Ferrara

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Ferrara
Ferrara
Auf den Spuren von Lucrezia Borgia und meinen verschollenen Italienisch-Kenntnissen
RONALD ORTNER
Freitag, 2.8.2002:
Bis halb eins im Büro, Zug fährt um 13.52h. Stress. Adressen aufschreiben, einpacken, muss
noch auf die Post. Verlasse die Wohnung. Mir fällt ein, dass ich mir die Adresse des Hotels
nicht aufgeschrieben habe. Müsste im Internet nachschauen. Ohnehin zu spät. Post hat
natürlich geschlossen. Mist. Versuch’s am Bahnhof. Geöffnet. Kein Schalter frei. Warten.
Endlich. – Kurz später am Bahnsteig. Wieder viel zu früh. Fünf Minuten vor Abfahrt im Zug.
Ganzes Abteil für mich allein. Vorerst. Packe Reiseführer aus und fange an zu lesen.
Komischer Typ schaut ab und zu verstohlen ins Abteil rein. Rosa Hemd. Kommt ins Abteil,
setzt sich. Zieht Schuhe aus. Lese weiter. Lockert seinen Gürtel. Versuche sehr vertieft in
mein Buch zu schauen. Öffnet den Knopf seiner Hose. O Gott, fängt mein Urlaub wirklich so
an? Ich tu so, als würd ich lesen – er so, als würd er schlafen. Oder schläft er wirklich?
Minuten mehr oder weniger großer Anspannung. Später kommen dann zwei kleine Kinder im
Gang vorbei und klopfen an die Abteiltüre. „Papa!“ Aha. Papa steht dann bald auf und geht
ausgeruht in sein Abteil zurück. Eine Frau setzt sich kurz darauf zu mir. Schaffner kommt.
Unterhält sich mit ihr eine Viertelstunde lang (auf Italienisch) über die österreichische Bahn.
Soweit ich es mitbekomme, schimpfen sie in etwa so darüber wie der durchschnittliche
Österreicher über die italienische Bahn. Sie ist Engländerin und lebt schon seit einigen Jahren
in Rom. Kommen mit ein paar Minuten Verspätung in Mestre an. Wo ist mein Anschlusszug?
Offensichtlich schon auf den Weg nach Rom. Der einzige Zug, für den ich eine Reservierung
hatte. Super. Macht nix. Nächster Zug geht eh in zwanzig Minuten. Zur planmäßigen
Abfahrtszeit fährt ein Zug ein, die Tafel zeigt „Olgna“ an. Sonderfahrt nach Russland?
Hoffentlich wohl doch nur zwei fehlende Buchstaben auf „Bologna“. Gute Stunde später
Ferrara. Ist das auch das richtige Ferrara? Der Bahnhof ist ja grad mal so groß wie der von
Arnoldstein. Hoffe das beste und steig aus. Im Stadtplan des Reiseführers hab ich den
Standort des Hotels wiedergefunden. Zwanzig Minuten Fußmarsch bis in die Innenstadt. Zwei
perfekte italienische Sätze an der Rezeption. Zimmer reserviert. Mein Name. Leider verstehe
ich die Replik des Rezeptionisten nicht, der daraufhin sämtliche Kommunikation der
folgenden zehn Tage, die über „Buon giorno“, „Buona sera“ und „Grazie“ hinausgeht, auf
Englisch führt. Ich red trotzdem Italienisch. Zimmer riecht nach Desinfektionsmittel. Der
Geruch wird die ganze Woche nicht vergehen. Wichtiger: gegenüber der Rezeption steht ein
PC, von dem ich meine Mails abrufen kann. Mach einen ersten Spaziergang in die Stadt. Sehr
schön. Keine Autos. Soviele Radfahrer als wär man in China. Hey, ich bin im Urlaub!
Samstag, 3.8.2002:
Frühstück. Richtiger Espresso. Bedienung spricht auch nachher noch Italienisch mit mir. Sehr
beruhigend nach dem gestrigen Fiasko an der Rezeption. Italienisch reden, was das Zeug hält.
