Verkörperung von Märchensymbolen in der
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Verkörperung von Märchensymbolen in der
Diplomarbeit im Rahmen der Ausbildung zur Tanztherapeutin am Zentrum für Tanz & Therapie München Verkörperung von Märchensymbolen in der Systemischen Tanztherapie Lynn A. (Friese-) Baginski März 2007 Verkörperung von Märchensymbolen in der Systemischen Tanztherapie Zusammenfassung Diese Studie befasst sich mit der Frage, ob durch die Verkörperung von Märchen und deren Symbolgehalt ein Weg zu „inneren Bildern“ gefunden und diese exploriert werden können. Mit „inneren Bildern“ sind individuelle Symbole gemeint, die der Mensch als unbewusste Motive aufgrund unterschiedlicher Lebenserfahrungen schafft. Der erste, theoretische Teil befasst sich mit Definitionen zu den Begriffen rund um das Märchen und mit der kulturhistorischen Entwicklung, hauptsächlich in Bezug auf die Märchensammlungen der Gebrüder Grimm. Darüber hinaus findet sich in diesem Teil die Auseinandersetzung der Psychoanalyse mit dem Thema Märchen und wie die Tanztherapie z. B. mit der Methode der aktiven Imagination Symbolarbeit anwendet. Im praktischen Teil wird anhand von fünf Einzelfallstudien überprüft, ob die Verkörperung von Märchensymbolik über die aktive bewegte Imagination im Rahmen der Tanztherapie anwendbar ist. Im letzten Kapitel werden die Erfahrungen der Einzelfallstudien ausgewertet. Abstract This study discusses the question, if it is practicable to find a way to „inner pictures“ and to explore them by embodiment of fairy-tails. “Inner pictures” means individual symbols created by a person as an unconscious motive caused by different experiences of life. The first, theoretical part concerns with definitions of notions of fairy-tails and with the cultural development mainly in relation to the collection of fairy-tails by the Brothers Grimm. In addition you will find in this part an argument of psychoanalysis with the theme fairy-tail and how dancetherapy uses for example the method of the active imagination working with symbols. The practical part will check by means of five single studies if the theory of application over the active moving imagination is applicable. In the last chapter the experiences of the single studies will be evaluated. Vorwort Bei der vorliegenden Diplomarbeit arbeitete ich mit fünf KlientInnen, denen ich herzlich danke für ihr Vertrauen und ihre Bereitschaft, sich gemeinsam mit mir auf die Reise in ihre eigene Märchenwelt zu begeben. Besonderer Dank gilt meiner Frau Holle, Giulietta Tibone, die mir zur rechten Zeit meine Spindel zurück gab und der ich diese Arbeit widme. Außerdem danke ich einer sehr mutigen Frau, die als 12. Fee einen niemals enden wollenden Schlaf auf 100 Jahre verkürzte. And last not least danke ich Albert Schwarzer, weil er kein Wolf ist – auch keiner im Schafspelz – und der mir eine große Unterstützung bei diesem Werk war! Inhaltsverzeichnis Einleitende Gedanken zur Entstehung der Diplomarbeit 4 Teil A – Theoretischer Überblick 7 1. Definition von Märchen 7 2. Definition von Mythos 7 3. Definition von Symbol 8 4. Märchen – kulturhistorisch 10 4.1 Die „ersten“ Märchen 10 4.2 Zeit der Aufklärung 11 4.3 Zeit der Klassik 11 5. Die Märchensammlungen der Gebrüder Grimm 12 5.1 Das Leben der Gebrüder Grimm 12 5.2 Beginn der Sammlungen 12 5.3 Zensur 12 5.4 Die Grimmschen Märchen während der NS-Zeit 13 5.5 Kritik am Märchen nach dem 2. Weltkrieg 14 5.6 Märchen in den 1970-ern 14 5.7 Weltdokumenterbe 15 6. Märchen aus heutiger wissenschaftlicher Sicht 15 6.1 Wissenschaftsbereiche 15 6.2 Diskussion um Nutzen und Sinn der Märchen 15 7. Märchen aus psychoanalytischer Sicht 16 1 7.1 Die Archetypen nach C. G. Jung 16 7.2 Anwendung der Archetypenlehre auf Märchen 18 7.3 Beispiele aus psychotherapeutischer Praxis 19 8. Zugang zu „inneren Bildern“ durch die Tanztherapie 20 9. Der Begriff „Symbol“ in der Tanztherapie 21 9.1 Körper und Symbol 21 9.2 Symbolische Tänze 21 9.3 Symbolik im Sinne von M. Chace 22 9.4 Verkörperung von Symbolen 22 Teil B – Umsetzung in die Praxis 24 1. Gedanken zur Entwicklung der Einzellfallstudien 24 1.1 Das Setting 24 1.2 Drei Leitfragen 25 1.3 Die Rolle der Tanztherapeutin 25 1.4 Methode 26 1.5 Erklärung zum Fragebogen 27 1.6 Die Märchentitel 28 2. Fünf Einzelfallstudien 29 2.1 „Der einsame, empörte Page“ 29 2.2 „Der störrische Bruder“ 35 2.3 „Die Oasenbauerin“ 40 2.4 „In Großmutters Schürze“ 45 2.5 „Eine spielerische Beziehung“ 50 2 Teil C – Auswertung 55 1. Reflexion 55 1.1 Das Warm-up 55 1.2. Die bewegte Imagination 55 1.3. Die Märchensymbole 56 1.4. Das Reflexionsgespräch 57 1.5. Der Rückweg 58 2. Resümee 58 2.1 Eigene Märchenbilder 58 2.2 Aktive bewegte Imagination 59 2.3 Bewegungsanalyse und Gespräch 59 2.4 Innere Ressourcen 59 2.5 Verkörperung 60 2.6 Fortsetzung folgt 60 2.7 Das Klientel 60 2.8 Aktuelle Bedürfnisse und Themen 61 2.9 Und in Zukunft? 61 3. Schlussbemerkung 62 Literaturverzeichnis 64 3 Einleitende Gedanken zur Entstehung der Diplomarbeit „Alles Poetische muss märchenhaft sein. Im Märchen glaube ich am besten meine Gemütsstimmung ausdrücken zu können. Alles ist ein Märchen.“ Novalis (Lüthi, 1981, S. 5) „Das Märchen spricht zu uns in Symbolen, in Bildern, die in ganze Prozesse eingebunden sind. Insofern haben Märchen eine Nähe zum Traum, zu den unbewussten Prozessen ganz allgemein, aber auch zu den Mythen.“ (Kast, V., 2002, S. 9) Diese Aussage war für mich Inspiration genug, mich mit der Frage zu beschäftigen, ob Märchen und deren Symbolgehalt nicht nur „auf der Couch“, sondern auch am eigenen Leib erlebbar – nämlich in der Tanztherapie – einem Menschen zu tieferem Einblick in sein Seelenleben verhelfen können. Ausgehend davon, dass Märchen wie Träume in unbewussten Bildern zu uns sprechen, welche sich anschauen, analysieren und verarbeiten lassen, stellt sich die Frage, ob es möglich ist, durch verschiedene Methoden der Tanztherapie die einzelnen Sequenzen be-greifbar zu machen. Märchen gibt es vermutlich, seitdem es Menschen gibt (siehe Kapitel 4.1). Schon zu Urzeiten erklärten sich Menschen Naturereignisse und Begebenheiten aller Arten anhand von Mythen. Sie schufen sich Abbilder der Planeten als Gottheiten und ein Naturschauspiel wurde zu einer Göttersage. Diese Mythen wurden mündlich überliefert. Es gibt sie in allen Kulturen und zu allen Zeiten. Märchen, die nur einer Kultur angehören, findet man selten. Es gibt existenzielle Vorgänge, die so einfach sind, dass sie universell wiederkehren, z.B. der Auf- und Untergang der Sonne, der mythisch aufbereitet in einem indischen Märchen als die Abendröte, die von der Nacht verschlungen wird, Parallelen zu unserem Märchen „Rotkäppchen“ aufweist. Es scheint also ein Kollektiv in allen Völkern zu geben, wenn es darum geht Erfahrung aufzubereiten. Für C. G. Jung waren die im „kollektiven Unbewussten“ angesiedelten Urbilder menschliche Vorstellungsmuster. Er nannte sie „Archetypen“ (siehe Kapitel 7.1). Die Märchen veränderten sich regional im Laufe der Jahrhunderte. Da sie mündlich überliefert wurden, kann man davon ausgehen, dass sie vom jeweiligen Erzähler entsprechend umgewandelt wurden. Es gibt französische Fassungen, die sich inhaltlich ganz anders darstellen, als die uns bekannten Versionen. Die Gebrüder Grimm machten 4 die Volksmärchen unvergesslich, wenngleich auch sie die ursprünglichen Fassungen zensierten und nicht die ersten waren, die sich die Mühe machten, die Märchen schriftlich festzuhalten (siehe Kapitel 5.2). Es gab quasi keine Zeit ohne Märchen. In irgendeiner Form setzte sich jede Generation mit ihnen auseinander. Sei es, indem sie verunglimpft und kritisiert oder indem sie bearbeitet und zensiert wurden. Märchen schienen gleichzeitig zu faszinieren und zu ängstigen. Was macht Märchen sowohl für Kinder, als auch für Erwachsene so fesselnd? Heute werden Märcheninhalte in der Werbung eingesetzt. Fast kein Kinderfilm kommt ohne Märchenzitat aus. Es muss etwas in den Märchen sein, das jeden Menschen auf irgendeiner Ebene anspricht. Der Pädagoge und Psychologe Bruno Bettelheim schreibt in seinem Buch „Kinder brauchen Märchen“ (2006), dass die Märchen im Laufe der Jahrhunderte, wenn nicht gar Jahrtausende, in denen sie immer wieder neu erzählt und schließlich immer stärker durchgeformt wurden, allmählich einen offenen und einen versteckten Sinn annahmen. In ihrer jetzigen Gestalt sprechen sie alle Ebenen der menschlichen Persönlichkeit gleichzeitig an. Märchen sind also in vielerlei Hinsicht bedeutsam: Sie bieten uraltes Wissen, sie zeigen innermenschliche Dimensionen auf, sie dienen der Verarbeitung von Erlebnissen, sie bieten die Möglichkeit der Angst- und Aggressionsbewältigung und sie bieten Hoffnung, denn die Hauptperson muss Widrigkeiten überwinden, um am Ende zu siegen. Mit dieser hoffnungsfrohen Wendung endet beinahe jedes Märchen. Gerade in der Therapie gibt ein solcher Ausblick dem Klienten/der Klientin Hoffnung auf die Klärung eines Problems. Märchenbilder sind Verschlüsselungen. Was sie für jeden Einzelnen bedeuten, bleibt so lange ein Geheimnis, bis sie exploriert werden. Diesem Geheimnis kann sich sensibel angenähert werden. Ein Lieblingsmärchen kann ein Hinweis auf verschiedene Dinge sein: Es besteht die Möglichkeit, dass damit eine besondere Lebensphase erinnert wird oder ein lang gehegter Wunsch, eine Angst oder eine Parallele zu etwas Erlebtem. Eine Sequenz, die vom Klienten/einer Klientin unbewusst verändert oder gar vergessen wurde, kann ein Hinweis auf eine Verdrängung, Verharmlosung oder einen Wunsch sein. Als Hinführung zur Verkörperung der Märchensymbole nutze ich die Methode der Aktiven Imagination, die bereits Mary Whitehouse in der Tanztherapie anwandte, um die Klienten zum Explorieren bestimmter Lebensthemen zu bewegen. (Willke, E., 1999) Ich möchte diese Methode aktive bewegte Imagination nennen, da sie sich 5 grundlegend von C. G. Jungs Verfahren des rein abstrakten Assoziierens auf der sprachlichen Ebene unterscheidet. Zu Beginn meiner Auseinandersetzung mit diesem Thema ließ ich von Erwachsenen Fragebögen ausfüllen, in denen sie unter anderem ihre Lieblingsmärchen nennen sollten. Dabei stellte sich heraus, dass 90% der Befragten ein Grimmsches Märchen nannten. Auch unter der Frage, welches Märchen sie spontan erinnern, kamen zu etwa 90% Grimmsche Fassungen zur Antwort. Dies war für mich Entscheidungshilfe, mich bei meinen Einzelfallstudien auf die Märchen der Gebrüder Grimm zu beschränken und keine Kunstmärchen einzubeziehen. „In Bewegung umgesetzt , wecken Symbole des Märchens Bilder der Heilung; denn der tänzerische Nachvollzug dieser Symbole spricht uns auf seelischer wie auf körperlicher Ebene an.“ (Hahn, 2004, S. 16) 6 Teil A – Theoretischer Überblick 1. Definition von Märchen • „(mittelhochdeutsch maere, „Kunde, Erzählung“) eine kurze, mündlich oder schriftlich verbreitete Prosaerzählung, die von fantastischen Zuständen und Vorgängen berichtet. (...) Märchenhafte Motive und Erzählformen finden sich zu allen Zeiten und in allen Regionen der Welt. Vorformen existieren etwa im Gilgamesch-Epos, in der indischen Fabelsammlung Pancatantra (vor 500 n. Chr.) oder in der christlich-mittelalterlichen Gesta Romanorum.“ (...) „Märchen waren ursprünglich für Erwachsene gedacht, erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts wurden sie wegen ihrer vermeintlichen Irrationalität der Kinderliteratur zugeordnet. Die Bezeichnung Volksmärchen spiegelt die in der Romantik geprägte Annahme wieder, es handele sich hierbei um „im einfachen Volk“ entstandene und nur mündlich weitergegebene Texte.“ (http://wissen.de, Nov. 2005) • „Man unterscheidet gewöhnlich zwischen Volksmärchen (mit anonymer Herkunft) und Kunstmärchen, die in der Regel Werke einzelner Autoren sind (z.B. von H. Chr. Andersen, L. Bechstein, W. Hauff, u.a.). Jede Nationalliteratur hat ihre Volksmärchen und ihre Kunstmärchen.“ (Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur, zweiter Band I-O, 1977, S. 422) Meine persönliche Definition von Märchen: Es handelt sich um heute schriftlich niedergelegte, ursprünglich mündlich überlieferte Erzählungen. In ihren Symbolen finden sich die Erfahrungen vieler Völker über Jahrhunderte zusammengetragen. Auch heute haben sie noch Entsprechungen zu unseren Lebensproblemen. Märchen dienten und dienen der Bewusstmachung von Entwicklungen im Menschenleben und spiegeln das kollektive Unbewusste. 2. Definition von Mythos Der Begriff Mythos wird hier als Definition eingefügt, da er untrennbar mit der Entstehung der Märchen verbunden ist. 7 „Der Mythos ist eine sinndeutende Verarbeitung menschlicher Urerlebnisse und damit eine Grundform menschlichen Erschließens der Wirklichkeit. Er erzählt von Geschehnissen, durch welche sich der Mensch die Herkunft und den Sinn der fundamentalen Welt- und Lebensgegebenheiten vergegenwärtigt: die Erschaffung der Welt, den Ursprung der Götter und der Menschen, die Aneignung und Bewältigung der wilden Natur, das Spiel von Macht und Moral.“ (http://www.grimms.de, Jan. 2007) „Aller Sage Grund ist nun Mythus.“ (Jakob Grimm) 3. Definition von Symbol • Sinnbildgehalt (einer Darstellung). (Duden, Band 5, 1974) • „Das Wort Symbol stammt vom griechischen Wort symbolon, ein Erkennungszeichen. Wenn sich im alten Griechenland zwei Freunde trennten, zerbrachen sie eine Münze, ein Tontäfelchen oder einen Ring. Wenn nun der Freund oder jemand aus seiner Familie zurückkehrte, dann hatte er seine Hälfte vorzuweisen. Paßte diese Hälfte zur anderen zurückgebliebenen Hälfte, dann hatte er sich als der Freund oder als ein Freund zu erkennen gegeben und hatte ein Recht auf Gastfreundschaft. Das Zusammenpassen zweier Hälften (symbàllein = zusammenwerfen, zusammenfügen) spielt als Motiv auch eine Rolle in vielen Romanen; als Erkennungszeichen gilt z. B. auch die Hälfte eines Perlmutttischs, die sich nahtlos an die andere Hälfte fügt.“ (V. Kast, 1996, S. 19) • „Das Symbol ist ein Zeichen, das auf eine unsichtbare Wirklichkeit verweist, mit der es den Menschen in Kommunikation setzt, indem es seine Intelligenz vom Sichtbaren zum Unsichtbaren vordringen lässt.“ (Ries in Spineto, 2003, S. 7) • Erich Fromm (2004) unterscheidet bei den Symbolen zwischen drei Arten: dem konventionellen, dem zufälligen und dem universalen Symbol. Er stellt die Frage, welcher besondere Zusammenhang zwischen dem Symbol und dem, was es symbolisiert, besteht. Die beiden letzteren Arten von Symbolen drücken seiner Meinung nach innere Erfahrungen so aus, als ob es sich um 8 Sinneswahrnehmungen handelte, und nur diese weisen die Merkmale der Symbolsprache auf. Konventionelles Symbol z. B. Übereinkunft, einen besonderen Gegenstand mit einem besonderen Namen zu bezeichnen, sodass eine bleibende Assoziation entsteht. Zufälliges Symbol Gegenteil zum konventionellen Symbol. Ein mit einer Sache verbundenes, persönliches Erlebnis, das sich z. B. in einer Stimmung ausdrückt. Universales Symbol Innere Beziehung zu dem Symbol und dem, was es repräsentiert. Wurzelt in der Erfahrung von der inneren Beziehung zwischen Emotion oder Gedanke einerseits und der sinnlichen Erfahrung andererseits. (Fromm 2004) „Die Symbole kommen aus einer allzu weiten Ferne, als dass sie sterben könnten: sie bilden einen Teil des Menschseins.“ Mircea Elid Meine Definition von Symbol: Es ist etwas, das stellvertretend für etwas anderes steht. Symbole sind z. B. kreative Ausdrucksmöglichkeiten des Menschen, um auf bewusster Ebene durch Handlungen miteinander in Kontakt und Kommunikation zu treten, z. B. indem Verbindlichkeiten und Beziehungen geschaffen und gestärkt werden, wie es Verena Kast am Beispiel der Münzen und Tontäfelchen zeigt. Andererseits sind Symbole unbewusste Tendenzen, die durch die Auseinandersetzung und Bewusstwerdung etwas von einer Person sichtbar machen. Es gilt in jedem Fall zu klären, welcher Zusammenhang zwischen dem Symbol und dem, was es symbolisiert, besteht. 9 4. Märchen - kulturhistorisch 4.1 Die „ersten“ Märchen „Daß in Deutschland seit alters her Märchen erzählt wurden, beweisen verschiedene Zeugnisse. Wahrscheinlich sind Märchen im 10. Jahrhundert schon dagewesen. Im Gudrunlied erzählt Wate, als die Schiffe nach Givers an den Magnetfelsen treiben, tröstend ein Schiffermärchen, das er als Kind gehört, vom dem großen, schönen Königreich zu Givers. Luther sagt: ‚Ich möchte mich der wundersamen Historien, so ich aus zarter Kindheit herübergenommen, oder auch wie sie mir vorgekommen sind in meinem Leben, nicht entschlagen, um kein Geld’.