. Ich sage, das höre sich ja beinahe heimelig an, wie er das
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beschreibt, obwohl es in der Hölle spielt. Er antwortet, dem Jungen ginge es da ja auch
nicht schlecht.
Ich frage nach der Großmutter: Von wem die denn eigentlich die Großmutter sei. Er
sagt, das sei die Großmutter des Teufels. Ich frage, warum die dann dem Jungen helfe.
Diese Frage kann A. nicht wirklich beantworten. Er schildert mir, dass der Junge drei
Rätsel lösen muss, um die Königstochter ehelichen zu können, und dass er sich der
Großmutter anvertraut habe. An eines der Rätsel könne er sich erinnern, nämlich an das
mit dem Fährmann. Der hätte ihn immer sehr fasziniert. Er schildert mir diese Szene
und wie das Rätsel für den Fährmann schließlich gelöst wurde. Überhaupt fände er die
Auflösung genial. Denn der Fährmann brauchte nur dem nächsten das Ruder in die
Hand zu drücken und schon sei er frei von dem Fluch, immer hin- und herfahren zu
müssen.
Ich sage, der Fährmann hätte ihn fasziniert und was genau ihn an diesem Mann
fasziniere. Er sagt, dass der das einfach macht, nämlich rudern und rudern und rudern
ohne zu wissen, wie er da wieder rauskommt. Ich frage ihn, wie das denn sei, wenn man
immer wieder dieselbe Sache machen muss ohne zu wissen, wie man da wieder
rauskommt. A. meint, das wisse er auch nicht so genau. Er versucht, sich den Fährmann
in Erinnerung zu rufen und beschreibt mir sein Aussehen mit Schlapphut und Umhang
in der Fähre sitzend. Dabei erinnert er sich daran, dass er nicht so gerne ins Wasser
geht, sondern es lieber aus einiger Entfernung ansieht. Wir kommen wieder auf den
Fährmann zu sprechen und ich frage A., ob sich der Fährmann über das ständige
Rudern-Müssen beklagt hätte. A. antwortet, bei dem Jungen habe er sich beklagt.
Als ich A. frage, mit welcher Figur er sich identifizieren könnte, antwortet er, mit dem
kleinen Jungen. Ich bitte A., sich in die Szenen zu bewegen, an der er als kleiner Junge
jetzt gerne stünde. Er sagt, er wolle da stehen, wo er über den Fluss gerudert wurde und
dem Fährmann die Lösung für das Rätsel nennt. Ich bitte ihn, aus der Höhle zu dem
Fluss zu gehen und mit der Fähre überzusetzen. Schließlich soll er dem Fährmann des
Rätsels Lösung sagen. Er steht nun an der anderen Seite des Flusses.
Auf meine Frage, welcher Impuls sich in ihm rege, reibt A. sich die Hände und meint,
er würde nun zum Schloss wandern und die Königstochter heiraten. Wir lachen. Dann
reden wir darüber, wie er in seinem Alltag Probleme löst und ob er stets eine
Rätsellösung parat habe. Schließlich frage ich ihn nach der Reihenfolge der erinnerten
Bilder des Märchens. Er nennt zunächst die Rätsel. Ich sage, für den kleinen Jungen war
wohl der Fährmann so faszinierend und er tut etwas dafür, dass das Hin- und Herrudern
47
ein
Ende
findet.
Nun
reden
wir
über
A.’s
Zukunftsvisionen,
Problemlösungsmöglichkeiten, das Fällen von Entscheidungen usw. A. möchte sich
wieder hinsetzen können.
Ich sage, entscheidend beigetragen zu der Lösung des Rätsels hat ja die Großmutter. A.
stimmt mir zu. Auf meine Frage, ob es in seinem Leben eine Entsprechung gäbe zu
dieser Figur, die so hilft, antwortet er, er habe sehr eng mit seiner Großmutter
zusammen gelebt. Das sei früher nichts Außergewöhnliches gewesen. Man habe sich
damals nicht so viel Gedanken um Erziehung gemacht, und wenn Vater und Mutter
nicht zur Verfügung standen, dann blieb eben nichts anderes übrig. Er sei mehr von der
Großmutter erzogen geworden und das sähe er nicht negativ. Die Vorstellung, dass
seine Großmutter einmal nicht mehr sein könnte, hätte Albträume verursacht. Er sagt,
sie sei eigentlich ein Aas gewesen. Auf meine verwunderte Reaktion sagt er, sie sei sehr
dominant gewesen. Ich antworte, in dem Märchen habe sie ja sogar den Teufel gut im
Griff gehabt, auf hinterhältige Art und Weise. A. lacht. Nun erzählt er mir aus seiner
Kindheit. Von den beengten Wohnverhältnissen, dem Vater, der den Krieg erlebt hatte,
den dominanten Frauen usw.
Ich bitte ihn, sich nochmals in das Bild der Höhle zu begeben. Er schildert mir alles: die
große Höhle mit der Feuerstelle und die Enge in der Falte der Schürze. Ich frage ihn, ob
ich ihm eine Falte geben darf, indem ich ihm eine Decke umlege. Er bejaht und wickelt
sich die Decke, die ich ihm über die Schultern so umlege, dass er sich fühlt, wie er sich
das immer vorgestellt hat in der Schürze der Großmutter. Er lässt so viel Platz, dass er
auch rausgucken kann. Während wir uns unterhalten, erkenne ich einen saugenden
Rhythmus, wie er mit der Hand sein rechtes Fußgelenk und die Wade knetet.