Beschwere mich auch gleich an der Rezeption über die kaputte Fernbedienung (auch wenn ich
das Wort „Fernbedienung“ im Wörterbuch gar nicht finde). Glücklicherweise nicht bei dem
Typ vom Vortag. Danach: Ferrara, ich komme! Sightseeing ohne Rücksicht auf Verluste. Wo
beginnen? Hm, wie kann man nur in Urlaub fahren, ohne sich einen strikten Zeitplan
zurechtgelegt zu haben? Notiere mir geistig, das beim nächsten Mal anders zu machen. Also
zunächst zum Naheliegendsten: der Dom. Drinnen ist gerade Messe – also erst ins
Dommuseum. Danach Dom und naturhistorisches Museum. Mit Führung. Die 18jährige
Schülerin, die mir das Museum zeigt, erklärt mir, dass normalerweise nur kleine Kinder mit
ihren Großeltern hierherkommen. Während des Gesprächs über Matura, Sizilien, Venedig,
Sachertorte und Ameisenbären wird mir der desolate Zustand meiner italienischen
Sprachkenntnisse erst so richtig bewusst. Mir fallen nicht einmal mehr Wörter wie „krank“
ein, und ich habe Schwierigkeiten mein Gegenüber zu verstehen. Ab und zu versucht sie es
mit Englisch, was die Kommunikation nicht wirklich erleichtert – wir schaffen’s beide nicht,
das englische Wort für „Stockwerk“ zu finden. Irgendwann merke ich, dass sie ihre „tsch“ und
„dsch“ so komisch ausspricht – so kann ich sie ja nicht verstehen. Bis heute weiß ich nicht, ob
die Ursache ein Sprachfehler oder der örtliche Dialekt war.
Beschließe, dass ich mir Mineralwasser und Pfirsiche kaufen muss. Supermarkt. Helfe einer
älteren Dame, ihren Käse zu finden (nachdem ich gecheckt habe, dass das mir unbekannte
italienische Wort einen Käse bezeichnet), den sie dann, weil zu hart, doch nicht will.
Mittagsschlaf. Danach: will in den Palazzina di Marfisa d’Este. Komm bei der
Franziskanerkirche vorbei, als diese gerade von einem Pater geöffnet wird. Schau mal rein.
Wunderschöne Renaissancekirche. Der Pater zeigt mir auch gleich die wunderbare Akustik
des Kirchenraums, indem er laut in die Hände klatscht und auf den Boden stampft. Echo
zwanzigfach. Auch der Palazzina ist wunderschön. Mittlerweile verstehe ich bereits so
komplizierte Fragen, wie z.B. jene, ob ich meinen Rucksack an der Kassa lassen möchte, und
kann selbst komplexe Sätze bilden, z.B. wenn ich fragen möchte, ob ich meinen Rucksack an
der Kassa lassen kann. Freue mich schon über die ersten Diskussionen über Kants
kategorischen Imperativ auf Italienisch. Abends in der Osteria perfekte Bestellung. Zuviel
Wein.
Exkurs I: Ferrara
Ferrara ist das genaue Gegenteil von einem Labyrinth. In einem Labyrinth läuft man im Kreis,
sieht also nach einer gewissen Zeit wieder dasselbe und findet nicht mehr raus. In Ferrara
kann man sich nicht verirren. Geht man völlig wahllos irgendwie durch die schmalen
Gässchen der Innenstadt, so kann man sich sicher sein, dass man früher oder später beim
Palazzo Paradiso (in dem die Biblioteca Ariostea untergebracht ist) wieder rauskommt.
Allerdings geschieht dies nie, ohne dass man vorher nicht noch irgendeinen Palazzo,
irgendeine Kirche oder sonst etwas Bemerkenswertes zu Gesicht bekommen hätte, das man
vorher nie zuvor gesehen hat. Und man wundert sich, dass man nicht schon früher hier
vorbeigekommen ist.
Sonntag, 4.8.2002:
Weiter mit Sightseeing. Zunächst ins Archäologische Museum. Rucksackdialog verläuft gut.
Der Teil, wo mir gesagt wird, wo der Eingang ist, weniger. Finde schließlich trotzdem hin.
