Presseartikel vom Tagblatt Appenzellerland
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Presseartikel vom Tagblatt Appenzellerland
Auf Augenhöhe mit de Beauvoir Literatur-Matinee der Casino-Gesellschaft Herisau Herisau. «Die Frau» stand ganz im Mittelpunkt der literarischen Matinee vom vergangenen Sonntag. Der Leitfaden dazu waren die Persönlichkeit und die Werke der Schriftstellerin Simone de Beauvoir. Walter Sturzenegger Simone de Beauvoir war die Lebensgefährtin von Jean-Paul Sartre, dem Exponenten des gottes-verneinenden Existentialismus und seiner gedanklichen Welt. Suche, was Leben ist Und so waren die Stichworte dieser Lesung «sein-bezogen» und – mit wenigen Ausnahmen – nach innen gerichtet: Suche nach dem, was Leben = Existenz überhaupt ist, Einsamkeit, Sehnsucht und Zerrissenheit zwischen dem Ich-Sein und dem Du. Wahrhaftig kein einfach gelagertes Thema, wenig «Unterhaltung». Aber die von Nadja Rechsteiner kunstvoll zusammengestellten Texte und die drei Schauspieler vom Theater St. Gallen und Solothurn machten es den wiederum zahlreich erschienenen Zuhörern leicht, sich in die Materie einzudenken und einzufühlen. Es war so etwas wie ein lebhaftes und gut eingespieltes Trio: Katja Tippelt als neugierige Fragenstellerin Alice Schwarzer und Annette Wunsch als offenherzige Simone de Beauvoir, und dazu Alexandre Pelichet, der ruhig und gelassen durch das ganze Geschehen führte. Innere Widersprüche Und in der Tat: Dieses Geschehen war komplex und voll von inneren Widersprüchen. Schon das Motto, quasi das Titelblatt: «Man wird nicht als Frau geboren, man wird dazu gemacht» stellt vieles in Frage, was vorher galt und selbstverständlich war, die traditionelle Rollenverteilung zwischen Mann und Frau. «Das andere Geschlecht» ist eine Streitschrift für die Unabhängigkeit der Frau, eine mitreissende, strahlende Vision von der Geschwisterlichkeit der Geschlechter. Vorher war die Frau Erlebnis, Vergnügen und Gesellschaft für den Mann und dieser wiederum Sinn und Rechtfertigung ihrer Existenz, und dies führt Simone de Beauvoir zu der kernigen Aussage: «Die Frau ist Idol und Dienerin, Quelle des Lebens und Macht der Finsternis, Heilerin und Hexe.» Sie ist alles, was der Mann haben will und selbst nicht ist und gipfelt in dem einen Satz: «Kein Mann würde eine Frau sein wollen, aber alle wünschen, dass es Frauen gibt.» Und wenn Goethe den ersten Teil seines «Faust» mit dem Satz schliesst: «Das ewig weibliche zieht uns hinan», so ist das schon immer Lüge gewesen und wird es bleiben. Warmes Literaturkleid Und daher lautet ihr Programm für die Zukunft der Frauen ganz klar: «Die Verdammung der Frau ins Hausfrauen- und Mutter-Getto, die männlich-weibliche Arbeitsteilung von draussen und drinnen müssen die Frauen ablehnen, wenn sie vollwertige Menschen werden wollen.» Vieles muss sich ändern in dieser Welt und in unserer Kultur. «Stillstand ist gleichbedeutend mit Tod. Das Gesetz des Lebens ist Veränderung.» Aber Simone de Beauvoir ist keine Politikerin, sondern eine warmherzige Frau, und so verkündet sie ihre Botschaft nicht in kalten, lärmigen Parteiversammlungen, sondern packt sie ein in das wohltuend-warme Kleid der Literatur. So erzielt sie mit ihren Büchern einen weltweiten und nachhaltigen Publikumserfolg zur Stärkung der Rolle der Frau in Gesellschaft, Politik und Kultur. Saisonabschluss Diese letzte Lesung der Saison 2007/08 der Literaturkommission hinterliess einen tiefen Eindruck und war eine Einladung, sich vermehrt mit den Werken der Schriftstellerin Simone de Beauvoir zu befassen und ihre Gedanken in sich aufzunehmen. Sie wurde der Textverfasserin und den Vortragenden mit warmem Applaus verdankt. Mit den beiden Matineen über Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir hat sich die CasinoGesellschaft auf ein tief-weltanschauliches Gebiet gewagt und dies mit offensichtlichem Erfolg. Man darf sich schon heute auf die nächste Saison freuen! Appenzellerland Dienstag, 29. April 2008