filmmagazin - Margarete Wach

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filmmagazin - Margarete Wach
€ 5,00 Österreich; € 6,50 Deutschland & EU; SFr 10,50 Schweiz SSN 1993-811X
substance media ltd. Mariahilfer Straße 76/3/31, A-1070 Wien P.b.b. Plus.Zeitung 06Z036817P
F I L M M A G A Z I N
02/15
FOXCATCHER Regisseur Bennett Miller im Gespräch BIRDMAN Interview mit Oscar-Favorit Michael Keaton AKI KAUSRISMÄKI Eine
Fotostrecke zum neuen Buch BLACKHAT Michael Manns krachender Action-Thriller INHERENT VICE Anderson verfilmt Pynchon
THE MOUNTAIN EAGLE Auf der Suche nach Hitchcocks verschollenem Tirol-Film FRANCIS FORD COPPOLA Eine DVD-/Blu-ray-Box
Persönliches Exemplar von [email protected], alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at
„DAVID OYELOWO IST
ÜBERWÄLTIGEND
ALS MARTIN LUTHER KING“
DAILY MAIL
„DER BESTE FILM DES JAHRES“
THE HUFFINGTON POST
DAVID OYELOWO
TOM
CARMEN
WILKINSON EJOGO
MIT TIM
ROTH
UND OPRAH
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AB 20. FEBRUAR NUR IM KINO!
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„I believe in the power of laughter and tears as an antidote to hatred and terror.“
Charlie Chaplin
„The Great Dictator“ (1940)
ray 3
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i n h a l t
THEMEN
FOXCATCHER
Ausgezählt – Ein Drama, das Amerika erschütterte ........................................................................................ 10
Die Suche nach der Wahrheit – Bennett Miller im Gespräch ....................................................................... 14
FRANCIS FORD COPPOLA – Der Capo von New Hollywood
Eine umfangreiche DVD- bzw. Blu-ray-Kollektion mit allen gloriosen Meisterwerken ............................. 18
BIRDMAN – Flying High
Alejandro González Iñarritus wunderbare Tragikomödie. Plus: Michael Keaton im Interview ........... 26
AKI KAURISMÄKI – Mr. Kaurismäki, wie haben Sie das gemacht?
Ein Interview- und Fotoband würdigt den charismatischen finnischen Filmemacher. .......................... 34
INHERENT VICE
Schwergewichtschampions – Paul Thomas Anderson verfilmt Thomas Pynchon. .............................. 42
Von Anderson zu Anderson – Ein Gespräch mit Owen Wilson ................................................................... 48
OLIVE KITTERIDGE
Vier mal eins ist fünf – Eine fabelhafte HBO-Serie in vier Teilen, von vier Frauen ............................... 74
Neues Baby statt echtem Baby – Frances McDormand im Interview ........................................................ 78
BLACKHAT – Nullen und Einsen und volles Rohr Radau
Michael Manns sehenswert daneben gehender Thriller über Cyberkriminalität ..................................... 82
FILMMUSEUM – Der Zauber der Straße
Eine Retrospektive zu urbanen Filmen aus der Weimarer Republik ............................................................ 88
THE MOUNTAIN EAGLE – Austrian Psycho
Ein Mysterium: Alfred Hitchcocks in Tirol gedrehter Stummfilm gilt als verschollen. .......................... 94
4 ray
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UND
ALS
DER WOLF
©2014 Disney
Im Verleih der Walt Disney Company (Austria)
AB 19. FEBRUAR IM KINO
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i n h a l t
EDITORIAL
FILMSTARTS .................................................................................. 53
20,000 DAYS ON EARTH ............................................................. 54
CASANOVA VARIATIONS ............................................................ 55
CHINA REVERSE .............................................................................. 56
DIE FRAU IN SCHWARZ 2 / THE WOMAN IN BLACK 2 .... 58
GRUBER GEHT ................................................................................. 59
THE IMITATION GAME ................................................................. 60
THE INTERVIEW .............................................................................. 61
INTO THE WOODS ......................................................................... 62
JOHN WICK ....................................................................................... 64
THE LOFT .......................................................................................... 65
PRIVATE REVOLUTIONS – JUNG,
WEIBLICH, ÄGYPTISCH ................................................................. 66
RED ARMY ......................................................................................... 68
WHIPLASH ......................................................................................... 69
WINTERSCHLAF / KIŞ UYKUSU ................................................. 70
UND AUSSERDEM ........................................................................... 72
STANDARDS
ORTE DES KINOS ............................................................................ 08
MAGISCHE MOMENTE .................................................................. 51
KOLUMNE: BUTTGEREIT .............................................................. 73
DR. Z .................................................................................................... 93
URBANERS LEGENDEN ............................................................... 113
TIPPS .................................................................................................. 96
DVD ..................................................................................................... 98
LITERATUR ..................................................................................... 104
SOUND ............................................................................................. 106
VERANSTALTUNGEN .................................................................. 108
D
Oscar-Zeit! Das heißt, wie jedes Jahr im Februar:
prächtige Filme, von denen bei uns diesmal drei im
Fokus stehen: Alejandro González Iñárritus Birdman
und Bennett Millers Foxcatcher, die trotz der Tiere
im Titel relativ wenig mit Tieren zu tun haben. Auch
Paul Thomas Andersons Inherent Vice (nach dem
Roman von Thomas Pynchon) macht sich prima in
diesem Heft, während Michael Manns Action-Kracher
Blackhat auf mögliche Academy Awards noch ein
Jahr lang warten muss. Ein Mann, der schon längst
nicht weniger als fünf Oscars (plus einen EhrenAward) sein Eigen nennt, steht aus Anlass einer
kürzlich erschienen großartigen Box-Edition im Mittelpunkt unserer großen DVD-/Blu-ray-Geschichte:
Francis Ford Coppola. Dazu kommen ein Bericht
zur Filmmuseums-Retrospektive über Stadtfilme der
Weimarer Republik, eine Würdigung der HBO-Miniserie Olive Kitteridge (inklusive Interview mit Frances
McDormand) und – passend zu den Bond-Dreharbeiten in Osttirol – eine packende Geschichte zu einem
verschollenen Film, den der große Alfred Hitchock
einst im tirolerischen Obergurgl gedreht hat. Und
– last not least – kann man sich an einer illustren
Fotostrecke aus dem schönen Aki-Kaurismäki-Buch
des kürzlich verstorbenen Peter von Bagh erfreuen.
Das alles gibt es, wie immer, auch auf ePaper, zu finden
unter www.kiosk.at.
Viel Vergnügen mit dem neuen „ray“.
Andreas Ungerböck
Herausgeber
[email protected]
*** IMPRESSUM ***
Offenlegung gemäß §25 Mediengesetz: Medieninhaber und Verlag: substance media ltd., Mariahilfer Straße 76/3/31, 1070 Wien,
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aktuelle Angebot an Kinofilmen, über Neuerscheinungen auf Video, DVD und CD und über aktuelle Entwicklungen im Fernsehen, im Internet
und auf dem Büchermarkt. Darüber hinaus berichtet ray über Film, Kino und verwandte Bereiche als Felder künstlerischen Schaffens und
wirtschaftlicher Produktion. ray versteht sich als Teil der österreichischen Filmkultur ~ CHEFREDAKTION: Roman Scheiber, Jörg Schiffauer
~ TEXTCHEF: Oliver Stangl; [email protected] ~ ASSISTENZ DER GESCHÄFTSFÜHRUNG: Nils Schröder; n.schroeder@ray-magazin.
at ~ LEKTORAT: Oliver Stangl ~ MITARBEIT AN DIESER AUSGABE: Thomas Abeltshauser, Brit Andres, Jörg Becker, Jennifer Borrmann,
Jörg Buttgereit, Stephan Eicke, Pamela Jahn, Heinz Kampel, Klaus Kreimeier, Benjamin Moldenhauer, Harald Mühlbeyer, Paul Poet, Günter
Pscheider, Daniela Sannwald, Alexandra Seitz, David Serong, Marietta Steinhart, Verena Teissl, Ralph Umard, Roman Urbaner, Peter Zawrel
~ GRAFISCHES KONZEPT: Mitko Javritchev ~ LAYOUT: substance media ~ GRAFIK-ASSISTENZ UND WEBSITE: Nina Frgic ~ ILLUSTRATIONEN:
Franz Suess ~ FOTOS IN DIESER AUSGABE: Jörg Buttgereit, Carlo Hofmann; Archiv ray, Filmarchiv Austria / Filmdokumentationszentrum,
Fernsehanstalten, Festivals, Kinos, Verlage, Verleiher und Produktionsfirmen ~ ERSCHEINUNGSWEISE: monatlich (10x pro Jahr, zwei
Doppelnummern) ~ EINZELPREIS: € 5,00 (AT), € 6,50 (EU), SFr 10,50 ~ JAHRESABO: Österreich € 32,-, Deutschland / EU € 50,-, Schweiz
SFr 77,-, Studierenden-Abo Österreich € 25,-, Zweijahres-Abo Österreich € 50,- ~ ANZEIGEN UND MARKETING: Jennifer Schmid: jennifer.
