Mit einem ergotherapeutischen „Modell“
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Mit einem ergotherapeutischen „Modell“
Fortbildung Mit einem ergotherapeutischen „Modell“ alltagsnah und strukturiert zum Ziel Susanne Salata, Waltraud Schrank, Markus Knuf | Dr. Horst Schmidt Kliniken Wiesbaden, Klinik für Kinder- und Jugendliche, Sozialpädiatrisches Zentrum Fall 1 Paul ist ein 14-jähriger Jugendlicher mit der Diagnose einer bein- und linksbetonten Tetraparese. Während er sich einerseits Gedanken um den Frieden in der Welt macht, auf einem Computer schreiben kann und bestrebt ist, in der Schule gute Noten zu erhalten, ist er andererseits nicht in der Lage, sich ohne Hilfe an- oder auszuziehen, sich selbst zu waschen oder sich eigenständig von seinem Rollstuhl auf das Bett zu legen. In der Vergangenheit erhielt Paul über mehr als ein Jahrzehnt Physiotherapie in einer niedergelassenen Praxis mit dem Schwerpunkt in der Mobilisation. Bei der ergotherapeutischen Erstvorstellung führt Paul an, dass er ein „generelles Organisationsproblem“ habe. Diskussion Für die weitere Behandlung von Paul in der Ergotherapie stehen 2 Optionen zur Wahl: 1. Eine Behandlung nach der traditionellen Vorgehensweise (Bottom-up-Ansatz): Mit einem Fokus auf der Verbesserung der Körperfunktionen erstellt der Therapeut* als Experte einen Behandlungsplan für den Patienten. Der * Werden Personenbezeichnungen aus Gründen der besseren Lesbarkeit lediglich in der männlichen oder weiblichen Form verwendet, so schließt dies das jeweils andere Geschlecht mit ein. Therapeut könnte sich im Falle von Paul beispielsweise für eine handwerkliche Tätigkeit entscheiden, um damit sowohl die von Paul angesprochene mangelnde Organisation als auch seine eingeschränkten Körperfunktionen aufgreifen und behandeln zu können. Inwiefern der Therapeut bei der Auswahl der handwerklichen Technik das persönliche Interesse von Paul anspricht, ist dabei ebenso ungewiss wie ein zukünftiger Transfer in den Alltag. 2. Eine Behandlung nach dem Top-downAnsatz: Der Therapeut wählt ein Praxismodell aus, mit welchem er strukturiert die für Paul wichtigen Anliegen aus dem Alltag erfassen, dokumentieren und deren Ausführung analysieren kann. Darauf aufbauend können gemeinsam mit Paul und seinen Eltern deren bedeutende Betätigungsziele aus dem Alltag für die nächsten Wochen vereinbart werden. Das kanadische Modell der Ergotherapie (CMOP-E, Canadian Model of Occupational Performance and Engagement) stellt einen solchen Top-down-Ansatz dar und soll Gegenstand dieses Artikels sein. Im Folgenden wird daher der Hintergrund kurz beleuchtet, der Therapieprozess vorgestellt und abschließend anhand eines zweiten Fallbeispiels veranschaulicht. Die Definitionen der Begriffe „Betätigung“ und „Klientenzentrierung“ im ergotherapeutischen Setting werden zum besseren Verständnis der weiteren Erläuterungen vorangestellt. Kinderärztliche Praxis 85, 381 – 388 (2014) Nr. 6 www.kipra-online.de Betätigung – das Kernelement der Ergotherapie Der im englischen Sprachgebrauch verwendete Begriff „occupation“ kann mit „Betätigung“, „Handlung“, aber auch mit „Aktivität“ oder „Tätigkeit“ ins Deutsche übersetzt werden. Ergotherapeuten in Deutschland haben sich auf die Übersetzung „Betätigung“ geeinigt. Unter Betätigung „verstehen Ergotherapeuten