Ich frage ihn, wie er sich da fühlt. Er sagt, er fühle sich sicher, es könne ihm nichts
passieren. Ich wiederhole: „Die Großmutter ist gewitzt, dominant und hilft dir.“ Ich
frage nach der Entsprechung zu seiner leiblichen Großmutter. Er sagt, die sei unbedingt
da. Wir klären die Beziehungen der Personen untereinander. Ich frage nach dem Teufel
– ob es für den auch eine Entsprechung gäbe. Er sagt, das sei der Vater. Ich frage ihn,
was der Teufel denn über die Beziehung von der Großmutter und dem Jungen denke. A.
antwortet, der Teufel wisse doch gar nicht, dass er überhaupt da sei. Ich rufe, dass ich
das ganz vergessen hätte und frage anschließend, ob denn sein leiblicher Vater seine
Anwesenheit wahrgenommen hätte. A. antwortet, wenn er eine 5 nach Hause gebracht
hätte, dann schon. Sein Vater hatte wohl eine undurchsichtige Art der Beziehung zu
allen Menschen.
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Wir kommen darauf, dass die Großmutter A. sehr viel mit auf seinen Lebensweg
gegeben hat und die engste Beziehung für A. war. Sein Vater habe erst Gefühle für A.
gezeigt, als dieser weiter wegzog, indem er weinte.
Ich wiederhole, dass ihm seine Großmutter wohl sehr viel mit auf seinen Weg gegeben
habe, was sich auch heute noch bewähre und bitte A., es sich so kuschelig wie möglich
in der Falte der Schürze zu machen, um sich dieses Gefühl nochmals herzuholen. Er
sagt, er brauche keine weiteren Kissen und Decken, er fühle sich sehr wohl, so wie er da
sitzt.
Ich lege ihm Entspannungsmusik auf und sage, er solle hineinspüren in das Gefühl zur
Großmutter, zu dem körperlichen Kontakt, der Nähe. A. schließt die Augen und bleibt
eine Weile so sitzen. Er spricht nun ganz leise, dass da viel Nähe sei, doch es handle
sich nicht um körperliche Nähe, sondern um eine rein emotionale. Er beschreibt, dass er
sich wohl, geborgen und beschützt fühle.
Dann sage ich, dass ihm seine Großmutter ein Geschenk mitgegeben hat, das wohl
Bestand hat in seinem Leben und ihm beim Finden von Lösungen und Fällen von
Entscheidungen hilft. Ich sage, das sei seine innere Falte in der Großmutterschürze.
Nach einiger Zeit soll sich A. von diesem inneren Bild verabschieden und wenn er so
weit ist, auf den Weg zum Fährmann machen. Wenn er auf der anderen Seite des
Flusses angekommen ist und dem Fährmann des Rätsels Lösung gesagt hat, soll er mir
Bescheid geben, denn ab da gingen wir gemeinsam zurück aus der Imagination.
Auf dem Rückweg schildert er mir die Dünenlandschaft, durch die wir uns bewegen. A.
bewegt sich leicht und getragen, seine Stimme ist leise und sanft. Schließlich
übernehme ich die Führung und sage, dass wir wieder in den Bewegungsraum eintreten.
Ich mache auf die Kissen und Decken aufmerksam, die jetzt im Raum liegen. Dann
lenke ich die Aufmerksamkeit wieder auf unsere Füße und wir enden damit, dass wir
zum Stehen kommen und nochmals bewusst den Kontakt zum Boden aufnehmen.
.Anschließend stellen wir fest, dass der Junge im Märchen „das Glückskind“ genannt
wurde und lesen die beiden anderen Rätsel, an die sich A. nicht mehr erinnern konnte.
A. erzählt mir nach der Stunde, dass er sich jetzt manchmal fragt, ob er zu der
Beerdigung seiner Großmutter hätte gehen sollen
49
2.5 „Eine spielerische Beziehung“
L., weiblich, Anfang 50.
Im Dezember 2006 beantwortete L. den Fragebogen wie folgt:
An welches Märchen erinnerst du dich spontan?
Schneewittchen
An welche Szene/Szenen daraus erinnerst du dich?
„Wer hat von meinem Löffelchen gegessen ...?“ Und an das Hausiererweib (die
Stiefmutter)
Hat das Märchen einen Bezug zu deinem Leben?
Zur Vergangenheit und zum Beziehungsbereich
Mit welcher Rolle könntest du dich aktuell identifizieren?
Mit der Stiefmutter – liegt wohl an den Wechseljahren
Welches Märchen ist dein Lieblingsmärchen?
Ich habe ganz viele Märchen gleich lieb!
Tanztherapeutische Stunde
Ende Januar 2007
L. wirkt aufgeregt auf mich, als sie den Bewegungsraum betritt. Sie fragt mich, ob ich
nervös sei. Kurz darauf spricht sie von den Wechselwirkungen zwischen Klient und
Therapeutin.
Wir beginnen die Stunde damit, dass wir uns in die Mitte des Raumes stellen und den
Kontakt zum Boden unter den Füßen wahrnehmen. Die Füße stehen parallel, die Knie
sind leicht gebeugt. Ich biete an, dass wir mit einer Klopfmassage beginnen. L. erzählt
mir – während sie sich abklopft - was sie alles am Vormittag erledigt hat. Sie klopft sich
kräftig ab, abschließend streichen wir Arme und Beine aus. Sie macht das kräftig und
50
schwungvoll, so als wolle sie etwas von sich abstreifen. Sie sagt „jawohl, weg damit“,
während sie die Bewegungen ausführt.
