Zum Beitrag - Popbüro Region Stuttgart

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Zum Beitrag - Popbüro Region Stuttgart
Susanne Häcker
Gas geben, Spaß haben. Die Neue Deutsche Welle
Die Neue Deutsche Welle ist mittlerweile längst verebbt, doch Anfang der Achtziger
flutete sie quer durch Deutschland und setzte Akzente für die deutschsprachige
Musik kommender Jahrzehnte. Im Sog der von England und Amerika ausgehenden
Punk- und New-Wave-Bewegung, die Anfang der Siebziger den Kontinent erreichte,
bildete sich bis Ende 1979 eine eigenständige Musikszene heraus, deren wesentliches Merkmal die Deutschsprachigkeit war – die Neue Deutsche Welle, kurz NDW.
Diese Musik war schnell, laut und abgehackt, die Gitarre durfte ruhig mal zum
Quietschen gebracht werden, schrille und schräge Töne gehörten dazu. Im Zuge
dieser Entwicklungen wurden in Deutschland zwischen 1977 und 1980 mehr als
tausend Bands neu gegründet. Jeder, der ein Instrument spielte, konnte Musik
machen. Nicht die Perfektion, sondern der musikalische Effekt war entscheidend.
1979 kreierte der Hamburger Journalist Alfred Hilsberg den Begriff der Neuen
Deutschen Welle. Er galt zunächst nur für Bands wie Male, Hans-A-Plast oder
Mittagspause. Vor allem Hamburg, Berlin, Hannover und das Ruhrgebiet wurden zu
Zentren dieser neuen Musikrichtung. Doch auch in der Provinz entwickelte sich die
NDW weiter. Trio etwa kam aus Großenkneten in Norddeutschland, Nena aus Hagen
im Sauerland. Die ursprünglich hektisch-aggressive Musik mit oft zynisch-resignativen Texten, die hart und sloganartig waren, wurde in anderen Milieus der NDW
spiegelbildlich in kindliche Fröhlichkeit umgekehrt. Andreas Doraus Song „Fred vom
Jupiter“, welcher stark an ein Kinderlied erinnert, kann als spöttisches Gegenstück zu
einer gesellschaftskritischen Endzeitstimmung gesehen werden, die sich in der NDW
Luft verschaffte. „Gib Gas, ich will Spaß!“ von Markus Mörl stand am Anfang einer
„Neuen Deutschen Fröhlichkeit“, die Zeile „und kost’s Benzin auch drei Mark zehn,
scheißegal, es wird schon geh’n“ konnte durchaus ironisch aufgefasst werden und ist
ein gutes Beispiel für die oft missverstandene Ironie der NDW-Texte.
Einige Bands gerieten unter Faschismusverdacht; dies wurde teilweise durch Äußerlichkeiten wie etwa NS-Embleme an der Kleidung oder kurz geschorene Haare provoziert. Bandnamen wie Breslau, Die Hitlers, Waffen SS und faschistoide Anspielungen in ihren Liedtexten schürten diesen Verdacht zusätzlich. Die Aufforderung „Tanz
den Mussolini“ der Band Deutsch Amerikanische Freundschaft (DAF) in ihrem Song
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„Mussolini“ geriet zum Skandal. Doch außer den Namen Hitler und Mussolini, die
sogar in Verbindung mit Jesus Christus und Kommunismus gebracht werden und
austauschbar sind, enthält der Text keinerlei ernst zu nehmende politische Aussage.
Geschichte wird zur Farce, Reizwörter werden nach ihrem Rhythmus geordnet, und
die Schockwirkung steht im Vordergrund.