die Summe von Aktivitäten und Aufgaben des täglichen Lebens, die durch Individuen und Kultur benannt, strukturiert und mit Bedeutung versehen sind. Betätigungen werden individuell unterschiedlich ausgeführt, sind Ausdruck unserer Persönlichkeit und lassen uns fortlaufend mit unserer Umwelt interagieren. Betätigung gehört zu den Grundbedürfnissen des Menschen und umfasst alles, was Menschen tun. Dazu gehören Tätigkeiten zur Versorgung der eigenen Person (Selbstversorgung), zum Genuss des Lebens (Freizeit) und als Beitrag zur sozialen und ökonomischen Entwicklung des Individuums und der Gemeinschaft (Produktivität). Bedeutungsvolle Betätigungen sind für den Menschen dadurch charakterisiert, dass sie zielgerichtet sind und als signifikant und wertvoll für den Einzelnen empfunden werden“ [1]. (Anmerkung: Hervorhebung durch die Verfasserin.) 381 Fortbildung Betätigungen sind im Verständnis des beschriebenen Ansatzes nach Romein [2] nicht zu verwechseln mit „therapeutischen Aktivitätsübungen“ (beispielsweise handwerklich-gestalterische Tätigkeiten) oder „Körperfunktionsübungen“ (z. B. funktionellen Angeboten im Bewegungsraum). „Diese […] werden zwar oft fälschlicherweise Betätigungen genannt, sie sind aber vor allem Therapiemedien“ [2]. Im hier gemeinten Sinne orientieren sich Betätigungen immer am Alltag und an den Bedürfnissen des Klienten. Klientenzentrierung in der Ergotherapie Der Begriff Klientenzentrierung wurde von dem Psychologen Carl Rogers 1951 geprägt und beinhaltet für die „Klientenzentrierte Ergotherapie […] eine Partnerschaft zwischen Therapeut und Klient. Den Betätigungszielen des Klienten wird Priorität eingeräumt, sie stehen im Mittelpunkt von Erhebung und Therapie. Der Therapeut hört dem Klienten zu, respektiert dessen Maßstäbe und adaptiert seine Interventionen so, dass sie den Bedürfnissen des Klienten gerecht […]“ werden. „Der Klient ist aktiv an der Vereinbarung der Behandlungsziele beteiligt und es wird ihm ermöglicht, Entscheidungen zu treffen. Therapeut und Klient arbeiten gemeinsam an den herausgefundenen Schwierigkeiten“,…[…]…, damit der Klient seine Rollenerwartungen erfüllen kann“ [3]. (Hervorhebung durch die Verfasserin.) „Viele Ergotherapeuten sprechen wie selbstverständlich von Klientenzentrierung und Lebensweltorientierung“ [4]. Allerdings ist eine Erhebung der Anliegen und Ziele des Klienten allein nicht ausreichend, „sondern die komplette Praxis muss umgestellt werden […]“. „Die Umstellung ist ein langer, oft mehrjähriger Prozess, der Umstellungen auf vielen Ebenen erfordert“ [5]. 382 Gesundheitsstörung oder Krankheit Körperfunktionen und -strukturen Aktivitäten Partizipation/ Teilhabe Umweltfaktoren Personenbezogene Faktoren Faktoren der materiellen, sozialen und einstellungsbezogene Umwelt Eigenschaften und Attribute der Person (z. B. Alter, Geschlecht, Ausbildung, Lebensstil, Motivation, genetische P rädisposition) Abb. 1: Das biopsychosoziale Modell. Quelle: [6]; Hervorhebungen und Ergänzung durch die Verfasserin. Canadian Model of occupational performance and Engagement, CMOP-E Hintergrund Die Entwicklungen der letzten Jahre in der Ergotherapie sind eng verknüpft mit einem Umdenken im Gesundheitssystem weltweit, das bereits vor einigen Jahrzehnten seinen Anfang nahm: Aus einer reduktionistischen Betrachtungsweise