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DRUCK: Wograndl Druck GmbH, Druckweg 1, 7210 Mattersburg ~ VERTRIEB: Morawa Pressevertriebs Ges.m.b.H., Hackinger Straße 52,
1140 Wien ~ ERSCHEINUNGSORT: P.b.b. 1072 Wien ~ VERTRIEB IN DEUTSCHLAND: Schüren Verlag GmbH, Universitätsstraße 55, 35037
Marburg, T +49 (0)6421 630 84, [email protected]
COVER: Steve Carell in Bennett Millers Foxcatcher © Polyfilm Verleih
***
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20 preisgekrönte Meisterwerke auf DVD und Blu-ray
12 Uhr mittags – High Noon · Apocalypse Now · Aviator · Chicago · Citizen Kane · Der englische Patient · Der ewige Gärtner
Good Will Hunting · Gottes Werk und Teufels Beitrag · Leaving Las Vegas · Das Leben ist schön · Der letzte Kaiser
Million Dollar Baby · Das Piano · Pulp Fiction · Die Reifeprüfung · Die Reise der Pinguine · La Strada · There Will Be Blood
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o r t e
d e s
k i n o s
ZOO PALAST
Berlin, Deutschland
Text ~ Ralph Umard
Fotos ~ Carlo Hofmann (oben)
Jan Bitter / Zoopalast Berlin
E
s ist schon ein grandioser Anblick, der einen beim Betreten
des großen Saales im traditionsreichen Zoo Palast erwartet. Die Raumgestaltung orientiert sich an der FilmtheaterÄsthetik der fünfziger Jahre, LED-Leuchten in der Decke lassen
an einen Sternenhimmel denken. Lässt man sich in einem der
800 komfortablen Ledersessel mit variabler Rückenlehne nieder, bekommt man vor Beginn des Hauptfilms auf der 21 mal
8,80 Meter großen Leinwand eine Bilderrevue mit Highlights
aus der bewegten Geschichte des 1957 nach Plänen des Architekten Gerhard Fritsche fertiggestellen Zoo Palastes zu sehen.
Die Komödie Die Züricher Verlobung von Helmut Käutner mit
Liselotte Pulver eröffnete das Programm. In den folgenden Jahren schritten während der Berliner Filmfestspiele Kinostars aus
aller Welt über den Roten Teppich ins Theater, und seit 2014
werden hier wieder Berlinale-Filme und Premieren gezeigt.
Dabei gab es schon Pläne, das Kino abzureißen. Das wurde
verhindert, als das Gebäude unter Denkmalschutz gestellt
wurde. In fast dreijähriger Bauzeit wurde das Innere für 5,5
Millionen Euro aufwändig renoviert und mit neuester Technik ausgestattet. Am 27. November 2013 fand die feierliche
Neueröffnung des Zoo Palastes mit nunmehr sieben Sälen
statt, mit Lilo Pulver als Ehrengast. Im Saal 1 sorgt ein Dolby7.1-Atmos-Soundsystem mit 89 Lautsprechern und 115.000
Watt Leistung für ein überwältigendes Klangerlebnis, und es
gibt auch noch einen 70mm-Projektor, um Monumentalfilme
im ursprünglichen Format präsentieren zu können.
Saal 2 mit historischer Holzverkleidung bietet 273 Zuschauern
Platz, im Saal 5 mit 157 Sitzen wird vor Beginn der Vorstellung
eine Lightshow an Decke und Wänden geboten, so ist der Saal
ein Lichtspieltheater im doppelten Sinn. Zudem gibt es noch
zwei kleine Klubkinos mit je 50 Plätzen. Auf den Logenplätzen
der größeren Säle kann man sich Getränke und Finger Food
servieren lassen.
www.zoopalast-berlin.de
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AUSGEZÄHLT
Bennett Miller begibt sich mit „Foxcatcher“ auf die Spuren
eines Dramas, das Amerika erschütterte.
Text ~ Jörg Schiffauer
R
uhm ist nur allzu vergänglich. Eine Binsenweisheit, doch Mark Schultz (Channing Tatum) wird
auf geradezu brutale Weise darauf gestoßen.
Kaum drei Jahre ist es her, dass er 1984 bei den
Olympischen Spielen in Los Angeles die Goldmedaille im Ringen gewonnen hat, doch der größte Erfolg, den
man in diesem Sport erreichen kann, hat ihm außerhalb von
Fachkreisen kaum Anerkennung eingetragen. Um sich ein paar
Dollar zu verdienen, muss Mark an irgendeiner Highschool als
Motivationsredner fungieren, doch er blickt im halbleeren Saal
nur in die gelangweilten Gesichter von Jugendlichen, die herzlich wenig daran interessiert sind, was Mr. Schultz zu erzählen
hat. Und dann wird er von der Sekretärin, die ihm den lächerlich
gering dotierten Honorarscheck ausschreibt, auch noch mit seinem älteren Bruder Dave (Mark Ruffalo) verwechselt, ebenfalls
Olympiasieger, der es zu etwas größerer Bekanntheit – und vor
allem zu einer ökonomisch soliden Basis – gebracht hat.
Mark hingegen muss, vorsichtig formuliert, unter äußerst
spartanischen Bedingungen leben und trainieren, um seinem
Traum von weiteren sportlichen Erfolgen verfolgen zu können.
Doch sein kärgliches Dasein, das so viele Entbehrungen mit
sich bringt, erfährt eine unerwartete Wendung: John Eleuthère
du Pont (Steve Carell), Spross einer der reichsten und angesehensten Familien der Vereinigten Staaten, unterbreitet Mark ein
Angebot, dass geradezu phantastisch erscheint. Auf dem Anwesen der du Ponts in Pennsylvania mit dem klingenden Namen
Foxcatcher Farm beabsichtigt der Milliardär, ein Trainingszentrum einzurichten und sein eigenes Ringerteam zu trainieren,
dem auch Mark angehören soll. Als dieser das erste Mal auf
dem Landsitz der du Ponts eintrifft und das wahre Ausmaß des
Reichtums dieser Dynastie erlebt, erscheint das ein wenig so,
als hätte Mark eine andere Welt betreten, die mit jenem Amerika, dass er bislang kannte, nur wenig zu tun hat. John du
Ponts Bereitschaft als Mäzen, Trainer und Mentor zu agieren,
erscheint wie das sprichwörtliche Geschenk des Himmels. Dass
der Milliardär zuweilen ein wenig exzentrische Verhaltensweisen an den Tag legt, darüber sehen Mark und seine Teamkollegen geflissentlich hinweg, zu verlockend sind die Möglichkeiten, die sich ihnen auf Foxcatcher Farm eröffnen. Doch im Lauf
der Zeit entwickelt sich in diesem ein wenig seltsam anmutenden Mikrokosmos ein Geflecht von Beziehungen und Abhängigkeiten, in das sich die Protagonisten immer mehr verstricken,
zudem nimmt das Verhalten John du Ponts geradezu bizarre
Züge an. Als Dave Schultz, der zunächst du Ponts Angebot abgelehnt hatte, schließlich doch zum Team stößt, setzt sich ein
unheilvoller Verlauf in Gang, der unaufhaltsam auf ein tragisches Finale zusteuert.
BRUCHSTELLEN
Mit Foxcatcher hat Bennett Miller seinen erst dritten Spielfilm
inszeniert, doch trotz dieser numerisch kleinen Zahl nimmt sein
Oeuvre bereits eine herausragende Position im gegenwärtigen
US-amerikanischen Kino ein. Sein neuer Film ist eine Arbeit von
eindringlicher Präzision, wie man sie nur selten findet. Dass
Foxcatcher bei der bevorstehenden Oscar-Verleihung in der Kategorie „Bester Film“ nicht einmal nominiert wurde, kann man
wohl nur als Irrtum (oder schlichtweg Ignoranz) von monumentalem Ausmaß bezeichnen. Wie bei Capote (2005) und Moneyball (2011) dient auch bei Foxcatcher eine wahre Begebenheit
als Ausgangspunkt, um ein ganz besonders Stück Americana zu
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zeichnen und damit gesellschaftliche Bruchlinien auf ungemein
präzise Art freizulegen. Im Mittelpunkt von Capote steht die
Entstehung von „In Cold Blood“, jenem bahnbrechenden Tatsachenroman, mit dem Truman Capote einen Vierfachmord und
die psychologischen Hintergründe so meisterhaft analysiert. Im
Verlauf seiner Recherchen für das Buch taucht Capote nicht nur
in das ländliche Amerika von Kansas, dem die Opfer entstammen, ein, sondern setzt sich auch intensiv mit den beiden Tätern auf eine höchst persönliche Art auseinander. „Two worlds
exist in this country: the quiet conservative life, and the life of
those two men – the underbelly, the criminally violent. Those
two worlds converged that bloody night“, meint der von Philip
Seymour Hoffman gespielte Truman Capote – ein Satz, mit dem
sich nicht nur Capote, sondern in bestimmten Teilen auch Foxcatcher trefflich charakterisieren lässt. Auch hier treffen Menschen aufeinander, deren soziale Hintergründe so stark differieren, dass man beinahe glauben könnte, die Protagonisten
stammen nicht aus demselben Land, sondern aus verschiedenen Universen. Der Kontrast zwischen dem exzentrischen John
du Pont, dessen Familie mit ihrem unermesslichem materiellen Reichtum wie entrückt vom alltäglichen Leben scheint, und
den Brüdern Schultz, die schon von ihrem Sport her ein eher
rustikal-erdiges Umfeld gewöhnt sind, könnte nicht deutlicher
sein. Die Parallelen zu Capote, wo der intellektuelle Schöngeist
Truman Capote, Liebling der kulturellen High-Society, im Zuge
seiner Nachforschungen für sein Buch ein ungewöhnlich nahes
Verhältnis zu den beiden Mördern, die er selbst als „Bodensatz
der Gesellschaft“ bezeichnet, entwickelt, sind augenscheinlich.