“ (Köster, 1972, S. 151) 1581 spricht Kirchhoff im „Wendunmuth“ von einem Märchen, das er in seinen kindischen Jahren spinnende „Maidlein“ abends hat sagen hören. Schriftliche Aufzeichnungen und Sammlungen findet man in Deutschland aus dieser Zeit offenbar nicht. Allerdings wurde man in anderen Völkern fündig. Diese waren wohl auch nicht ohne Einfluss auf Deutschland geblieben. Indien z. B. ist das Land, mit dem sich kein anderes im Märchenreichtum messen kann. Schon im 3. Jahrtausend vor Christus sind Märchen für Indien nachweisbar. Indien besaß drei große Erzählwerke: Vikramatscharitra, Cukasaptai, Pantschatantra. Vieles davon ging ins Hebräische, Persische und Lateinische ein. Letzteres wurde im letzten Viertel des 15. Jahrhunderts ins Deutsche übersetzt. (Köster, 1972, S. 151, 152) Im Mittelalter entstand das berühmte arabische Märchenbuch „Tausend und eine Nacht“. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts wurden die Märchen aus „Tausend und einer Nacht“ ins Französische übertragen. Sehr bald waren diese Märchen in die meisten europäischen Sprachen übersetzt und zeitgleich in vielen Bearbeitungen der Jugend zugänglich gemacht. (Köster, a.a.O.) 1550 erscheint eine mailändische Fassung „Ergötzliche Nächte“ von Giovan Francesco Straparola. Es handelt sich um eine Sammlung von Geschichten, von denen die Mehrzahl älteren italienischen Novellenschreibern nacherzählt, etwa 20 aber wirkliche aus dem Volk geschöpfte Märchen sind. Noch wertvoller ist der in neapolitanischem Dialekt geschriebene „Pentamerone“ des Giambattista Basile (1637). Basile sagt von 10 ihnen in der Einleitung, es seien Geschichten, wie sie die alten Weiber zur Unterhaltung der kleinen Kinder erzählten. Etwa zwei Drittel daraus finden sich in ihren Grundzügen auch im Deutschen; z. B. „Der wilde Mann“ (= „Tischlein deck dich“), „Aschenkätzchen“ (= „Aschenputtel“), „Die Küchenmagd“ (= „Sneewittchen“) und „Sonne, Mond und Tahia“ (= „Dornröschen“). Felix Lieberecht liefert 1846 in Breslau eine Übersetzung des Pentamerone. (Köster, 1972) Der Gelehrte Charles Perrault (1628 – 1703) veröffentlich eine französische Sammlung mit dem Titel „Erzählungen meiner Mutter Gans“, die unter anderem den Titel „Die schlafende schöne im Walde“ (= „Dornröschen“) enthält. (Köster, 1972) 4.2 Zeit der Aufklärung In der Zeit der Aufklärung ging die Bedeutung des Märchens deutlich zurück. Dies war „eine Folge der Bildung, die vorwiegend auf das Verstandesmäßige ging, dass man die rechte Freude am Überlieferten verlor. Die Sagen, Märchen und Lieder galten bald für gemein, auch im Volke selbst.“ (Köster, 1972, S. 154) Immanuel Kant (1724 bis 1804) hielt Märchen für reine Unvernunft, für abgeschmackt und Aberglauben. Märchen erzählten sich einfache Leute in Spinnstuben. Mit Literatur hatten diese Erzeugnisse wenig zu tun. (Köster, 1972) Als Gegner der Märchen äußerte er: „Die Einbildungskraft der Kinder ist ohnedies stark genug und braucht nicht durch derartige Erzählungen noch mehr gespannt zu werden. Die Kinder sind nicht in ein Reich der Täuschung, sondern in das der Wahrheit einzuführen, und dieses hat ja des Interessanten und Wunderbaren so viel, dass man nicht zu Märchen seine Zuflucht nehmen braucht.“ (Kant in Köster, 1972, S. 166) 4.3 Zeit der Klassik Zur Zeit der Klassik allerdings bereitete sich ein Umschwung vor. Herder, dem die Volkspoesie viel verdankt, schätzt die Märchen folgendermaßen ein: „Im Märchen liegt eine ewige Ernte an Lehren der Weisheit. Keine Dichtungsart versteht dem menschlichen Herzen so feine Dinge so fein zu sagen, wie das Märchen.“ (Köster, 1972, S. 154) In Herders Augen sind Märchen volkstümliche Dichtung, in der Reste des Volksglaubens vorhanden sind. Musäus (1735 bis 1787) war der erste, der in seiner 11 Veröffentlichung der „Volksmärchen der Deutschen“ das Volksgut zu heben versuchte. (Köster, a.a.O.) 5. Die Märchensammlungen der Gebrüder Grimm 5.1 Das Leben der Gebrüder Grimm Die Brüder Jakob Grimm (1785 – 1863) und Wilhelm Grimm (1786 – 1859) begannen, angeregt durch Brentano, Achim von Arnim und den Kreis der Heidelberger Romantik, ihr unsterbliches Werk, die Sammlung der „Kinder- und Hausmärchen“. Für die deutsche Literatur waren die Gebrüder Grimm von großer Bedeutung. Zeitweilig waren sie Bibliothekare am Hessischen Hof in Kassel und nahmen 1830 einen Ruf an die Universität Göttingen an. 1837 zählten beide Professoren zu den „Göttinger Sieben“, die aufgrund ihres Protestes gegen die willkürliche Aufhebung der Verfassung durch den König in Hannover aus dem Dienst entlassen und des Landes verwiesen wurden. Durch einen von Wilhelm IV. von Preußen ergangenen Ruf, avancierten sie zu Mitgliedern der Akademie der Wissenschaften und wurden zu Professoren der Berliner Universität. 1824 erschienen unter anderem ihre ersten vier Bände des „Deutschen Wörterbuchs“. (Beltz, 1977, S. 466) 5.2 Beginn der Sammlungen Etwa um das Jahr 1806 fingen die Gebrüder Grimm an, Märchen zu sammeln, indem sie sich diese erzählen ließen und sie dann niederschrieben. „Sie sammelten hauptsächlich in Hessen, in der Main- und Kinziggegend der Grafschaft Hanau. Besonders Achim von Arnim drängte die beiden Brüder zur Herausgabe einer schriftlichen Sammlung.“ (Köster, 1972, S. 156/157) 5.3 Zensur „Der Titel der Erstausgabe der Grimmschen ‚Kinder- und Hausmärchen’ (1812) lässt darauf schließen, dass Märchen vom Bürgertum bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts als Kinderlektüre eingestuft wurden. Die Märchen waren jedoch zunächst nicht für 12 Kinder gedacht. Jakob Ludwig Carl Grimm betrachtete die Texte als ‚von Erwachsenen für Erwachsene’“. (Beltz, 1977, S. 424) Zahlreiche kritische Stimmen forderten bereits eine stärkere pädagogische Bearbeitung der Märchen für Kinder. W. Grimm bearbeitete daraufhin die Märchen in den folgenden 16 Auflagen bis 1858 immer stärker psychologisierend im Sinne ihrer „Kindertümlichkeit“ und schuf damit ein grundlegendes Werk der nationalen und internationalen (Kinder-)Literatur. Die ästhetische und inhaltliche Bearbeitung W. Grimms bestand vor allem in der Entschärfung sexueller Symbolik, Milderung in der Darstellung sozialer Konflikte und stärkerer Propagierung bürgerlich-ethischer Werte. (Beltz, a. a. O.) Die Grundsubstanz blieb zwar erhalten, allerdings wird man Wendungen wie bei Basile, der bereits 1634 die erste schriftliche Märchensammlung herausgab, nicht finden. Liebesszenen wurden gestrichen, während Gewaltszenen weitgehend unzensiert blieben. (Beltz, a. a. O.) Wie sehr die Märchen inhaltlich und stilistisch von W. und J. Grimm verändert wurden, wird anhand einiger Beispiele deutlich: Bei Perrault wird das berühmte „Rotkäppchen“ vom Wolf gefressen, nachdem dieser das Mädchen aufgefordert hatte, sich zu entkleiden und sich zu ihm ins Bett zu legen. Dem Märchen ist eine Mahnung in Versen angefügt, die Kinder und besonders Mädchen ängstigen soll. Sinngemäß geht es in dem Vers darum, dass sich Mädchen nicht den Schmeicheleien der Herren hingeben, sondern artig auf ihre Mütter hören sollten. (Ré Soupault, 1963) In einer ursprünglichen Fassung des Märchens „Der Froschkönig“ heißt es: „Der Frosch kommt nun an drei Abenden zu Besuch, das Mädchen lässt es zweimal geschehen, dass er zu ihren Füßen liegt, die dritte Nacht verbringt er unter ihrem Kopfkissen; am Morgen ist aus ihm ein schöner Prinz geworden ... „ (C. Federspiel, 1968, S. 94) „Rapunzel“ wurde von der bösen Fee aus dem Turm verbannt, weil sie von ihrem Prinzen, mit dem sie sich lange Zeit vergnügt hatte, schwanger war und „Schneewittchen“ wurde nicht von der Stiefmutter, sondern der leiblichen, die recht eitel war, verstoßen. Anschließend versucht diese mehrfach, ihr Kind zu töten, doch letztendlich wird Schneewittchen von ihrem Vater, dem König, gerettet. (Rölleke, 2003) 5.4 Die Grimmschen Märchen während der NS-Zeit 13 „Im Faschismus wurde das Märchen – und insbesondere die ‚Gattung Grimm’, die längst ein wichtiger Teil nationaler Tradition war – zum Bestandteil einer völkischen Ideologie umgemünzt und als ‚Beitrag für den Kampf um ein inneres Deutschtum’ verstanden – so Br. Schliepenhacke im Vorwort zur 2. Auflage seines Buches ‚Märchen, Seele und Kosmos’ (1942). Die Kinder- und Hausmärchen wurden als ‚wichtigste unserer heiligen Schriften’ betrachtet und entsprechend zur Rassenerziehung eingesetzt. (R. F. Viergutz) Das galt nicht nur für Märchen mit antisemitischem Gehalt, wie etwa ‚Der Jude im Dorn’, sondern auch für die bekannten Märchen wie ‚Rotkäppchen’ oder ‚Aschenputtel’, in dem die Stiefmutter und Stiefschwestern der Titelfigur als artfremde Elemente angesehen wurden, die im Kampf mit dem ‚rassisch Guten’ notwendig unterliegen.“ (Beltz 1977, S. 425) Ein nationalsozialistischer Verfasser veröffentlichte 1940 einen Aufsatz in der „Jugendschriften-Warte“ in dem er die Märchen-Rezeptionen vergangener Generationen kritisierte. Seiner Meinung nach hätten die Märchen planmäßig und zielbewusst für die Erziehung des deutschen Volkes dienstbar gemacht werden müssen. Märchen seien als ‚Ausdruck einer Weltgemeinschaft’ zu verstehen und als solche zu vermitteln. (Beltz, a. a. O.) . 5.5 Kritik am Märchen nach dem 2. Weltkrieg „Im Verlauf der Diskussion um Grausamkeit und Wert der deutschen Märchen, die nach 1945 durch die britische Militärregierung eingeleitet wurde, durchsuchte man die Lesebücher nach ‚brutalen’ Märchen. Die Märchen-Gegner warfen den Märchen vor, die psychologischen Vorbedingungen in der Bevölkerung für die Grausamkeiten des nationalsozialistischen Regimes geschaffen zu haben. Die volkskundliche Richtung verteidigte die Märchen damit, dass sie eigentlich nicht für Kinder gedacht seien und darüber hinaus Relikte historischer Gesellschaften und primitiver Kulturen enthalten, die nicht mit Maßstäben der heutigen Moralpädagogik gemessen werden dürften.“ (Beltz 1977, S. 425) 5.6 Märchen in den 1970-ern Zu Beginn der Siebziger Jahre waren Märchen pädagogisch verpönt. Es wurde insbesondere darüber heftig diskutiert, inwieweit man Kindern das Böse, das Grausliche 14 der Märchen zumuten könne. Wölfe mit aufgeschlitzten Bäuchen, verbrannte Hexen, Stiefmütter, die elendiglich zu Tode kamen ... schienen schädlich für das kindliche Gemüt zu sein. Diese Einstellung hat sich inzwischen gewandelt, und nicht zuletzt durch die intensive Beschäftigung der Psychologie mit den Märchen wurde ihre tiefliegende, ja mitunter sogar heilende Dimension erkannt. (http://jungschar.untermais.net/wissen/maerchen.htm, Januar 2007) 5.7 Weltdokumenterbe 2005 wurden die Kasseler Handexemplare der „Kinder und Hausmärchen“ von der UNESCO zum Weltdokumenterbe erklärt. Sie befinden sich im Besitz der Universitätsbibliothek Kassel. (http://de.wikipedia.org/wiki/grimm, Januar 2007) 6. Märchen aus heutiger wissenschaftlicher Sicht 6.1 Wissenschaftsbereiche Inzwischen erfreut sich das Volksmärchen der Aufmerksamkeit einer ganzen Reihe von Wissenschaften. Es ist namentlich Forschungsgegenstand der Volks- und Völkerkunde, der Psychologie und der Literaturwissenschaft. Erstere untersucht die Märchen als kultur- und geistesgeschichtliche Dokumente und beobachtet ihre Rolle in der Gemeinschaft. Als Ausdruck seelischer Vorgänge betrachtet die Psychologie die Erzählungen und fragt nach ihrem Einfluss auf den Hörer, bzw. Leser. Die Literaturwissenschaft möchte die Wesensart der Gattung und auch der einzelnen Erzählungen erfassen. Sie fragt danach, was das Märchen zum Märchen macht und stellt zudem die Frage nach Ursprung und Geschichte der verschiedenen Märchentypen. Der Volkskundler interessiert sich demnach primär für die Funktion der Märchen, die Biologie für die Gebilde, die Psychologie für deren Ableitung aus den Bedürfnissen der menschlichen Seele, die Literaturwissenschaft für die Gebilde an sich und deren Stelle in der Welt der Dichtung. (Lüthi, 1981) 6.2 Diskussion um Nutzen und Sinn der Märchen 15 Die Diskussion um Schädlichkeit oder Nutzen der Märchen für Kinder blüht nach wie vor. Zeitgleich stellt sich die Frage, warum sich der Mensch seit Generationen mit diesem Thema auseinandersetzt. Max Lüthi z. B. setzt sich mit der Frage auseinander, wieso gerade das Märchen als eine Art Erzählung den Menschen zu unterhalten vermag. „Unsere Einstellung zum Märchen ist zwiespältig. ‚Erzähl mir doch keine Märchen’, sagen wir abschätzig – das Wort ist da nur ein höflicherer Ausdruck für Lügen, für besonders kunstvoll gebaute Lügen. (...) Im Leben des Einzelnen gibt es Zeiten der Bezauberung durch das Märchen und Zeiten des Abstandnehmens (...) Wenn etwas in solch entschiedener Weise anzuziehen und abzustoßen vermag, darf man vermuten, dass es da um Wesentliches gehe. Es ruft zur ausgesprochenen oder unausgesprochenen Auseinandersetzung auf. Die Rolle, die das Märchen im Leben der Kinder spielt, die Rolle, die es in der buchlosen Zeit jahrtausendelang auch im Leben der Erwachsenen gespielt hat, bestärkt uns in der Annahme, dass es sich um eine Dichtung besonderer Art handelt, eine Dichtung, die den Menschen als solchen angeht.“ (Lüthi, 1983, S. 5) In seinem Buch „Kinder brauchen Märchen“ (2006) schreibt B. Bettelheim, dass Märchen in ihrer jetzigen Gestalt alle Ebenen der menschlichen Persönlichkeit gleichzeitig ansprechen „Sie erreichen den noch unentwickelten Geist des Kindes genauso wie den differenzierten Erwachsenen. Mit den Begriffen des psychoanalytischen Persönlichkeitsmodells ausgedrückt: Die Märchen vermitteln wichtige Botschaften auf bewusster, vorbewusster und unbewusster Ebene entsprechend ihrer jeweiligen Entwicklungsstufe.“ (Bettelheim, B., 2006, S.12) Bettelheim vertritt die Theorie, dass Märchen eine Möglichkeit bieten, unbewusstes Material bis zu einem gewissen Grad ins Bewusstsein treten zu lassen, so dass es von der Fantasie durchgearbeitet werden kann. Außerdem bereiten Märchen seiner Ansicht nach das Kind auf das spätere Leben mit all seinen Schattenseiten vor. So wie die Psychoanalyse dem Menschen helfen soll, das Problematische des Lebens zu akzeptieren, ohne sich davon besiegen zu lassen oder in eine eskapistische Haltung auszuweichen, sollen Märchen dem Kind die Botschaft vermitteln, dass das Leben ein Kampf gegen Schwierigkeiten sein kann und diese untrennbar zur menschlichen Existenz gehören. Wenn man alle Hindernisse überwindet und Bedrängnissen standhaft gegenübertritt, geht man schließlich als Sieger aus dem Kampf hervor. (Bettelheim, 1980) 7. Märchen aus psychoanalytischer Sicht 16 7.1 Die Archetypen nach C. G. Jung Für C. G. Jung (Schweizer Psychoanlaytiker 1875 – 1961) waren Märchen und Mythen ein wohlbekannter Ausdruck der „Archetypen“, denn auch bei ihnen handelt es sich um spezifisch geprägte Formen, welche durch lange Zeiträume übermittelt wurden. Viele Märchen verdeutlichen außerdem C.G. Jungs Theorie vom kollektiven Unbewussten. Jung zufolge beruht die ganze Welt auf einem Urgrund und steht im Einklang mit der psychischen Substanz des Menschen. Gerade das Märchen ist für Jung das beste Mittel, um die Archetypen am Inhalt des Unbewussten zu veranschaulichen. (Jung, 2004) „Der Archetypus stellt wesentlich einen unbewussten Inhalt dar, welcher durch seine Bewusstwerdung und das Wahrgenommensein verändert wird, und zwar im Sinne des jeweiligen individuellen Bewusstseins, in welchem er auftaucht.