Unabhängige Produktions-, Vermarktungs- und Vertriebsstrukturen wurden gegründet, so genannte Independent-Labels. Renommierte Plattenfirmen reagierten anfangs sehr zurückhaltend auf die NDW. Jedoch wurden vorsichtig erste Bands unter
Vertrag genommen. Fehlfarben bekam als erste Band einen Plattenvertrag bei einem
Majorlabel. Joachim Witts LP „Silberblick“ wurde bereits 1980 produziert, aber erst
die Singleauskopplung „Der Goldene Reiter“ schaffte 1981 den Durchbruch. Nach
ersten großen Verkaufserfolgen wie etwa einer Goldenen Schallplatte für die „Blauen
Augen“ von Ideal erkannte die Plattenindustrie das Verkaufspotenzial der NDW.
1981 bis 1983 feierten NDW-Bands verstärkt Erfolge in den deutschen Hitparaden.
Produktionen in deutscher Sprache platzierten sich in ausländischen Charts, auch in
England und den USA.
Die Erfolge der NDW brachten gewissermaßen auch ihren Niedergang. Man kann
schon von einer Art Ausverkauf sprechen; alles was in deutscher Sprache aufzutreiben war und sich vom Bandnamen oder von den Texten her nach NDW anhörte,
wurde von den Majorlabels aufgekauft und unter dem Etikett der Neuen Deutschen
Welle vertrieben. Die Qualität litt stark unter dieser Tatsache. Von den gesellschaftskritischen Wurzeln der Songs war durch das Eingreifen der kommerziellen Plattenindustrie kaum noch etwas übrig geblieben. Die Medien haben den ursprünglich
subkulturellen Musikstil vereinnahmt und gesellschaftsfähig gemacht, dadurch verlor
die NDW ihre Ecken und Kanten und zugleich jene Besonderheit, durch die sie sich
anfangs auszeichnete. Aus vertrackten Wortspielereien wurden immer einfallslosere
Stilblüten. Der Konsument wurde regelrecht mit Singles, Maxisingles und Langspielplatten überschwemmt, die NDW wurde gewissermaßen zu Tode geritten. 1984
fanden sich nur noch Nena und Trio in den deutschen Charts, und 1985 war die
Welle vollständig verebbt.
Was aber bot die NDW in der Region Stuttgart? Am 8. Januar 1982 trat im Reutlinger
autonomen Jugend- und Kulturzentrum Zelle Geier Sturzflug auf. Zu diesem Zeitpunkt galt die Gruppe noch als Liebling der Linken und tourte für nichts oder nur sehr
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wenig Geld durch die Lande. Anfang 1982 erschien dann ihre erste LP „Runtergekommen“ mit pfiffig-ironischen Texten auf dem linken Münchner Trikont-Label. Mit
einem Schlag setzte der Trubel um die Band ein: Radioeinsätze und Fernsehauftritte
mit „Bruttosozialprodukt“, einem Lied, das der Sänger und Gitarrist Friedel Geratsch
bereits in den siebziger Jahren gesungen hatte. 1983 wurde der Titel neu produziert
und an Ariola verkauft. Die Veröffentlichung des Hits fiel mit Helmut Kohls Programm
der geistig-moralischen Wende zusammen, und da viele den ironischen Unterton
nicht heraushörten, wurde „Bruttosozialprodukt“ fälschlicherweise als neue PolitHymne verstanden. „Quick“ titulierte das Lied als „Parteitags-Song der CDU“,
„Vorwärts“ sah in ihm eine „zynische Ballade vom deutschen Arbeitsethos“. Die linke
Szene löste sich daraufhin sehr schnell von der Band. Sie sah in ihr Verrat an der
ursprünglichen Idee der NDW, nämlich am Ankämpfen gegen den kommerziellen
Strom und der Ablehnung jeglichen Starkults. Zu diesem Zeitpunkt wären die Geier
in der Zelle wohl nicht mehr gut angekommen.