Bennett Miller betreibt jedoch keine vordergründige Sozialkritik, seine Filme sind weitaus komplexer konzipiert. Sie sind
zunächst einmal psychologische Studien, bei denen mit chirurgischer Präzision nach und nach die inneren Verfasstheiten
der Protagonisten bloßlegt werden. Denn auf den ersten Blick
scheinen die sozialen Unterschiede kein unüberwindbares Hindernis, vielmehr vermeinen die jeweiligen Charaktere, in ihren
so unterschiedlichen Gegenübern genau das zu finden, was in
ihrem bisherigen Umfeld ausgespart geblieben ist – und das auf
mehreren Ebenen.
Bei Foxcatcher scheint das Ringerteam für John du Pont die
Möglichkeit, um als Coach und Mentor endlich jene Anerkennung auf zwischenmenschlicher Ebene zu finden, die ihm bislang trotz seines Reichtums versagt geblieben ist. Insbesondere in Mark Schultz glaubt du Pont auch einen Freund gefunden
zu haben, während Mark wiederum in dem schrulligen Milliardär die lange vermisste Vaterfigur zu finden hofft. Doch dass
diese Beziehungen nicht funktionieren, macht Bennett Miller in
Foxcatcher schon frühzeitig deutlich. Denn zu stark sind die
Protagonisten durch ihr bisheriges Leben – hier spielen die so
unterschiedlichen gesellschaftlichen Klassen wiederum stark
hinein – geprägt, und das nicht unbedingt auf positive Weise.
John du Pont etwa ist durch die privilegierte Stellung seiner
Familie in eine Art seelischer Isolation gedrängt worden – der
einzige Freund, so erzählt er Mark, den er in seiner Jugend
hatte, wurde von seiner Mutter dafür bezahlt –, die deutliche
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Spuren hinterlassen hat. Natürlich muss jedermann merken,
dass sein Verhalten nicht bloß ein wenig exzentrisch ist, sondern schon reichlich ungesunde Züge angenommen hat, was
das seelische Gleichgewicht angeht. Bloß – aussprechen mag
das niemand, weil schlussendlich jeder von du Ponts Reichtum
profitieren möchte, was wiederum zur Folge hat, dass alle Beziehungen John du Ponts asymmetrisch verlaufen. Zudem ist
er ungeachtet all seiner Beteuerungen schon längst nicht mehr
in der Lage, Kontakte emotionaler Natur auf Augenhöhe zu
führen – vielmehr läuft es immer wieder darauf hinaus, dass
Beziehungen mehr nach dem Muster von Herr und Knecht verlaufen, in denen der Milliardär etwa Widerspruch von Mark mit
einer saftigen Ohrfeige begegnet. Wie in Capote sind auch in
Foxcatcher die Versuche, Beziehungen einzugehen, von einem
Gewirr von Projektionen, verdrängten Sehnsüchten und Machtansprüchen dominiert, die fast zwangsläufig zu Schwierigkeiten
führen müssen. Doch solange alle, die von John du Pont materiell abhängig sind, krampfhaft über sein groteskes Verhalten,
das immer mehr ins Pathologische abgleitet, hinwegsehen, hält
sogar dieses bizarre Beziehungsgeflecht eine gewisse Stabilität,
so fragil diese auch sein mag. Doch als jemand wie Dave Schultz
dazukommt, der eine einigermaßen solide emotionale Basis hat,
kommt es bei der von Truman Capote angesprochenen Konvergenz zwischen höchst unterschiedlichen Welten zu Reibungen,
die unkontrollierbare Energien freisetzen und eine Katastrophe
im Stil einer griechischen Tragödie heraufbeschwören.
In Bennett Millers Arbeiten ist das Aufeinandertreffen von Charakteren aus unterschiedlicher Welten samt den dabei unver-
meidlichen Friktionen ein zentrales Motiv. In Capote und Foxcatcher sind diese Unterschiede, was die soziale Ebene angeht,
ganz klar definiert. Im Fall von Moneyball, wo der von Brad Pitt
gespielte Billy Beane in seiner Funktion als Manager eines Baseballteams seine Mannschaft nach strikt mathematischen Regeln
aufstellt und damit die Traditionalisten von „America’s Game“
gewaltig vor den Kopf stößt, sind die Auswirkungen nicht ganz
so dramatisch, das Konfliktpotenzial jedoch kaum geringer.
EISIGE KÄLTE
Das Aufeinandertreffen von Menschen mit gegensätzlichen sozialen und kulturellen Hintergründen ist ein tragendes Element
in Bennett Millers Filmen, doch darin allein sind die Reibungsflächen nicht begründet. Die liegen zu zumindest gleichen Teilen bei den psychischen und emotionalen Verformtheiten der
Protagonisten. Die wiederum haben ihre Ursachen sehr wohl
– und hier tritt neben der erzählerischen und dramaturgischen
Virtuosität, die Millers Inszenierungen auszeichnet, ein gesellschaftskritisches Element zu Tage – im sozialen Umfeld. Es ist
jene Mischung aus gesellschaftlich auferlegten Zwängen und
emotionalen Verletzungen, die ihre unauslöschlichen Spuren
hinterlassen und die Protagonisten schlussendlich gefangen
hält. John du Pont personifiziert dies auf exemplarische Weise: Steve Carells brillante Darstellung, die aus einem großartigen Ensemble noch herausragt, macht vom ersten Auftritt
an die Ambivalenz zwischen bemitleidenswerter Kreatur und
lauerndem Wahnsinn, die John du Ponts Charakter innewohnt,
auf beeindruckende Art und Weise deutlich. So bizarr du Ponts
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Verhalten zweifellos ist, nach und nach macht Bennett Millers
Inszenierung deutlich, dass der Verlauf seines bisherigen Lebens ungeachtet alle materiellen Privilegien entscheidend zur
emotionalen Vergletscherung beigetragen hat. Die geradezu
verzweifelte und doch vergebliche Suche nach Anerkennung,
die in jener Szene, in der du Ponts gefühlskalte Mutter in der
Trainingshalle vorbeischaut, um ihren Sohn wieder einmal nur
snobistische Geringschätzigkeit spüren zu lassen, kulminiert,
treibt ihn immer mehr in eine falsche und schlussendlich gefährliche Richtung. Die konsequente Unfähigkeit seiner Umgebung, damit umzugehen, verschärft die Lage noch. Als John du
Pont auf Dave Schultz trifft, der gefestigt genug ist, um dem
Milliardär auf Augenhöhe zu begegnen – was ironischerweise
genau der richtige Weg wäre, um du Pont vielleicht aus seiner
Isolation zu befreien – ist die Katastrophe schon vorprogrammiert. Für den emotionalen Frost, der die Protagonisten umgibt,
findet Bennett Miller mit in kaltes, kristallklares Licht getauchten Bildern eine kongeniale visuelle Entsprechung, eine ganze
Reihe von Totaleinstellungen macht zudem die Einsamkeit der
Charaktere deutlich.
Bennett Millers Filme präsentieren jedoch kein deterministisches Weltbild. Auch wenn die Protagonisten durch soziale und
psychologische Lebensbedingungen geprägt sind, werden sie
keineswegs allein durch diese Umstände exkulpiert. Truman Capote bezeichnete zwar die spezifischen Ereignisse, die zu den
brutalen Morden führten, als „psychologischen Unfall“, doch
das Bild, das er von ihnen in „In Cold Blood“ zeichnet, bleibt
ebenso wie sein Verhältnis zu den beiden differenziert und ambivalent. Zwar ist der Schriftsteller bei weitem nicht so instabil
wie der Milliardär in Foxcatcher, doch auch er – auch hier lassen
sich deutliche Parallelen zwischen Capote und Foxcatcher ziehen – bleibt schlussendlich Gefangener einer Verfasstheit, die
er sich selbst kaum eingestehen will.
Zwar baut er zu den beiden Mördern eine freundschaftliche Beziehung auf – insbesondere mit Perry Smith entsteht dabei ein
beinahe intimes Verhältnis –, doch Capotes Selbstbild als genialer Schriftsteller – was er zweifellos ist, das er jedoch genauso
kräftig hochhält – bringt ein Dilemma mit sich. Auf der emotionalen Ebene möchte Truman Capote zwar, dass den beiden
Mördern die Vollstreckung der Todesstrafe erspart bleibt, doch
für sein Buch wäre die Exekution das perfekte Ende – und das
Gelingen seines künstlerischen Schaffens, das macht Capote
deutlich, geht ihm über alle emotionalen Bindungen. Es ist ein
Widerspruch, dem sich Truman Capote lange Zeit lieber nicht
stellt und den er schließlich so zusammenfasst. „More tears are
shed over answered prayers than unanswered ones.“ Eine Erkenntnis, die sich schließlich auch für John du Pont und die
Brüder Schultz auf dramatische Weise erfüllen soll.