mit Nutzung des biomedizinischen Modells entsteht mit der Verwendung des biopsychosozialen Modells und der Internationalen Klassifikation für Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF, WHO 2001) eine neue Sichtweise auf den Menschen (Abb. 1). Demnach wird ein Gesundheitsproblem nicht ausschließlich auf eine eingeschränkte Körperfunktion zurückgeführt. Vielmehr werden die Wechselwirkungen hinsichtlich der gegebenen Möglichkeiten zur Ausführung von Aktivitäten, die Teilhabe in der Gesellschaft sowie die personenbezogenen Faktoren und Umweltfaktoren als Komponenten mitberücksichtigt. Der Mensch mit seiner Erkrankung steht nun im Vordergrund – nicht die Krankheit als solche. Während die International Stati- stical Classification of Diseases and Related Health Problems (ICD) weiterhin einen ätiologischen Rahmen bietet, wird sie bei der Beurteilung von Behinderung und deren Auswirkungen von der ICF ergänzt [6]. Entwicklung und Einführung in Deutschland Im Hinblick auf die veränderte Sichtweise und den Kostendruck im kanadischen Gesundheitssystem entstanden zur Qualitätssicherung in der Ergotherapie bis Ende der 80er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts in der Zusammenarbeit mit dem kanadischen Gesundheitsministerium und den kanadischen Ergotherapeuten Leitlinien für eine klientenzentrierte Praxis. Das Canadian Model of Occupational Performance (CMOP) bildet dabei den konzeptionellen Rahmen. Das Canadian Occupational Performance Measure (COPM) stellt das Assessment zu dem Modell dar und hat die Funktion eines Erhebungs- und Messinstruments [7]. „Es wurde in mehr als 24 Sprachen übersetzt und wird in 35 Ländern angewendet“ [8]. Im Jahr 1998 wurde das kanadische Modell in Deutschland eingeführt und bildete somit für die Ergotherapie erstmals eine „theoretische Orientierung, um mit therapeutischen Inhal- Kinderärztliche Praxis 85, 381 – 388 (2014) Nr. 6 www.kipra-online.de Fortbildung ten systematisch und wissenschaftlich umgehen zu können“ [9]. Seit der Weiterentwicklung des CMOP zum CMOP-E, Canadian Model of Occupational Performance and Engagement, im Jahr 2007, „wird der Fokus im ergotherapeutischen Handeln … [vermehrt]… auf das „Engagement“ (Eingebundensein) gerichtet“ [10]. Somit steht sowohl das ‚Ermöglichen einer Betätigung‘ (Enabling) als auch die Ermöglichung des ‚Eingebundenseins in das tägliche Leben‘ im Fokus der ergotherapeutischen Interventionen. Diese sind als integriertes Prozessmodell in der Weiterentwicklung des Modells spezifisch beschrieben (CMCE, Canadian Model of Client-Centred Enablement). „Aktuell gehört das CMOP-E mit zu den am meisten verbreiteten und bekanntesten ergotherapeutischen Praxismodellen“ [11]. ◾◾ Gewährleistung der Eigenaktivität des Kindes/Klienten, ◾◾ Orientierung an dem Alltag des Klienten und an dessen Bedürfnissen, ◾◾ Effektivität. Der Therapieprozess nach dem kanadischen Modell Dieser zeichnet sich durch ein dem kanadischen Modell eigenem Prozessmodell aus (CPPF, Canadian Practice Process Framework), dass einzelne Aktionspunkte festlegt, detailliert beschreibt und somit eine klare Struktur vorgibt, ohne dabei starr bezüglich der Einhaltung der Reihenfolgen zu sein. Ein weiteres Prozessmodell (CMCE) beschreibt 10 Kompetenzen, um Betätigung zu ermöglichen („Enablement Skills“). Zur