Junge Musiker und neu gegründete Bands entdeckten Auftrittsmöglichkeiten in
kleineren Lokalitäten für sich. Die Band Trio trat auf ihrer Tour zur ersten LP 1981 in
fünfzig Plattenläden auf. Die Musiker spielten dabei auch in Reutlingen; nur etwa
dreißig bis fünfzig Menschen kamen zu diesem Ereignis. Doch über Nacht gelang
der Band mit „Da Da Da“ der Durchbruch, sie belegte Platz 2 der Hitparade. Das
Konzert kurz darauf am 1. Mai 1982 in der Tübinger Mensa war mit 1.500 Zuschauern ausverkauft, Hunderte von Fans mussten wegen Überfüllung draußen bleiben.
Charakteristisch für Trio war der spartanische Bühnenaufbau und die sparsame
Instrumentierung sowie ein formelhafter minimalistischer Sprachgebrauch; das gilt
besonders für „Da Da Da“. Auch der betont stoische und emotionslose Stil des
Auftretens kennzeichnete Trio. Das „Schwäbische Tagblatt“ schrieb, die Zuschauer
würden „dankbar Kaltschnäuzigkeiten entgegennehmen, hinter denen sich inzwischen glaubhafter Gefühle verbergen als in antrainierten Show-Emotionen. Diese
Form der ‚Neuen Deutschen Fröhlichkeit‘ ist noch frisch, die Themen sind altbekannt.“ Die Mitglieder von Trio selbst wollten sich eher als „Neue Deutsche Fröhlichkeit“ verstanden wissen, also als eine Verballhornung der Schlagerseeligkeit,
anstatt der Neuen Deutschen Welle zugehörig.
Ungefähr zeitgleich mit Trio landete Hubert Kah aus Reutlingen mit „Rosemarie“
seinen ersten Hit und erreichte Platz 5 der Charts. Mit „Sternenhimmel“, das sich aus
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dem Stand auf Platz 3 platzieren konnte, feierte Hubert Kah seinen zweiten großen
Erfolg. Es folgten noch die Singles „Einmal nur mit Erika“ sowie 1984 „Engel 07“,
„Goldene Zeiten“ und „Wenn der Mond die Sonne berührt“. Hubert Kahs „Sternenhimmel“ ist ein typisches Beispiel für einen Neuen Deutschen Schlager, der sich aus
der Neuen Deutschen Welle herausbildete. Wie schon bei „Fred vom Jupiter“
erwähnt, fehlte diesen Liedern der Pessimismus, der für die Anfänge der NDW
charakteristisch war. Sie befassten sich mit den Träumen und Wünschen der
Menschen und beschrieben mit Wortwitz die kleinen und großen Probleme des
Alltags. „Sternenhimmel“ verzerrt mit seinen überzogenen Schlagerreimen und
Redewendungen sowie einer Ohrwurm-Melodie, die an die Naivität eines Kinderliedes erinnert, den klassischen Schlager ins Absurde. Und als Hubert Kah „Sternenhimmel“ in der altehrwürdigen ZDF-Hitparade im Nachthemd präsentierte, hatte dies
schon einen gewissen Schockeffekt. Hubert Kahs Liveauftritte waren insgesamt eine
kunterbunte, rasende Pop-Revue, ob Phantasie-Uniformen, gestreifte HochwasserHosen, Spielzeugtrompeten oder Micky Mäuse, alles war erlaubt. Mit Schlagerstars
wie Roy Black, Heino oder Roland Kaiser sollten Hubert Kah und andere NDWProtagonisten, die dem Neuen Deutschen Schlager zugeordnet werden, nicht in
Verbindung gebracht werden.
In Reutlingen schien der NDW-Star eher einen schweren Stand gehabt zu haben.