FOXCATCHER
Drama, USA 2014 ~ Regie Bennett Miller Drehbuch E. Max Frye,
Dan Futterman Kamera Greig Fraser Schnitt Stuart Levy, Conor O’Neill,
Jay Cassidy Musik Rob Simonsen Production Design Jess Gonchor
Kostüm Kasia Walicka-Maimone
Mit Steve Carell, Channing Tatum, Mark Ruffalo, Vanessa Redgrave,
Sienna Miller, Anthony Michael Hall, Guy Boyd, Brett Rice
Verleih Polyfilm, 129 Minuten
DIE SUCHE
NACH DER
WAHRHEIT
Bennett Miller über die Entstehung von
„Foxcatcher“, den richtigen Umgang mit
Schauspielern und die Kunst des
Improvisierens
www.foxcatcher.de
Kinostart 5. Februar
Interview ~ Thomas Abeltshauser
14 ray
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Es war kurz nach dem Kinostart von Capote, ich war gerade in
einem Videoladen bei einer Signierstunde für die DVD meines
Dokumentarfilms The Cruise, ein wirklich sehr kleines Event mit
vielleicht einem Dutzend Leuten. Und dort tauchte ein wildfremder Mann mit einem dicken Umschlag auf. Er sagte, er habe
eine Geschichte, die mich interessieren könnte, alles wäre in
diesem Umschlag, den er mir nun übergeben werde. Ich wollte
den eigentlich nicht annehmen, aber er ließ nicht locker. Der
Umschlag lag dann lange ungeöffnet bei mir herum. Erst ein
paar Monate später schaute ich rein und las den ersten Artikel.
Da wusste ich sofort: Das muss ich machen.
Was stand denn in diesem Artikel?
Darin stand die ganze tragische Geschichte um einen Ringer
und Olympiasieger und um einen der reichsten Männer Amerikas, und dass der Ringer mit einem Team auf dem Anwesen des
Multimilliardärs gelebt und sich dort in einem Trainingslager für
Wettkämpfe vorbereitet hatte, das dieser Milliardär nur für sie
hatte bauen lassen. Und ich dachte: Wie bitte? Was zum Teufel
ist das?! Ohne mehr darüber zu wissen, war mir sofort klar,
dass in diesem Aufeinanderprallen zweier Welten und diesem
merkwürdigen Mann, der ganz offensichtlich nicht ganz richtig
tickte, eine faszinierende Geschichte steckte. Meine Neugierde
war nicht nur geweckt, sondern hellwach. Ich begann weiter zu
recherchieren und entdeckte dabei Stück für Stück immer neue
Details. Ich traf viele Menschen in allen Teilen der Vereinigten
Staaten, und mit jedem Puzzleteil war ich mehr und mehr angezogen. Ich konnte nicht mehr aufhören, auch wenn es am Ende
ein Prozess wurde, der sich über viele Jahre hinzog.
Foxcatcher beruht auf wahren Begebenheiten. Wie treu sind
die dabei den Tatsachen geblieben?
Zu 87,5 Prozent, würde ich sagen. Wobei es meiner Ansicht
nach einen Unterschied zwischen Wahrheitstreue und Faktentreue gibt. Der Film ist aber auch, was die Fakten angeht, sehr
genau. Natürlich haben wir aus dramatischen Gründen Konzessionen gemacht, wie es im Grunde jeder Film muss, egal ob
Spiel- oder Dokumentarfilm. Die Parameter waren alle, zumindest soweit ich das beurteilen kann, innerhalb der Grenzen des
Wahrhaftigen und kommen den tatsächlichen Ereignissen, den
Personen und ihrem Verhalten so nah wie möglich. Ich glaube
nicht, dass es in diesem Film fiktionale Elemente gibt, die den
Zuschauer zu fundamental anderen Schlussfolgerungen bringen
würden als die simple Chronologie der Fakten. Fast alle, die
damals die Ereignisse aus nächster Nähe miterlebt haben und
den Film gesehen haben, sind sehr beeindruckt.
Wie kamen Sie auf diese Geschichte? Hatten Sie etwas über
den Fall gelesen?
Was genau haben Sie bei Ihren Recherchen entdeckt?
Zum einen ist es eine dieser Geschichten, die, obwohl sie auf
Fakten beruht, viele Elemente enthält, die wie Allegorien anmuten. Ich will diese metaphorische Ebene gar nicht im Detail erklären, genauso wie der Film ja auch keinen moralischen
Standpunkt einnimmt oder Schlüsse zieht. Ich hatte nur den
Eindruck, dass man gar nichts erzwingen muss, sondern sich
die großen Themen in dieser kleinen Geschichte wie von selbst
anbieten. Es schwingen permanent Fragen zu gesellschaftlichen
Themen wie Rasse, Reichtum, Macht, Korruption, Niedergang,
Arroganz mit ... und all das steckt in dieser kleinen, exzentrischen und komischen Geschichte mit ihrem letztlich tragischen
und schrecklichen Ausgang.
Hatten Sie vorher schon ein Interesse an der Sportart Ringen
gehabt?
Nein, gar keines. Ich hatte es lange für einen eher unbedeutenden, minderwertigen Sport gehalten. Ich fand es sonderbar, wie
sich da zwei Männer in enganliegenden Trikots auf einer Matte
wälzen. Ich wollte mir das nicht anschauen. Was ist denn mit
den Typen los? Haben wir uns als Männer nicht weiterentwickelt? Aber ich habe Respekt für den Sport gelernt und verstehe
jetzt, warum Männer ihn betreiben und welchen Wert es für sie
hat, gut darin zu sein. Es bedeutet eine fast schon masochistische Selbstausopferung und damit kann ich mich als Filmemacher auch ein bisschen identifizieren.
Wie war die Zusammenarbeit mit Mark Schultz, dem realen
Vorbild des von Channing Tatum gespielten Protagonisten?
Ich habe bei der Recherche die Erfahrung gemacht, dass jeder
gewillt war zu reden. Aber jeder einzelne fühlte sich mit einem
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Teil der Geschichte auch extrem unwohl. Jeder redete um einen
heißen Brei herum, aber nicht notwendigerweise um denselben.
Als ich Mark kennenlernte, wollte er unbedingt seine Version
der Geschichte publik machen. Und die war extrem einseitig
und revisionistisch. Ich traf mit ihm eine Vereinbarung, dass
ich die Rechte an seiner Geschichte erwerbe und er mir dabei
hilft, sie zu verstehen, ich aber auch mit allen anderen reden
würde. Und immer wenn mir jemand ein neues Detail erzählte,
das er mir verschwiegen hatte, habe ich ihn damit konfrontiert.
Ab einem gewissen Punkt hörte er auf, sich zu verweigern und
begann zu erzählen. Ich fragte ihn etwa nach den Drogen und
er sagte, du Pont habe gekokst, aber er selbst nie. Dann sagte
ich: „Mark, jede einzelne Person, mit der ich gesprochen habe,
hat von deinem Kokainkonsum mit du Pont berichtet.“ Erst dann
gab er zu: „Ja, okay, stimmt. Ich habe es dir nicht erzählt, weil
ich nicht will, dass es im Film vorkommt. Er ist doch der Bad
Guy!“ Bevor er den Film gesehen hatte, war er wohl sehr nervös,
wie sehr all das ans Licht gezerrt würde, was er nicht zeigen
wollte. Aber er kam zur Weltpremiere nach Cannes, trug einen
Smoking und genoss die stehenden Ovationen.
Hatten Sie auch Kontakt zur du Pont-Familie?
Familie ist ein kleines Wort, denn die du Ponts sind ein riesiger
und weit verzweigter Clan. Es gibt einige tausend von ihnen.
Ich traf ein paar, aber es gibt nur sehr wenige, die direkt mit
John und dieser Sache zu tun hatten. Und keiner versuchte mich
daran zu hindern, diesen Film zu drehen.
Können Sie Ihre Art der Schauspielführung beschreiben?
Schwierige Frage. Ich glaube, wir versuchen vor allem, wahrhaftig zu sein und den Figuren gerecht zu werden. Jeder Schauspieler ist anders und braucht eine andere Art der Zuwendung
oder Zusammenarbeit. Grundsätzlich ist es hilfreich, wenn man
klare Ansagen darüber macht, welche Qualität der Darstellung
man erreichen will. Und mit Qualität meine ich nicht hohe oder
mindere, sondern Dinge wie Wahrhaftigkeit, Unmittelbarkeit,
Spontaneität. Dabei benötigt der eine Schauspieler Liebe und
Zuspruch, der nächste braucht eher ein bisschen die Peitsche.
Das ist alles sehr individuell, aber grundsätzlich ist es wichtig,
ein Gespür dafür zu haben und das Spielerische und Entdeckerische zuzulassen. Ich arbeite sehr viel mit Improvisation, es
gibt kaum eine Szene in dem Film, die nicht in großen Teilen
improvisiert wurde. Im Vorfeld haben wir sehr viel recherchiert,
wir konnten den Hauptdarstellern ausführlich Videomaterial zur
Verfügung stellen, damit sie die realen Vorbilder ihrer Charaktere studieren konnten, ihre Stimmen, ihre Gesten. Wir hatten
auch viel Material von Leuten, die über sie geredet haben. Und
Channing Tatum konnte lange Zeit mit Mark Schultz persönlich
verbringen, der ihn sogar für die Wrestlingszenen trainiert hat.