Übersicht werden die wesentlichen Inhalte aus dem CPPF aufgelistet und im Folgenden näher erläutert. ◾◾ Durchführung des Assessment COPM (Zweiterhebung) Canadian Occupational performance measure (COPM) – ein Assessment Es dient als Anwendungshilfe und ergänzt die Leitgedanken des Modells als dessen Erhebungs- und Messinstrument. Es ist diagnose- und altersunabhängig. Das COPM wird als halbstrukturiertes Interview mit dem Klienten durchgeführt. Die Angaben des Klienten werden in einem Erfassungsbogen, nach Möglichkeit von dem Klienten, notiert. Eine adaptierte Kinderversion, COPM a kids, wurde 2007 in Deutschland eingeführt [12]. Der Ablauf des Interviews erfolgt in 4 Schritten (Tab. 1). Das COPM kann eingesetzt werden: ◾◾ zur Feststellung einer Indikation für eine ergotherapeutische Behandlung, ◾◾ als Anfangserhebung zur Identifikation Wirksamkeit „Besonders interessant sind die in jüngster Zeit zunehmend durchgeführten randomisiert kontrollierten Studien (RCT), die die Auswirkungen klientenzentrierter und betätigungsorientierter Ergotherapie mit denen einer Ergotherapie vergleichen, die nach anderen Bezugsrahmen arbeiten. Deren Ergebnisse sind überwiegend positiv, häufig handelt es sich jedoch nur um kleine (Pilot-) Studien, die weitere Forschung notwendig machen“ [11]. Das Modell Der Leitgedanke im kanadischen Modell ist von einer klientenzentrierten und betätigungsorientierten Sichtweise geprägt, die sich durch den gesamten Therapieprozess zieht. Neben der Strukturierung des Therapieprozesses werden „Enablement skills“ als Kernkompetenzen definiert (z. B. beraten, koordinieren). Der Vorteil in der Anwendung des Modells liegt in der ◾◾ Strukturierung des gesamten Therapieprozesses („roter Faden“), ◾◾ Transparenz und Orientierung, Tab. 1: Ablauf COPM/COPM a kids – Struktur 1. Schritt Problemidentifizierung hinsichtlich der Betätigungsperformanz aus den Bereichen Selbstversorgung, Produktivität und Freizeit 2. Schritt Einstufung der Wichtigkeit Anhand einer Skala von 1 (= überhaupt nicht wichtig) bis 10 (besonders wichtig) 3. + 4. Schritt Festlegung der 5 wichtigsten Anliegen und deren Bewertung aus Sicht des Klienten im Hinblick auf: a) die Betätigungsausführung/Performanz b) die Zufriedenheit (mit der Ausführung) Skala von 1 (= überhaupt nicht) – 10 (besonders gut bzw. hoch zufrieden) Die Inhalte im Therapieprozess (Auszug): ◾◾ Durchführung des Assessment COPM (Ersterhebung) ◾◾ Durchführung einer Betätigungsanalyse (Reflexion mit Klienten) ◾◾ Zielvereinbarung mit Klienten (Was soll sich bis wann konkret verändern? Wer übernimmt was?) ◾◾ Wahl eines theoretischen Bezugsrahmens (z. B. biopsychosozial, entwicklungsorientiert; durchzieht den gesamten Therapieprozess und wird stets angepasst) ◾◾ Wahl eines geeigneten Therapieansatzes (z. B. aufgabenorientierter Therapieansatz) Kinderärztliche Praxis 85, 381 – 388 (2014) Nr. 6 www.kipra-online.de von Problemen in der Betätigungsausführung und dessen Priorisierung, ◾◾ zur Zielformulierung, ◾◾ zur Beurteilung der Verbesserung in der Betätigung aus Sicht des Klienten, Der Therapeut achtet darauf, dass die Anliegen der Klienten eine Betätigung darstellen und nicht lediglich eine isolierte Körperfunktion. So stellt die Verbesserung des Gleichgewichts oder der Feinmotorik keine Betätigung dar. Eine Betätigung könnte beispielsweise sein: Laufrad fahren lernen oder mit dem Löffel essen können. 