Weiß bis zum Schluss nicht mit Sicherheit, ob die Ausgrabungen jetzt griechisch oder
etruskisch sind. Danach einige Kirchen, in die ich aber nur kurz einen Blick reinwerfen kann,
weil grad eine Messe gelesen wird. Versuche mir zu merken, dass Sonntage keine guten Tage
für Kirchenbesichtigungen sind, noch dazu in einer Stadt, in der im Dom auch wochentags
fünf Messen gelesen werden. Nächste Station Palazzo Schifanoia. Sehr schön. Wechsle ein
paar Worte mit einer Tschechin, deren Englisch sich für jemanden, der wie ich kein
Tschechisch spricht, wie Tschechisch anhört. Stelle mir mit Grauen vor, dass mein Italienisch
in den Ohren von Italienern eine ähnliche Wirkung hat. Einstweilen kämpfe ich mit meinem
Spanisch. Eigentlich bekomme ich ja keinen ganzen spanischen Satz zusammen. Aber das
wenige, was ich weiß, genügt, um mein Italienisch durcheinanderbringen. Am heutigen Tag
zweimal „semana“ statt „settimana“ und dauernd das Bedürfnis, „nueve“ statt „nove“ zu
sagen. Grüble darüber nach, ob „Siettembre“ jetzt italienisch oder spanisch war (komme
später drauf, dass keines von beiden: italienisch „settembre“, spanisch „setiembre“). Nach der
wohlverdienten Siesta (ital. und span.!) gibt’s „The Time Machine“ im italienischen
Nachmittagsprogramm. Cool. Anschließend seh ich mir noch ein Wohnhaus aus dem 15.
Jahrhundert an (wow), gib mir danach Kunst des 20. Jahrhunderts und eine Messe auf
Italienisch. Damals auf Sizilien hab ich mehr verstanden. Trotzdem wage ich es als krönenden
Abschluss des Tages, mir „Habla con ella“ in der italienischen Synchronfassung im Kino
anzuschauen. Glücklicherweise keine blöden Zwischenfragen an der Kassa. Im Film: versteh
zwar nur zehn Prozent der Dialoge, aber glücklicherweise wenigstens jene zehn Prozent, die
mir das Verfolgen der Handlung ermöglichen.
Montag, 5.8.2002:
Montags alle Museen geschlossen, ins Museo Ebraico lassens mich gar nicht erst rein. Hätt
mich wahrscheinlich telefonisch voranmelden müssen. Also einen Tag fast nix tun.
Ansichtskarten schreiben. Ansonsten: botanischer Garten, Biblioteca Ariostea, noch ein paar
Kirchen. Das Mathematik-Institut hat auch zu. Am Abend eine kleine Genugtuung im
Ristorante. Auch Italiener wissen nicht, dass es hier Gebrauch ist, die Rechnung an der Theke
zu begleichen. Allerdings verstehen sie’s dann auf Anhieb und sitzen nicht noch eine halbe
Stunde rum und warten...
Dienstag, 6.8.2002:
Ausflug nach Ravenna. Entschließe mich im letzten Moment, den Schirm sicherheitshalber
doch mitzunehmen. Schaffe es, ein Ticket zu kaufen und es auch (vor Fahrtantritt) zu
entwerten. In Ravenna krieg ich sogar die Türen im Zug auf, obwohl es weder einen Knopf
noch sonstwas gibt (frag mich, warum ich bei solchen Gelegenheiten immer ganz vorne
stehe). Erste Station: Grabmal von Theoderich. Noch bevor ich dort bin, fängt’s zu regnen an.
In der ersten Kirche werde ich gezwungen, ein Kombiticket für sechs verschiedene
Sehenswürdigkeiten zu kaufen. Seh ich mir dann natürlich auch alle an: jede Menge Kirchen
und Baptisterien mit wunderschönen Mosaiken, Grabmal von Dante, Universität. So um eins
kleine Pause in einer Bar. Danach San Vitale. Dafür hab ich ja (Kombiticket!) bereits eine
Karte. Schwindle mich also durch die Warteschlange, die sich ihre Karte erst besorgen muss
nach vor, geh rein und gleich im nächsten Raum wird mir gesagt, dass ich hiefür ein Ticket
fürs Nationalmuseum benötige. Na ja, schau zunächst an, was ich darf – noch mehr Mosaike.