“ (Jung, 2004, S. 9) Der Begriff „Archetypus“ bezeichnet nach Jung nur jene psychischen Inhalte, welche noch keiner bewussten Bearbeitung unterworfen wurden und somit eine unmittelbare seelische Gegebenheit darstellen. Jung zieht hier Vergleiche zu Träumen und Visionen, die viel individueller, unverständlicher und naiver sind als der Mythos. Er bezeichnet Mythen in erster Linie als psychische Manifestationen, welche das Wesen der Seele darstellen. Dem liegt zugrunde, dass der primitive Mensch einst ein unabweisbares Bedürfnis hatte, alle äußeren Sinneserfahrungen an seelisches Geschehen zu assimilieren. Äußere Erscheinungen, wie z.B. das Auf- und Untergehen der Sonne, mussten mit der Wandlung des Schicksals in Form eines Gottes oder Helden zu tun haben, der im Grunde genommen nirgends anders wohnt als in der Seele des Menschen. Jungs Ansichten über die „archaischen Überreste“ oder „Urbilder“ sind immer wieder von Autoren kritisiert worden, die keine ausreichende Kenntnis über Traumpsychologie oder Mythologie hatten. Der Ausdruck „Archetyp“ wurde oft als bestimmtes mythologisches Bild oder Motiv missverstanden. Der Archetypus ist jedoch zu verstehen als eine angeborene Tendenz, bewusste Motivbilder zu formen, so wie eine instinktive Neigung bei Tieren, z.B. organisierte Kolonien zu bilden. Der Unterschied zwischen Instinkt und Archetyp ist der, dass es sich bei ersterem um physiologische Impulse handelt, die mit den Sinnen „außen“ wahrgenommen werden. Im zweiten Fall erscheinen physiologische Impulse in der Fantasie, also „innen“ und verraten ihre Gegenwart durch symbolische Bilder. Ihren Ursprung kennt man nicht und sie tauchen überall auf der Welt auf. 17 Laut analytischer Psychologie manifestiert sich ein unterdrücktes archetypisches Verhalten in einem „Schatten“. Dieser kann sich verdeutlichen, indem das Individuum z.B. durch Projektion auf etwas hinweist, was es an sich selbst verdrängt, ablehnt oder auch wünscht. (Jung u.a., 1988, Jung, 2004) Die vier Hauptkategorien der archetypischen Symbole: 1. Der Schatten (hier befinden sich unterdrückte oder verdrängte Persönlichkeitsanteile) 2. Anima und Animus (gegengeschlechtliche psychische Anteile) 3. Die alte Weise/der alte Weise (die Weisheitsschicht der Psyche) 4. Archetyp des Selbst (umfasst sowohl das Ich, als auch das Unbewusste, stellt das Zentrum und den Umfang der Gesamtpsyche dar und dient als Selbststeuerungs- und Entwicklungsinstanz der Psyche) (nach: Trautmann-Voigt, Schmeißer, Zeitschrift f. Tanztherapie. 23/2006) 7.2 Anwendung der Archetypenlehre auf das Märchen Märchen sind wie Träume eine Möglichkeit der Bewältigung von Ereignissen. Im Märchen werden Probleme bewältigt und durch die Überwindung des Bösen gelöst. Das Gerechte siegt und alles Leid hat ein Ende. „Schattengestalten“ werden sichtbar und bekommen einen Namen. Es erscheinen übermenschliche Gestalten, die als Hilfe oder Bedrohung erlebt werden. Kinder- Männer- und Frauentypen erscheinen, die einem der Archetypen zugeordnet werden können. Symbolische Ereignisse und Gegenstände erscheinen und dienen uns. Der Schauplatz mit allen Begebenheiten ist Ausdruck einer innerpsychischen Befindlichkeit. (Trautmann-Voigt, Schmeißer, Zeitschrift für Tanztherapie. 23/2006) Hier ein Beispiel, wie C. G. Jung seine Archetypenlehre auf das Märchen anwendet: 18 „Viele Mythen und Märchen erzählen uns, wie ein Prinz, der durch Zauberei in ein Tier oder Monstrum verwandelt wurde, von einer Frau erlöst wird. Das ist eine symbolische Darstellung der Bewusstwerdung des Animus. Oft darf die Heldin keine Fragen an ihren geheimnisumwobenen Liebhaber stellen, oder sie darf sich mit ihm nur in der Dunkelheit treffen. Sie sollte ihn durch blindes Vertrauen und Liebe erlösen, doch gelingt es nie in dieser Form. Immer bricht sie ihr Versprechen und kann ihren Geliebten erst nach einer langen Suchwanderung wiederfinden. Wie die Anima, so erzeugt auch der Animus in der Frau Besessenheitszustände. In Mythen und Märchen ist dies dadurch veranschaulicht, dass oft der Teufel oder ein ‚Alter im Berge’, das heißt, ein heidnischer Gott, ein Troll oder Oger die Heldin gefangen hält und sie dazu zwingt, alle Männer, die sich ihr nahen, zu töten oder an den Dämon auszuliefern, oder der Vater der Heldin sperrt sie in einen Turm, ein Grab oder setzt sie auf einen Glasberg, so dass niemand sich ihr nahen kann. In solchen Fällen kann die Heldin oft nichts anderes tun als geduldig auf einen Erlöser warten, der sie aus ihrer Lage befreit. Durch ihr Leiden kann sich der Animus (denn der Dämon und der Befreier sind beide zwei Aspekte der gleichen inneren Macht) allmählich in eine positive innere Kraft verwandeln.“ (Jung, 1988, S. 193) 7.3 Beispiele aus der psychotherapeutischen Praxis Verena Kast, (geb. 1943, Professorin für Psychologie, Dozentin, Lehranalytikerin am C. G. Jung-Institut, Autorin) schreibt, dass Märchen zu uns in Symbolen sprechen, in Bildern, die in ganze Prozesse eingebunden sind. Insofern haben Märchen eine Nähe zum Traum, zu den unbewussten Prozessen und auch zu Mythen. (Kast, 2002) Bei der tiefenpsychologischen Märchendeutung, bei der sich Märchenprozesse auf typische menschliche Entwicklungsprozesse beziehen, kann man sich der Deutungstechniken bedienen, die auch aus der Traumarbeit bekannt sind: bei der Deutung auf der Subjektebene sind Nebenpersonen Persönlichkeitszüge der Hauptfigur. (Es sei hier erwähnt, dass dies nur eine Möglichkeit der Traumdeutung unter vielen anderen Möglichkeiten darstellt.) Deutungen beanspruchen niemals alleinige Wahrheit. Wenn Märchen gedeutet werden, soll es ein spielerisches Nachdenken über das Leben sein, über existentielle Fragen und psychische Prozesse. 19 Märchenmotive, die uns ansprechen, werden zu Symbolen für einen psychischen Zustand von uns selbst, den wir durch eine Bearbeitung fassen können. Konflikte, die wir nicht wirklich in Worte fassen können, die oft nur Unbehagen auslösen, können im Symbol des Märchens ein Bild finden. Therapeutisches Arbeiten mit Märchen kann auf verschiedenen Ebenen stattfinden. Es kann mit Märchen gearbeitet werden, die eine Klientin, einen Klienten schon immer begleitet haben, die jemanden mit seiner Kindheit und Lebensgeschichte verbinden. Anhand des Märchens kann herausgefunden werden, welche Probleme sich manifestiert haben und wie das Märchen vorschlägt, dass wir mit diesen Problemen umgehen. Das Märchen stellt hierbei einen „Lebensspiegel“ dar. Es können aber auch momentane Entwicklungsprozesse über ein Märchen exploriert werden. Wie in Märchen die Helden zum Schluss „verwandelt“ werden, gibt den Klienten, Klientinnen die Hoffnung, auf eine Bewältigung von Schwierigkeiten. In die Transaktionsanalyse nach Eric Berne (amerikanischer Psychiater und Psychotherapeut) hielt das Märchen ebenfalls Einzug. In diesem Fall wird mit dem Lieblingsmärchen aus der Kindheit und den Geschichten, die später im Leben bedeutungsvoll für die/den Betreffenden wurden, gearbeitet. Im Märchen wird nach dem persönlichen „Lebensdrehbuch“, dem Skriptmuster einer Person gesucht. (Riedel, 1995) 8. Zugang zu „inneren Bildern“ durch die Tanztherapie Während der Entwicklung der Tanztherapie kristallisierten sich mehr und mehr verschiedene Ansätze heraus, um mit Klienten/Patienten zu unbewussten Schichten der Persönlichkeit zu finden. Mary Starks Whitehouse (1911 – 1979, jungianische Tanztherapeutin) z. B. bezog sich bei ihrer Arbeit mit Klienten/Patienten auf die Tiefenanalyse von C. G. Jung. Für sie war die Zusammenarbeit von Klient und Analytiker Voraussetzung um Zugang zum Unbewussten, also jenem Bereich in uns, der unterhalb des normalen alltäglichen Bewusstsein liegt, zu erlangen. (Willke, 1991, S. 149) Die „aktive Imagination“ nach Jung wird auch das „Fenster zur Seele“ genannt. Jung hat diesen Ansatz in seiner Analytischen Psychologie vielfältig genutzt. Bei „aktiven Imaginationen“ hat der Mensch anders als in Träumen Entscheidungsmöglichkeit. Er kann in die erlebten märchenhafte Abläufe der inneren Welt eingreifen, um Konflikte zu lösen und innere 20 Ordnung zu fördern. Jung ließ bei dieser Praxis den Bildern aus dem Unbewussten sehr viel Raum und gab wenig Vorgaben von außen. (http://www.psychoanalyselaienforum.de, Februar 2007) Mary Whitehouse nutzte Fantasiereisen, um ein Verständnis von inneren und äußeren Lebensereignissen zu erhalten. Dabei ging es ihr darum, die lebendige Realität des Unbewussten kennen zu lernen und zu integrieren. Bei der „aktiven Imagination“ darf das Unbewusste frei sprechen. Die Sprache, in der sich das Unbewusste mitteilt, besteht aus Bildern, die in Malerei, biblischer Sprache, Dichtung, Bildhauerei und Tanz ihren Ausdruck finden. „Der Gebrauch der Aktiven Imagination ist im Bereich Bewegung besonders wertvoll. Alles, was ich mir ausdenken kann, um Menschen den Zugang zu ihren eigenen Phantasien und Bildern zu ermöglichen, ja auch die Darstellung ihrer Träume in der Bewegung, liefert ihnen grundlegendes Material, um sich selber zu verstehen.“ (Willke, 1991, S. 149) Der Grund für die besondere Bedeutung der Bewegungsform bei der Aktiven Imagination liegt für Whitehouse darin, dass sie schwer zu zensieren ist. „Man bewegt sich, bevor man weiß, was passiert“. (Willke, 1991, S. 150) Spontane Bewegungen bezeichnet sie als flüchtig, so wie Träume es sind. Sie zeigen somit innere Prozesse, die physisch Gestalt annehmen. Auf diese Weise werden sie sichtbar und ermöglichen ein Verständnis für ihre Bedeutung. Für denjenigen, aus dessen Körper die Bewegung stammt, hat diese besonderen Wert. 9. Der Begriff „Symbol“ in der Tanztherapie 9.1 Körper und Symbol Unsere Seele drückt sich in unserem Körper aus. Sind wir z. B. wütend, steigt uns das Blut in den Kopf, Schweißperlen treten auf die Stirn, wenn wir Angst haben; unser Herz schlägt schneller, wenn wir uns ärgern und unser gesamter Körper zeigt einen anderen Tonus, wenn wir glücklich sind, als wenn wir traurig sind. Stimmungen werden durch den Gesichtsausdruck deutlich und unsere Einstellung und unsere Gefühle kommen in unseren Bewegungen und Gesten so genau zum Ausdruck, dass andere sie eher aus unserem Verhalten, als aus unseren Worten ablesen. „Der Körper ist in der Tat ein Symbol – und keine Allegorie – der Seele. Ein tiefes, echtes Gefühl, ja sogar ein echt empfundener Gedanke findet seinen Ausdruck in unserem gesamten Organismus. Beim universalen Symbol (siehe Definition „Symbolik“) treffen wir auf den gleichen 21 Zusammenhang zwischen seelischen und körperlichen Erlebnissen. Gewisse körperliche Erscheinungen deuten durch ihre ganze Art auf gewisse emotionale und seelische Erlebnisse hin, und wir drücken unsere emotionalen Erfahrungen in der Sprache körperlicher Erlebnisse, d. h. symbolisch, aus.“ (Fromm, 1981, S. 21) 9.2 Symbolische Tänze Symbolische Tänze gab es bereits bei Urvölkern und werden auch heute noch in allen Kulturen zelebriert. Meistens handelt es sich dabei um Kreistänze, die mit Begebenheiten der Jahreszeiten oder mit religiösen Inhalten zu tun haben. Bei diesen Tänzen wird die Zusammengehörigkeit einer Gruppe gestärkt und/oder ein Ritual zelebriert, manchmal bis zu einem tranceähnlichen Zustand. Bei alten deutschen Volkstänzen gibt es auch noch immer Maskierungen, z.B. als Hexen und Zauberer mit Tiermasken u.ä. Kreistänze in der Tanztherapie haben in gewisser Weise ebenfalls symbolischen Charakter, da sie das Zusammengehörigkeitsgefühl der Gruppe unterstützen sollen. Der Kreis ist hierbei das Symbol für Geschlossenheit, Verbundenheit und Halt. „Wandernd in kreisender Drehung, all-umschlingendes Band, Wächter von Äther und Erde ... „ (Orphischer Hymnus an Uranos) 9.3 Symbolik im Sinne von M. Chace Für M. Chace (1896-1970, Mitbegründerin der American Dance Therapy Association, Pionierin der Tanztherapie in den USA), ist der Tanz selbst eine symbolische Körperaktion. Die Körperaktion wird vom Klienten/Patienten genutzt, um zu kommunizieren. Subjektive Gefühle finden durch den Tanz Ausdruck. Gefühle, Bedürfnisse und Wünsche werden sozusagen durch das Einkleiden von Bewegungen in eine symbolische Form ausgedrückt. Chace nimmt an, dass Probleme auf einer rein symbolischen Ebene bearbeitet werden können ohne auf Interpretationen oder Analyse zurückgreifen zu müssen. (Willke, 1991, S. 20) 9.4 Verkörperung von Symbolen 22 „Im kreativen Prozeß der Symbolbildung, der sich u.a. im Tanzen (...) vollzieht, integriert das Individuum unbewusste Inhalte in das Bewusstsein. Hierbei werden die Symbole als Bedeutungsträger und ‚Energietransformatoren’ gedeutet“. (Jacobi 1977 in Willke, 1991, S. 469) Verkörperung eines Symbols heißt für mich demnach, dass dem inneren Prozess auf kreative Weise Ausdruck verliehen wird. Das beginnt damit, auf welche Weise die Klientin/der Klient den Raum einnimmt, wie sich Körperbewegungen darstellen, mit welcher Energie an ein Thema herangegangen wird, bis dahin, wie sich Atemmuster verändern usw. Die Art und Weise wie dies geschieht, passiert unbewusst und gibt der Tanztherapeutin somit Informationen, die diese mit der Klientin/dem Klienten interpretieren kann. Laut Kast fühlen wir uns lebendiger und emotionaler, wenn Symbole in einem therapeutischen Prozess erlebbar gemacht werden. (Kast, 1996) Erlebbar heißt nichts anderes, als diese am eigenen Leib zu erleben „Am Symbol werden unsere ganz speziellen aktuellen Schwierigkeiten sichtbar, aber auch unsere ganz besonderen Lebens- und Entwicklungsmöglichkeiten; in den Schwierigkeiten liegen ja auch unsere Entwicklungsmöglichkeiten. (Kast 1974, S. 125) „Das Ausleben und Ausgestalten kreativer Potentiale im Tanz ermöglicht dem Individuum Selbstgestaltung und „Selbstausdruck“, Ausdruck des Unbewussten „gepaart mit Realisierungskraft des Bewusstseins“.“ (Kast 1974, S. 125) 23 Teil B – Umsetzung in die Praxis Die Auseinandersetzung mit den Erfahrungen verschiedener Psychotherapeuten, Märchen in einem therapeutischen Prozess zu nutzen, weckte in mir die Neugier, ob dies auch in der Tanztherapie praktikabel ist und welche Erkenntnisse sich sowohl für mich als Therapeutin, als auch für die Teilnehmerin/den Teilnehmer daraus ziehen lassen. Die Fragen lauten: Ist es möglich durch die aktive – und wie ich sie auch nennen möchte - bewegte Imagination ins „Reich der inneren Bilder“ einzutreten und diese zu verkörpern? Haben spontan erinnerte Märchen oder Szenen und Bilder tatsächlich etwas mit dem Teilnehmer/der Teilnehmerin zu tun? In welchem Maße lässt sich eine Auseinandersetzung mit Märchensymbolen verwirklichen und welchen Nutzen ziehen wir daraus? Fünf KlientInnen stellen sich mir zur Verfügung, damit ich über Einzelfallstudien Erkenntnisse über die oben gestellten Fragen erlangen kann. Bevor wir jedoch die „Reise“ in die Märchensymbolik unternehmen, sind einige Gedanken zur Entwicklung der Einzelfallstudien unabdingbar. 1. Gedanken zur Entwicklung der Einzellfallstudien 1.1 Das Setting: Bei meinen Studien nutze ich das Setting der Einzeltherapie. Der Grund ist, dass ich mich bei meinen Beobachtungen auf wenige Symbole und die Vertiefung in die Verkörperung eines einzelnen Klienten reduzieren wollte, um damit zu einer differenzierten Auswertung zu gelangen. Im Bewegungsraum befinden sich verschiedene Materialien. (Zunächst allerdings nicht sichtbar, um durch ein Überangebot nicht zu verwirren, werden aber auf Wunsch zur Verfügung gestellt.) Musik wird eingesetzt, wenn ich den Eindruck habe, dass sie unterstützend sein kann. Der zeitliche Rahmen für eine Einzelstunde beträgt 90 Minuten pro Klient/Klientin. Für die spätere Reflexion und Ausarbeitung werden die Stunden mit einem Diktiergerät aufgenommen. Wenn erforderlich, werde ich schriftliche Notizen machen. (Einverständnis des Klienten/der Klientin vorausgesetzt.) Bei meinen Einzelfallstudien nehme ich für den Leser biographische Veränderungen vor. 24 1.2 Drei Leitfragen Auf die Beantwortung der folgenden drei Fragen zielt die Stunde ab: • Welches Märchen wird erinnert? (Der Titel des Märchens ruft erste Assoziationen und Erinnerungen wach. Die Erinnerungen können sich beziehen auf: 1.) das Märchen selbst 2.) den Zeitpunkt, zu dem das Märchen gehört wurde 3.) die Person, das Ereignis, durch das jenes Märchen bekannt wurde. • Welche Passagen aus dem Märchen sind besonders intensiv in Erinnerung geblieben? (Diese Frage zielt auf den ersten Hinweis, was das Märchen direkt in einem anspricht.) • Welche Passagen des Märchens werden vergessen? Darauf kann aufmerksam gemacht werden, wenn es dem Prozess dient, denn es kann ein Hinweis auf eine verdrängte Erinnerung sein und hat sicher einen Grund. (Dieser Punkt wird erst im Verlauf der Stunde sichtbar, wird also zu Beginn nicht erwähnt und auch während der Stunde wird nicht „berichtigend“ eingegriffen.) 