383 Fortbildung Mit wem kann das COPM durchgeführt werden? Einzelner Klient (z. B. Kind, wenn vom Entwicklungsstand möglich) Bezugspersonen (Eltern, möglich auch mit Großeltern, weiteren Verwandten) Weiteres Umfeld (Erzieher, Lehrer, …) Schritt 3 + 4: Bewerten – Ersterhebung und erneute Erhebung Lassen Sie den Klienten die 5 wichtigsten Probleme benennen und tragen Sie sie unten ein. Bitten Sie den Klienten, mit den Einstufungskarten jedes Problem im Hinblick auf die Ausführung (Performanz) und auch die Zufriedenheit einzustufen. Rechnen Sie die Durchschnittswerte aus, indem Sie alle Performanz- bzw. ZufriedenheitsWerte addieren und die Summe dann durch die Anzahl der in Schritt 3 genannten Probleme dividieren. Bei der erneuten Erhebung stuft der Klient wieder für jedes Problem die Performanz und die Zufriedenheit ein. Errechnen Sie die neuen Werte und die Werteveränderung. Ersterhebung: Betätigungsanalyse Nach der Feststellung der Anliegen wird die Betätigung, die im Alltag als schwierig erachtet wird, analysiert. Das Vorgehen ist dabei genau definiert und verläuft in mehreren Schritten. Nach Möglichkeit soll die Betätigung im häuslichen Umfeld ausgeführt und beobachtet werden, da so umweltbezogene Faktoren einbezogen und die Person in ihren verschiedenen Rollen gesehen werden kann. Ist es nicht möglich die Beobachtung vor Ort durchzuführen, kann eine Videoaufnahme der Situation aus dem Umfeld helfen oder der Therapeut lässt sich die Situation aus Sicht der Eltern und des Kindes detailliert beschreiben. Kehren wir zu dem ersten Fallbeispiel von Paul zurück: Mit Hilfe des COPM konnten die Anliegen sowohl von Paul als auch seiner Mutter detailliert erfasst, eine Priorisierung und deren Bewertung bezüglich der Betätigungsperformanz und Zufriedenheit vorgenommen werden. Aufgrund der genannten Anliegen wurde in Absprache mit der Familie neben der ergotherapeutischen auch eine physiotherapeutische Begleitung in unserem SPZ installiert. Eine ergotherapeutische Begleitung ergab sich beispielsweise für das bedeutendste Anliegen von Paul (Wichtigkeitseinstufung 10): „Schulranzen abends selbst packen“. Dies stellt für Paul angesichts seiner Körperbehinderung eine hohe Herausforderung dar. Es erfolgte eine Betätigungsanalyse der von Paul und seinen Eltern genannten Anliegen im Rahmen eines Hausbesuchs. Daraufhin wurden konkrete Therapieziele für die nächsten Wochen vereinbart, an deren Umsetzung OccupationalPerformance-Probleme: Erneute Erhebung: Performanz 1 Zufriedenheit 1 Performanz 2 Zufriedenheit 2 1. 2. 3. 4. 5. Bewertung: Skala 1 – 10 Performanz/Ausführung: 1 = überhaupt nicht bis 10 = besonders gut Zufriedenheit: 1 = überhaupt nicht bis 10 = hoch zufrieden Abb. 2: COPM-Ersterhebung mit Eltern. Paul und seine Familie aktiv und motiviert mitarbeiteten. Therapiezielformulierung Eine Zielformulierung nach dem klientenzentrierten Ansatz ist immer: 1. an einer für den Klienten bedeutungsvollen Betätigung aus dem Alltag orientiert, 2. mit aktiver Beteiligung des Klienten und seiner Bezugspersonen, 3. SMART formuliert (SMART steht dabei für spezifisch, messbar, attraktiv, realistisch, terminiert), 4. konkret dokumentiert: Wer übernimmt welche Aufgabe bis wann? Somit sind