Vergesse beinahe meinen Reiseführer im Kiosk. Geh zurück und kauf mir auch eine Karte
fürs Nationalmuseum. Sieh an, da hätte es ein Kombiticket San Vitale und Nationalmuseum
gegeben. San Vitale hatte ich ja schon auf dem anderen Kombiticket. Riesengroß das
Museum. Da könnte man eine ganze Woche drin verbringen. Anschließend beschließe ich,
mir noch San Apollinare in Classe anzuschauen. Liegt etwas außerhalb. Ich schaffe es, einen
Bus dorthin an der richtigen Stelle abzuwarten. Sogar ein Ticket hab ich. Dort angelangt kauf
ich mir eine Eintrittskarte für die Basilika und staune nicht schlecht, dass hier (und nur hier!)
ein Kombiticket für die Basilika, das Mausoleum Theoderichs und das Nationalmuseum
angeboten wird. Beim nächsten Mal dann. Noch mehr Mosaiken. Letzter Punkt: irgendwo
gibt’s noch eine archäologische Zone mit Ausgrabungen des ehemaligen römischen Hafens in
Classe. Natürlich auf keiner meiner Karten eingezeichnet. Im Reiseführer steht was von zwei
Kilometer südlich. Ich frage einen Einheimischen, der mich in den Norden schickt. Nachdem
es weder Richtung Norden noch Richtung Süden einen Gehweg gibt, und meine Lust, entlang
der Autostraße zu wandern, sehr gering ist, beschließe ich, lieber auf den nächsten Bus zu
warten. Der Fahrer weiß auch, wo die Ausgrabungszone ist. Hurra. Angelangt, steht ein
kleines Häuschen, auf der Veranda sitzt ein Mann, Füße auf einem zweiten Stuhl, liest. Geh
hin, sag ihm, dass ich mir die Ausgrabungszone anschauen will. Sagt irgendwas, was ich nicht
versteh. Frag nach. Er sagt, er gibt mir ein Gratisticket. Gut, denk ich mir. Steht auf, kramt in
einer Schublade in seinem Büro und gibt mir ein Ticket, auf dem groß und grün „gratuito“
steht. Dann sagt er mir noch, wo ich hin muss. Dort ist natürlich gar niemand, der sich das
Tickt überhaupt anschauen will. Hm. Danach wieder heim nach Ferrara. Blasen an den Füßen.
Mein kleiner Zeh sieht aus, als hätte er einen siamesischen Zwilling bekommen.
Exkurs II: Der Euro in Italien
Lire-Euro ist eigentlich einfacher umzurechnen. Abgesehen von den ca. 17 zu
streichenden/hinzuzufügenden Nullen (erinnert mich an drei Spanierinnen, die sich köstlich
darüber amüsiert haben, dass man fürs Schwarzfahren im Bus mit Millionenstrafen zu rechnen
hat). Im praktischen Zahlungsverkehr hat sich in Italien eine spezielle Wechselgeldregel
ausgebildet, die wie folgt lautet: Gib immer so wenige verschiedene Münzen wie möglich
raus. Wichtig ist dabei das Wort „verschieden“. Zahlt man also beispielsweise mit einem 10€Schein etwas, das 2€ kostet, bekommt man nie 5€, 2€, 1€ zurück sondern immer vier 2€. Weil
dadurch auf Dauer die Anzahl der 2€ in der Wechselkassa knapp wird, bekommt man auch
vier 1€ Wechselgeld, wenn man mit 5€ etwas zahlt, das 1€ kostet. Gilt natürlich genauso für
die Cent. Bitte um Überprüfung dieser Regel beim nächsten Italien-Urlaub.
Mittwoch, 7.8.2002:
Nach der Ravenna-Anstrengung wieder Entspannung angesagt. Na ja, zumindest ein wenig.
Das Castello Estense sollte man sich ja eigentlich schon am ersten Tag ansehen. Flüchtend vor
einer englischen Reisegruppe gibt’s Orangengärten, Kapellen ohne religiöse Gegenstände,
Ferrara von oben und Kerker, in denen u.a. die Unglücklichen Ugo und Parisiana ihren Tod
erwarteten. Zwei Stunden in so einem Kerker und ich wäre garantiert wahnsinnig. Danach ins
Boldini-Museum. Der Mann am Eingang beginnt gleich ganz aufgeregt loszureden (natürlich
ohne dass ich sehr viel verstehe) und führt mich beinahe laufend durch das ganze Gebäude,
bis er mich in einer Kapelle ratlos zurücklässt, von wo ich mir das Museum sozusagen von
hinten beginnend ansehe. Irgendwann läuft er dann mit dem nächsten Besucher an mir vorbei
in Richtung Kapelle. Hm.
