Anni – „Die Kunststoffdame“

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Anni – „Die Kunststoffdame“
Anna Rosenthal, Bewohnerin der Seniorenresidenz Hundsmühlen
Erwin-Fritzsche-Straße 3, 26203 Wardenburg
Anni – „Die Kunststoffdame“
Seit August 2014 lebt in der Seniorenresidenz Hundsmühlen Anna Rosenthal eine kleine, zierliche Dame mit wachem und klugem Gesichtsausdruck. Sie feierte
am 4. März diesen Jahres ihren 89. Geburtstag. Anna Rosenthal freut sich über
die regelmäßigen Besuche der Sozialbetreuung – meistens ist sie gerade mit der
NWZ beschäftigt, die sie auch heute abonniert hat. Je nach Tagesform verfolgt sie
mit Interesse das politische Geschehen in Oldenburg und Umland. Doch die
Tageszeitung wird zur Nebensache, spricht man sie auf ihre besondere
Vergangenheit an. Dann hellt sich ihre Mimik auf, ihre Augen beginnen zu
leuchten, während sie nicht müde wird, in Erlebnissen zu schwelgen, die ihr Leben
auszumachen schienen.
„Wussten Sie eigentlich, dass ich für Erwin Fritzsche als Sekretärin gearbeitet
habe?“, fragte Anna Rosenthal nicht ohne Stolz bei der ersten Begegnung. „ Das
war Anfang 1960, er war damals Oldenburger DGB-Kreisvorsitzender und hatte
sich besonders für Bildung eingesetzt … Briefe hab’ ich für ihn in Steno
mitgeschrieben, dann das Gerippe ins Reine gebracht und ich hab’ ihn auf Reisen
begleitet …Ein toller Chef … nein“, korrigiert sie: „er war mein Kollege …
menschlich war er - und gütlich, hat sich immer für andere eingesetzt und war
immer fürs Gemeinsame … Das WIR zählt, sagte er immer. … Ach, und all diese
Reisen, wir haben uns gut verstanden … das war eine herrliche Zeit!“, fasst Anna
Rosenthal schwärmend zusammen.
Beitrag zum GESCHICHTENBUCH „Senioren erinnern sich“ - Seite 1 von 3
Anna Rosenthal, Bewohnerin der Seniorenresidenz Hundsmühlen
Erwin-Fritzsche-Straße 3, 26203 Wardenburg
In diesem Moment verweilt sie nicht mehr im Seniorenheim in der Erwin-FritzscheStraße (welch ein Zufall?), sondern ist gedanklich mit ihm gerade in Amsterdam
unterwegs. Dann besinnt sie sich und merkt an, dass Erwin Fritzsche vor ein paar
Jahren (2007, d. V.) fast hundertjährig verstorben ist. Etwas wehmütig fährt sie fort:
„Ich habe den Beruf gern ausgeübt, hatte dadurch so viele Möglichkeiten, Sie
wissen ja, die 68er … da war ich mittendrin.“ Der wehmütige Blick wird von einem
verschmitzten Lächeln abgelöst.
„Ich wurde meistens nur „Anni“ genannt und sie gaben mir den Beinamen
‚Kunststoffdame’“, erzählt Anna Rosenthal weiter. Auf die Frage, wie man denn
darauf kam, meint sie schulterzuckend: „Vielleicht hielten sie mich für besonders
haltbar“. Dabei schmunzelt sie. Fotos und alte Zeitungsartikel helfen den
Erinnerungen nach und geben die Erklärung: Anna Rosenthal war bis 1987
hauptamtliche Mitarbeiterin der Gewerkschaft Holz und Kunststoff. (ghk mit der
Geschäftsstelle in der Kaiserstraße in Oldenburg ansässig, Anm. d. V.). Mit einem
großen Empfang wurde sie nach jahrzehntelanger Dienstzeit verabschiedet. Die
schriftliche Einladung in die Gaststätte „Brückenhaus Moslesfehn“ in
Südmoslesfehn hatte Anna Rosenthal wie einen kostbaren Schatz sorgfältig
aufbewahrt.
Nur eine der beruflichen und ehrenamtlichen Bühnen, auf denen sich Anna
Rosenthal in mehreren Jahrzehnten getummelt haben muss. So berichtet sie auch
von ihrer Zeit als Beisitzerin beim Arbeitsgericht und als Schöffin beim Amtsgericht,
jeweils in Oldenburg. Bei der AOK engagierte sie sich schließlich als Mitglied der
Vertreterversammlung (ab ca. 1984).
Dass Anna Rosenthal ab 1969 im Parteivorstand der (vermutlich Oldenburger, d.
V.) SPD aktiv war, geht in ihren Erzählungen fast unter. Doch was ist im Rückblick
wirklich wesentlich und berührt sie heute noch? Ein großes Pressefoto von 1972
bezeugt es:
„Ich war auf dem Fliegerhorst dabei und habe Willy Brandt mit vom Flugzeug
abgeholt, hatte ihm beim Wahlkampf geholfen, das war hoch spannend … diese
ganze Atmosphäre, dieser Flair … als Laie mit so einem großen SPD-Mann
zusammenzutreffen … als ich dieses Gesicht direkt vor mir hatte, das habe ich
heute noch vor Augen … Er gab mir die Hand und ich begrüßte ihn … ich muss
dabei gestrahlt haben – wie die Sonne. Es war ein so herrlicher Tag … GANZ
GROSSE PRESSE“, hebt sie kopfnickend hervor. „Willy Brandt wirkte so emsig,
braun gebrannt war er – und groß … wie aus amerikanischen Filmen … Habe
dann mit auf dem Podest am Lefferseck gestanden, großer Menschenauflauf,
nachher ging es noch in die Wirtschaft HARMONIE …“. Davor habe es noch eine
Großveranstaltung in der Weser-Ems-Halle gegeben, ergänzt sie. „Da habe ich
neben dem Oberbürgermeister gesessen“, erinnert sich Anna Rosenthal - und das
in „gemeinsamer Sache“, fügt sie fast verschwörerisch hinzu. Ihr damaliges
Engagement spiegelt sich in ihrer Gestik wieder: Lebhaft unterstreichen ihre Arme
und Hände das Gesagte.
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Anna Rosenthal, Bewohnerin der Seniorenresidenz Hundsmühlen
Erwin-Fritzsche-Straße 3, 26203 Wardenburg
Beim wiederholten Betrachten früherer Fotos in Zeitungsberichten fällt ihr auf,
dass sie oft die einzige Frau „ … zwischen all den Männern war… Wo sind sie die ganzen Frauen“, fragt sie sich heute noch. „Na, wir haben ja trotzdem viel in
Gang gesetzt“, schließt sie mit zufriedener Mimik ab.
Bei diesen bewegenden Erinnerungen sickert dennoch ein Wermutstropfen durch:
„Ich glaube, damals hatte ich zu wenig Zeit für meine Tochter … trotzdem besucht
sie mich heute noch, obwohl sie von München anreisen muss ... Und sie hat sogar
einmal gesagt: Mutti, du bist viel zu gut für diese Welt …Eine richtige Hymne einer
Tochter an ihre Mutter“, sagt sie nun nachdenklich gestimmt und über ihr Gesicht
gleitet ein Ausdruck leichter Verlegenheit.
aufgezeichnet von Viola Kortler, 2015
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