alle Beteiligten aktiv eingebunden in den Prozess, denn eine Veränderung im Alltag des Kindes geschieht nicht in 45 Minuten Ergotherapie in der Woche. Kinderärztliche Praxis 85, 381 – 388 (2014) Nr. 6 www.kipra-online.de Abschließend soll in dem zweiten Fallbeispiel von Jonas ein Therapieprozess nach dem kanadischen Modell veranschaulicht werden. Fall 2: Jonas, 5 Jahre alt Jonas zeigte im Alter von knapp 5 Jahren sowohl im Kindergarten als auch zu Hause deutliche Schwierigkeiten im Bewegungsverhalten und in der Umsetzung altersentsprechender Alltagsanforderungen (z. B. beim Anziehen oder beim Essen). Die soziale Integration in die Gruppe im Kindergarten fiel ihm sehr schwer. Die Erzieherinnen äußerten gegenüber den Eltern den Verdacht, dass Jonas nicht altersentsprechend entwickelt sei. Jonas wurde daraufhin im Sozialpädiatrischen Zentrum (SPZ) vorgestellt. Durch eine umfassende Diagnostik 385 Fortbildung konnte eine der Problematik zugrundeliegende neurologische Störung (neuropädiatrische Diagnostik) ebenso eine kognitive Einschränkung (psychologische Diagnostik) bei Jonas ausgeschlossen werden. In der logopädischen Diagnostik wurde eine myofunktionelle Störung festgestellt. Die funktionsorientierte Überprüfung der Motorik in der Ergotherapie mit Hilfe eines standardisierten Testverfahrens (MABC 2, Movement assessment battery for children) ergab unterdurchschnittliche Ergebnisse. Nun besteht nicht zwingend bei Kindern mit unterdurchschnittlichen Testergebnissen eine Therapieindikation. Entscheidend ist vielmehr die Alltagsrelevanz bei einer funktionellen Einschränkung und deren Bewertung aus Sicht des Klienten. Zur Überprüfung der Alltagsrelevanz wurde daher das COPM mit den Eltern (Abb. 2) und das COPM a kids mit Jonas durchgeführt. Aus der interdisziplinären Beurteilung ergaben sich folgende Diagnosen: ◾◾ Umschriebene Entwicklungsstörung motorischer Funktionen (F 82.0), ◾◾ Myofunktionelle Störung, ◾◾ Ausschluss kognitive Einschränkung. Aufgrund der erhobenen Befunde erfolgte die Empfehlung zur Aufnahme einer ergotherapeutischen und logopädischen Therapie im wöchentlich wechselnden Intervall in unserem SPZ. Therapieprozess nach dem kanadischen Modell mit Jonas und seinen Eltern In der vorangegangen Diagnostik wurden die Anliegen aus dem Alltag von Jonas und seinen Eltern mit Hilfe des COPM bereits erhoben. Bei der Bewertung der Anliegen Schritt 3 + 4: Bewerten – Ersterhebung und erneute Erhebung Lassen Sie den Klienten die 5 wichtigsten Probleme benennen und tragen Sie sie unten ein. Bitten Sie den Klienten, mit den Einstufungskarten jedes Problem im Hinblick auf die Ausführung (Performanz) und auch die Zufriedenheit einzustufen. Rechnen Sie die Durchschnittswerte aus, indem Sie alle Performanz- bzw. ZufriedenheitsWerte addieren und die Summe dann durch die Anzahl der in Schritt 3 genannten Probleme dividieren. Bei der erneuten Erhebung stuft der Klient wieder für jedes Problem die Performanz und die Zufriedenheit ein. Errechnen Sie die neuen Werte und die Werteveränderung. Ersterhebung: OccupationalPerformance-Probleme: Erneute Erhebung: Performanz 1 Zufriedenheit 1 Performanz 2 1. 2. 3. 4. 5. Bewertung: Skala 1 – 10 Performanz/Ausführung: 1 = überhaupt nicht bis 10 = besonders gut Zufriedenheit: 1 = überhaupt nicht bis 10 = hoch zufrieden Abb. 3: COPM-Zweiterhebung mit Eltern. 