Anschließend fordere ich sie auf, durch den Raum zu gehen und sich beim
Kennenlernen Zeit zu lassen. Sie fasst einige Spielgeräte und Materialien an,
experimentiert damit und stellt Fragen. Schließlich findet sie einen Raben (Handpuppe),
beginnt, damit zu spielen und lacht. Sie nimmt ihn mit, während sie weiterhin den Raum
erforscht. Nach ein paar Minuten sage ich, sie solle nun damit beginnen, beim Gehen
die Aufmerksamkeit mehr und mehr nach innen zu richten. L. schließt die Augen, geht
weiterhin sicheren Schrittes kreuz und quer durch den Raum. Irgendwann wirft sie den
Raben auf die Matratzenecke und geht ohne ihn weiter. Nun begleite ich sie. Ich sage,
dass vor ihrem inneren Auge eine Wiesenlandschaft entstehe und führe sie über die
Imagination in einen Wald und auf eine Lichtung. L. geht sicheren Schrittes. Sie macht
steigende Bewegungen, wenn ich sage, sie müsste über einen Baumstumpf klettern und
Kurven, wenn ich sage, sie solle vom Weg abkommen.
Als sie auf der Lichtung eintrifft, fordere ich sie auf, sich eine eigene Landschaft
vorzustellen, diese zu erforschen und sich darin einen Platz zu suchen, an dem sie sich
wohl fühlt. Sie macht daraufhin verschiedene Bewegungen. Einmal scheint sie sich am
Wasser zu bewegen und etwas aufzunehmen um daran zu riechen, dann schwimmt sie
offenbar durchs Wasser. Sie macht weite, ausladende Schwimmbewegungen. Die
Bewegungen wirken kraftvoll und getragen. Dann scheint sie aus dem Wasser zu
steigen und mit dem Füßen im Sand zu spielen. Ich frage sie an dieser Stelle, ob sie mir
erzählt, wo sie gerade ist. Sie antwortet, sie sei bei einem Sommerhäuschen gewesen
und schließlich im Wasser geschwommen. Auf meine Bitte, sich nochmals dort hin zu
begeben, wo sie sich am wohlsten fühle, sagt sie, das Schwimmen sei am schönsten
gewesen. Sie nimmt wieder die Schwimmbewegungen auf, schließt dabei die Augen.
Ich sage, sie solle sich nun spontan an eine Märchenszene oder an ein Märchen
erinnern. Sie lacht. Dann ruft sie, spontan würde ihr „Der Fischer und seine Frau“
einfallen, sie schüttelt dabei den Kopf und lacht wieder. Sie unterbricht ihre
Schwimmbewegungen nicht, sondern forscht in sich weiter.
Schließlich sagt sie, das sei komisch, doch sie hätte nun ganz deutlich eine Szene von
„Brüderchen und Schwesterchen“ vor sich. (Hier beendet sie ihre Bewegungen.) Und
zwar die Szene, in der das Schwesterchen traurig darüber ist, dass das Brüderchen
verwandelt ist. Das Brüderchen sei zum Reh verzaubert und stumm. Sie sagt, sie könne
sich an das Märchen gar nicht mehr erinnern. Ich sage, dass das nichts macht und
51
wiederhole ihren ersten Satz, nämlich, dass das Schwesterchen traurig darüber sei, dass
das Brüderchen zum Reh verwandelt wurde. L. antwortet, es sei die Szene, wo die
Verzauberung gerade stattgefunden hat und nun beide ungläubig da stehen. Ich frage,
wo sich die beiden denn befinden, als die Verzauberung passiert. Sie sagt, das sei im
Wald. In diesem Bild sei eine große Hilflosigkeit. Der Wald sei zwar freundlich, relativ
hell und licht, doch da sei eine große Einsamkeit, denn die Sprachlosigkeit mache so
einsam. Für das Schwesterchen sei trotz dieser schwierigen Situation doch klar, dass sie
zusammen bleiben müssten. Da wäre auch eine Abhängigkeit, denn das Brüderchen
könne zwar nicht mehr sprechen, doch es würde von der Schwester auf einer anderen
Ebene
verstanden.
Irgendwie
könnten
die
beiden
doch
noch
miteinander
kommunizieren, aber mit dem Rest der Welt könnte das Brüderchen nicht mehr in
Kontakt treten und sei nun gefährdet und hilflos. Das Schwesterchen müsse es jetzt
schützen.
Ich bitte L., sich im Raum einen Platz zu suchen, an dem sie sich die geschilderte
Waldstelle vorstellen könnte. L. bewegt sich auf die Matratzenecke zu. Sie lässt sich
nieder und legt sich eine Wolldecke so zurecht, dass sie sich darauf stützen kann. Dabei
erklärt sie mir, die Wolldecke sei das Reh, sie lehne sich daran, aber eigentlich sei die
Wolldecke zu weich, das Schwesterchen würde nicht so tief liegen. Ich sage, sie könne
gerne noch andere Materialien nehmen, um es so zu gestalten, dass es für sie passt. Sie
versucht es nochmals, indem sie die Decke verändert, doch dann sagt sie, das ginge
nicht wirklich, sie lasse das jetzt so, wie es sei.
Nun sage ich, das sei also die Situation: sie lägen da aneinander geschmiegt nachdem
das Brüderchen jüngst verwandelt wurde. Und das Schwesterchen müsse das
Brüderchen schützen. L. setzt sich mehrmals auf. Ich sage, sie solle sich nochmals in
das Bild und die Szene begeben und hineinspüren, welche Gefühle und Bilder in ihr
hochsteigen. Sie sagt, es erinnere sie sehr stark an ein Bild, das sie aus ihrem
Märchenbuch kenne. Es hätte etwas Tröstliches. Da wäre eine starke Verbundenheit.
Ich frage, ob sie eine ähnliche starke Verbundenheit aus ihrem Leben kenne. Sie
antwortet lange Zeit nicht.