1.3 Die Rolle der Tanztherapeutin In meiner Arbeit mit der Symbolik von Märchen bediene ich mich gewissermaßen der Methode der aktiven Imagination, da der Klient/die Klientin zu einem „inneren Bild“, einer Erinnerung, die verkörpert wird, frei assoziieren kann. Durch das Begleiten in die Märchensymbolik wird unbewusst eine Haltung eingenommen, die aufschlussreich ist. Der Begriff der „ aktiven bewegten Imagination“ wäre hier sicher besser angebracht. Es stellt sich die Frage, ob durch die Verkörperung der erinnerten Märchenbilder dem Klienten der Weg zu „inneren“, also unbewussten Bildern ermöglicht wird. Wesentlicher Bestandteil ist die Kommunikation zwischen dem Klienten/der Klientin und mir und meine Rolle sowohl als beobachtende „Zeugin“, als auch derjenigen, die ggf. einen weiteren „Weg“ vorschlägt. Zu Beginn jeder Stunde begleite ich die Betreffenden bei der aktiven, bewegten Imagination ein Stück weit in eine Fantasielandschaft und nehme ab einem gewissen Punkt eine räumliche Distanz ein, die 25 es mir ermöglicht, zu beobachten und der Klientin/dem Klienten das Gefühl gibt, ihre Intimsphäre wird gewahrt und respektiert. Die Tanztherapeutin und die Klientin/der Klient werden zu „gemeinsam Reisenden“, ein Begriff, den Irvin D. Yalom in seinem Buch „Der Panama-Hut“ (2002) beschreibt. Yalom will damit verdeutlichen, dass er die Unterscheidung zwischen „ihnen“ (den Leidenden) und „uns“ (den Heilern) aufhebt, denn er geht davon aus, dass niemand, auch Therapeuten nicht, gegen die inhärenten Tragödien des Daseins gefeit sind. (Yalom, 2002, S. 21-25) Demzufolge sind Klient/Klientin und Tanztherapeutin gleichgestellt und können gemeinsam über das, was sie im Laufe einer Therapie entwickeln und erfahren, staunen. Es ist möglich, dass ich Eindrücke und Beobachtungen der Klientin/dem Klienten schildere, dabei aber auf der „Bildebene“ bleibe, um keine vorschnellen Interpretationen zu liefern oder das Gefühl zu vermitteln, dass ich weiß, was der Klient/die Klientin nicht weiß. Fakt ist, dass die Tanztherapeutin gar nichts weiß. Symbole, die zur Sprache kommen oder auf der Körperebene exploriert werden, dürfen nicht allgemeingültig interpretiert werden. Dies bedeutet, dass z.B. das Symbol Wasser für die betreffende Person eine völlig andere Bedeutung haben kann, als für die Tanztherapeutin. Ressourcenorientierte Sichtweise ermöglicht der Tanztherapeutin, im wahrsten Sinne des Wortes „den Schatz zu heben“. „Der Körper bewegt sich ständig, er braucht kein Werkzeug, keinen bestimmten Zeitpunkt oder Ort; er ist immer da, er braucht nur beachtet zu werden. Ein bestimmtes Maß an Ehrlichkeit und das Bedürfnis nach Selbsterkenntnis vorausgesetzt, ist es die Trommel, die Stimme, die dem Helden berichtet, wo der Kampfplatz liegt, so dass er hingehen und die Prinzessin befreien kann.“ (Willke, 1999, S. 151) 1.4 Methode ¾ Die Tanztherapeutin führt die Klientin/den Klienten durch die aktive bewegte Imagination in eine märchenhafte Landschaft und lässt die/den Betreffenden anschließend imaginativ eine eigene Landschaft erstellen. ¾ Der Klient/die Klientin erfährt „am eigenen Leib“ über die Fantasie hinaus auf einer körperlichen Ebene die Bedeutung jeder einzelnen Begebenheit. Sei dies 26 die imaginäre Begegnung mit einer Person, die zur Handlung beiträgt, einem Gegenstand oder einer Stimmung. ¾ Der Klient/die Klientin kann sich in eine Sequenz hineinbewegen. Dadurch kann er Informationen aus der Gegenwart oder Vergangenheit aus dem Unbewussten hervorholen. Lebensthemen, Konflikte, Erinnerungen werden bildhaft, können bearbeitet werden. Wie im Märchen kann eine Lösung gefunden, etwas überwunden werden. ¾ Auch Schattenthemen können beleuchtet werden, denn Nebenfiguren aus Märchen oder angstmachende, abgelehnte Wesen haben mit einem selbst genauso zu tun wie Ersehntes, Erwünschtes. Der Klient/die Klientin kann sich in eine Rolle bewegen, die er/sie sich schon lange erträumte. ¾ Eventuell wird das Märchen abgeändert, wenn der Klient/die Klientin feststellt, dass bisher Gelebtes einschränkend oder verhindernd war. Eine neue Märchenund „Lebenschoreographie“ kann erarbeitet und erlebt werden. ¾ Die Tanztherapeutin ist Begleiterin und Zeugin, schafft den Raum und einen vertrauten Rahmen, in dem sich die Klientin/der Klient bewegen kann. Material und Musik können angeboten werden. ¾ Durch ein abschließendes Reflexionsgespräch wird Erlebtes kommuniziert und nochmals bewusst gemacht. ¾ Der Klient/die Klientin wird aus der „Märchenwelt“ entlassen, indem er/sie durch die aktive bewegte Imagination zurückgeführt und ein deutlicher Schlusspunkt gesetzt wird. 1.5 Erklärung zum Fragebogen Zunächst diente der Fragebogen meiner Entscheidungshilfe. Nach den ersten beiden Einzellfallstudien allerdings bekam er für mich eine weitere Bedeutung, denn es wurde deutlich, dass die spontanen geschriebenen Erinnerungen der Betreffenden auf dem Papier andere waren, als in den anschließenden Einzellfallstudien. Für mich ergab sich daraus die Frage, ob die spontanen Erinnerungen also stets mit aktuellen Begebenheiten zu tun haben oder mit dem besonderen Rahmen einer Therapiestunde mit all seinen Gegebenheiten. Um diese Unterschiede zu dokumentieren, fügte ich sie den Einzelfallstudien hinzu, obwohl dies ursprünglich nicht meine Absicht war. Bei der abschließenden Auswertung werde ich dies ausführlicher dokumentieren. 27 1.6 Die Märchentitel Die Märchentitel veränderte ich nachträglich individuell dem Thema des Klienten/der Klientin entsprechend. Somit wurde die Bedeutung der Märchensymbole für die Betreffenden zum Titel des Märchens und bekamen eine persönliche Note. Die Märchentitel wurden folgendermaßen verändert: „Der Froschkönig und der eiserne Heinrich“ Ö „Der einsame, empörte Page“ „Brüderchen und Schwesterchen“ Ö „Der störrische Bruder“ „Dornröschen“ Ö „Die Oasenbauerin“ „Der Teufel mit den drei goldenen Haaren“ Ö „In Großmutters Schürze“ „Brüderchen und Schwesterchen“ Ö „Eine spielerische Beziehung“. 28 2. Fünf Einzelfallstudien 2.1 „Der einsame, empörte Page“ J., männlich, 50 Jahre alt. Im Januar 2006 beantwortete J. den Fragebogen wie folgt: An welches Märchen erinnerst du dich spontan? Rotkäppchen An welche Szene/Szenen daraus erinnerst du dich? Korb mit Kuchen im Wald Hat das Märchen einen Bezug zu deinem Leben? Zur Vergangenheit Mit welcher Rolle könntest du dich aktuell identifizieren? Mit dem Jäger Welches Märchen ist dein Lieblingsmärchen? „Das tapfere Schneiderlein“ Tanztherapeutische Stunde Im November 2006 Wir beginnen die Stunde mit einem Warm-up: wir stehen uns gegenüber, Füße parallel, ich gebe Klopfmassage vor, J. macht diese nach. „Reise durch die Wirbelsäule“ durch langsames Auf- und Abrichten, dabei sind die Knie leicht gebeugt. Anschließend schütteln wir die Arme und Beine aus, sanfte Auf- und Abbewegungen mit dem Kopf usw. Ich fordere J. auf, sich durch den Raum zu bewegen. Hindernisse, wie Stühle, Kissen usw. soll er in seinen Bewegungsablauf integrieren, indem er darüber klettert oder steigt. Bei diesem Teil begleite ich ihn, indem ich mich ebenfalls durch den Raum bewege. 29 Nach ein paar Minuten teile ich J. mit, dass ich ihn jetzt mit einer Imagination begleiten werde und begebe mich in eine Ecke des Raumes, von der aus ich J. beobachten und stimmlich begleiten kann. Ich sage, er spaziere gerade durch einen Wald. Es gibt viele Bäume, um die er herumspaziert, Wurzeln und Baumstümpfe, über die er klettert, eine Lichtung, die er betrachtet usw. Er soll sich im eigenen Tempo durch diesen Wald bewegen und die Stimmung wahrnehmen. Kann er einen Geruch wahrnehmen? Kann er eine Temperatur fühlen? Wie ist das Licht? Nach weiteren Minuten sage ich, dass er nun seine eigene Landschaft erfinden soll, während er weiter spaziert. Er soll sich umgucken, was sich um ihn herum befindet und sich Zeit lassen beim Erforschen seiner Landschaft. Schließlich soll J. innerhalb seiner Landschaft einen Platz suchen und sich an diesem nieder lassen. Ich frage ihn, wo er sich nun befindet. Er antwortet, dass er sich in einer Steppe befindet. Er lehne sich an einen Hügel (= Sessel). Auf meine Frage, wie er sich gerade fühlt, sagt er, er habe von hier aus die Übersicht und fühle sich geborgen. Wir vereinbaren, dass ich ihm gegenüber Platz nehme, ca. 3 m von ihm entfernt. Ich frage ihn, an welches Märchen er sich jetzt an diesem Platz spontan erinnert. Er sagt, an den „Froschkönig“. Auf meine Frage, welche bestimmte Szene ihm sofort einfällt sagt J., dass er sich an die Stelle erinnert, an der die goldene Kugel in den Brunnen fällt und der Frosch sie hoch bringt. Daraufhin soll die Prinzessin dem Frosch einen Wunsch erfüllen und der Frosch sagt, er wolle bei der Prinzessin schlafen. Schließlich habe die Prinzessin den Frosch an die Wand geworfen und der Frosch sei ein Prinz geworden. Ich frage ihn, was ihm zu dieser Stelle einfällt, wie er sie empfindet. Er sagt, er habe es schon als kleiner Junge gemein gefunden, dass der König der Tochter den Vorwurf macht, sie würde ein Versprechen nicht einhalten und einfach bestimmt, dass der Frosch bei ihr schlafen darf, obwohl sie das nicht will. Und außerdem fände er den Frosch auch gemein, weil der sich mit ihr einlässt, obwohl sie so oberflächlich ist. Sie wollte ihn ja gar nicht, sondern erst, als er zum Prinzen wurde. Der König sei zwar ordnend, aber überhaupt nicht verständnisvoll gewesen. Alle im Märchen wären oberflächlich. J. sagt, es falle ihm aber noch eine andere Stelle ein, die ihn schon als kleines Kind beschäftigt habe. Es handle sich um die Stelle ganz am Schluss, die eigentlich nichts mit dem Märchen zu tun hat. Ich bitte ihn, mir die Stelle zu schildern. Er erzählt, es handle sich um die Stelle, als der König in der Kutsche sitzt und der Page hinten drauf steht 30 und es einen fürchterlich lauten Knall gibt. Der König ruft: „Heinrich, der Wagen bricht“, der Page antwortet: „Der Wagen nicht, mein Herze bricht.“ Ich frage J., warum ihn diese Stelle schon als Kind beschäftigt hat. Der Page sei der einzige im Märchen gewesen, der die Gemeinheiten und Zusammenhänge kapiert. Dem Pagen bricht das Herz, weil er die ganze Heirat schrecklich findet. Das habe er auch als Kind so empfunden. Alles in dem Märchen sei gemein. Ich frage, welche Szene ihn mehr berühre – die, wo der Frosch die Kugel aus dem Brunnen rauf bringt oder die mit dem Pagen und der Kutsche. Er überlegt kurz und antwortet, es sei die mit dem Pagen. Ich bitte ihn, sich nochmals genau zu erinnern und mir die Situation zu schildern. Er sagt, der König befände sich in der Kutsche und hinten drauf stünde der Page. Ich frage, wo sich Prinz und Prinzessin befinden. J. sagt, die seien weg. Die Hochzeit sei vorbei. Ich frage: „Mit welcher der beiden Figuren, die übrig sind, könntest du dich identifizieren?“ J. meint, mit dem Pagen. Ich bitte J., sich hinzustellen und genau die Haltung des Pagen einzunehmen. Er stellt sich hin, die linke Hand hält sich imaginativ an einer Halterung fest, die andere Hand steckt er in die Hosentasche. Ich bitte ihn, mir genau zu beschreiben, was er da gerade tut. Er beschreibt seine Körperhaltung. Ich frage, ob die Kutsche fährt oder steht. Er sagt, sie fährt. Ich frage, wer da noch ist. Er sagt, in der Kutsche sei der König. Ich frage: „Kannst du ihn sehen?“ Er sagt: „Ja“. Ich frage: „Was genau kannst du vom König sehen?“ Er sagt: „Wenn ich mich hier links zum Fenster von der Kutsche beuge, kann ich ihn sehen.“ Ich frage, ob er sich mit dem König unterhalten könne. Er bejaht dies. Als ich ihn frage, worüber er mit dem König rede, sagt er, der König sage, der Wagen bricht, weil es einen Knall gab. Ich frage ihn nach seiner Antwort. Es sei nicht der Wagen, der bricht, sondern sein Herz. J. möchte sich wieder an seinen Platz setzen, weil die Haltung ihn anstrenge. Ich sage, er könne sich setzen. Ich frage ihn, in welcher Stimmung er sich jetzt gerade befindet. Er sagt, er fühle sich melancholisch. Ich frage ihn, was mit dem König sei – ob der ihn an jemanden erinnert. J. antwortet, er erinnere ihn an seinen Vater. Auf meine Frage warum, sagt er, weil der immer bestimmend, aber nicht greifbar war. Er sei immer getrennt gewesen von J. und hat nie verstanden, was passiert. Das sei auch in seiner Kindheit so gewesen. Die Stimmung innerhalb der Familie sei auch ähnlich gewesen. Ich bitte J., sich nochmals auf das imaginäre Treppchen zu stellen und sage: „Bitte beschreib mir, was du alles siehst und guck dich nochmals genau um.“ Er sagt, er sähe den König, die Landschaft. Er guckt sich weiterhin um. Ich frage: „Wer lenkt eigentlich 31 die Kutsche und treibt die Pferde an?“ J. meint, das wüsste er nicht. Er könne niemanden sehen. Auf meine Frage, ob auch das etwas aus seiner Familie sei sagt er, die Familie sei wie ein Räderwerk gewesen, das laufen musste. Ich sage: „Nimm mal wahr, wie deine Position ist.“ J. sagt, es sei sehr eng alles und der Wagen führe so schnell, er müsse sich ganz verkrampft festhalten, denn sonst falle er runter, das Treppchen sei so schmal. Ich sage, er solle mal durch seinen Körper gehen von Kopf bis Fuß und mir jede Befindlichkeit schildern. Er sagt, sein Kopf wäre frei, er spüre den Fahrtwind und er hätte einen guten Überblick. Ich sage: „Ja, in dieser Position stehst du ja auch am höchsten. Sogar höher, als der König.“ J. sagt: „Das stimmt.“ Ich frage: „Kennst du das?“ Er sagt, ja, er sei der einzige innerhalb der Familie gewesen, der den Überblick bewahrt habe. Alle hätten sich darauf verlassen. Ich sage: „Der Page ist ja auch laut deiner Beschreibung der einzige, der den Lug und Trug innerhalb des Märchens erkennt, dennoch ist dieser Abschnitt hinten an das Märchen drangehängt, so, als hätte es nichts damit zu tun und du hängst da auf der Kutsche auch hinten dran.“ J. sagt: „Stimmt, der Page kommt sonst nie im Märchen vor. Der ist nicht integriert. Der hat zu niemanden eine Beziehung.“ Ich fordere ihn auf, seine Reise durch den Köper fortzusetzen. Was fällt ihm noch auf? J. sagt, seine linke Hand sei sehr verkrampft. Ich sage: „Die Kutsche fährt schnell, du hältst dich aber nur mit der linken Hand fest. Ist die andere noch immer in der Hosentasche?“ J. sagt, die sei noch immer in der Hosentasche. Ich frage, ob er das nicht komisch fände – er könne sich doch mit beiden Händen festhalten. Er antwortet, nein, denn das gäbe ihm das Gefühl von Souveränität, Eigenständigkeit und Gelassenheit, denn ansonsten sähe er doch blöd aus da hinten auf dem Wagen. Auf meine Frage, ob das eine Alltagsbewegung sein könnte, antwortet er, er nähme gerne eine Position der Lässigkeit ein. Ich frage ihn nach seinem Brustkorb. Dazu fällt J. nichts ein. Seine Beinstellung beschreibt er als gerade und eng, das erinnere ihn an das Militär. J. sagt, er wolle sich wieder setzen, das sei alles so anstrengend. Ich sage, er solle mir beschreiben, was so anstrengend ist. Er sagt: „Einfach alles. Die ganze Situation: Der blöde König, der da so unbeteiligt sitzt, die Handhaltung, die Enge.“ Ich frage ihn, ob er dem König gerne etwas sagen möchte. J. antwortet: „Mein Gott, warum kriegst du das alles denn nicht mit?“ Ich frage J., was er denn jetzt spontan gerne täte. Er sagt, er würde gerne abspringen von der Kutsche und davon reiten. Ich sage, dass er das gerne tun könne, doch er soll sich jeden Schritt, der dazu nötig ist, bewusst machen. Er beschreibt mir nun den ganzen Vorgang: er lässt den Griff los, er 32 steigt vom Treppchen, er geht um die Kutsche herum, er zäumt eines der Pferde ab, er steigt auf und reitet davon. Ich lege J. eine Trommelmusik auf, um seinen Ritt zu begleiten, doch er bittet mich, diese auszumachen. Nach seinem Ritt kommen wir in der Raummitte zusammen und nehmen Platz. J. ist sichtlich berührt. Ich frage ihn, wie es ihm ginge. Er sagt, das sei ein befreiendes Gefühl gewesen. Er hätte plötzlich durchatmen können. Ich sage, dass das Herz des Pagen ja gerade erst gebrochen sei, ob er das im Brustkorb hätte spüren können. Er sagt, das hätte er erst bemerkt, als er beim Wegreiten durchatmen konnte. Vorher hätte er sich wohl beengt gefühlt im Brustkorb. Auf meine Frage, ob er dem König noch gerne etwas zum Abschied gesagt hätte, verneint er. Der König hätte ihm nur leid getan, weil er mit der Situation alleine zurückbleiben musste. J. treten Tränen in die Augen. Dann sagt er, aber damit müsse der König jetzt eben klar kommen. Ich hole mein Märchenbuch mit den Sammlungen der Gebrüder Grimm hervor und biete J. an, diese eben erlebte Stelle mit mir gemeinsam zu lesen. ... Der treue Heinrich hatte sich so betrübt, als sein Herr war in einen Frosch verwandelt worden, dass er drei eiserne Bande hätte müssen um sein Herz legen lassen, damit es ihm nicht vor Weh und Traurigkeit zerspränge. Der Wagen aber sollte den jungen König in sein Reich abholen; der treue Heinrich hob beide hinein, und stellte sich wieder hinten auf, voller Freude über die Erlösung. Und als sie ein Stück Wegs gefahren waren, hörte der Königsohn hinter sich, dass es krachte, als wäre etwas zerbrochen. Da drehte er sich um, und rief: „Heinrich, der Wagen bricht.