386 Zufriedenheit 2 von den Eltern bezüglich der Ausführung und Zufriedenheit wird der Leidensdruck der Eltern deutlich. Die Erhebung des COPM a kids mit Jonas ergab, dass sich seine Anliegen mit denen seiner Eltern decken – trotz unabhängiger Befragung. Die Betätigungsanalyse „Anziehen“ erfolgte mit Hilfe einer Videodokumentation vom morgendlichen Anziehen zu Hause. Dabei konnte von den Eltern, Jonas und der Therapeutin folgendes beobachtet werden: Das Anziehen fand gemeinsam mit dem Vater früh morgens im Wohnzimmer auf dem Sofa statt, Musik lief im Hintergrund, zahlreiche Spielsachen waren vor Ort. Jonas Geschwister tollten umher. Jonas zeigte bereits zu Beginn Schwierigkeiten beim Anziehen des Unterhemds – er hatte einfach keine Idee, in welches der vielen Löcher seines Unterhemdes er mit seinem Arm gelangen sollte. Dies führte dazu, dass er sich von seinem eigentlichen Vorhaben, dem Anziehen eines Unterhemdes abwandte, motorisch immer unruhiger wurde, anfing zu albern, was wiederum zu Zeitverzögerung und dadurch zu Stress bei allen Beteiligten führte. Nach der Reflektion des Videos wurde gemeinsam mit Jonas und seinen Eltern das erste von insgesamt 5 Therapiezielen für die nächsten Wochen formuliert (Tab. 2). Eine Zweiterhebung mit dem COPM wurde terminiert, um die eingesetzten Interventionen prüfen bzw. Adaptionen vornehmen zu können. Die Behandlung mit Jonas selbst erfolgte in konsequenter Fortsetzung des kanadischen Modells mit einem aufgabenorientierten Therapieansatz (CO-OP, Cognitive Orientation to Daily Occupational Performance), der durch die Einführung einer globalen kognitiven Strategie (Ziel – Plan – Tun – Check) Problemlösungen für Kinder mit motorischen Schwierigkeiten bieten kann. Das Betätigungsziel „Anziehen“ konnte in dem festgelegten Zeitrahmen erreicht werden. Die weiteren Anliegen wurden, wie oben beispielhaft am Anziehen beschrieben, gemeinsam mit den Eltern und Jonas analysiert und bearbeitet, so dass die Ergotherapie nach insgesamt 18 Therapie- Kinderärztliche Praxis 85, 381 – 388 (2014) Nr. 6 www.kipra-online.de Fortbildung Tab. 2: Zielformulierung Betätigungsziel mit erstem Unterziel am Beispiel „Anziehen“ Erstes Anliegen der Eltern und Jonas ermittelt mit dem COPM/COPM a kids: Selbständig morgens anziehen Betätigungsziel: In 6 Wochen zieht sich Jonas morgens vor dem Kindergarten ohne Hilfe seine bereitgelegte Kleidung komplett im Badezimmer innerhalb von 10 Minuten an. Unterziel vom 29.10. Was ist zu tun? Von wem? Bis wann? Jonas zieht sich morgens als erstes der Kinder vor dem Kindergarten seine Unterhose, Hose und Pullover unter Aufsicht eines Elternteils im Badezimmer selbständig an. Bei allen weiteren Kleidungsstücken erhält er Hilfestellung, ebenso beim Verschließen von Reißverschluss und Knöpfen. Mit Hilfe der „globalen Strategie“ (Ziel – Plan – Tun – Check) das Anziehen der Hose, des Pullovers erlernen, Zeitrahmen ca. 20 Minuten im SPZ Ergotherapeutin/Jonas 29.10. Stuhl in das Badezimmer stellen (Sitzmöglichkeit für Jonas) Mutter 30.10. Alle vorhandenen Spielmaterialien aus dem Badezimmer entfernen (um Ablenkung zu vermeiden) Mutter 31.10. Jonas zieht sich seine Hose und Pullover 7x/Woche selbst an. Er verwendet dabei die „globalen Strategien“ aus CO-OP Jonas 5.11. Jonas vor