Dann sagt sie, es handle sich um die Verbundenheit zu ihrem Mann, die schon lange
Zeit existiere. Die Beziehung sei oft sehr schwierig gewesen. L meint, es täte ihr leid,
dass ihr keine andere Märchenszene eingefallen sei. Darauf antworte ich, dass ich der
Meinung bin, wir sollten unbedingt in dieser Szene bleiben und frage, was ihre
Verbundenheit mit der Verwandlung des Brüderchens zu tun habe. Sie antwortet
52
zunächst nicht. Darum sage ich, dass sie mir so einige Begriffe genannt habe:
Verwandlung zum Reh, Schutz, Sprachlosigkeit, Verbundenheit. Nun beginnt sie mit
den Begriffen philosophisch zu jonglieren. Wir lachen.
Nach einiger Zeit sage ich, dass ich sie jetzt einfach mal unterbreche. Ich sage, sie solle
sich mal so da hinkuscheln, wie sie sich das Bild vorstelle. Sie beschreibt mir wieder
alles. Wo ihr Kopf auf dem Reh ruht usw. Ich frage, wie sich das anfühle. Sie sagt, es
gäbe immer noch in der Mitte nach. Wir lachen. Sie legt den Arm anders, damit es doch
noch dem gewünschten Bild entspricht. Sie reguliert die Stellung noch mehrmals, dann
scheint es in Ordnung zu sein. Ich sage, sie solle tief ein- und ausatmen und nochmals in
das Bild eintauchen. Ich frage, ob man es so sagen könnte, dass sie sich mit der Rolle
der Schwester identifiziere. Das bejaht sie. Nun bitte ich sie, mir die Beziehung
zwischen Schwester und Reh aus ihrer Sicht zu beschreiben, während sie da liegt. Sie
sagt, sie könne spüren, was der Bruder/das Reh braucht und sie könne ihn ohne Worte
verstehen. Andererseits sei sie aber auch traurig über die Verwandlung.
Im Laufe ihrer Schilderung kommen wir darauf, dass diese Szene sehr viel mit ihrer Ehe
und dem gemeinsamen Schicksal mit ihrem Mann zu tun hat. Dass sie nicht weg könne,
weil da eben diese starke Verbundenheit wäre. Die Sprachlosigkeit und Verwandlung
sei auch ein Teil von ihr. Auf meine Frage, für was denn die Verwandlung steht,
antwortet L., dass die Sprachlosigkeit und Hilflosigkeit zwischen ihnen schon immer da
war, doch in letzter Zeit wurde diese offensichtlich – das sei die Verwandlung. Sie
äußert viele Gedanken hierzu.
Nach einiger Zeit sage ich, es wirke auf mich, als hätten sie es sich bei all den
Schwierigkeiten gut eingerichtet und deute auf ihre Stellung auf der Matratze. Sie
antwortet, das sei einfach Symbol für die starke Verbindung und den gegenseitigen
Schutz. Nach außen wirke es vielleicht „rund“. Nun schildert sie die wirkliche Nähe zu
ihrem Mann und ihr Bedürfnis nach Distanz und nach einer unkonventionellen Art der
Beziehung. Dabei neigt sie dazu, dass sie sich selbst und die Beziehung gerne zensiert
und glaubt, so leben zu müssen, wie es andere erwarten. Sie fühle sich in ihrer
Beziehung zu ihrem Mann von Gott beschützt. Sie meint, das sei wohl kindlich. Ich
antworte, hier werde nicht zensiert und „Brüderchen und Schwesterchen“ sei ja eine
kindliche Ebene, doch sie fühle sich darin auch wohl. Das bejaht sie. Sie sagt, ihr
Wunsch sei, mit und in der Beziehung alles spielerischer zu gestalten. Loszulassen von
den Vorstellungen, wie eine Beziehung zu sein habe, um mehr Leichtigkeit zu
53
bekommen. Ich frage, ob die Art, wie sie da gerade liege, etwas sei, das ihrem Wunsch
von der Beziehung entspricht. L. sagt, das sei ein kleiner Teil.
Ich antworte, sie solle die Position mit dem Brüderchen auf der Matratze so verändern,
wie es ihrem Wunsch von der Beziehung entspräche – ohne zu zensieren. Sie denkt eine
Weile nach, schließlich sagt sie, das ginge nicht. Dazu bräuchte sie ein lebendiges
Gegenüber. Sie fragt mich, ob ich mich zur Verfügung stellen könnte. Wir stellen uns
gegenüber und sie beginnt, an mir zu zupfen. Sie spricht kein Wort, lächelt auffordernd
und schupst mich leicht. Dann geht sie um mich herum und zieht mich am Arm. Es
entsteht eine Bewegungssequenz zwischen uns, in der hauptsächlich L. die Initiative
ergreift und ich bemüht bin, darauf einzugehen. Auf Initiative von mir reagiert sie
abwehrend, indem sie z.B. meine Hand wegschupst. Nach einiger Zeit nimmt sie eine
der lebensgroßen Stoffbabypuppen und trägt sie umher. Sie überreicht sie mir. Wir
werfen uns die Puppe ein paar Mal zu und lachen dabei. Ich wiege die Puppe schließlich
hin und her und lege sie auf die Matratze, decke sie zu, fordere L. zum Tanz auf. Sie
dreht sich weg, liest etwas an der Eingangstüre und kommt lachend mit den Worten
zurück: „Guten Tag und auf Wiedersehen“ (steht in verschiedenen Sprachen auf dem
Plakat an der Türe). Schwer atmend lässt sie sich auf die Matratze nieder und sagt, das
sei der Wunsch, etwas miteinander zu tun, aber Spaß dabei haben zu wollen. Dabei
ginge es ihr darum, nicht alles so ernst zu nehmen. Sie wolle abwägen zwischen etwas
gemeinsam zu machen, dabei die eigenen Kinder nicht aus den Augen zu verlieren, aber
nicht zusammenzuhängen. Sie wolle eigene Wege gehen können, ohne dabei vorsichtig
sein zu müssen. Viel Spielerisches wünsche sie sich. Davon gäbe es etwas in der
Beziehung, aber zu selten. Wenn sie „direkt“ werde, vertrage ihr Mann das nicht
besonders gut. Wenn sie gut „drauf“ sei, würde sie schnell „direkt“ und habe das
Gefühl, dann müsse sie einen Teil ihrer Persönlichkeit verstecken.