“ „Nein, Herr, der Wagen nicht, es ist ein Band von meinem Herzen, das da lag in großen Schmerzen, als ihr in dem Brunnen saßt, als ihr eine Fretsche (Frosch) was’t (wart).“ Noch einmal und noch einmal krachte es auf dem Weg, und der Königsohn meinte immer der Wagen bräche, und es waren doch nur die Bande, die vom Herzen des treuen Heinrich absprangen, weil sein Herr wieder erlöst und glücklich war. (Grimm, 1937, S. 8) 33 J. ist sichtlich verblüfft. Nach ein paar Sekunden sagt er, das sei ein völlig anderes Thema. Er sagt, das rumore in ihm. Nach einer Weile frage ich, ob er sich erklären kann, warum er das so anders in Erinnerung hatte. Er sagt, dass er wohl seine eigene Familiengeschichte gespiegelt haben wollte. Ich sage, du hast Prinz und Prinzessin weggedrängt und an deren Stelle den König gesetzt. Du und der König waren mit der Kutsche unterwegs. J. sagt, bei ihm habe es auch keine Bande um das Herz gegeben. Sein Vater habe die Familie mit seinen Kriegserlebnissen immer belastet. Die ließen ihn nicht los. Die waren eine ständige Bedrohung und haben J. sehr berührt. Für die beiden anderen Personen (Prinz und Prinzessin) gab es in seinem Leben keine Entsprechung. Wahrscheinlich ginge es ihm um die Auseinandersetzung mit seinem Vater, darum habe er diesen in die Kutsche gesetzt. Als er von der Kutsche ging, habe er den Vater mit seiner Bedrohung alleine zurück gelassen, das hätte ihm leid getan. Ich sage, dass wir nun am Ende der Stunde sind und ich ihn gerne mit einem Tanz verabschieden würde. Ich lege nochmals die Trommelmusik auf, er sagt, jetzt fände er sie passend. Wir tanzen getrennt voneinander, haben hin und wieder Blickkontakt. J. lächelt, wirkt aber sehr beschäftigt. Plötzlich ruft er, er würde jetzt ganz anders tanzen als sonst. Da sei mehr Kraft. Nach dem Tanz frage ich ihn, wie er denn seine Bewegungen empfunden habe. Er sagt, schwerer und breitbeiniger. Er hätte sich mehr in der Körpermitte und in den Oberschenkeln gespürt. Das würde für ihn mehr Selbstbewusstsein und Standfestigkeit bedeuten. 34 2.2 „Der störrische Bruder“ K., weiblich, 51 Jahre Im November 2006 beantwortete K. den Fragebogen wie folgt: An welches Märchen erinnerst du dich? Hänsel und Gretel An welche Szene/Szenen daraus erinnerst du dich? Wie Gretel die Hexe in den Ofen schubst Hat das Märchen einen Bezug zu deinem Leben? Ja, zur Vergangenheit Mit welcher Rolle könntest du dich aktuell identifizieren? Mit der Gretel Welches Märchen ist dein Lieblingsmärchen? Schneewittchen Tanztherapeutische Stunde Anfang Januar 07 Wir beginnen damit, dass wir uns gegenüberstehen und strecken. Zunächst macht jede ihre eigenen Bewegungen, allmählich spiegle ich die Bewegungen von K. Zu diesem Warm-up begleitet uns leise Klaviermusik von einer CD. Am Ende des Liedes schalte ich den CD-Player aus und fordere K. auf, mit mir gemeinsam durch den Raum zu spazieren. K. ist der Raum vertraut, von daher beginne ich recht schnell damit, mich mit ihr auf die „Reise“ zu machen. Ich erzähle ihr, dass wir uns auf eine Wiese begeben. Allmählich soll sie sich das Gras unter ihren Füßen genau betrachten. Welche Farbe hat es und welche Beschaffenheit, ist es hoch oder eher niedrig, wie fühlt es sich an usw. Wir gehen gemeinsam, doch getrennt weiterhin durch diese Landschaft, dabei spiegle ich ihr Tempo. Nach einer Weile erzähle ich ihr, dass wir auf einen Wald zusteuern, der die Wiese begrenzt. K. verringert deutlich ihr Tempo. Ich begebe mich neben sie. Sie geht 35 langsam in den Wald hinein und ich erzähle ihr, dass wir uns nun auf einem Waldpfad befinden, sage, wir müssten auch mal über Wurzeln oder querliegende Äste klettern. K. verändert ihre Bewegungen nicht. Sie bewegt sich langsam und vorsichtig vorwärts. Ich fordere sie auf, sich alles genau anzusehen, die Temperatur zu fühlen, den Wald zu riechen. Sie geht mit zusammengekniffenen Augen weiter, wirkt sehr konzentriert auf mich. Ihre Schultern sind hochgezogen. Nach einiger Zeit sage ich, dass sie durch die Bäume eine lichtdurchflutete Lichtung erkennen kann und darauf zugehen soll. Sie beschleunigt ihr Tempo ein wenig und kommt bei der Lichtung an. Nun begebe ich mich an eine Stelle des Raumes, von der aus ich sie gut beobachten kann und lasse mich nieder. K. steht mit geschlossenen Augen beinahe in der Mitte des Raumes. Ich sage, sie solle sich alles genau vorstellen. Dann frage ich sie, wie es ihr da geht, auf der Lichtung. Sie sagt, es ginge ihr besser als im Wald. Dabei seufzt sie und lässt Arme und Schultern sinken. Ich sage, dass sie sich jetzt eine eigene Landschaft kreieren und von der Lichtung aus starten kann, um sie zu erforschen. Eine Weile steht K. mit geschlossenen Augen da. Ich sage, sie könne mir auch gerne alles beschreiben, was sie „sieht“. Sie sagt, da wäre ein Bach und den würde sie jetzt entlang spazieren. Der Weg sei steinig und zeitweise ginge es bergauf. K. bewegt sich durch den Raum. Ihre Schritte empfinde ich als vorsichtig. Sie sagt, die Sonne würde scheinen, es sei ein schöner Tag und auf jeden Fall sei es sehr viel besser am Bach, als im Wald. Nach einiger Zeit fordere ich sie auf, sich einen Platz zu suchen, der ihr gut gefällt und an dem sie sich wohl fühlt. K. lässt sich nieder. Sie sagt, sie würde gerne die Füße ins Wasser hängen lassen und winkelt die Beine so an, dass es aussieht, als würden die Füße im Wasser stehen. Sie sagt, hier gefiele es ihr gut. Nun bitte ich K., sich spontan an ein Märchen zu erinnern. Sie antwortet, das hätte sie schon im Wald getan. Da sei plötzlich ein Bild von einem Reh aufgetaucht und sie glaube, das habe zu tun mit dem Märchen „Brüderchen und Schwesterchen“. Sie hätte auch das Mädchen gesehen. Allerdings könne sie sich überhaupt nicht mehr an dieses Märchen erinnern. Irgendwie ginge es doch wohl darum, dass das Mädchen das Reh von dem Bach fern halten will, damit es nicht daraus trinkt. Ich frage K., ob denn da im Wald ein Bach gewesen wäre. Sie bejaht dies. Aber das sei ein anderer Bach gewesen, als der, an dem sie sich jetzt befindet. Der Bach im Wald 36 war ganz anders. Der hier sei viel klarer. Ich sage: „Du bist also zweimal an einem Bach entlang gegangen. Waren das also zwei verschiedene Bäche?“ Sie bejaht dies. Im Laufe des Gespräches kommen wir darauf, dass sie bei dem Bach im Wald mit dem Wasserlauf gegangen ist und später, als sie von der Lichtung aus startete, gegen den Wasserlauf eines Baches. Das fiel mir auf, da sie ja eine Zeit lang bergauf ging. Ich frage sie, was diese beiden Bäche für sie bedeuten könnten. K. presst die Lippen zusammen. Sie wirkt, als wolle sie sich beherrschen, um nicht weinen zu müssen. Schließlich antwortet sie, das sei für sie das Symbol für das Leben, das wegfließt. Ich sage, bei dem Bach im Wald ist das Wasser von dir weggeflossen oder mit dir geflossen. Bei dem Bach, an dem du dich jetzt befindest, bist du gegen den Fluss gelaufen, sozusagen dem Leben entgegen. Jetzt stecken deine Füße drin. Sozusagen mitten im Leben. Wie ist das? Wir lachen. Sie wischt sich die Augen. Dann erzählt sie wieder von dem Reh. Es sei sehr tröstlich gewesen, dieses Reh zu sehen im Wald. Sie erzählt nun viel. Zwischendrin bitte ich sie, sich in eine der beiden Figuren hineinzuversetzen. Sie sagt, sie wäre die Schwester. Plötzlich meint sie, da gäbe es eine Parallele zum Märchen „Hänsel und Gretel“. Ich frage sie, was die Parallele sei. K. denkt lange nach. Sie kann sich nichts vorstellen. Dann sagt sie, dass die Schwester auf den Bruder aufpassen und ihn vor irgendwas bewahren muss. Während sie dies sagt, fasst sich K. spontan mit der linken Hand an die rechte Schulter. Ich kommentiere diese Geste mit den Worten: „Du trägst viel Verantwortung.“ Sie seufzt und sagt ja, das stimme. Ich bitte sie, sich an die Stelle im Wald zu begeben, wo sie das Mädchen mit dem Reh gesehen hatte und sich die Situation genau vorzustellen. Mit vor dem Bauch verschränkten Armen begibt sie sich dort hin. Sie sagt, das Reh wolle immer von dem Wasser trinken, doch das sei nicht gut für das Reh. Sie wolle es immer daran hindern, doch das sei so störrisch. Ich sage, sie solle die Szene mal nachstellen. Sie sagt, der ließe sich da nicht wegbringen, bestenfalls durch gutes Zureden. K. wirkt angespannt auf mich. Ich frage, ob sie das Reh an einer Leine halte oder ob es frei laufe. Sie antwortet, sie hätte es an der Leine, aber es ließe sich nicht wegzerren. Ich frage, wo sie das Reh denn gerne hinbringen wolle. Sie sagt, an den anderen Bach. Plötzlich sagt sie, jetzt wisse sie, was das sei. Das sei tatsächlich die Situation mit ihrem realen Bruder. Sie bewegt sich langsam auf mich zu und nimmt mir gegenüber Platz. 37 Sie beginnt zu erzählen, dass ihr Bruder an einer Krankheit leide und sich zeitweise über die Anweisung des Arztes hinwegsetzt, indem er seine Medikamente nicht einnimmt. Das würde alle sehr belasten. Und auch sie habe darunter zu leiden. Ich sage, da habe sie ja tatsächlich einen störrischen Bruder. K. nickt. Sie erzählt mir, dass sie für ihren Bruder eine besondere Bedeutung während der Kindheit hatte und es für ihn wohl sehr schwer war, als sie von der Familie wegzog. Sie fühle sich noch immer für ihn verantwortlich. Wir reden lange über dieses Gefühl und ihre Beziehung zu dem Bruder. Schließlich sage ich, dass sie ihren Bruder wohl gerne an diesen schönen Bach bringen würde, weil der ja auch für sie viel besser ist, als der Bach im Wald. Sie bejaht dies. Ich frage, da sie zu diesem anderen Bach gefunden habe, ob sie das mit dem Bruder teilen wolle? Sie nickt. Ich sage, sie könne es ja nochmals versuchen. Sie sagt, das hätte keinen Sinn. Auch könne sie die Verantwortung für seine Lebensgestaltung nicht mehr tragen. Wieder fasst sie sich an die Schulter. Sie sagt, in dem Moment, wo ich das mit der Verantwortung gesagt hätte, hätte sie Nackenschmerzen bekommen. Diese Schmerzen kenne sie gut. Ich sage, dass sie auch die Arme vor dem Bauch verschränkt hätte, als sie zu der Stelle im Wald zurückkehren sollte, an der sich das Mädchen mit dem Reh befand. K. sagt, das mache sie immer, wenn sie sich unwohl fühle. Außerdem wollte sie sich im wahrsten Sinne des Wortes „zusammennehmen“, um nicht losheulen zu müssen. Ich frage K., was sie denn jetzt mit dem Brüderchen gerne machen würde, es stünde noch immer am Bach. Sie sagt, sie würde die Verantwortung gerne ablegen können, aber sie wolle den Bruder da nicht alleine stehen lassen. Ich antworte, sie habe doch ein Seil. – Vielleicht ginge es sozusagen mit einer „langen Leine“, ohne eine „Entwederoder-Entscheidung“, sondern mit einer „Sowohl-als-auch-Entscheidung“. K. sagt, das wisse sie nicht. Ich bitte sie, nochmals zu der Stelle zu gehen und es auszuprobieren. Sie begibt sich wieder an die Stelle. Nach einer Weile bückt sie sich, dann kehrt sie zu mir zurück. Sie sagt, sie habe die Leine abgelegt. Ich frage sie, ob das im Moment für sie gut wäre. K. sagt, das sei gut so. Ich sage, sie solle sich jetzt wieder zu dem Platz an dem Bach begeben, an dem sie ihre Füße ins Wasser baumeln ließ. Ich kündige ihr an, dass sie von dort aus den Weg zurück zur Lichtung gehen soll, dass wir uns dann auf der Lichtung treffen und dann gemeinsam durch den Wald, über die Wiese zurück in diesen Raum spazieren. Ich frage sie, ob sie sich für den Rückweg eine Musik wünsche. Wir suchen gemeinsam ein 38 passendes Stück aus und K. startet vom Bach aus ihren Rückweg. Als sie an der Lichtung ankommt, gehen wir gemeinsam weiter und ich kommentiere wieder, wo wir uns gerade befinden. Wir gehen dicht nebeneinander her. Ich passe mich ihrem Tempo an. Gemeinsam im Raum angekommen nehmen wir wahr, dass es inzwischen ein wenig dunkler geworden ist, das sich aber sonst nichts verändert hat. Abschließend schütteln wir uns zu Trommelmusik aus, tanzen dann gemeinsam. K. umarmt mich dabei spontan. Wir lachen. Bei einem kurzen Reflexionsgespräch sagt K., es wäre gut gewesen, wenn sie ein reales Seil gehabt hätte, um es ablegen zu können, denn das hätte den symbolischen Akt unterstrichen. 39 2.3 „Die Oasenbauerin“ V., weiblich, Ende 30, im achten Monat schwanger V. beantwortete im Oktober 2006 den Fragebogen wie folgt: An welches Märchen erinnerst du dich spontan? Aschenputtel An welche Szene/Szenen daraus erinnerst du dich? Wie sie am Grab der Mutter steht, dort ist ein Baum, der sie mit den herrlichen Gaben (Kleider) versorgt. Hat das Märchen einen Bezug zu deinem Leben? Zur Vergangenheit: Einsamkeit, das Gefühl, nicht dazuzugehören, habe ich teilweise auch erlebt. Zum Alltag: am ehesten wiederholt sich das im Arbeitsbereich in dem Gefühl, dass alles Reden nichts hilft Mit welcher Rolle könntest du dich aktuell identifizieren? Mit dem gutherzigen, aber blinden Vater. Welches Märchen ist dein Lieblingsmärchen? Rotkäppchen Tanztherapeutische Stunde Mitte Januar 07 Beim warm-up stehen wir uns gegenüber und machen Dehn- und Streckübungen. V. sagt, aufgrund ihres dicken Bauches sei sie nicht besonders beweglich. Ich sage, sie solle soweit mitmachen, wie es für sie gut ist. Wir bewegen hauptsächlich die Arme und Beine, lassen die Gelenke kreisen. Im Hintergrund läuft Entspannungsmusik. Während der Übung erzählt mir V., dass sich der Alltag durch den Bauch etwas anstrengend gestaltet. Wir unterhalten uns über Schwangerschaftserfahrungen, z.B., dass sich die Schuhe nicht mehr binden lassen usw. 40 Ich schlage vor, dass wir uns langsam durch den Raum bewegen, während wir uns aufwärmen. Als die Musik zu Ende ist, sage ich, dass wir gemeinsam einen Spaziergang durch den Raum unternehmen. Da V. den Raum nicht kennt, rege ich an, sie könne sich mal die Bilder ansehen und alles, was es so zu entdecken gibt. Nach einer Weile beginne ich mit der Imagination auf der Wiese. Wir gehen in flottem Tempo durch den Raum. Als wir uns dem Wald nähern, geht es im selben Tempo weiter. Ich gehe nun hinter V. her und spiegle ihren Schritt. Nach einiger Zeit sage ich, dass sich Äste auf dem Waldweg befinden. V. steigt imaginär darüber. Das Tempo bleibt unverändert. Schließlich sage ich, durch die Bäume falle Licht – das käme von einer Lichtung, die sich irgendwo zwischen den Bäumen verbirgt. Wir müssten nun vom Pfad abkommen und uns durch die Bäume auf diese Lichtung zu bewegen. V. macht eine Bewegung nach rechts und verändert nun ihre Gangart. Sie macht enge Schritte, setzt dabei immer einen Fuß direkt vor den anderen. Das Tempo ist unverändert. Ich folge ihr und spiegle ihre Bewegungen. Als sie auf der Lichtung ankommt, nehme ich zwei Meter von ihr entfernt Platz. V. atmet mehrmals tief ein und aus. Ich kann Atemgeräusche hören. Ich sage, sie könne sich nun erst einmal von dem langen Weg ausruhen. Schließlich soll sie vor ihrem inneren Auge eine eigene Landschaft kreieren. Nach einer Weile fordere ich V. auf, diese eigene Landschaft zu erforschen. V. dreht sich um und geht auf die Matratzenecke zu. Sie kniet sich nieder, drückt mit den Händen auf die Matratze, krabbelt langsam auf allen Vieren darauf herum. Sie ertastet die Decken und Kissen, die sich dort befinden und entdeckt dabei die Seile, die ich versteckt hatte. Sie nimmt die Seile auseinander und legt sie um die gesamte Matratzenecke herum. Danach ordnet sie die Kissen und Decken und legt sich immer wieder darauf, so als wollte sie eine bequeme Stellung finden. Dabei entdeckt sie die beiden lebensgroßen Stoffpuppen, die sich auf einer Matratzenwulst befinden. Sie nimmt die beiden und setzt sie außerhalb des Seilkreises an die Wand gelehnt hintereinander auf den Boden. Dann wendet sie sich wieder den Kissen und Decken zu und legt sich irgendwann dazwischen bzw. darauf, atmet tief ein und aus und guckt auf den Sternenbaldachin über sich. Ich sage: „Genau, mach es dir bequem, so dass du dich richtig wohl fühlst.“ V. lacht. Auf meine Frage, ob sie mir erzählen möchte, wo sie jetzt sei, antwortet sie, sie sei noch immer auf der Lichtung, es sei ein schöner Tag, rundherum sei der Wald. Sie habe auf der Lichtung diesen Platz gefunden, der sei ganz weich und voller Moos. Es sei sehr still und angenehm warm. Es sei ein bisschen wie „ankommen“. 