Mittags sitze ich dann wie so oft am Piazza Trento Trieste neben dem Dom und lese. Ein
Mädchen von geschätzten 18 Jahren mit einem ca. fünfjährigen Buben setzt sich zu mir und
beginnt auf mich einzureden. Wenn ich sie richtig verstanden habe, hält sie mich für einen
aufrichtigen Menschen und möchte Geld für irgendwas Essbares für irgendein Kind. Ich hole
meine Brieftasche raus, krame in meinem Kleingeldfach so an die zwei Euro raus, die ich ihr
geben will. Taktisch unklug. Genau bzw. mindestens 15 Euro braucht sie. Ich sage ihr, das sei
alles, was ich ihr geben kann. Nach einigem Beharren entschließt sie sich, vorerst doch
zumindest die zwei Euro zu nehmen. Gleich darauf auch meine Hand. Jemand, der mir
nahesteht, ist gestorben. Äh, nein. Vor langer Zeit. Ähm, na ja, vor langer Zeit ist uns wohl
allen mal eine Oma oder ein Onkel gestorben. Eine Frau leidet meinetwegen. Hm, nicht dass
ich wüsste. Eine alte Tante wohnt bei mir zuhause. Absolut nicht. Langsam frag ich mich, wie
sie es schafft, so gezielt falsche Aussagen zu machen. Ist mein Italienisch so schlecht, dass ich
sie falsch verstehe – oder macht sie es absichtlich, um mein Mitleid zu erregen? Schließlich
versucht sie es mit der anderen Hand, die ihr gleich einen gehörigen Schrecken versetzt. Ein
Kreuz sieht sie da. Das bedeutet wohl nichts Gutes. Ich brauche unbedingt Hilfe, und sie
könne mir helfen. Nachdem ihre bisherigen spirituellen Fähigkeiten zumindest aus meiner
Sicht als Laie eher zu wünschen übrig gelassen haben, entschließe ich mich, ihr großzügiges
Angebot nicht anzunehmen. Na gut, es sei mein Leben sagt sie. Sie steht auf und geht, dreht
sich noch kurz um – ich erwarte mir, dass sie mir meinen nahen Tod ankündigen möchte, aber
nichts dergleichen. „Wie spät ist es eigentlich?“ fragt sie in einem plötzlich sehr sachlichbeiläufigen Tonfall. „Zwanzig nach zwölf.“
Nach der Mittagspause noch ins Museo del Risorgimento e della Resistenza. Karikaturen aus
dem 19. Jhdt., in denen die Österreicher ihren Teil abbekommen, Zeitungsausschnitte und
Dokumente aus den 30er- und 40er-Jahren. Sehr interessant. Noch im November 1944 waren
deutsche Beamte in Comacchio (ein kleiner Ort an der Adria) damit beschäftigt,
Bescheinigungen für die Erlaubnis zum Lenken eines Fahrrades auszustellen. Außerdem finde
ich einige Dialekt-Gedichte, die ich schon in schriftlicher Form nicht entziffern kann. Abends
nochmals ins Kino. Wieder ein spanischer Film in italienischer Synchronfassung, diesmal
aber ein Thriller, der mir das Verstehen leicht macht. Viel wird ohnehin nicht gesagt, und die
Dialoge beschränken sich auf einigermaßen vorhersehbare Phrasen.
Donnerstag, 8.8.2002:
Wieder ein Tag zum Entspannen. Im zum Palazzo Schifanoia gehörigen Lapidarium finde ich
diesmal wenigstens eine Putzfrau vor. Sonntag war geschlossen gewesen. Die sagt mir, dass
ich im Palazzo selber nachfragen sollte, wann geöffnet ist. Dort begleitet mich dann jemand
persönlich hin. Sonst Pinacoteca Nazionale, noch ein paar Kirchen, das Wohnhaus von Ariost
und der Corso d’Ercole. Eine der Kirchen ist inzwischen in ein Kino umgebaut worden. Aber
nicht irgendein Kino. „Solo per adulti“ („Nur für Erwachsene“) steht am Spielplan.