Ich schlage L. noch Möglichkeiten vor, ihre spielerische Seite zu explorieren, doch sie
sagt, die Bewegungssequenz mit mir sei genug gewesen.
Daraufhin führe ich sie aus der Imagination heraus. Gegen Ende der Rückreise lege ich
eine verspielte Musik auf, zu der wir beide ganz am Schluss gemeinsam tanzen und uns
ausschütteln um wieder im Hier und Jetzt zu landen.
Nach der Stunde entdeckt sie mein uraltes Märchenbuch. Sie sagt, genauso habe auch
ihr Märchenbuch ausgesehen. Sie sucht nach „Brüderchen und Schwesterchen“ und
findet die Abbildung, an die sie sich erinnert hatte und zeigt mir diese. Das Reh und das
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Mädchen auf dem Bild sehen tatsächlich so aus, wie L. den Platz eingerichtet und
beschrieben hatte.
55
Teil C - Auswertung
1. Reflexion
1.1 Das Warm-Up
Das Warm-Up half bei sämtlichen Stunden, sich aufeinander einzustellen und ein
Bewusstsein für das momentane Körpergefühl zu bekommen. Es schuf die Möglichkeit,
sich deutlich vom Alltag abzusetzen und sich auf die tanztherapeutische Stunde
einzulassen.
Auch für Small-Talk war während dieser Sequenz Zeit. Diese kurzen Gespräche gaben
mir Aufschluss darüber, in welcher Stimmung die Klientin/der Klient zu mir kam.
Darauf konnte ich mich einstimmen und mein weiteres Vorgehen darauf ausrichten.
Auch durch das Spiegeln der Bewegungen konnte ich mich in die Stimmung meines
Gegenübers einfühlen.
1.2 Die aktive bewegte Imagination
Die Hinführung zu den eigenen inneren Bildern nahm viel Zeit in Anspruch. Das war
von mir beabsichtigt, denn je weiter ich die Klientin/den Klienten in die von mir
geschilderte Landschaft führte, desto mehr entfernten sich die Betreffenden von allem
Rationalen, indem sie die Bilder sofort in Bewegung umsetzten. Auf diese Weise bot
sich mir Zeit, die Bewegungen zu spiegeln, hineinzuspüren und Bewegungsqualitäten
zu beobachten um evtl. Rückschlüsse auf die Betreffenden in diesem Augenblick zu
ziehen. Die Körpersprache empfand ich in jeder einzelnen Stunde als äußerst
aussagekräftig. Die Aufforderung, vor dem inneren Auge eine eigene Landschaft
entstehen zu lassen, schien keine Probleme zu verursachen. Die Antworten und
Bewegungen kamen ohne Zögern. Mir kam es manchmal so vor, als würde eine
kindliche Seite in den Betreffenden wach, die sofort bereit ist, mit dem Angebot zu
spielen. Die eigenen Landschaften wurden mir so bildhaft geschildert, dass ich den
Eindruck hatte, es handle sich hier um Landschaften, die schon lange in den
Betreffenden schlummerten.
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1.3 Die Märchensymbole
Für manche kam die Frage nach der Märchenerinnerung überraschend. Eine Klientin
sagte anschließend, sie sei so intensiv mit ihrer inneren Landschaft beschäftigt gewesen,
dass sie völlig vergessen hatte, dass es in dieser Stunde um Märchensymbolik ging.
Dennoch kamen die Symbole spontan in Erinnerung. Mir fiel auf, dass meistens ein
Märchen oder eine Märchenszene genannt wurde, welche anschließend wieder
verworfen wurde. Manchmal wurde zum eigentlichen Symbol, also zu dem Symbol,
welches letztendlich gedeutet wurde, auf Umwegen gefunden. War ein Symbol
gefunden, welches die Klientin/der Klient genauer betrachtete, war eine gewisse
Faszination zu erkennen. Am ehesten ist dieser Moment zu vergleichen mit der
Faszination ein Bild zu betrachten, das jemand selbst gemalt hat und der sich nun über
all das wundert, was er selbst darin erkennt.
Die Verkörperung der Märchensymbole beschränkte sich hin und wieder auf eine
einmal eingenommene Position, die Aufschluss durch die unbewussten Bewegungen
und Äußerungen der Betreffenden bot. Das Verharren in einer bestimmten Position
wirkte auf mich wie der Hinweis: hier will ich sein, hier bleibe ich.
Hatte ich den Eindruck, die Position ist für den Betreffenden nicht länger stimmig,
forderte ich dazu auf, in den Körper hineinzuspüren und sich der Ursachen eines
bestimmten Gefühls bewusst zu werden. Hier war dann der Vorschlag für eine
Veränderung hilfreich. Das ging auch mit dem Wunsch des Betreffenden nach einer
Veränderung im tatsächlichen Leben konform.
Mir war stets wichtig, ressourcenorientiert vorzugehen und das Augenmerk auf die
positiven Erlebnisse (Bilder) zu lenken, die die Betreffenden in sich tragen, denn diese
hatten sich wohl bislang bewährt und werden vermutlich auch in Zukunft hilfreich sein.