41 Ich sage, dass sie sich jetzt bitte an diesem Platz ganz spontan an ein Märchen erinnern soll. Nach ein paar Sekunden fängt V. an zu lachen. Daraufhin frage ich sie, ob sie an ein bestimmtes Bild denke. Sie lacht weiter und antwortet, ja, sie denke an eine Szene aus Dornröschen, wo die plötzlich alle für 100 Jahre einschlafen. Das fände sie eine schöne Vorstellung – für 100 Jahre schlafen zu dürfen. Wir lachen gemeinsam. Ich frage sie, wie die Vorstellung für sie wäre, 100 Jahre zu schlafen. Sie antwortet, das sei wie ausschlafen dürfen. Dann erklärt sie mir genau, an welche Szene sie spontan denken musste, nämlich die Stelle, an der der Koch dem Küchenjungen mit dem Kochlöffel hinterher rennt und beide in dieser Stellung erstarren. Sie führt das dann weiter aus. Dass der ganze Hof erstarrt und auch das Dornröschen irgendwo. Ich frage sie, ob das für sie genauso angenehm wäre, wie die Vorstellung davon, ausschlafen zu können, denn schließlich sei das ja eine plötzliche, auferlegte Starre, die dem ganzen Hofstaat widerfährt. Sie sagt, das sei etwas völlig anderes. Die stünden alle in einer unbequemen Haltung da und wären wie aus dem Leben gerissen. Das sei eigentlich eine schreckliche Vorstellung – für so lange Zeit aus dem Leben gerissen zu sein, sich dem nicht entziehen und sich nicht frei entscheiden zu können. Auf meine Frage, ob sie das kennt, für längere Zeit aus dem Leben gerissen zu sein, verneint sie. Im Laufe des Gespräches über ihre Freiheit, sich hinlegen und schlafen zu können, wann immer sie möchte, gelangt V. zu dem Bild von Dornröschen. Sie denkt längere Zeit darüber nach, warum es überhaupt zu dem auferlegten Schlaf kam und wo sich Dornröschen zu dem Zeitpunkt befindet. Als sie sagt, Dornröschen säße in einer Kammer und überall wüchse alles zu, bitte ich sie, mir dieses Bild genauer zu beschreiben. Sie sagt, alles wuchere zu. Das ganze Schloss würde unerreichbar. Ich frage sie, wie das sei, so unerreichbar zu sein. In Ruhe und Stille unerreichbar zu sein sei für sie nur kurzzeitig als Ausgleich angenehm. Nicht für so lange Zeit und nicht fremdbestimmt. Ich sage: „So wie es für dich im Moment gut ist, da zu liegen, aber zu wissen, dass du nachher wieder nach Hause fährst und Mitten im Geschehen stehst.“ Sie lacht und nickt. Ich sage, dass mich die Ecke, in der sie da gerade liegt mit den Seilen außen rum auch ein wenig an das zugewucherte Schloss erinnere. Sie sagt, das sei ein wichtiger Teil von ihr – das Bedürfnis, in Ruhe gelassen zu werden. Sie möge es nicht, wenn ihr jemand von außen etwas aufzwingen wolle. Sie wolle manchmal richtig alleine sein, das habe etwas sehr Erholsames. Ich frage, ob sie im Alltag manchmal das Gefühl habe, sie könne ihre Ruhe haben, ohne gestört zu werden. 42 Hier beginnt sie von ihrem Umzug erzählen. Dass es ihr schwer fiel, ihre eigenen vier Wände zu verlassen, um bei ihrem Freund und dessen beiden Kindern ein Zimmer zu beziehen. Richtig Angst habe sie davor gehabt. (Sie weint, als sie erzählt, wie sie die Kisten packte.) Doch ihr Zimmer habe sie sich so eingerichtet, dass sie wirklich behaupten könne, es sei ihres. Sie beschreibt mir das Zimmer: das gemeinsame Bett befinde sich darin, doch außen rum habe sie alles so gestaltet, dass es ganz ihre Oase sei. Sie meint, sie fühle sich auch beschützt in diesem Zimmer. Ich frage, von wem. Sie sagt, von ihrem Freund, denn der würde ihr Bedürfnis nach ihrer Oase respektieren und auch seinen beiden Kindern sagen, dass sie V. nicht stören dürfen, wenn sie ihre Ruhe haben will. Ich sage, die Kinder befänden sich eindeutig außerhalb ihrer Oase und zeige auf die beiden Puppen außerhalb des Seil-Kreises. Sie guckt zu den Puppen, lacht und sagt, das sei wahr. V. spricht nun vom Abschied von ihrer Arbeitsstelle und was es für sie bedeutet, so viel Eigenes aufgeben zu müssen, auch wenn sie keinen Tag an die Arbeit denkt. Im Verlaufe des Gespräches erinnert sie sich daran, dass es ihr als kleines Kind schon ein großes Bedürfnis war, einen eigenen Ort zu haben. Darum sei sie schon mit drei Jahren von zu Hause zu dem Onkel geflohen. Die vielen Geschwister daheim seien ihr zu laut und stressig gewesen. Der Onkel habe dann immer Zeit für sie gehabt. Er war Musiker und V. konnte bei ihm malen und die Ruhe genießen oder machen, was sie wollte. Das sei auch so was, wie eine Oase gewesen. Wenn die Eltern sie suchten, war sie meistens dort zu finden. Ich sage: „Du hast also von klein auf die Fähigkeit, dir eine Oase zu schaffen und sie zu genießen?“ Sie sagt, das könne man so sagen. Daraufhin schildere ich ihr, wie es auf mich wirkte, als sie sich hier ihren Platz auf der Lichtung zurecht gemacht hat. Ich sage: „Das wirkte sehr klar, sehr selbstbewusst und zielgerichtet, wie du dir dein Nestchen bautest.“ Sie antwortet, hier käme auch keiner hin. Das sei ihr Platz. V. zieht nochmals Parallelen zu der Oase beim Onkel. Doch plötzlich sei eine neue Lebensgefährtin da gewesen, die V. nicht wirklich akzeptierte. Das sei sehr schmerzlich für sie gewesen. V. ging dennoch weiterhin zum Onkel, hauptsächlich, um mit ihm zu musizieren. Aber es sei nicht mehr die Beziehung gewesen, die sie einmal war. Sie wären dann zum Musizieren immer im Erdgeschoss in einen Arbeitsraum gegangen. Ich sage, Musizieren oder grundsätzlich eine kreative Tätigkeit kann auch eine Oase sein. Sie sagt, das habe sie auch so empfunden. 43 Abschließend sage ich, dass ich möchte, dass sie ihre Oase noch ein wenig genießen kann. Ich frage sie, wie ihr die Musik vom Aufwärmen gefallen hat. Sie sagt, die hätte ihr gut gefallen. Daraufhin schalte ich die Musik ein, dimme das Licht runter und setze mich wieder auf meinen Platz. Am Ende des Liedes sage ich, bevor sie sich von der Oase hier in diesem Raum verabschieden muss, solle sie sich nochmals all ihre inneren Oasen in Erinnerung rufen und bewusst machen, dass sie die Fähigkeit besitzt, sich selbstbestimmt ihre Oase zu bauen. V. atmet mehrmals tief ein und aus. Fast am Ende des zweiten Liedes sage ich, sie solle noch dreimal tief ein- und ausatmen und anschließend die Augen öffnen. Sie öffnet die Augen, wackelt mit den Zehen, streckt sich kurz und beginnt, die Seile aufzusammeln, die Decken zusammenzulegen und Kissen zu ordnen. Auch die beiden Puppen werden wieder auf die Matratzenwulst gesetzt. Auf meine Frage, ob sie noch etwas für sich bräuchte, antwortet sie, nein – es ginge ihr sehr gut. Sie habe gar nicht gewusst, was für eine tolle Oasenbauerin sie ist. 44 2.4 „In Großmutters Schürze“ A., männlich, Mitte 50 Im November 2006 beantwortete A. den Fragebogen wie folgt: An welches Märchen erinnerst du dich? „Der Teufel mit den drei goldenen Haaren“ An welche Szene/Szenen daraus erinnerst du dich? Wie des Teufels Großmutter dem Teufel während er schlief die drei goldenen Haare ausgerupft hat. Hat das Märchen einen Bezug zu deinem Leben? Nein. Höchstens als Erinnerung an meine Kindheit. Mit welcher Rolle könntest du dich aktuell identifizieren? Mit der Großmutter. Welches Märchen ist dein Lieblingsmärchen? „Hänsel und Gretel“ Tanztherapeutische Stunde Ende Januar 2007 Wir beginnen die Stunde damit, dass wir uns gegenüber stehen und die Füße schulterbreit parallel stellen. Ich sage A., er solle leicht in die Knie gehen und den Kontakt zum Boden spüren. Schließlich beginnen wir damit, die Füße über den Bodenkontakt zu massieren. Ich gebe jeden einzelnen Schritt vor. A. schließt die Augen und folgt meinen Vorgaben. Im Hintergrund läuft leise eine orientalische Flötenmusik mit meditativen Charakter. Als sie lebhafter wird, mache ich sie aus. Nachdem wir die Füße sowohl gleichzeitig, als auch einzeln auf diese Weise massiert haben, fordere ich A. auf, sich im eigenen Tempo durch den Raum zu bewegen und dabei den Bodenkontakt bewusst wahrzunehmen. Ich begleite ihn dabei und spiegle 45 sowohl sein Tempo, als auch seine Bewegungsqualität. A. bewegt sich getragen und leicht. Ich sage ihm, dass er innere Bilder einer Landschaft entstehen lassen soll, während er geht und alles genau zu „beobachten“: die Beschaffenheit des Bodens, die Temperatur, das Wetter, den Geruch usw. Schließlich soll er sich in dieser eigenen Landschaft einen Platz suchen, der ihm gut gefällt. A. geht weiterhin durch den Raum. Nach einer Weile sage ich, wenn er diesen Platz tatsächlich gefunden hat, solle er sich dort nieder lassen. Er nimmt mir gegenüber mit einer Entfernung von ca. 2 m Platz. Ich frage ihn, wo er jetzt gerade sitzt. A antwortet, er befände sich auf einem Sandboden oder etwas in der Art. Er sei sich nicht sicher, ob er sich in der Lüneburger Heide oder in den Dünen befände, er glaube jedoch eher in Dünen. Es sei nicht warm, aber auch nicht kalt, ein frischer Wind blase. Er befände sich in einer Mulde. Aus dem Wind zu sein, wäre schon ganz schön. Auf meine Frage, wie er sich fühle, sagt er, eigentlich schön entspannt. Ich sage, er solle es sich in diesem entspannten Zustand gerne noch gemütlicher machen und wenn er mag, ein Kissen oder eine Decke holen. A. holt sich eine Decke und ein Kissen, die Decke legt er unter das Kissen, auf das er sich setzt. Er meint, seine Füße würden sonst ohne Decke kalt. Ich hole mir ebenfalls ein Kissen. Ich wiederhole, dass er sich in den Dünen in einer Mulde befindet, windgeschützt, und dass er sich wohl und entspannt fühlt. Er stimmt dem zu. Nun bitte ich ihn, sich an diesem Platz an ein Märchen oder an eine Szene aus einem Märchen zu erinnern. Er sagt, das sei immer dasselbe Märchen, nämlich „Der Teufel mit den drei goldenen Haaren“ und zwar die Szene, an der die Großmutter dem schlafenden Teufel die drei Haare rausrupft. Er sagt, wann immer man ihn nach einem Märchen frage, würde er dieses Märchen nennen. Ich sage, das sei wohl sein Märchen. Im Laufe des Gespräches kommen wir darauf, dass es ihm stets um diese bestimmte Szene ginge. Er schildert mir die Szene in allen Details. Ich frage, wo sich das alles abspiele – an welchem Ort. Er sagt, in einer Höhle, aber eigentlich in der Hölle, einer Art Fegefeuer. Die Höhle befände sich in einem Berg, eine Feuerstelle wäre da. Auf meine Frage nach der Stimmung antwortet er, der Junge befände sich geschützt in der Schürzenfalte der Großmutter. Der Teufel würde schlafen. Alle wären viel größer als der Junge. Die Stimmung wäre furchtbar, aber nicht ganz so fürchterlich, denn der Junge wäre ja geschützt. Ich sage, das höre sich ja beinahe heimelig an, wie er das 46 beschreibt, obwohl es in der Hölle spielt. Er antwortet, dem Jungen ginge es da ja auch nicht schlecht. Ich frage nach der Großmutter: Von wem die denn eigentlich die Großmutter sei. Er sagt, das sei die Großmutter des Teufels. Ich frage, warum die dann dem Jungen helfe. Diese Frage kann A. nicht wirklich beantworten. Er schildert mir, dass der Junge drei Rätsel lösen muss, um die Königstochter ehelichen zu können, und dass er sich der Großmutter anvertraut habe. An eines der Rätsel könne er sich erinnern, nämlich an das mit dem Fährmann. Der hätte ihn immer sehr fasziniert. Er schildert mir diese Szene und wie das Rätsel für den Fährmann schließlich gelöst wurde. Überhaupt fände er die Auflösung genial. Denn der Fährmann brauchte nur dem nächsten das Ruder in die Hand zu drücken und schon sei er frei von dem Fluch, immer hin- und herfahren zu müssen. Ich sage, der Fährmann hätte ihn fasziniert und was genau ihn an diesem Mann fasziniere. Er sagt, dass der das einfach macht, nämlich rudern und rudern und rudern ohne zu wissen, wie er da wieder rauskommt. Ich frage ihn, wie das denn sei, wenn man immer wieder dieselbe Sache machen muss ohne zu wissen, wie man da wieder rauskommt. A. meint, das wisse er auch nicht so genau. Er versucht, sich den Fährmann in Erinnerung zu rufen und beschreibt mir sein Aussehen mit Schlapphut und Umhang in der Fähre sitzend. Dabei erinnert er sich daran, dass er nicht so gerne ins Wasser geht, sondern es lieber aus einiger Entfernung ansieht. Wir kommen wieder auf den Fährmann zu sprechen und ich frage A., ob sich der Fährmann über das ständige Rudern-Müssen beklagt hätte. A. antwortet, bei dem Jungen habe er sich beklagt. Als ich A. frage, mit welcher Figur er sich identifizieren könnte, antwortet er, mit dem kleinen Jungen. Ich bitte A., sich in die Szenen zu bewegen, an der er als kleiner Junge jetzt gerne stünde. Er sagt, er wolle da stehen, wo er über den Fluss gerudert wurde und dem Fährmann die Lösung für das Rätsel nennt. Ich bitte ihn, aus der Höhle zu dem Fluss zu gehen und mit der Fähre überzusetzen. Schließlich soll er dem Fährmann des Rätsels Lösung sagen. Er steht nun an der anderen Seite des Flusses. Auf meine Frage, welcher Impuls sich in ihm rege, reibt A. sich die Hände und meint, er würde nun zum Schloss wandern und die Königstochter heiraten. Wir lachen. Dann reden wir darüber, wie er in seinem Alltag Probleme löst und ob er stets eine Rätsellösung parat habe. Schließlich frage ich ihn nach der Reihenfolge der erinnerten Bilder des Märchens. Er nennt zunächst die Rätsel. Ich sage, für den kleinen Jungen war wohl der Fährmann so faszinierend und er tut etwas dafür, dass das Hin- und Herrudern 47 ein Ende findet. Nun reden wir über A.’s Zukunftsvisionen, Problemlösungsmöglichkeiten, das Fällen von Entscheidungen usw. A. möchte sich wieder hinsetzen können. Ich sage, entscheidend beigetragen zu der Lösung des Rätsels hat ja die Großmutter. A. stimmt mir zu. Auf meine Frage, ob es in seinem Leben eine Entsprechung gäbe zu dieser Figur, die so hilft, antwortet er, er habe sehr eng mit seiner Großmutter zusammen gelebt. Das sei früher nichts Außergewöhnliches gewesen. Man habe sich damals nicht so viel Gedanken um Erziehung gemacht, und wenn Vater und Mutter nicht zur Verfügung standen, dann blieb eben nichts anderes übrig. Er sei mehr von der Großmutter erzogen geworden und das sähe er nicht negativ. Die Vorstellung, dass seine Großmutter einmal nicht mehr sein könnte, hätte Albträume verursacht. Er sagt, sie sei eigentlich ein Aas gewesen. Auf meine verwunderte Reaktion sagt er, sie sei sehr dominant gewesen. Ich antworte, in dem Märchen habe sie ja sogar den Teufel gut im Griff gehabt, auf hinterhältige Art und Weise. A. lacht. Nun erzählt er mir aus seiner Kindheit. Von den beengten Wohnverhältnissen, dem Vater, der den Krieg erlebt hatte, den dominanten Frauen usw. Ich bitte ihn, sich nochmals in das Bild der Höhle zu begeben. Er schildert mir alles: die große Höhle mit der Feuerstelle und die Enge in der Falte der Schürze. Ich frage ihn, ob ich ihm eine Falte geben darf, indem ich ihm eine Decke umlege. Er bejaht und wickelt sich die Decke, die ich ihm über die Schultern so umlege, dass er sich fühlt, wie er sich das immer vorgestellt hat in der Schürze der Großmutter. Er lässt so viel Platz, dass er auch rausgucken kann. Während wir uns unterhalten, erkenne ich einen saugenden Rhythmus, wie er mit der Hand sein rechtes Fußgelenk und die Wade knetet. Ich frage ihn, wie er sich da fühlt. Er sagt, er fühle sich sicher, es könne ihm nichts passieren. Ich wiederhole: „Die Großmutter ist gewitzt, dominant und hilft dir.“ Ich frage nach der Entsprechung zu seiner leiblichen Großmutter. Er sagt, die sei unbedingt da. Wir klären die Beziehungen der Personen untereinander. Ich frage nach dem Teufel – ob es für den auch eine Entsprechung gäbe. Er sagt, das sei der Vater. Ich frage ihn, was der Teufel denn über die Beziehung von der Großmutter und dem Jungen denke. A. antwortet, der Teufel wisse doch gar nicht, dass er überhaupt da sei. Ich rufe, dass ich das ganz vergessen hätte und frage anschließend, ob denn sein leiblicher Vater seine Anwesenheit wahrgenommen hätte. A. antwortet, wenn er eine 5 nach Hause gebracht hätte, dann schon. Sein Vater hatte wohl eine undurchsichtige Art der Beziehung zu allen Menschen. 