Viele sahen in ihm den gut gesponserten Sohn aus reichem Hause. Mit einer Aktion,
in der er seine Mitmusikanten im Mai 1982 im Pullmann-Mercedes von der Zeugnisausgabe am Reutlinger Friedrich-List-Gymnasium abholte, verärgerte er rund
vierhundert Jugendliche. Die anwesenden Fans wollten etwas von den berühmt
gewordenen Reutlinger Musikern sehen; sie hatten gehofft, die Gruppe mit ihrem Hit
„Rosemarie“ zu hören. Zum Schluss sahen sie sich zu Statisten eines Werbegags
degradiert und als Kulisse eines Bildberichts der Jugendzeitschrift „Bravo“
missbraucht. Den Stars waren sie nicht wirklich nahe gekommen. Der „Reutlinger
General-Anzeiger“ nutzte dieses Ereignis für einen ausführlichen Bericht. Am 4. April
1985 fand sich in ihm ein Artikel mit dem Untertitel: „Hubert Kah und seine Starallüren im Melchinger ,Kulturkampf’ live aus dem Lindenhof.“ Darin wurde über den
beleidigten Abgang des „Millionärssohns“ Hubert Kah während der Livesendung
„heute in“ des Südwestfunks berichtet, nachdem ihm die Melchinger Dorfjugend, die
wohl eher auf Heavy Metal stand, klar gezeigt hatte, dass er bei ihnen nicht angesagt
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war. Das folgende Konzert im Reutlinger Naturtheater war zwar gut besucht, aber
nicht ausverkauft, die Veranstalter hatten sich sicherlich mehr erhofft.
Mit KIZ bereicherte eine weitere NDW-Band aus Reutlingen die Charts. Die Band
belegte mit „Die Sennerin vom Königssee“ Platz 3 der Charts. Ebenso erfolgreich wie
in Deutschland war der NDW-Jodler in Österreich und der Schweiz, dort kam er auf
Platz 1. Die Single erreichte sowohl in Deutschland als auch in Österreich und der
Schweiz Goldstatus. Mit ihren nachfolgenden Singles „Reisefieber“ aus dem Jahr
1983 und „Wo sind meine Alpen“ 1984 hatte die Band weniger Erfolg.
KIZ-Sänger Daddes Gaiser pflegte ein freundschaftliches Verhältnis zu Peter Schilling, einem weiteren NDW-Star aus der Region. Der gebürtige Stuttgarter stand am
Anfang seiner Karriere noch vor der Frage, ob er eine Laufbahn als Fußballer oder
als Musiker einschlagen sollte, denn der VfB Stuttgart stellte dem damals 14-Jährigen eine Profikarriere in Aussicht. Gleichzeitig lag ihm von einer großen Plattenfirma
das Angebot vor, seine erste Produktion aufzunehmen, für das er sich dann auch
entschied. Die Idee zu seinem ersten eigenen Album „Fehler im System“ kam ihm
Anfang der Achtziger. 1983 feierten das Album und die Single „Major Tom“ große
Erfolge in Europa. In Deutschland hielt sich „Major Tom“ acht Wochen auf Platz 1.
Neben Nena schaffte Peter Schilling als einziger NDW-Interpret den Sprung in die
amerikanischen Billboard-Charts. Mit „Die Wüste lebt“ und „Terra Titanic“ konnte
Peter Schilling noch während der NDW-Zeit zwei weitere Hits für sich verbuchen.
James Herter, der Produzent von KIZ, sieht das Besondere der NDW darin, dass von
den Jugendlichen nun auch deutsche Musik gehört wurde; deutsche Singles erreichten Goldstatus, nachdem bisher englischsprachige Musik den Markt bestimmt hatte.
Deutsche Songs hatten Erfolg in den angloamerikanischen Charts, und deutsche
Titel wurden interessant für amerikanische Plattenfirmen. Amerika, das sich als
Mutterland des Rock ’n’ Roll sieht, interessierte sich für deutsche Produktionen. Es
gelang den NDW-Musikern, die spezifischen Möglichkeiten der deutschen Sprache
für einen Musikstil abseits von klassischem Schlager und Volksmusik zu erkennen
und weiterzuentwickeln. Zusätzlich legte die Neue Deutsche Welle die rhythmischen
Grundsteine für die spätere Techno-Bewegung.
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