Bei der Stunde „In Großmutters Schürze“ fielen mir besonders die Bewegungen des
Klienten im saugenden Rhythmus auf, die mich dazu veranlassten, auf das Thema
Geborgenheit weiter einzugehen. Unter der Decke konnte er dieses Gefühl, das ihm die
leibliche Großmutter vermittelt hatte, in Erinnerung rufen und es nochmals genießen.
Auch der „Oasenbauerin“ wollte ich ein paar Augenblicke der Ruhe und Zeit
zukommen lassen, da ich vermutete, dass sie sich in Zukunft – in Hinblick auf die
Geburt ihres Kindes – gerne daran zurückerinnern und von der Fähigkeit, sich kleine
Oasen des Alltages zu schaffen, sicher profitieren wird.
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Bei der von mir gewählten Form der Symbolarbeit fiel mir auf, dass die Betreffenden
sich stets mit einer Figur identifizierten. Landschaftsbilder oder Gegenstände spielten
Nebenrollen, wurden aber auch als wichtiger Teil wahrgenommen, z.B. in dem Märchen
„Der störrische Bruder“, bei dem das Seil eine wichtige Rolle spielte als Symbol für die
Verantwortung, die so schwer auf der Klientin lastete und die sie gerne ablegen wollte.
Wie unterschiedlich die Symbolik der Märchen ausgelegt werden kann, sieht man
deutlich an den völlig verschiedenen Empfindungen des Märchens „Brüderchen und
Schwesterchen“. Was für die eine Klientin eine unerträgliche Belastung bedeutete, war
für die andere eine starke Verbindung, die unter dem besonderen Schutz von Gott stand.
Zwar wollte auch sie die Beziehung etwas verändern, aber aus einer völlig anderen
Intention heraus und mit anderen Konsequenzen.
1.4 Das Reflexionsgespräch
Eine Reflexion über das Erlebte fand bereits innerhalb der jeweiligen Stunde statt.
Manchmal kam es auch nach dem Rückweg zu einem kurzen Gespräch. Ein wichtiger
Hinweise kam erst nach der Stunde, und zwar bei „In der Schürze der Großmutter“: der
Klient informierte mich anschließend (während ich meine CD’s sortierte) über seine
Gedanken zur Beerdigung, an der er nicht teilgenommen hatte. Vielleicht war das ein
Hinweis auf ein Schuldgefühl oder eine Traurigkeit, die dem Klienten erst jetzt bewusst
wurde? Und warum teilte er mir das „nebenbei“ am Ende der Stunde mit?
Bei der Stunde „Eine spielerische Beziehung“ hätte ich der Klientin gerne anschließend
oder in einer weiteren Stunde Feedback darüber gegeben, wie ich mich in der Rolle
ihres Ehemannes gefühlt hatte.
In einer Folgestunde würde ich vieles, was ich erleben und beobachten durfte,
aufgreifen um darüber zu sprechen und weiter daran zu arbeiten.
Körpersensationen könnten bewusst gemacht, Bewegungen genauer betrachtet und
analysiert werden. Manche Sequenzen könnte man nochmals aufgreifen, vertiefen,
beobachten, ob und was sich verändert.
58
1.5 Der Rückweg
Der zeitaufwändige Abschied aus der Symbolik und der bewusste Rückweg aus der
Imagination ist besonders wichtig, um einen deutlichen Schlusspunkt zu setzen. Auch
hierbei waren die Bewegungsqualitäten aussagekräftig. (Aus den Beobachtungen könnte
man für anschließende Therapiestunden viele Hinweise schöpfen.)
Bei manchen erlebte ich eine gewisse Gelöstheit, bei anderen große Konzentration.
Vielleicht beschäftigten sie sich während der Rückführung noch mit den inneren
Bildern. Eine Klientin brauchte Körperkontakt bei dem Weg durch den Wald, weil sie
offensichtlich Angst bekam. Es gab auch Tränen. Während dieser Phase wurde mir
bewusst, dass die Arbeit mit der Verkörperung von Märchensymbolen über die
Imagination zwar der Selbsterfahrung dienlich ist, doch nicht im psychiatrischen
Bereich der Psychosen eingesetzt werden darf. Ich befürchte, dass sich so manch ein
Patient im wahrsten Sinne des Wortes „im Walde verirren könnte“.
Der
gemeinsame
Abschluss
stärkt
die
Beziehung
von
Klient/Klientin
und
Tanztherapeutin. Man ist gemeinsam einen langen Weg gegangen, hat eine Reise
unternommen, die einen würdigen Abschluss finden sollte.
2. Resümee
Die theoretischen Grundlagen und die Einzelfallstudien bieten Diskussionsstoff über die
Frage, ob Märchensymbolik in der Tanztherapie verkörpert werden kann.
2.1 Eigene Märchenbilder
Die Theorie, dass Märchensymbole jeweils persönlich zu interpretieren sind und für den
Klienten/die Klientin individuelle Erlebnisse widerspiegeln, hat sich durch die
Einzelfallstudien bewiesen. Sämtliche Teilnehmer fanden zu eigenen inneren
Märchenbildern, die sie relativ schnell mit Alltagserfahrungen in Verbindung setzten.
Selbst Klienten mit wenig Selbsterfahrung ließen sich auf das Thema ein und hatten ein
Lieblingsmärchen, bzw. eine Lieblingsszene parat.
Offensichtlich traten bei den Betreffenden spontan unbewusste Bilder ins Bewusstsein,
die sich in vier von fünf Fällen vom genannten Märchen des Fragebogens
59
unterschieden. Ich führe das darauf zurück, dass der Rahmen der Therapiestunde
aktuelle Themen wach rief und durch die von mir gewählte Methode Möglichkeit zur
Vertiefung bot. Hier kann man wohl Parallelen zu Träumen ziehen, die ebenfalls im
Kontext zu momentanen Prozessen stehen können und in der Nacht unvermutet
auftauchen.