An der Piazza Trento Trieste hält mich ein Mann an, der mich sofort niederredet. Ich verstehe
absolut nur Bahnhof. Ich sage ihm, dass mein Italienisch nicht so gut ist und ich ihn nicht
verstehe. Das stoppt ihn nur unmerklich. Erst als er nur mehr einzelne Wörter von sich gibt,
verstehe ich „Profumo“ („Parfum“). Da öffnet er schon seine Tasche und holt eine Flasche
raus, sprüht einen guten Teil des Inhalts auf meine Hand, die daraufhin riecht, als hätte ich
gerade bei einer Blasenoperation eines Moschusochsen mitgewirkt und vergessen, mir vorher
Handschuhe anzuziehen. Ich lehne dankend ab, auch für die Füllfeder vermag ich mich nicht
mehr zu begeistern. Ich möchte mir nur ganz dringend meine Hand waschen.
Exkurs III: Emanzipation in Italien
Vergesst Eure Klischees. Polizistinnen gibt’s ja bei uns auch. Aber nicht soviele wie in
Ferrara. Und bei der Müllabfuhr hab ich noch nie vorher eine Frau gesehen. Und beim
Rasenmähen im Stadtgarten auch nicht. Noch dazu hat sie den Rasenmäher dann noch auf den
Lastwagen geladen und ist mit dem Lastwagen weg. Als ich dann noch einen Mann beim
Staubsaugen in einer Kirche gesehen hab...
Freitag, 9.8.2002:
Heute Ausflug nach Bologna. Diesmal mit zwei festen Vorsätzen: kein Stress, keine langen
Fußmärsche – die Blasen vom Ausflug nach Ravenna schmerzen immer noch. Also diesmal
nicht zu Fuß sondern mit dem Bus zum Bahnhof. Fahrkartenautomat schluckt meine zwei
Euro, spuckt aber nichts aus. Großartig. Eh schon spät dran muss ich zuerst noch zum Kiosk,
um doch noch zu einem Busticket zu kommen. Dann am Bahnhof zum Fahrkartenschalter.
Warten. Ich bin dran, die Dame aber noch sehr mit ihrem PC beschäftigt. Am nächsten,
gerade frei werdenden Schalter hab ich mehr Glück. Der Zug hat Verspätung, ich erwische ihn
gerade noch. In Bologna angelangt, schau ich, wann am Abend Züge zurückfahren. Hinter mir
höre ich jemanden „Corazón“ (span.: Herz) rufen. Denk mir nix dabei. Beim dritten Mal
dringt das Wort doch in mein Bewusstsein. Ich drehe mich um, stelle fest, der Arme erleidet
nicht gerade einen Herzinfarkt sondern möchte nur die Uhrzeit („Che ore sono?“) wissen.
Echt beeindruckt von meiner Blödheit schaffe ich es nicht, mündlich zu antworten und halte
ihm stattdessen meine Uhr hin. Als mir später an dem Tag zwei Spanier begegnen, bekomme
ich nicht mal mehr die Konjugation von „sein“ auf Spanisch hin.
Bis zum Nachmittag hin schaffe ich es beinahe, mich an meine Vorsätze zu halten. Ganz
gemütlich. Dann sehe ich irgendwo ein Plakat der Galleria d’arte moderna. Da muss ich hin.
Ich lasse mir beim Infoschalter zeigen, wo das ist und unterschätze die Distanz wieder mal
völlig. Durch die häßlichsten Stadtviertel Bolognas mit dem meisten Verkehr lege ich einen
sicher drei Kilometer langen Fußmarsch zurück. Aber es zahlt sich aus. Tolles Museum, tolle
Ausstellung (mit jeder Menge östereichischen Bildern).