48 Wir kommen darauf, dass die Großmutter A. sehr viel mit auf seinen Lebensweg gegeben hat und die engste Beziehung für A. war. Sein Vater habe erst Gefühle für A. gezeigt, als dieser weiter wegzog, indem er weinte. Ich wiederhole, dass ihm seine Großmutter wohl sehr viel mit auf seinen Weg gegeben habe, was sich auch heute noch bewähre und bitte A., es sich so kuschelig wie möglich in der Falte der Schürze zu machen, um sich dieses Gefühl nochmals herzuholen. Er sagt, er brauche keine weiteren Kissen und Decken, er fühle sich sehr wohl, so wie er da sitzt. Ich lege ihm Entspannungsmusik auf und sage, er solle hineinspüren in das Gefühl zur Großmutter, zu dem körperlichen Kontakt, der Nähe. A. schließt die Augen und bleibt eine Weile so sitzen. Er spricht nun ganz leise, dass da viel Nähe sei, doch es handle sich nicht um körperliche Nähe, sondern um eine rein emotionale. Er beschreibt, dass er sich wohl, geborgen und beschützt fühle. Dann sage ich, dass ihm seine Großmutter ein Geschenk mitgegeben hat, das wohl Bestand hat in seinem Leben und ihm beim Finden von Lösungen und Fällen von Entscheidungen hilft. Ich sage, das sei seine innere Falte in der Großmutterschürze. Nach einiger Zeit soll sich A. von diesem inneren Bild verabschieden und wenn er so weit ist, auf den Weg zum Fährmann machen. Wenn er auf der anderen Seite des Flusses angekommen ist und dem Fährmann des Rätsels Lösung gesagt hat, soll er mir Bescheid geben, denn ab da gingen wir gemeinsam zurück aus der Imagination. Auf dem Rückweg schildert er mir die Dünenlandschaft, durch die wir uns bewegen. A. bewegt sich leicht und getragen, seine Stimme ist leise und sanft. Schließlich übernehme ich die Führung und sage, dass wir wieder in den Bewegungsraum eintreten. Ich mache auf die Kissen und Decken aufmerksam, die jetzt im Raum liegen. Dann lenke ich die Aufmerksamkeit wieder auf unsere Füße und wir enden damit, dass wir zum Stehen kommen und nochmals bewusst den Kontakt zum Boden aufnehmen. .Anschließend stellen wir fest, dass der Junge im Märchen „das Glückskind“ genannt wurde und lesen die beiden anderen Rätsel, an die sich A. nicht mehr erinnern konnte. A. erzählt mir nach der Stunde, dass er sich jetzt manchmal fragt, ob er zu der Beerdigung seiner Großmutter hätte gehen sollen 49 2.5 „Eine spielerische Beziehung“ L., weiblich, Anfang 50. Im Dezember 2006 beantwortete L. den Fragebogen wie folgt: An welches Märchen erinnerst du dich spontan? Schneewittchen An welche Szene/Szenen daraus erinnerst du dich? „Wer hat von meinem Löffelchen gegessen ...?“ Und an das Hausiererweib (die Stiefmutter) Hat das Märchen einen Bezug zu deinem Leben? Zur Vergangenheit und zum Beziehungsbereich Mit welcher Rolle könntest du dich aktuell identifizieren? Mit der Stiefmutter – liegt wohl an den Wechseljahren Welches Märchen ist dein Lieblingsmärchen? Ich habe ganz viele Märchen gleich lieb! Tanztherapeutische Stunde Ende Januar 2007 L. wirkt aufgeregt auf mich, als sie den Bewegungsraum betritt. Sie fragt mich, ob ich nervös sei. Kurz darauf spricht sie von den Wechselwirkungen zwischen Klient und Therapeutin. Wir beginnen die Stunde damit, dass wir uns in die Mitte des Raumes stellen und den Kontakt zum Boden unter den Füßen wahrnehmen. Die Füße stehen parallel, die Knie sind leicht gebeugt. Ich biete an, dass wir mit einer Klopfmassage beginnen. L. erzählt mir – während sie sich abklopft - was sie alles am Vormittag erledigt hat. Sie klopft sich kräftig ab, abschließend streichen wir Arme und Beine aus. Sie macht das kräftig und 50 schwungvoll, so als wolle sie etwas von sich abstreifen. Sie sagt „jawohl, weg damit“, während sie die Bewegungen ausführt. Anschließend fordere ich sie auf, durch den Raum zu gehen und sich beim Kennenlernen Zeit zu lassen. Sie fasst einige Spielgeräte und Materialien an, experimentiert damit und stellt Fragen. Schließlich findet sie einen Raben (Handpuppe), beginnt, damit zu spielen und lacht. Sie nimmt ihn mit, während sie weiterhin den Raum erforscht. Nach ein paar Minuten sage ich, sie solle nun damit beginnen, beim Gehen die Aufmerksamkeit mehr und mehr nach innen zu richten. L. schließt die Augen, geht weiterhin sicheren Schrittes kreuz und quer durch den Raum. Irgendwann wirft sie den Raben auf die Matratzenecke und geht ohne ihn weiter. Nun begleite ich sie. Ich sage, dass vor ihrem inneren Auge eine Wiesenlandschaft entstehe und führe sie über die Imagination in einen Wald und auf eine Lichtung. L. geht sicheren Schrittes. Sie macht steigende Bewegungen, wenn ich sage, sie müsste über einen Baumstumpf klettern und Kurven, wenn ich sage, sie solle vom Weg abkommen. Als sie auf der Lichtung eintrifft, fordere ich sie auf, sich eine eigene Landschaft vorzustellen, diese zu erforschen und sich darin einen Platz zu suchen, an dem sie sich wohl fühlt. Sie macht daraufhin verschiedene Bewegungen. Einmal scheint sie sich am Wasser zu bewegen und etwas aufzunehmen um daran zu riechen, dann schwimmt sie offenbar durchs Wasser. Sie macht weite, ausladende Schwimmbewegungen. Die Bewegungen wirken kraftvoll und getragen. Dann scheint sie aus dem Wasser zu steigen und mit dem Füßen im Sand zu spielen. Ich frage sie an dieser Stelle, ob sie mir erzählt, wo sie gerade ist. Sie antwortet, sie sei bei einem Sommerhäuschen gewesen und schließlich im Wasser geschwommen. Auf meine Bitte, sich nochmals dort hin zu begeben, wo sie sich am wohlsten fühle, sagt sie, das Schwimmen sei am schönsten gewesen. Sie nimmt wieder die Schwimmbewegungen auf, schließt dabei die Augen. Ich sage, sie solle sich nun spontan an eine Märchenszene oder an ein Märchen erinnern. Sie lacht. Dann ruft sie, spontan würde ihr „Der Fischer und seine Frau“ einfallen, sie schüttelt dabei den Kopf und lacht wieder. Sie unterbricht ihre Schwimmbewegungen nicht, sondern forscht in sich weiter. Schließlich sagt sie, das sei komisch, doch sie hätte nun ganz deutlich eine Szene von „Brüderchen und Schwesterchen“ vor sich. (Hier beendet sie ihre Bewegungen.) Und zwar die Szene, in der das Schwesterchen traurig darüber ist, dass das Brüderchen verwandelt ist. Das Brüderchen sei zum Reh verzaubert und stumm. Sie sagt, sie könne sich an das Märchen gar nicht mehr erinnern. Ich sage, dass das nichts macht und 51 wiederhole ihren ersten Satz, nämlich, dass das Schwesterchen traurig darüber sei, dass das Brüderchen zum Reh verwandelt wurde. L. antwortet, es sei die Szene, wo die Verzauberung gerade stattgefunden hat und nun beide ungläubig da stehen. Ich frage, wo sich die beiden denn befinden, als die Verzauberung passiert. Sie sagt, das sei im Wald. In diesem Bild sei eine große Hilflosigkeit. Der Wald sei zwar freundlich, relativ hell und licht, doch da sei eine große Einsamkeit, denn die Sprachlosigkeit mache so einsam. Für das Schwesterchen sei trotz dieser schwierigen Situation doch klar, dass sie zusammen bleiben müssten. Da wäre auch eine Abhängigkeit, denn das Brüderchen könne zwar nicht mehr sprechen, doch es würde von der Schwester auf einer anderen Ebene verstanden. Irgendwie könnten die beiden doch noch miteinander kommunizieren, aber mit dem Rest der Welt könnte das Brüderchen nicht mehr in Kontakt treten und sei nun gefährdet und hilflos. Das Schwesterchen müsse es jetzt schützen. Ich bitte L., sich im Raum einen Platz zu suchen, an dem sie sich die geschilderte Waldstelle vorstellen könnte. L. bewegt sich auf die Matratzenecke zu. Sie lässt sich nieder und legt sich eine Wolldecke so zurecht, dass sie sich darauf stützen kann. Dabei erklärt sie mir, die Wolldecke sei das Reh, sie lehne sich daran, aber eigentlich sei die Wolldecke zu weich, das Schwesterchen würde nicht so tief liegen. Ich sage, sie könne gerne noch andere Materialien nehmen, um es so zu gestalten, dass es für sie passt. Sie versucht es nochmals, indem sie die Decke verändert, doch dann sagt sie, das ginge nicht wirklich, sie lasse das jetzt so, wie es sei. Nun sage ich, das sei also die Situation: sie lägen da aneinander geschmiegt nachdem das Brüderchen jüngst verwandelt wurde. Und das Schwesterchen müsse das Brüderchen schützen. L. setzt sich mehrmals auf. Ich sage, sie solle sich nochmals in das Bild und die Szene begeben und hineinspüren, welche Gefühle und Bilder in ihr hochsteigen. Sie sagt, es erinnere sie sehr stark an ein Bild, das sie aus ihrem Märchenbuch kenne. Es hätte etwas Tröstliches. Da wäre eine starke Verbundenheit. Ich frage, ob sie eine ähnliche starke Verbundenheit aus ihrem Leben kenne. Sie antwortet lange Zeit nicht. Dann sagt sie, es handle sich um die Verbundenheit zu ihrem Mann, die schon lange Zeit existiere. Die Beziehung sei oft sehr schwierig gewesen. L meint, es täte ihr leid, dass ihr keine andere Märchenszene eingefallen sei. Darauf antworte ich, dass ich der Meinung bin, wir sollten unbedingt in dieser Szene bleiben und frage, was ihre Verbundenheit mit der Verwandlung des Brüderchens zu tun habe. Sie antwortet 52 zunächst nicht. Darum sage ich, dass sie mir so einige Begriffe genannt habe: Verwandlung zum Reh, Schutz, Sprachlosigkeit, Verbundenheit. Nun beginnt sie mit den Begriffen philosophisch zu jonglieren. Wir lachen. Nach einiger Zeit sage ich, dass ich sie jetzt einfach mal unterbreche. Ich sage, sie solle sich mal so da hinkuscheln, wie sie sich das Bild vorstelle. Sie beschreibt mir wieder alles. Wo ihr Kopf auf dem Reh ruht usw. Ich frage, wie sich das anfühle. Sie sagt, es gäbe immer noch in der Mitte nach. Wir lachen. Sie legt den Arm anders, damit es doch noch dem gewünschten Bild entspricht. Sie reguliert die Stellung noch mehrmals, dann scheint es in Ordnung zu sein. Ich sage, sie solle tief ein- und ausatmen und nochmals in das Bild eintauchen. Ich frage, ob man es so sagen könnte, dass sie sich mit der Rolle der Schwester identifiziere. Das bejaht sie. Nun bitte ich sie, mir die Beziehung zwischen Schwester und Reh aus ihrer Sicht zu beschreiben, während sie da liegt. Sie sagt, sie könne spüren, was der Bruder/das Reh braucht und sie könne ihn ohne Worte verstehen. Andererseits sei sie aber auch traurig über die Verwandlung. Im Laufe ihrer Schilderung kommen wir darauf, dass diese Szene sehr viel mit ihrer Ehe und dem gemeinsamen Schicksal mit ihrem Mann zu tun hat. Dass sie nicht weg könne, weil da eben diese starke Verbundenheit wäre. Die Sprachlosigkeit und Verwandlung sei auch ein Teil von ihr. Auf meine Frage, für was denn die Verwandlung steht, antwortet L., dass die Sprachlosigkeit und Hilflosigkeit zwischen ihnen schon immer da war, doch in letzter Zeit wurde diese offensichtlich – das sei die Verwandlung. Sie äußert viele Gedanken hierzu. Nach einiger Zeit sage ich, es wirke auf mich, als hätten sie es sich bei all den Schwierigkeiten gut eingerichtet und deute auf ihre Stellung auf der Matratze. Sie antwortet, das sei einfach Symbol für die starke Verbindung und den gegenseitigen Schutz. Nach außen wirke es vielleicht „rund“. Nun schildert sie die wirkliche Nähe zu ihrem Mann und ihr Bedürfnis nach Distanz und nach einer unkonventionellen Art der Beziehung. Dabei neigt sie dazu, dass sie sich selbst und die Beziehung gerne zensiert und glaubt, so leben zu müssen, wie es andere erwarten. Sie fühle sich in ihrer Beziehung zu ihrem Mann von Gott beschützt. Sie meint, das sei wohl kindlich. Ich antworte, hier werde nicht zensiert und „Brüderchen und Schwesterchen“ sei ja eine kindliche Ebene, doch sie fühle sich darin auch wohl. Das bejaht sie. Sie sagt, ihr Wunsch sei, mit und in der Beziehung alles spielerischer zu gestalten. Loszulassen von den Vorstellungen, wie eine Beziehung zu sein habe, um mehr Leichtigkeit zu 53 bekommen. Ich frage, ob die Art, wie sie da gerade liege, etwas sei, das ihrem Wunsch von der Beziehung entspricht. L. sagt, das sei ein kleiner Teil. Ich antworte, sie solle die Position mit dem Brüderchen auf der Matratze so verändern, wie es ihrem Wunsch von der Beziehung entspräche – ohne zu zensieren. Sie denkt eine Weile nach, schließlich sagt sie, das ginge nicht. Dazu bräuchte sie ein lebendiges Gegenüber. Sie fragt mich, ob ich mich zur Verfügung stellen könnte. Wir stellen uns gegenüber und sie beginnt, an mir zu zupfen. Sie spricht kein Wort, lächelt auffordernd und schupst mich leicht. Dann geht sie um mich herum und zieht mich am Arm. Es entsteht eine Bewegungssequenz zwischen uns, in der hauptsächlich L. die Initiative ergreift und ich bemüht bin, darauf einzugehen. Auf Initiative von mir reagiert sie abwehrend, indem sie z.B. meine Hand wegschupst. Nach einiger Zeit nimmt sie eine der lebensgroßen Stoffbabypuppen und trägt sie umher. Sie überreicht sie mir. Wir werfen uns die Puppe ein paar Mal zu und lachen dabei. Ich wiege die Puppe schließlich hin und her und lege sie auf die Matratze, decke sie zu, fordere L. zum Tanz auf. Sie dreht sich weg, liest etwas an der Eingangstüre und kommt lachend mit den Worten zurück: „Guten Tag und auf Wiedersehen“ (steht in verschiedenen Sprachen auf dem Plakat an der Türe). Schwer atmend lässt sie sich auf die Matratze nieder und sagt, das sei der Wunsch, etwas miteinander zu tun, aber Spaß dabei haben zu wollen. Dabei ginge es ihr darum, nicht alles so ernst zu nehmen. Sie wolle abwägen zwischen etwas gemeinsam zu machen, dabei die eigenen Kinder nicht aus den Augen zu verlieren, aber nicht zusammenzuhängen. Sie wolle eigene Wege gehen können, ohne dabei vorsichtig sein zu müssen. Viel Spielerisches wünsche sie sich. Davon gäbe es etwas in der Beziehung, aber zu selten. Wenn sie „direkt“ werde, vertrage ihr Mann das nicht besonders gut. Wenn sie gut „drauf“ sei, würde sie schnell „direkt“ und habe das Gefühl, dann müsse sie einen Teil ihrer Persönlichkeit verstecken. Ich schlage L. noch Möglichkeiten vor, ihre spielerische Seite zu explorieren, doch sie sagt, die Bewegungssequenz mit mir sei genug gewesen. Daraufhin führe ich sie aus der Imagination heraus. Gegen Ende der Rückreise lege ich eine verspielte Musik auf, zu der wir beide ganz am Schluss gemeinsam tanzen und uns ausschütteln um wieder im Hier und Jetzt zu landen. Nach der Stunde entdeckt sie mein uraltes Märchenbuch. Sie sagt, genauso habe auch ihr Märchenbuch ausgesehen. Sie sucht nach „Brüderchen und Schwesterchen“ und findet die Abbildung, an die sie sich erinnert hatte und zeigt mir diese. Das Reh und das 54 Mädchen auf dem Bild sehen tatsächlich so aus, wie L. den Platz eingerichtet und beschrieben hatte. 55 Teil C - Auswertung 1. Reflexion 1.1 Das Warm-Up Das Warm-Up half bei sämtlichen Stunden, sich aufeinander einzustellen und ein Bewusstsein für das momentane Körpergefühl zu bekommen. Es schuf die Möglichkeit, sich deutlich vom Alltag abzusetzen und sich auf die tanztherapeutische Stunde einzulassen. Auch für Small-Talk war während dieser Sequenz Zeit. Diese kurzen Gespräche gaben mir Aufschluss darüber, in welcher Stimmung die Klientin/der Klient zu mir kam. Darauf konnte ich mich einstimmen und mein weiteres Vorgehen darauf ausrichten. Auch durch das Spiegeln der Bewegungen konnte ich mich in die Stimmung meines Gegenübers einfühlen. 1.2 Die aktive bewegte Imagination Die Hinführung zu den eigenen inneren Bildern nahm viel Zeit in Anspruch. Das war von mir beabsichtigt, denn je weiter ich die Klientin/den Klienten in die von mir geschilderte Landschaft führte, desto mehr entfernten sich die Betreffenden von allem Rationalen, indem sie die Bilder sofort in Bewegung umsetzten. Auf diese Weise bot sich mir Zeit, die Bewegungen zu spiegeln, hineinzuspüren und Bewegungsqualitäten zu beobachten um evtl. Rückschlüsse auf die Betreffenden in diesem Augenblick zu ziehen. Die Körpersprache empfand ich in jeder einzelnen Stunde als äußerst aussagekräftig. Die Aufforderung, vor dem inneren Auge eine eigene Landschaft entstehen zu lassen, schien keine Probleme zu verursachen. Die Antworten und Bewegungen kamen ohne Zögern. Mir kam es manchmal so vor, als würde eine kindliche Seite in den Betreffenden wach, die sofort bereit ist, mit dem Angebot zu spielen. Die eigenen Landschaften wurden mir so bildhaft geschildert, dass ich den Eindruck hatte, es handle sich hier um Landschaften, die schon lange in den Betreffenden schlummerten. 