Wenn wir eine Szene schließlich drehten, gab es nicht die eine
schriftliche Version davon, sondern oft fünf oder sechs, und
manchmal schrieb ich sogar morgens noch mal um. Meistens
aber erklärte ich nur, an welcher Stelle der Geschichte wir gerade sind, was die jeweiligen Figuren gerade wollen und was
jetzt in der Szene passiert. Und dann: lasst uns ausprobieren,
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wie es funktionieren könnte! Die Szene im Helikopter mit John
du Ponts Zungenbrecher „Ornithologist, Philatelist, Philanthropist“ – das ist komplett improvisiert! Nichts davon stand so im
Drehbuch. Aber es ist perfekt. Ich brauchte keine Minute, um
die Szene zu schneiden. Und sie ist jetzt eine der besten des
Films. An anderen habe ich monatelang immer wieder herumgedoktert, weil ich nicht zufrieden war.
Das Verhältnis zwischen John du Pont und Mark Schultz
lässt sich psychologisch auf sehr vielen Ebenen sehen, wie
Vater und Sohn, reich und arm, es gibt auch eine homoerotische Komponente. Hatten Sie überlegt, letztere eindeutiger
zu machen?
Nach dem Stand meiner Recherchen ist die Art, wie es im Film
dargestellt ist, das, wie es sich auch tatsächlich anfühlte. Da
knistert etwas, es gibt eine Anziehung, aber sie ist nur ein weiteres Element, das verdrängt wird. So vieles in dieser Geschichte
passiert, worüber die Protagonisten einfach schweigen, du Pont
eingeschlossen. Bei denen Angehörigen und Angestellten, mit
denen wir sprachen, reichten die Reaktionen von: „Nein, glaube
ich nicht“ bis „Ziemlich sicher lief da was, aber gesehen hat man
nie etwas“. Und aus du Ponts Perspektive ist es eine Gefühlsregung, die er sich noch nicht einmal eingestehen geschweige
denn ausleben darf. Genauso wenig wie er sich eingestehen
darf, dass er ein Dilettant ist. Aber die Sexualität ist nur ein
Element, es ist kein Film über die homoerotische Beziehung
zwischen den beiden, so wenig wie es ein Film über Drogenmissbrauch oder psychische Krankheiten ist. Es hätte sehr leicht
so etwas werden können, aber dann wäre es plötzlich zu einem
Nichts zusammengeschrumpft. Mich interessierten die großen
Themen, diese Nebenschauplätze fügen dem Mix aus Verdrängen und Schweigen nur weitere Aspekte hinzu.
Steve Carell wird für seine darstellerische Leistung in dieser
Rolle zu Recht gefeiert und wurde unter anderem für einen
Oscar nominiert. Dabei war es sicher ein gewisses Risiko,
den aus Komödien und der Sitcom The Office bekannten
Carell in dieser Charakterrolle zu besetzen. Mussten Sie ihn
manchmal bremsen?
Im Gegenteil. Steve ist von Natur aus ein sehr ernster Mensch.
Als ich ihn zum ersten Mal traf und wir über den Film redeten,
war ihm von Anfang an klar, dass es keine Komödie ist. Es ist
ein Drama, auch wenn es darin humoristische Elemente gibt.
Ich finde sogar sehr vieles davon rasend komisch. Und wenn es
nicht mit Mord enden würde, wäre die Geschichte eine phantastische Grundlage für eine Komödie. Es ist wirklich sehr, sehr
komisch. Eine absurde Farce über Klasse und Macht. Ich glaube,
was Steve und viele andere mit ihm sehr ernüchtert hat, war das
Treffen mit der Familie des Mordopfers. Sie besuchten mehrmals das Set, und das hatte auch Einfluss auf die Atmosphäre.
Niemand versuchte, mit blöden Sprüchen oder Witzen aufzutrumpfen, weil jeder die Verpflichtung spürte, diesen Menschen
und ihrer Geschichte gerecht zu werden.
Ihr Film erinnert immer wieder an Paul Thomas Andersons
The Master ...
Den Vergleich höre ich öfter. Aber mein Projekt ist das ältere,
ich habe mit der Entwicklung schon vor The Master begonnen.
Das zog sich hin und wir waren schließlich in der Vorproduktion, als Andersons Film Premiere hatte. Aber Sie haben Recht,
es gibt bemerkenswert viele Parallelen. Schon merkwürdig, wie
unabhängig voneinander Projekte mit sehr ähnlichen Themen
entstehen. Aber es ist purer Zufall.
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DER CAPO VON
NEW HOLLYWOOD
Francis Ford Coppola trug ganz entscheidend zu einem der größten Umbrüche im
US-amerikanischen Kino bei. Eine neue DVD-/Blu-ray-Kollektion bietet eine exzellente
Gelegenheit, Einblick in seine Meisterwerke zu nehmen.
Text ~ Jörg Schiffauer
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Coppolas beste Arbeiten bilden jene Mischung aus
Vision und Wahnsinn, die wirklich große Meisterwerke
von einfach nur sehr guten Filmen unterscheidet
I
n einer Szene des großartigen Dokumentarfilms Hearts
of Darkness: A Filmmaker’s Apocalypse, der hinter die
Kulissen der Dreharbeiten von Apocalypse Now blickt,
ist Francis Ford Coppola zu sehen, wie er sich einen
Revolver an den Kopf hält – eine Geste, mit der er in
ein wenig makabrer, ironischer Weise seine Verzweiflung über
das anwachsende Chaos, das im Verlauf der Produktion um sich
griff, demonstrieren wollte. Nun muss man den Legendenbildungen, die viele filmische Großprojekte umranken, nicht unbedingt
Vorschub leisten, doch betrachtet man das von Coppolas Frau
Eleanor während der Produktion von Apocalypse Now gedrehte
Material und ruft sich den Film selbst wieder in Erinnerung, ist
man durchaus geneigt zu glauben, dass Francis Coppola tatsächlich an seine physischen und psychischen Grenzen gelangte
und die Arbeit an diesem Film wirklich so etwas wie eine Reise
ins Herz der Finsternis wurde. Das Resultat spiegelt auf jeden
Fall alle Anstrengungen wider. Apocalypse Now ist Coppolas
Opus magnum, einer der absoluten Höhepunkte des Schaffens
der Generation New Hollywood und schlichtweg einer der überwältigendsten Filme, die man im Kino erleben kann.
ZEITEN DES AUFRUHRS
Der am 7. April 1939 in Detroit geborene Francis Ford Coppola zählte schon früh zu den führenden Köpfen von New Hollywood, jener Bewegung junger Filmemacher, die sich ab Mitte
der sechziger Jahre anschickten, dem in jeder Hinsicht darniederliegenden US-amerikanischen Kino einen gewaltigen kreativen Schub zu verleihen. Wie die meisten seiner New-HollywoodKollegen absolvierte auch Coppola eine Filmschule – jene an
der UCLA –, daneben arbeitete er für den legendären Roger Corman, ein idealer Ausbildungsplatz in Sachen filmischer Praxis,
der es Coppola 1963 ermöglichte, mit einem Minibudget den
Horrorfilm Dementia 13 zu drehen. Bereits frühzeitig gelang es
Coppola auch als Drehbuchautor in Hollywood Fuß zu fassen.
So zeichnete er als Ko-Autor für die Skripts von großen Produktionen wie This Property Is Condemned, Is Paris Burning?
und Patton verantwortlich. Unzufrieden mit den Produktionsbedingungen traditionellen Zuschnitts, die bei den HollywoodMajors vorherrschten, gründete Coppola bereits 1969 mit American Zoetrope sein eigenes Studio, mit dem er nicht nur seine
Regiearbeit The Rain People produzierte, sondern auch den ersten Spielfilm seines Freundes George Lucas, THX 1138.
Es war jedoch ausgerechnet eine Zusammenarbeit mit einem
großen Studio, die New Hollywood zum großen Durchbruch verhelfen sollte. Paramount, das die Rechte an Mario Puzos Roman
„The Godfather“ erworben hatte, trat, nachdem einige renommierte Regisseure abgesagt hatten, an Francis Coppola heran,
der schließlich zusagte, die Regie zu übernehmen – the rest is
history, wie das im Englischen so knapp wie treffend formuliert
wird. The Godfather (1972) wurde nicht nur zu jenem finanziellen Erfolg, den Hollywood so dringend brauchte – bei Produktionskosten von sechs Millionen Dollar betrugen die Einspielergebnisse schlussendlich 245 Millionen –, der Film trat auch
eine gewaltige Veränderung innerhalb der Branche los. Denn
Coppola hatte gegen alle Widerstände des Studios hinsichtlich
Budget oder Besetzung mit Zähigkeit an seiner Vorstellung von
der filmischen Umsetzung des Romans festgehalten. Das Resultat war abseits des ökonomischen Erfolgs auch in künstlerischer Hinsicht überwältigend und trug nicht unwesentlich dazu
bei, den Regisseur als Auteur zu etablieren – eine der Kernforderungen New Hollywoods. Zudem erfüllte The Godfather
einen weiteren Anspruch des neuen US-Kinos auf kongeniale
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The Godfather
The Godfather: Part II
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Marlon Brando und Coppola am Set von Apocalypse Now
und geradezu exemplarische Weise, nämlich traditionelle Genres Hollywoods aufzufrischen, ohne dabei auf völlig auf die
klassischen Wurzeln zu vergessen. Coppola, George Lucas, Steven Spielberg und Martin Scorsese waren dabei federführende
Meister ihres Fachs, ihr Einfluss auf das US-amerikanische Kino
war nachhaltiger als der vieler anderer Protagonisten New Hollywoods, deren Arbeiten über den Status punktueller Leistungen
nicht hinauskamen.