Samstag, 10.8.2002:
Beschließe diesen Tag am Meer zu verbringen. Badehose und -tuch eingepackt mit dem Bus
an die Adria. Bewölkt. Mache einen Spaziergang am Strand. Was für eine Wohltat für meine
Füße! Bald fängt es ein wenig zu regnen an. Der Strand ist leergefegt. Ich find’s schön. Ich
entdecke zwei Fischerhäuschen. Setze mich auf einen Felsen dazwischen und schau eine
Stunde lang– eingehüllt in mein Badetuch – aufs Meer hinaus. Als es stärker zu regnen
beginnt, fahre ich ins nahegelegene Comacchio – so eine Art Klein-Venedig. In einer Trattoria
bestelle ich ganz neugierig die Spezialität von Comacchio – Aal. Ich stelle mir in Gedanken
schon vor, wie ich todesmutig Batzen schwarzen Schleims in mich reinstopfe, um den Koch
nicht zu beleidigen. Bin dann enttäuscht, dass Aal ganz normal nach Fisch aussieht und
schmeckt, sogar sehr gut. Es regnet wieder stärker, ich beschließe, wieder nach Ferrara zu
fahren. Was am letzten Abend machen? Kino ist immer gut. Blöd dass im Sommer grad mal
drei Kinos geöffnet haben. Aber im Cinema Alexander war ich noch nicht. Aber wo ist das
bloß? Auf meinem Stadtplan kann ich nur die ungefähre Lage ermitteln. Schon ziemlich
außerhalb. Na ja, schaun wir mal. Mittendrin fängt’s zu regnen an. Ich keinen Schirm. Und
keinen blassen Schimmer, ob ich überhaupt in die richtige Richtung geh – aber in Ferrara
kann man sich wenigstens nicht verirren. Beschließe doch ins andere Kino zu gehen.
Sauschlechter Film (Hollywood – eh klar). Was soll’s.
Exkurs IV: Lucrezia Borgia
Bis kurz vor meinem Urlaub wusste ich ja nicht mal, wer das ist. Aber heuer ist in Ferrara das
Jahr der Lucrezia Borgia. Sogar eine Ausstellung gibt’s. Aber erst ab Oktober. Das erste Mal
habe ich den Namen von der Schülerin im naturhistorischen Museum gehört. Die konnte mir
aber auch nicht mehr über sie sagen. Die Tschechin, die ich getroffen hab, wollte von mir
wissen, wo ihr Grab ist. Keine Ahnung. Aber offensichtlich scheint sie bereits tot zu sein. Das
vorletzte Mal habe ich ihren Namen dann im Castello Estense gelesen. Ist vor ihrem Mann
Alfons gestorben, der daraufhin nochmals geheiratet hat. Schließlich hab ich dann in einer
Zeitung gelesen, dass Lucrezia Borgia der Struwelpeter für italienische Mädchen ist. In einem
Leserbrief schreibt ein Mann, als Kind habe seine Oma seine Schwester, die die Gewohnheit
hatte, spät zu Bett zu gehen und ebenso spät aufzustehen, gefragt, ob sie denn so werden wolle
wie Lucrezia.
Sonntag, 11.8.2002:
Abreise. Davor noch ein kleiner Spaziergang in die Stadt. Dann in meinen Bus, der nicht
direkt sondern über Umwegen zum Bahnhof fährt. Sogar beim Cinema Alexander kommen
wir vorbei. Ungefähr 200 Meter vorher war ich am vorigen Tag umgekehrt. Zug hat
Verspätung. Umsteigen in Mestre. Im Zug ist jede Menge Platz, ich steig blöderweise genau
in die zwei Waggons ein, in denen alle Plätze reserviert sind. Jeder sucht seinen Platz, ein
Durchkommen in beide Richtungen unmöglich. Erst nach einer Viertelstunde Fahrzeit hat sich
die Lage beruhigt und ich komme zu einem Sitzplatz. Zwei Italienerinnen unterhalten sich
neben mir über Musik. Eine von ihnen ist Sängerin und fährt nach Salzburg. In Udine fragt ein
Wiener (auf deutsch), ob noch ein Platz frei ist, was ich mit einem stilsicheren „Sì“
beantworte. Die Italienerin ist etwas geistesgegenwärtiger und sagt „Ja“. In Villach angelangt,
kauf ich mir eine Zeitung. Zwei Italiener irren in der Unterführung umher. „Che cercate?“
frage ich cool, um ihnen dann in gebrochenem Italienisch und mit meinen Händen zu erklären,
wie sie zum Fahrkartenschalter gelangen.