den anderen beiden Kindern wecken (Vermeidung von Ablenkung durch die Geschwister) Vater 30.10. Erstes Unterziel erreicht am 5.11. einheiten beendet werden konnte. Jonas hatte in der Therapie Strategien für die Umsetzung der für ihn bedeutungsvollen Betätigungen erlernt, die seine Kompe- tenzen im Alltag trotz seiner motorischen Störung deutlich erhöhten. Durch die alltagsnahe Behandlung war ihm ein Transfer ebenso auch eine Generalisierung mög- Kinderärztliche Praxis 85, 381 – 388 (2014) Nr. 6 www.kipra-online.de lich. Die abschließende COPM- Zweiterhebung mit den Eltern hebt die Verbesserung der Betätigungsausführung ebenso wie die Zufriedenheit damit hervor (Abb. 3). 387 Fortbildung Wesentliches für die Praxis . . . ◾◾ Durch einen strukturierten Therapieprozess gewährleistet das kanadische Modell der Ergotherapie (CMOP-E) Transparenz und eine effektive Behandlung. ◾◾ Die für den Klienten bedeutungsvollen Betätigungen aus dem Alltag können detailliert erfasst und somit gezielt behandelt werden. ◾◾ Die Zielformulierung erfolgt gemeinsam mit dem Klienten. ◾◾ Der Klient ist aktiv an dem Therapieprozess beteiligt. ◾◾ Das CMOP-E ermöglicht zudem eine verbesserte Absprache und Koordination im interdisziplinären Arbeiten. Resümee Zum Ende noch ein Wort zu Paul, dem Jugendlichen aus dem ersten Fallbeispiel: Nach 6 Monaten ergo- und physiotherapeutischer Begleitung in unserem SPZ und einer erneuten neuropädiatrischen Vorstellung ergab sich folgendes Bild: „Paul ist es im Rahmen der Komplexbehandlung im SPZ gelungen, Ziele zur Verselbständigung und Eigenständigkeit im Leben zu formulieren, umzusetzen und in den Alltag zu transferieren. Paul wie seine Eltern geben an, dass seine Lebensqualität deutlich zugenommen hat. Der neurologische Befund ist ähnlich wie bei den Voruntersuchungen: Pauls Rumpf ist hypoton und in den Händen dyston. Die Beine sind relativ steif …“ Paul konnte somit seine Alltagskompetenzen erweitern, obwohl der körperliche Status unverändert blieb. In beiden Fallbeispielen konnte aufgezeigt werden, dass durch die Anwendung des CMOP-E die für den Klienten bedeu- 388 tenden Betätigungen aus dem Alltag erfasst und verbessert werden können, wodurch die Zufriedenheit und damit verbunden die Lebensqualität steigt. Durch die klienten- und betätigungsorientierte Vorgehensweise im gesamten Therapieprozess entsteht eine hohe Motivation von Seiten des Klienten, also sowohl bei dem Kind als auch bei den Eltern, sich aktiv in die Therapie einzubringen. Ein zeitlicher Mehraufwand zu Beginn des Therapieprozesses zahlt sich durch die Effektivität der zielgerichteten therapeutischen Interventionen am Ende daher aus. Literatur 1. Miesen M, Christopher A, Mentrup CH (2004) Begriffsbestimmung Ergotherapie. In: Miesen M (Hrsg.) Berufsprofil Ergotherapie 2004. Schulz-Kirchner, Idstein, 158 2. Romein E (2012) Kernthemen der Ergotherapie. In: Dehnhardt B, Schaefer Ch (Hrsg.) Ich werde Ergotherapeutin-mit Lisa erfolgreich durch die Ausbildung. Thieme, Stuttgart, 40ff 3. Sumsion T (2002) Übersicht über klientenzentrierte Praxis. In: Sumsion T(Hrsg.) Klientenzentrierte Ergotherapie. Thieme, Stuttgart, 3 – 15 4. Hofmann M (2010) Von der Basteltante zur Ergotherapeutin. Ergopraxis 3 (11/12): 28 – 31 Kinderärztliche Praxis 85, 381 – 388 (2014) Nr. 6 www.kipra-online.de