56 1.3 Die Märchensymbole Für manche kam die Frage nach der Märchenerinnerung überraschend. Eine Klientin sagte anschließend, sie sei so intensiv mit ihrer inneren Landschaft beschäftigt gewesen, dass sie völlig vergessen hatte, dass es in dieser Stunde um Märchensymbolik ging. Dennoch kamen die Symbole spontan in Erinnerung. Mir fiel auf, dass meistens ein Märchen oder eine Märchenszene genannt wurde, welche anschließend wieder verworfen wurde. Manchmal wurde zum eigentlichen Symbol, also zu dem Symbol, welches letztendlich gedeutet wurde, auf Umwegen gefunden. War ein Symbol gefunden, welches die Klientin/der Klient genauer betrachtete, war eine gewisse Faszination zu erkennen. Am ehesten ist dieser Moment zu vergleichen mit der Faszination ein Bild zu betrachten, das jemand selbst gemalt hat und der sich nun über all das wundert, was er selbst darin erkennt. Die Verkörperung der Märchensymbole beschränkte sich hin und wieder auf eine einmal eingenommene Position, die Aufschluss durch die unbewussten Bewegungen und Äußerungen der Betreffenden bot. Das Verharren in einer bestimmten Position wirkte auf mich wie der Hinweis: hier will ich sein, hier bleibe ich. Hatte ich den Eindruck, die Position ist für den Betreffenden nicht länger stimmig, forderte ich dazu auf, in den Körper hineinzuspüren und sich der Ursachen eines bestimmten Gefühls bewusst zu werden. Hier war dann der Vorschlag für eine Veränderung hilfreich. Das ging auch mit dem Wunsch des Betreffenden nach einer Veränderung im tatsächlichen Leben konform. Mir war stets wichtig, ressourcenorientiert vorzugehen und das Augenmerk auf die positiven Erlebnisse (Bilder) zu lenken, die die Betreffenden in sich tragen, denn diese hatten sich wohl bislang bewährt und werden vermutlich auch in Zukunft hilfreich sein. Bei der Stunde „In Großmutters Schürze“ fielen mir besonders die Bewegungen des Klienten im saugenden Rhythmus auf, die mich dazu veranlassten, auf das Thema Geborgenheit weiter einzugehen. Unter der Decke konnte er dieses Gefühl, das ihm die leibliche Großmutter vermittelt hatte, in Erinnerung rufen und es nochmals genießen. Auch der „Oasenbauerin“ wollte ich ein paar Augenblicke der Ruhe und Zeit zukommen lassen, da ich vermutete, dass sie sich in Zukunft – in Hinblick auf die Geburt ihres Kindes – gerne daran zurückerinnern und von der Fähigkeit, sich kleine Oasen des Alltages zu schaffen, sicher profitieren wird. 57 Bei der von mir gewählten Form der Symbolarbeit fiel mir auf, dass die Betreffenden sich stets mit einer Figur identifizierten. Landschaftsbilder oder Gegenstände spielten Nebenrollen, wurden aber auch als wichtiger Teil wahrgenommen, z.B. in dem Märchen „Der störrische Bruder“, bei dem das Seil eine wichtige Rolle spielte als Symbol für die Verantwortung, die so schwer auf der Klientin lastete und die sie gerne ablegen wollte. Wie unterschiedlich die Symbolik der Märchen ausgelegt werden kann, sieht man deutlich an den völlig verschiedenen Empfindungen des Märchens „Brüderchen und Schwesterchen“. Was für die eine Klientin eine unerträgliche Belastung bedeutete, war für die andere eine starke Verbindung, die unter dem besonderen Schutz von Gott stand. Zwar wollte auch sie die Beziehung etwas verändern, aber aus einer völlig anderen Intention heraus und mit anderen Konsequenzen. 1.4 Das Reflexionsgespräch Eine Reflexion über das Erlebte fand bereits innerhalb der jeweiligen Stunde statt. Manchmal kam es auch nach dem Rückweg zu einem kurzen Gespräch. Ein wichtiger Hinweise kam erst nach der Stunde, und zwar bei „In der Schürze der Großmutter“: der Klient informierte mich anschließend (während ich meine CD’s sortierte) über seine Gedanken zur Beerdigung, an der er nicht teilgenommen hatte. Vielleicht war das ein Hinweis auf ein Schuldgefühl oder eine Traurigkeit, die dem Klienten erst jetzt bewusst wurde? Und warum teilte er mir das „nebenbei“ am Ende der Stunde mit? Bei der Stunde „Eine spielerische Beziehung“ hätte ich der Klientin gerne anschließend oder in einer weiteren Stunde Feedback darüber gegeben, wie ich mich in der Rolle ihres Ehemannes gefühlt hatte. In einer Folgestunde würde ich vieles, was ich erleben und beobachten durfte, aufgreifen um darüber zu sprechen und weiter daran zu arbeiten. Körpersensationen könnten bewusst gemacht, Bewegungen genauer betrachtet und analysiert werden. Manche Sequenzen könnte man nochmals aufgreifen, vertiefen, beobachten, ob und was sich verändert. 58 1.5 Der Rückweg Der zeitaufwändige Abschied aus der Symbolik und der bewusste Rückweg aus der Imagination ist besonders wichtig, um einen deutlichen Schlusspunkt zu setzen. Auch hierbei waren die Bewegungsqualitäten aussagekräftig. (Aus den Beobachtungen könnte man für anschließende Therapiestunden viele Hinweise schöpfen.) Bei manchen erlebte ich eine gewisse Gelöstheit, bei anderen große Konzentration. Vielleicht beschäftigten sie sich während der Rückführung noch mit den inneren Bildern. Eine Klientin brauchte Körperkontakt bei dem Weg durch den Wald, weil sie offensichtlich Angst bekam. Es gab auch Tränen. Während dieser Phase wurde mir bewusst, dass die Arbeit mit der Verkörperung von Märchensymbolen über die Imagination zwar der Selbsterfahrung dienlich ist, doch nicht im psychiatrischen Bereich der Psychosen eingesetzt werden darf. Ich befürchte, dass sich so manch ein Patient im wahrsten Sinne des Wortes „im Walde verirren könnte“. Der gemeinsame Abschluss stärkt die Beziehung von Klient/Klientin und Tanztherapeutin. Man ist gemeinsam einen langen Weg gegangen, hat eine Reise unternommen, die einen würdigen Abschluss finden sollte. 2. Resümee Die theoretischen Grundlagen und die Einzelfallstudien bieten Diskussionsstoff über die Frage, ob Märchensymbolik in der Tanztherapie verkörpert werden kann. 2.1 Eigene Märchenbilder Die Theorie, dass Märchensymbole jeweils persönlich zu interpretieren sind und für den Klienten/die Klientin individuelle Erlebnisse widerspiegeln, hat sich durch die Einzelfallstudien bewiesen. Sämtliche Teilnehmer fanden zu eigenen inneren Märchenbildern, die sie relativ schnell mit Alltagserfahrungen in Verbindung setzten. Selbst Klienten mit wenig Selbsterfahrung ließen sich auf das Thema ein und hatten ein Lieblingsmärchen, bzw. eine Lieblingsszene parat. Offensichtlich traten bei den Betreffenden spontan unbewusste Bilder ins Bewusstsein, die sich in vier von fünf Fällen vom genannten Märchen des Fragebogens 59 unterschieden. Ich führe das darauf zurück, dass der Rahmen der Therapiestunde aktuelle Themen wach rief und durch die von mir gewählte Methode Möglichkeit zur Vertiefung bot. Hier kann man wohl Parallelen zu Träumen ziehen, die ebenfalls im Kontext zu momentanen Prozessen stehen können und in der Nacht unvermutet auftauchen. 2.2 Aktive bewegte Imagination Durch die Methode der aktiven bewegten Imagination, bei der die Betreffenden eine Fantasiereise mit mir unternahmen, tauchten sie in die Welt des Unbewussten ein und entdeckten ihre eigene Märchensymbolik. 2.3 Bewegungsanalyse und Gespräch Die tanztherapeutischen Bewegungsanalyseverfahren machten es mir möglich, auf Bewegungen zu achten, sie zu spiegeln und zu analysieren, sodass ich auf mein Gegenüber individuell reagieren konnte. Die Klienten/Klientinnen reagierten unbewusst und lieferten durch ihre Körpersprache wichtige Informationen. Das Gespräch während der Explorationsphase war von besonderer Wichtigkeit. Die Klienten hatten meistens ein großes Bedürfnis mit mir darüber zu kommunizieren, was sie gerade bewegte. Wie bereits in der Reflexion geschildert, wurden mir Stimmungen und Orte sehr detailliert geschildert. 2.4 Innere Ressourcen Das Einnehmen einer besonderen Körperhaltung lieferte mir ein Bild über den Betreffenden und war auch für die Klienten/Klientinnen selbst ein Erlebnis, das er/sie mit Empfindungen füllte, die er/sie mir mitteilen wollte. Teils verstärkte ich diese Körperhaltung, teils führte ich aus dieser heraus. Meine Intention war stets, etwas Positives zu vermitteln, um den Klienten/die Klientin hoffnungsfroh aus der Stunde entlassen zu können. Ich wollte den Betreffenden ihre Ressourcen bewusst machen und dies über die inneren Bilder verstärken. Grundsätzlich ließen sich die Betreffenden darauf ein, machten aber auch darauf aufmerksam, wenn sie mit einem Vorschlag meinerseits nicht einverstanden waren. 60 Daraus schloss ich, dass ein gewisses Vertrauen zwischen Klient/Klientin und mir bestand. Einem Klienten ging nach der Stunde so viel durch den Kopf, dass er eine Folgestunde vereinbaren wollte. Er hatte etwas entdeckt, das er unbedingt weiterhin verfolgen wollte. Für mich war das der Beweis, dass diese tanztherapeutische Arbeit vieles in Bewegung setzt und unbedingt fortgesetzt werden sollte. 2.5 Verkörperung Die Verkörperung der Märchensymbolik fand zu jeder Zeit statt. Alleine die Art und Weise, wie der Raum eingenommen wurde, welche Orte und Materialen aufgesucht und eingesetzt wurden usw. forderte den Einsatz des gesamten Körpers heraus. Veränderungen der Position, des Atemrhythmusses, selbst kleine Bewegungen machten deutlich, dass die Betreffenden mit Leib und Seele dabei waren. Die Bewusstmachung durch die Verkörperung war einer Klientin ein besonderer Wunsch, nämlich in ihrem Anliegen, das Seil („Der störrische Bruder“) tatsächlich körperlich wahrnehmen und ablegen zu können. Der symbolische Akt über den Körper wird als besonders intensiv erlebt. 2.6 Fortsetzung folgt Grundsätzlich wuchs auch in mir der Wunsch, mit den Betreffenden eine Folgestunde zu vereinbaren, denn ich hatte nach jeder Stunde den Eindruck, dass hier ein sehr intensiver Einstieg stattgefunden hat, der danach verlangt, fortgesetzt zu werden. Die Klienten/Klientinnen lieferten so viel Informationen, dass ich nach meiner Studie geneigt bin zu sagen, dass diese Art der tanztherapeutischen Arbeit ein guter Einstieg in eine intensivere Phase bietet. Durch die Bewegungsanalysen, das Eintauchen in die inneren Bilder, die Offenheit und das Sensibel-Werden für die eigenen inneren Prozesse, ist ein guter Weg geebnet, um weiter einzutauchen und noch viel mehr Schätze zu bergen. Durch die gemeinsame Reise entsteht zudem ein Vertrauensverhältnis, das unbedingt fortgesetzt und genutzt werden sollte. 2.7 Das Klientel 61 Wie ich bereits bei meiner Reflexion erwähnte, sollte diese Form der tanztherapeutischen Arbeit auf keinen Fall mit Menschen mit psychotischen Symptomen ausgeübt werden. Das Eintauchen in eine Fantasiewelt und in die Märchensymbolik könnte so manch einen verwirrt, wenn nicht sogar verloren zurücklassen. Das Klientel sollte Interesse an Selbsterfahrung haben und bereit sein, fern jeder Rationalität in unbewusste Bilder einzutauchen. Dennoch sollte die Tanztherapeutin darauf achten, dass ein bewusster Ausstieg aus der Imagination gewährleistet ist und dies durch den Rückweg und/oder ein Reflexionsgespräch initiieren. Eventuell sollte nach Ende des Rückweges noch eine kurze Körperarbeit stattfinden, um den bewussten Wiedereintritt in den Alltag zu verstärken. 2.8 Aktuelle Bedürfnisse und Themen Der Fragebogen diente grundsätzlich dem Erforschen des Interesses vieler Menschen an Märchen und der Frage, welche Gattung der Märchen spontan genannt werden. Wie bereits geschildert, sind die Grimmschen Märchen den Betreffenden besonders in Erinnerung geblieben. Dennoch zeichnete sich schnell ab, dass die im Fragebogen spontan genannten Märchen und die Lieblingsmärchen mit einer Ausnahme nicht zum Thema während der Stunde wurden. Das lässt darauf schließen, dass die Klientinnen/Klienten in der jeweiligen Situation ein anderes Bild in sich auftauchen sahen, das tatsächlich mit aktuellen Bedürfnissen, Themen, Problemen zu tun hatte. Wie bei Träumen scheinen auch hier plötzlich Erinnerungen in Form von Bildern aufzutauchen, die den Betreffenden Hinweise geben über etwas, das sie aktuell beschäftigt. Durch das Verkörpern dieser Bilder wurde der Bezug zur Realität nach und nach deutlich. 2.9 Und in Zukunft? Die Teilnehmer und Teilnehmerinnen meiner Einzelfallstudie gehörten einer Generation an, die noch über das Wissen von Märchen verfügen. Die jüngere Generation hat teilweise den Bezug zu Märchen verloren. Den Kindern werden vermehrt moderne Märchen vorgelesen, die Grimmschen Märchen verlieren 62 mehr und mehr an Bedeutung. Fantasyromane, Sciencefiction und Horror tritt an Stelle unserer Volksmärchen. Über den Sinn und Unsinn dieser Literatur lässt sich streiten. Hier kommen zwar ebenfalls Märchenfiguren zum Einsatz, doch die traumähnlichen Sequenzen gehen verloren. C. G. Jung wäre über den Verlust des kollektiven Unbewussten durch das Verschwinden der Märchen sicher bestürzt. Ein Volksgut geht verloren und somit auch der Bezug zu unseren Wurzeln. Das hat natürlich auch Konsequenzen auf die tanztherapeutische Arbeit mit der Märchensymbolik. Eventuell (doch das habe ich nicht erforscht) ist sie bald nur noch auf die ältere Generation anzuwenden. Aber diese wird vielleicht mit besonders viel Freude daran teilnehmen, weil es sie schlichtweg mit ihrer Kindheit verbindet. 3. Schlussbemerkung Die Verkörperung von Märchensymbolen durch die Systemische Tanztherapie gilt für mich als praktikabel. Die Klienten/Klientinnen bestätigten die Theorie, dass Märchensymbole individuell zu deuten sind, dabei eine innere Ebene ansprechen, körperlich umgesetzt und somit exploriert werden können. Die Märchensymbole haben Bezug zum Leben des Betreffenden und spiegeln deutlich innere Bilder. Die Systemische Tanztherapie ist ein wunderbares Instrument, um sich den individuellen Themen der Betreffenden anzunähern und in einen intensiven gemeinsamen Prozess einzusteigen. Die ressourcenorientierte Sichtweise bietet dem Klientel Unterstützung zur Selbsterfahrung und gibt hoffnungsfrohen Ausblick in die Zukunft, bzw. hilft bei der Bewusstmachung der „inneren Schätze“, die den einzelnen im Leben (oft unbewusst) begleiten und ihm helfen. Die Rolle der Tanztherapeutin ist die der begleitenden, bezeugenden, dabei gleichgestellten Wegbereiterin, indem sie den Rahmen für ein vertrauensvolles Setting schafft. Die Symbole werden von ihr nur so weit gedeutet, dass der Klient/die Klientin die Möglichkeit hat, selbst zu assoziieren und zu experimentieren. Die Verkörperung der Symbole macht Körpersensationen bewusst, welche wiederum besprochen und bearbeitet werden können. Der direkte Zusammenhang zwischen Körpersprache und augenblicklicher psychischer Verfassung wird erlebbar. Hierbei ist die Bewegungsanalyse für die Tanztherapeutin das Mittel der Wahl, um diese differenziert beobachten und auswerten zu können. 63 Das Spiegeln von Bewegungen ermöglicht, dass die Tanztherapeutin die Stimmung der Klientin/des Klienten erfasst. Zeitgleich unterstreicht das Spiegeln die Beziehung zwischen beiden. Die gemeinsam unternommene Reise zu den inneren Bildern ist ebenfalls beziehungsfördernd und dient einem zukünftigen Therapieprozess. Die Tanztherapeutin stellt sich zur Verfügung, damit die Klientin/der Klient ein Gegenüber hat, mit dem sie/er ggf. in körperliche Interaktion treten kann. Dieser Beziehungsprozess macht deutlich, wie die Betreffenden im Alltag agieren und wie diese Aktionen von der Tanztherapeutin und dem Betreffenden empfunden werden. Somit kann der Klient/die Klientin Feedback über sich und seine Wirkung erhalten, um ggf. Änderungen vorzunehmen oder zumindest über sein Wirken zu reflektieren. Ebenso kann er mit Ideen experimentieren, die im Laufe der Stunde entstehen. Die Verkörperung von Märchensymbolen in der Systemischen Tanztherapie macht darüber hinaus sowohl den Klienten, als auch der Tanztherapeutin sehr viel Spaß. Zumindest bekam ich von allen Betreffenden ein solches Feedback und kann für mich selbst sprechen. Die Einzelfallstudien erschienen mir wie das Öffnen eines Schatzkästchens, bei dem jede Menge Überraschungen in Form interessanter Bilder zum Vorschein kamen. An dieser Stelle danke ich dem einsamen, empörten Pagen, dem Jungen in der Schürze der Großmutter, der Oasenbauerin, der Frau mit der spielerischen Beziehung und der Schwester vom störrischen Bruder! 64 Literaturverzeichnis Bettelheim, Bruno (2006): Kinder brauchen Märchen. München: dtv Duden, Band 5 (1974). Bibliographisches Institut Mannheim/Wien/Zürich: Dudenverlag Federspiel, C. (1968): Vom Volksmärchen zum Kindermärchen. Wien: Notring Fromm, Erich (2004): Märchen, Mythen, Träume. Eine Einführung in das Verständnis einer vergessenen Sprache. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag. Hahn, Dagmar (2004): Tanz und Märchen. Einweihungswege der Seele. Berlin: Fachverlag Schiele & Schön. Jung, Carl Gustav (2004): Archetypen. München: dtv Jung, C. G., Franz von, Marie-Louise, Henderson, Jolande J., Jaffè, Aniela (1988): Der Mensch und seine Symbole. Olten: Walter-Verlag AG. Kast, Verena (1996): Die Dynamik der Symbole. Grundlagen der Jungschen Psychotherapie. München: dtv Kast, Verena (2002): Märchen als Therapie. München: dtv Köster, Hermann Leopold (1972): Geschichte der deutschen Jugendliteratur. MünchenPullach, Berlin: Verlag Dokumentation Saur KG. Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur, Band A-H und I-O (1977). Weinheim und Basel: Beltz Verlag. Lüthi, Max (1983): Es war einmal ... . Vom Wesen des Volksmärchens. Göttingen: Kleine Vandenhoeck-Reihe. Lüthi, Max (1981): Das europäische Volksmärchen. 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