2.2 Aktive bewegte Imagination
Durch die Methode der aktiven bewegten Imagination, bei der die Betreffenden eine
Fantasiereise mit mir unternahmen, tauchten sie in die Welt des Unbewussten ein und
entdeckten ihre eigene Märchensymbolik.
2.3 Bewegungsanalyse und Gespräch
Die tanztherapeutischen Bewegungsanalyseverfahren machten es mir möglich, auf
Bewegungen zu achten, sie zu spiegeln und zu analysieren, sodass ich auf mein
Gegenüber individuell reagieren konnte. Die Klienten/Klientinnen reagierten unbewusst
und lieferten durch ihre Körpersprache wichtige Informationen.
Das Gespräch während der Explorationsphase war von besonderer Wichtigkeit. Die
Klienten hatten meistens ein großes Bedürfnis mit mir darüber zu kommunizieren, was
sie gerade bewegte. Wie bereits in der Reflexion geschildert, wurden mir Stimmungen
und Orte sehr detailliert geschildert.
2.4 Innere Ressourcen
Das Einnehmen einer besonderen Körperhaltung lieferte mir ein Bild über den
Betreffenden und war auch für die Klienten/Klientinnen selbst ein Erlebnis, das er/sie
mit Empfindungen füllte, die er/sie mir mitteilen wollte. Teils verstärkte ich diese
Körperhaltung, teils führte ich aus dieser heraus. Meine Intention war stets, etwas
Positives zu vermitteln, um den Klienten/die Klientin hoffnungsfroh aus der Stunde
entlassen zu können. Ich wollte den Betreffenden ihre Ressourcen bewusst machen und
dies über die inneren Bilder verstärken.
Grundsätzlich ließen sich die Betreffenden darauf ein, machten aber auch darauf
aufmerksam, wenn sie mit einem Vorschlag meinerseits nicht einverstanden waren.
60
Daraus schloss ich, dass ein gewisses Vertrauen zwischen Klient/Klientin und mir
bestand.
Einem Klienten ging nach der Stunde so viel durch den Kopf, dass er eine Folgestunde
vereinbaren wollte. Er hatte etwas entdeckt, das er unbedingt weiterhin verfolgen
wollte. Für mich war das der Beweis, dass diese tanztherapeutische Arbeit vieles in
Bewegung setzt und unbedingt fortgesetzt werden sollte.
2.5 Verkörperung
Die Verkörperung der Märchensymbolik fand zu jeder Zeit statt. Alleine die Art und
Weise, wie der Raum eingenommen wurde, welche Orte und Materialen aufgesucht und
eingesetzt wurden usw. forderte den Einsatz des gesamten Körpers heraus.
Veränderungen der Position, des Atemrhythmusses, selbst kleine Bewegungen machten
deutlich, dass die Betreffenden mit Leib und Seele dabei waren.
Die Bewusstmachung durch die Verkörperung war einer Klientin ein besonderer
Wunsch, nämlich in ihrem Anliegen, das Seil („Der störrische Bruder“) tatsächlich
körperlich wahrnehmen und ablegen zu können. Der symbolische Akt über den Körper
wird als besonders intensiv erlebt.
2.6 Fortsetzung folgt
Grundsätzlich wuchs auch in mir der Wunsch, mit den Betreffenden eine Folgestunde
zu vereinbaren, denn ich hatte nach jeder Stunde den Eindruck, dass hier ein sehr
intensiver Einstieg stattgefunden hat, der danach verlangt, fortgesetzt zu werden.
Die Klienten/Klientinnen lieferten so viel Informationen, dass ich nach meiner Studie
geneigt bin zu sagen, dass diese Art der tanztherapeutischen Arbeit ein guter Einstieg in
eine intensivere Phase bietet. Durch die Bewegungsanalysen, das Eintauchen in die
inneren Bilder, die Offenheit und das Sensibel-Werden für die eigenen inneren
Prozesse, ist ein guter Weg geebnet, um weiter einzutauchen und noch viel mehr
Schätze
zu
bergen.
Durch
die
gemeinsame
Reise
entsteht
zudem
ein
Vertrauensverhältnis, das unbedingt fortgesetzt und genutzt werden sollte.
2.7 Das Klientel
61
Wie
ich
bereits
bei
meiner
Reflexion
erwähnte,
sollte
diese
Form
der
tanztherapeutischen Arbeit auf keinen Fall mit Menschen mit psychotischen
Symptomen ausgeübt werden. Das Eintauchen in eine Fantasiewelt und in die
Märchensymbolik könnte so manch einen verwirrt, wenn nicht sogar verloren
zurücklassen.
Das Klientel sollte Interesse an Selbsterfahrung haben und bereit sein, fern jeder
Rationalität in unbewusste Bilder einzutauchen. Dennoch sollte die Tanztherapeutin
darauf achten, dass ein bewusster Ausstieg aus der Imagination gewährleistet ist und
dies durch den Rückweg und/oder ein Reflexionsgespräch initiieren.
Eventuell sollte nach Ende des Rückweges noch eine kurze Körperarbeit stattfinden, um
den bewussten Wiedereintritt in den Alltag zu verstärken.
2.8 Aktuelle Bedürfnisse und Themen
Der Fragebogen diente grundsätzlich dem Erforschen des Interesses vieler Menschen an
Märchen und der Frage, welche Gattung der Märchen spontan genannt werden. Wie
bereits geschildert, sind die Grimmschen Märchen den Betreffenden besonders in
Erinnerung geblieben.