Doch The Godfather ist natürlich weit mehr als ein neuer, gehaltvoller Beitrag im Genre des Gangsterfilms. Dieses ist bloß
das Fundament, auf dem Coppola eine epische Familiensaga
erzählt und dabei aus einer zunächst ungewöhnlichen Perspektive auch die Geschichte der Vereinigten Staaten widerspiegelt.
Die im Zentrum des Geschehens stehende Familie Corleone
repräsentiert zwar das organisierte Verbrechen, doch ebenso
steht sie für die Geschichte vieler Immigranten, die die Historie
Amerikas bekanntermaßen entscheidend geprägt haben. Im Gegensatz zum Gangsterfilm klassischer Prägung sind die Protagonisten hier keine Stereotypen, sondern nuancierte Charaktere
mit dem gesamten Spektrum menschlicher Stärken und Schwächen. Vor allem aber verzichtet The Godfather auf jedwedes
vordergründiges Moralisieren, vielmehr werden die Corleones
als Charaktere gezeigt, die die Prinzipien eines Systems, in dem
wirtschaftlicher Erfolg absolute Priorität genießt, gründlich verinnerlicht haben. „It’s not personal. It’s strictly business“ heißt
es immer wieder. Dass anstelle eines gefestigten Protestantismus – ursprünglich ein notwendiges Korrektiv im Kapitalismus
amerikanischer Prägung – klandestine Strukturen treten, führt
jedoch letztendlich zu jener mörderischen Verschmelzung von
Verbrechen und Business, die die Cosa Nostra so berüchtigt
gemacht hat. Im Fall der Corleones ist dies eine Entwicklung, die
deutliche Spuren hinterlässt und schlussendlich zu einer Verrohung führt, die der von Marlon Brando gespielte Vito Corleone
zu Anfang wohl selbst nicht für möglich gehalten hätte.
Mit The Godfather zeigt Francis Coppola aber auch seine unnachahmliche Fähigkeit, in epischer Breite zu erzählen, ohne
dabei in aufgesetztes Pathos oder gar ins Prätentiöse abzurutschen. Vor allem in Verbindung mit dem zwei Jahre später gedrehten The Godfather: Part II entfaltet sich die Saga der Familie
Corleone in ihrer ganzen erzählerischen Dynamik, die Coppola
mittels einer ungemein komplexen und vielschichtigen narrativen Struktur zu entwickeln verstand. Die Godfather-Filme sind
zudem auch Schauspieler-Kino allererster Güte. Marlon Brandos
etwas ins Stocken geratene Karriere erfuhr mit der Rolle des
Patriarchen Vito Corleone ein grandioses Comeback, für eine
ganze Reihe an Darstellern der Generation New Hollywood –
Al Pacino, Robert De Niro, James Caan, Robert Duvall, Diane
Keaton oder den viel zu früh verstorbenene John Cazale – war
dies ein erster Meilenstein auf dem Weg in die oberste Liga Hollywoods. Dass in The Godfather: Part II sogar der legendäre Lee
Strasberg einen seiner raren Film-Auftritte hinlegte, darf auch
nicht unerwähnt bleiben.
Zwischen den beiden Godfather-Filmen drehte Francis Coppola
mit The Conversation einen kleinen Thriller, der jedoch in
vielerlei Hinsicht zu seinen bemerkenswertesten Arbeiten
zählt. Protagonist ist dabei Harry Caul (Gene Hackman), ein
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Apocalypse Now
Apocalypse Now
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The Conversation
Abhörspezialist, der seine Kenntnisse sowohl staatlichen als
auch privaten Auftraggebern zur Verfügung stellt. Als er eine
junge Frau, die ihren Mann, eine einflussreiche Persönlichkeit,
betrügt, und ihren Liebhaber abhören soll, denkt Harry, dass es
sich um einen Routineauftrag handelt. Als er vermeint, unfreiwilliger Teil eines Mordkomplotts zu sein, kommen ihm aber
Bedenken. Doch Harry Caul ist schon tief in ein Verwirrspiel
verstrickt, das er immer weniger durchblicken und aus dem er
sich auch nicht mehr lösen kann. The Conversation ist ein fiebriger Verschwörungsthriller, der kongenial die paranoide, von
Misstrauen geprägte Atmosphäre, die im Amerika der NixonÄra nach Watergate vorherrschte, widerspiegelt. Die Furcht vor
im Hintergrund agierenden, allmächtigen Apparaten, die abseits
aller demokratischen Kontrollen ungehemmt agieren und vor
denen niemand sicher sein kann, legt sich wie ein Schatten über
The Conversation, der angesichts der Ereignisse um Edward
Snowden und die Praktiken der NSA aktueller den je erscheint.
DSCHUNGELKRIEG
Nach dem Erfolg der Godfather-Filme war Francis Coppola in der
Position, sich einem Projekt zuzuwenden, dessen Dimensionen
von Anfang an gewaltig erschienen: Apocalypse Now, ein Film
über den Krieg in Vietnam, basierend auf Joseph Conrads 1899
erschiener Erzählung „Heart of Darkness“. Ursprünglich hätte das
von John Milius verfasste Drehbuch von George Lucas verfilmt
werden sollen. Es erscheint ein durchaus spannendes Gedankenexperiment, sich vorzustellen, welcher Film daraus geworden wäre. Im Mittelpunkt von Apocalypse Now steht der von
Martin Sheen gespielte Captain Willard, der den Auftrag erhält,
einen geheimnisumwitterten Oberst namens Kurtz, der sich in
den Wirren des Krieges abgesetzt und mitten im Dschungel
mit einer Art Privatarmee herrscht, aufzuspüren und zu
liquidieren. Auf einem kleinen Patrouillenboot fährt Willard einen
Fluss hinauf, mitten durch Kampfzonen, wobei ihm nach und
nach die ganze Absurdität dieses Krieges immer deutlicher vor
Augen geführt wird.
Im März 1976 begann Coppola mit den Dreharbeiten auf den Philippinen. Die eingangs erwähnte Dokumentation macht deutlich,
mit welchen Widrigkeiten Coppola zu kämpfen hatte. Ein Taifun zerstörte große Teile des Filmsets, Martin Sheen erlitt einen
Herzinfarkt, der ihn einige Wochen zum Pausieren zwang, Marlon
Brando erwies sich in der so wichtigen Rolle des Colonel Kurtz
als recht unkooperativ, Coppola musste für Budgetüberschreitungen sogar mit seinem Vermögen bürgen. An einem Punkt
der sich über Monate dahinziehenden Produktion meinte ein
sichtlich an die Grenzen seiner Belastbarkeit gelangter Coppola,
es sei ihm mittlerweile egal, ob der Film gut oder schlecht werde, er wolle ihn vor allem zu Ende bringen. Die Qualen und
die Risikobereitschaft haben sich letztendlich gelohnt, mit
Apocalypse Now hat sich Coppola endgültig als Filmemacher
von grandioser Qualität für alle Zeiten etabliert. Kein anderer
Film hat die Widersprüchlichkeiten, mit denen sich Amerika im
Vietnam-Krieg konfrontiert sah, so deutlich gemacht wie Apocalypse Now. Und kaum ein anderer Film versteht es, so kongenial
auf die Ambivalenz zwischen der Faszination und dem Grauen,
die von Schlachtenszenen ausgehen und dem Kriegsfilm so inhärent sind, zu verweisen und sie gleichzeitig dramaturgisch
auszunützen. Wobei die Kategorisierung als Kriegsfilm in diesem Fall zu kurz greift. Wie auch bei The Godfather hat man
bei speziell bei Apocalypse Now den Eindruck, man betrachte
etwas ganz Großes. Coppolas beste Arbeiten – Apocalypse Now
bildet da den Höhepunkt – bilden jene Mischung aus Vision
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The Outsiders
© 2014 Universal Studios and Legendary Pictures, LLC. Alle Rechte vorbehalten.
© 2015 Universal Studios. Alle Rechte vorbehalten.
und Wahnsinn im Stil von David Lean und Stanley Kubrick, die
wirklich große Meisterwerke von einfach nur sehr guten Filmen
unterscheidet.