Dennoch zeichnete sich schnell ab, dass die im Fragebogen spontan genannten Märchen
und die Lieblingsmärchen mit einer Ausnahme nicht zum Thema während der Stunde
wurden.
Das lässt darauf schließen, dass die Klientinnen/Klienten in der jeweiligen Situation ein
anderes Bild in sich auftauchen sahen, das tatsächlich mit aktuellen Bedürfnissen,
Themen, Problemen zu tun hatte. Wie bei Träumen scheinen auch hier plötzlich
Erinnerungen in Form von Bildern aufzutauchen, die den Betreffenden Hinweise geben
über etwas, das sie aktuell beschäftigt. Durch das Verkörpern dieser Bilder wurde der
Bezug zur Realität nach und nach deutlich.
2.9 Und in Zukunft?
Die Teilnehmer und Teilnehmerinnen meiner Einzelfallstudie gehörten einer Generation
an, die noch über das Wissen von Märchen verfügen.
Die jüngere Generation hat teilweise den Bezug zu Märchen verloren. Den Kindern
werden vermehrt moderne Märchen vorgelesen, die Grimmschen Märchen verlieren
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mehr und mehr an Bedeutung. Fantasyromane, Sciencefiction und Horror tritt an Stelle
unserer Volksmärchen. Über den Sinn und Unsinn dieser Literatur lässt sich streiten.
Hier kommen zwar ebenfalls Märchenfiguren zum Einsatz, doch die traumähnlichen
Sequenzen gehen verloren. C. G. Jung wäre über den Verlust des kollektiven
Unbewussten durch das Verschwinden der Märchen sicher bestürzt. Ein Volksgut geht
verloren und somit auch der Bezug zu unseren Wurzeln.
Das hat natürlich auch Konsequenzen auf die tanztherapeutische Arbeit mit der
Märchensymbolik. Eventuell (doch das habe ich nicht erforscht) ist sie bald nur noch
auf die ältere Generation anzuwenden. Aber diese wird vielleicht mit besonders viel
Freude daran teilnehmen, weil es sie schlichtweg mit ihrer Kindheit verbindet.
3. Schlussbemerkung
Die Verkörperung von Märchensymbolen durch die Systemische Tanztherapie gilt für
mich als praktikabel.
Die Klienten/Klientinnen bestätigten die Theorie, dass Märchensymbole individuell zu
deuten sind, dabei eine innere Ebene ansprechen, körperlich umgesetzt und somit
exploriert werden können. Die Märchensymbole haben Bezug zum Leben des
Betreffenden und spiegeln deutlich innere Bilder.
Die Systemische Tanztherapie ist ein wunderbares Instrument, um sich den
individuellen Themen der Betreffenden anzunähern und in einen intensiven
gemeinsamen Prozess einzusteigen. Die ressourcenorientierte Sichtweise bietet dem
Klientel Unterstützung zur Selbsterfahrung und gibt hoffnungsfrohen Ausblick in die
Zukunft, bzw. hilft bei der Bewusstmachung der „inneren Schätze“, die den einzelnen
im Leben (oft unbewusst) begleiten und ihm helfen.
Die Rolle der Tanztherapeutin ist die der begleitenden, bezeugenden, dabei
gleichgestellten Wegbereiterin, indem sie den Rahmen für ein vertrauensvolles Setting
schafft. Die Symbole werden von ihr nur so weit gedeutet, dass der Klient/die Klientin
die Möglichkeit hat, selbst zu assoziieren und zu experimentieren.
Die Verkörperung der Symbole macht Körpersensationen bewusst, welche wiederum
besprochen und bearbeitet werden können. Der direkte Zusammenhang zwischen
Körpersprache und augenblicklicher psychischer Verfassung wird erlebbar. Hierbei ist
die Bewegungsanalyse für die Tanztherapeutin das Mittel der Wahl, um diese
differenziert beobachten und auswerten zu können.
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Das Spiegeln von Bewegungen ermöglicht, dass die Tanztherapeutin die Stimmung der
Klientin/des Klienten erfasst. Zeitgleich unterstreicht das Spiegeln die Beziehung
zwischen beiden. Die gemeinsam unternommene Reise zu den inneren Bildern ist
ebenfalls beziehungsfördernd und dient einem zukünftigen Therapieprozess.
Die Tanztherapeutin stellt sich zur Verfügung, damit die Klientin/der Klient ein
Gegenüber hat, mit dem sie/er ggf. in körperliche Interaktion treten kann. Dieser
Beziehungsprozess macht deutlich, wie die Betreffenden im Alltag agieren und wie
diese Aktionen von der Tanztherapeutin und dem Betreffenden empfunden werden.
Somit kann der Klient/die Klientin Feedback über sich und seine Wirkung erhalten, um
ggf. Änderungen vorzunehmen oder zumindest über sein Wirken zu reflektieren.
Ebenso kann er mit Ideen experimentieren, die im Laufe der Stunde entstehen.
Die Verkörperung von Märchensymbolen in der Systemischen Tanztherapie macht
darüber hinaus sowohl den Klienten, als auch der Tanztherapeutin sehr viel Spaß.
Zumindest bekam ich von allen Betreffenden ein solches Feedback und kann für mich
selbst sprechen. Die Einzelfallstudien erschienen mir wie das Öffnen eines
Schatzkästchens, bei dem jede Menge Überraschungen in Form interessanter Bilder
zum Vorschein kamen.
An dieser Stelle danke ich dem einsamen, empörten Pagen, dem Jungen in der Schürze
der Großmutter, der Oasenbauerin, der Frau mit der spielerischen Beziehung und der
Schwester vom störrischen Bruder!
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