Die Auswahl der Filme für die vorliegende Kollektion erscheint
gut getroffen. Sie umfasst mit The Godfather, The Godfather:
Part II, Apocalypse Now und dem kleinen Juwel The Conversation
den Nukleus von Coppolas umfangreichem Oeuvre. Bei Apocalypse Now liegt die im Jahr 2001 veröffentlichte Redux-Fassung
vor, die von Coppola um eine lange Sequenz, in der Willard auf
französische Plantagenbesitzer trifft, erweitert wurde – die Kinofassung, die diese Sequenz ausspart, ist allerdings immer noch
beeindruckender, jede Ergänzung kann die Wucht, die von diesem Film ausgeht, nur abmindern. Die bereits angesprochene
Dokumentation Hearts of Darkness: A Filmmaker’s Apocalypse
ist dagegen eine perfekte Ergänzung, die großartige Einblicke
vermittelt.
The Godfather: Part III (1990) ist ein später Abschluss der Corleone-Saga, dem jedoch ein wenig die epische Größe der Teile I
und II abgeht. Interessanter erscheint da The Outsiders (1983),
Coppolas Adaption eines vor allem in den Vereinigten Staaten
populären Romans. Am sozialkritischen Aspekt der Vorlage ist
Coppola weniger interessiert, The Outsiders ist vielmehr eine
Reflexion über die Repräsentation der Jugendkultur. Die vor
allem formal spannende Inszenierung versammelt eine neue Generation vielversprechender Schauspieltalente wie Matt Dillon,
Patrick Swayze, Emilio Estevez, Ralph Macchio, Diane Lane und
Tom Cruise. The Outsiders nimmt aber auch schon ein wenig
vorweg, wie Coppolas Karriere nach Apocalypse Now verlaufen
sollte: Ambitionierte Projekte mischten sich mit reichlich konventionellen, neben durchaus respektablen Filmen schlichen
sich auch bittere Fehlschläge ein, die visionäre Größe der siebziger Jahre sollte er als Filmemacher nie mehr erreichen. Seinen Platz im Olymp der Filmgeschichte hatte sich Francis Ford
Coppola da allerdings längst und völlig zu Recht gesichert.
DRACULA UNTOLD
USA 2014
Regie: Gary Shore
Mit: Luke Evans, Sarah Gadon, Dominic Cooper,
Art Parkinson, Charles Dance
Transsylvanien 1462: Das Reich von Prinz Vlad III. (Luke Evans) steht
kurz vor der Eroberung durch die kriegerischen Osmanen. Um Familie und Volk zu schützen, schließt Vlad einen Pakt mit einem uralten
Dämon, der ihn zu einem unsterblichen Monster macht.
Dracula Untold ist ein spektakuläres Action-Abenteuer. Bildgewaltig
und mit atemberaubenden Special Effects werden Mythos und Wahrheit miteinander verbunden und eine völlig unbekannte Seite des
Vampirs enthüllt.
DVD
Laufzeit ca. 88 Minuten
Bild 2,40:1 AnamorphWidescreen
Ton Dolby Digital 5.1 (Deutsch, Englisch, Türkisch, Hindi)
Untertitel Deutsch, Englisch, Türkisch, Hindi, u.a.h
Blu-ray
Laufzeit ca. 92 Minuten
Bild 2,40:1 Widescreen in HD
Ton DTS-HD Master Audio 5.1 (Englisch), DTS Digital Surround 5.1
(Deutsch und alle anderen Sprachen)
Untertitel Deutsch, Englisch, Französisch, Italienisch, Spanisch, u.a.
Bonusmaterial in High Definition Alternative Eröffnungsszene; Unveröffentlichte Szenen; Ein Tag im Leben von Luke Evans; Dracula neu erzählt; Töten 1000; Das Land
von Dracula; Luke Evans: Eine Legende erschaffen; Audiokommentar von Regisseur
Gary Shore und Produktionsdesigner François Audouy
FSK freigegeben ab 12
FRANCIS FORD COPPOLA COLLECTION
The Godfather (1972)
The Conversation (1974)
The Godfather: Part II (1974)
Apocalypse Now Redux (1979/2001)
The Outsiders (1983)
The Godfather: Part III (1990)
Hearts of Darkness: A Filmmaker’s
Apocalypse (1991)
Auf DVD/Blu-ray bei Arthaus/Studiocanal
„Dracula Untoldy“ erscheint am 5. Februar 2015
als DVD und als Blu-ray mit Digital UltraViolet.
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FLYING HIGH
Unterm Strich zähl’ ich: Alejandro González Iñárritus wunderbar kluge, Oscar-favorisierte
Tragikomödie „Birdman“. Titelheld Michael Keaton im Gespräch.
Text und Interview ~ Pamela Jahn
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E
s gibt Filme, die sieht man am liebsten gleich zweimal. Manchmal, weil man angesichts der Komplexität und des Ideenreichtums, der in ihnen steckt,
fürchtet, einige wichtige Details verpasst zu haben.
Oder aber, weil sie einem beim ersten Sichten mit
einer Virtuosität an den Kopf fahren, die so bezwingend ist
wie famos. Wenn es sich um Filme handelt, die wesentlich sind
und klug, visuell raffiniert und emotional einnehmend, absurd
und spektakulär. Alejandro González Iñárritus Birdman, der es
durchaus verdient, beim vollen Titel Birdman (or The Unexpected Virtue of Ignorance) genannt zu werden, ist von all dem
alles und immer noch ein bisschen mehr. Denn ein Film, in so
fragile wie Klischee-egomane Künstler und Könner zwei Stunden lang miteinander reden und streiten, einander gegenseitig
trösten und verletzen, sich entblößen und nicht entblöden, der
geht, gelinde gesagt, ein gewisses Risiko ein. Eigentlich kann er
nur bodenlos scheitern. Oder grandios gelingen. So wie Iñárritus bewundernswerter Film, der obendrein die schöne Gelegenheit bietet, den großen Komödianten Michael Keaton in lange
vermisster Höchstform auf der Leinwand zu erleben.
Fünfundzwanzig Jahre nach seinem immensen Erfolg als Batman spielt Keaton hier einen abgehalfterten Hollywoodstar und
Comic-Kino-Helden namens Riggan Thomson, der sich in einer
ungesunden Mischung aus Verzweiflung und Größenwahn in
den Kopf gesetzt hat, ein Theaterstück auf der Grundlage einer
selbstadaptierten und -inszenierten Raymond-Carver-Vorlage
am Broadway zu stemmen. Dabei zur Seite steht ihm ein Ensemble angeknackster Charaktere, die insgeheim hoffen, auf den
gerupften Federn des ehemaligen Birdman-Superhelden zu neuen Höhen aufzuschwingen, oder zumindest den letzten Funken
Selbstachtung zu wahren, den ihnen die Kunst wie das Leben zu
rauben sucht: Allen voran Zach Galifianakis als Riggans rechte
(und linke) Hand Jake und Edward Nortons besserwisserischer
Method-Acting-Chauvi Mike Shiner, der es sich im Lauf des Films
mit der zart besaiteten Broadway-Debütantin Lesley (Naomi
Watts) verscherzt, die allein bei Riggans Freundin Laura (Andrea Riseborough) Trost findet. Bleibt Emma Stone als Riggans
leibliche Tochter und – zwangsweise – persönliche Assistentin,
die von allen noch den größten Durchblick hat, aber nichts von
allem wissen will, am wenigsten von ihrem selbstmitleidigen
Vater.
Die Probleme, die Spannungen und die Zweifel, die Riggans
Vorhaben mit sich bringt, sind programmiert. Was den Film
so beeindruckend macht, sind die brillanten Schauspielduelle,
und die wendige, sich raffiniert und hartnäckig durch die engen Korridore, Bühnen- und Proberäume schlängelnde Kamera
von Emmanuel Lubezki, die im Einklang mit dem unentwegt
trommelnden Rhythmus des derben Jazz-Soundtracks (Antonio
Sanchez) die Fiebrigkeit der ruhelosen Protagonisten bildlich
greifbar macht. Birdman ist eine irre, ausgeklügelt inszenierte
Tragödie, ein bitterer Abgesang auf das Showbiz, welcher sich
über weite Strecken als Komödie ausgibt. Doch immer wieder
kippt der Spaß ins Panische, ins Tieftraurige sogar, bis es unvermeidlich tragisch wird, weil es eben keine Alternative gibt
zum komischen Ernst des Lebens. Aber wenn Birdman am Ende
abhebt, kommt er dem Versuch zumindest verdammt nah.
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Sie spielen in Birdman einen Ex-Hollywoodstar, der ein
Comeback als Bühnenkünstler probiert. Das klingt zunächst
wenig originell, aber wer den Film sieht, ist schnell begeistert. Wie ging es Ihnen, als Sie das Drehbuch zum ersten Mal
gelesen hatten?
Wer Alejandros Filme kennt, hat als Schauspieler ja schon eine gewisse Vorstellung davon, worauf er sich einlässt. Bei ihm
hat man es mit einem wahren Künstler zu tun, obwohl solche
Begriffe wie Künstler oder Genie heutzutage ziemlich überbeansprucht werden. Aber machen wir uns nichts vor, alle Schauspieler, zumindest die, die ich kenne, wollen gern mit großartigen Regisseuren arbeiten. Und da ich Alejandros frühere Filme
bereits kannte, hätte das Drehbuch wirklich grauenhaft sein
müssen, dass ich abgelehnt hätte. Aber es war großartig. Als
Alejandro mir das Skript in die Hand gab, erklärte er mir ziemlich ausführlich, wie er sich das Ganze vorstellte, wie er drehen
wollte, was der Film für ihn bedeutet. Damals dachte ich nur:
Wow, okay! Dann bin ich nach Hause und habe das Drehbuch in
einem Stück durchgelesen, wobei mir gleichzeitig all die Dinge
durch den Kopf gingen, die mir Alejandro kurz zuvor gesagt
hatte. Am Ende stand für mich fest: Das ist was Besonderes –
und das wird ganz sicher kein Kinderspiel.
Hatten Sie Bedenken, wie das praktisch funktionieren sollte,
dass der Film am Ende aussieht, als sei er in einem einzigen
Take gedreht?
Ja und nein. Wenn etwas kompliziert ist, bedeutet es ja nicht,
dass es schlecht ist, sondern spannend. Ich mag es selbst, wenn
etwas schwierig ist und mehr als nur herausfordernd. Dass Riggan Thomson eine meiner bislang schwierigsten Rollen ist, hat
mich nicht davon abgehalten, sie zu spielen. Das ist vielleicht so
ähnlich wie bei Hochleistungssportlern, für die wird es ja auch
nie leichter. Viele fangen schon als Kinder an, kämpfen sich
schnell nach oben, und dann wird‘s mühsam. Denn je höher
man aufsteigt und je älter man wird, umso schwieriger wird es
mitzuhalten. Aber ich hatte keine Angst vor der Aufgabe. Mich
hat das gereizt, die Kompliziertheit, die darin steckt.
Es gibt eine Szene im Film, das laufen Sie nur in Unterhosen
abends über den Time Square …
Zugegeben, das war wirklich nicht einfach.
Vor allem, wenn man es wie bei Iñárritu mit jemandem zu
tun hat, der gern alles bis ins kleinste Detail kontrolliert.
Oh ja! Das mag ja alles ganz ungestellt aussehen, aber selbst
diese Szene war komplett durchgeplant und choreographiert,
so wie alles andere. Natürlich kann man bei solchen Außenaufnahmen nicht verhindern, dass Passanten ins Bild laufen, dass
Leute stehenbleiben und zuschauen und so weiter. Wir haben
das Ganze also auch ein paar Mal drehen müssen. So spontan
und zufällig wie es wirkt, war es jedenfalls nicht.
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Hatten Sie Spielraum für eigene Ideen und Improvisationen,
um die Rolle für sich zu entwickeln?
Um genau zu sein: gar keinen. Null. Im Gegenteil. Angesichts
der Art, wie der Film gedreht werden sollte, mussten wir unseren Text schon sehr früh ganz genau kennen. Denn die Kameras waren auch bei den Proben schon mit dabei und deshalb
war es wichtig, dass jeder auf Anhieb wusste, wo er einsetzen
muss, für den Fall, dass die Kamera plötzlich auf einen umschwenkt. Und man kann sich das kaum vorstellen, aber Emmanuel Lubezki, der Kameramann, ist vielleicht sogar noch ein
Stück perfektionistischer als Alejandro. Die beiden zusammen
können einen schon zum Wahnsinn treiben – aber im besten
Sinn des Wortes, weil sie einfach so gut sind. Es gibt zum Beispiel auch Szenen im Film, darin finde mich persönlich nicht
gut, weil ich weiß, es gab andere Aufnahmen, da war ich besser. Aber alles in allem war das eben die Version, die an der
Stelle und im Zusammenspiel mit dem, was davor und danach
kommt, am besten passte. Also, um auf ihre Frage zurückzukommen: Es gab für uns Darsteller eigentlich keinen Raum zum
Improvisieren, bis auf ein, zwei kleine Momente, in denen Zach
Galifianakis und ich notgedrungen erfinderisch seien mussten,
weil wir sonst die Szene verpatzt hätten.
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Welche Szene war das?
Die Szene, in der Zach und ich uns auf dem Flur unterhalten.
Oder besser gesagt, er brüllt mich an und dabei kommen ihm
fast die Tränen, weil er so unter Stress steht. Das ist einerseits berührend, aber auch ziemlich komisch. Und in einem der
Takes sagt er plötzlich im Weggehen: „Dein Hosenstall ist offen.“ Darauf war ich nicht vorbereitet, aber ich konnte ja auch
nicht lachen, weil das die ganze Szene ruiniert hätte. Also habe ich einfach die Realität gespielt und nach unten geschaut,
um zu kontrollieren, ob mein Reißverschluss tatsächlich offen
stand, weil Riggan, so unsicher wie er ist, das in dem Moment
auch getan hätte. Alejandro fand die Idee gut, aber das hieß
natürlich auch, dass wir die Szene in jeder weiteren Aufnahme
wieder genauso beenden mussten.
Sie haben in Interviews mehrfach betont, dass Ihre Figur,
Riggan Thomson, und Michael Keaton, der Schauspieler, sich
im Grunde nicht mehr voneinander unterscheiden könnten.
Wie gehen Sie persönlich mit Niederlagen um? Wie man
sieht, hat Riggan damit seine Schwierigkeiten.
Das kann man wohl sagen. Was konkret die Parallelen oder Unterschiede zwischen Riggan und mir angeht, das meine ich auch
so, wie ich es gesagt habe. Aber ganz ehrlich: Ich denke darüber
nicht so viel nach, wie alle denken. Ich glaube, andere Leute
denken mehr darüber nach, wie viel ich darüber nachdenke, als
ich selbst. Klar geht’s mir auch mal schlecht. Klar habe ich auch
Fehler gemacht und Niederlagen einstecken müssen. Aber das
ist doch menschlich. Deshalb haben Riggan und ich noch lange
nicht die gleiche Persönlichkeit. Und darum geht es ja auch gar
nicht. Das Spannende ist doch, dass der Film – wie Alejandros
Filme immer – auf ein größeres Ganzes zielt. Da geht es um
universelle Themen und Fragen: Wie geht man mit dem eigenen Ego um? Mit den Lügen, die es uns erzählt? Und mit den
Wahrheiten? Die Antworten darauf kenne ich auch nicht. Aber
ich verschwende nicht halb so viel Zeit und Energie wie Riggan
damit, mir den Kopf darüber zu zerbrechen, was die Leute von
mir denken. Ein wenig narzisstisch sind wir alle und das ist auch
gut so. Aber derart ichbezogen zu sein, wäre mir definitiv zu
anstrengend. Dafür bin ich viel zu faul. Außerdem bin ich von
Natur aus sehr unabhängig und will mich nicht darauf verlassen müssen, wie andere Leute darüber urteilen, ob ich gut oder
schlecht bin. Das kann ich auch ganz gut selbst einschätzen.
Wo steckt ihr Ego, wenn Sie vor der Kamera stehen?
Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass ich stolz sein will auf meine Arbeit, dass ich einen guten Job machen will. Das Einzige, was ich
mir zugute halte, ist, dass ich mutig bin. Dass muss man auch
sein, sonst blickt man irgendwann auf sein Leben zurück und
ärgert sich, dass man dieses oder jenes nicht ausprobiert hat.
Ich weiß natürlich auch, dass ich ziemliches Glück hatte, schon
früh in meiner Karriere großartige Chancen zu bekommen, wenn
auch nicht ohne Risiko. Der erste Batman zum Beispiel, das war
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IM FEBRUAR IN DEN KINOS
eine halsbrecherische Angelegenheit. Wenn das schief gegangen
wäre, wäre ich baden gegangen. Aber nicht nur ich: Tim Burton,
Jack Nicholson, wir alle hätten verdammt blöd dagestanden. Tatsache ist aber, dass es funktioniert hat, ziemlich gut sogar. Deshalb habe mich mir immer gesagt: Sei kein Feigling, trau dich!
Und damit bin ich eigentlich immer ganz gut gefahren.
Sie haben allerdings recht früh in Ihrer Karriere auch einige
Rollen in Filmen abgelehnt, die dann zu Kassenschlagern
wurden.
Nicht wirklich.
MY NAME IS
SALT
FARIDA PACHA , INDIEN
Splash zum Beispiel?
Ja gut, da haben Sie recht.
Stakeout?
Okay! Man muss aber auch dazu sagen, dass ich damals gerade
Vater geworden war und mich auf meine Familie konzentrieren
wollte. Ich habe das sehr genossen. Nichtsdestoweniger war es
wahrscheinlich ein Stück weit auch meine eigene Dummheit, die
Rollen nicht anzunehmen.
Haben Sie selbst auch mal am Theater gespielt?
Ganz wenig, während des Studiums. Theater hat mich interessiert, aber es war nie meine Leidenschaft. Ich hatte bei ein paar
Stücken mitgespielt und bin dann eine Zeit lang mit einer kleinen Theatergruppe aufgetreten. Dann wollte ich nach New York,
um dort als Schauspieler zu arbeiten, aber mich haben auch
das Schreiben und Comedy immer begeistert. Am Ende bin ich
ziemlich spontan nach Los Angeles gezogen, weil mir ein guter
Freund dazu geraten hatte. Aber wäre ich tatsächlich nach New
York gegangen, hätte ich sicher auch mehr Theater gespielt.
Sie sind mehrfach als Stand-Up-Comedian aufgetreten.
Ja, und ich glaube, das war mit das Klügste, was ich in meinem Leben gemacht habe. Ich bin unheimlich fasziniert von der
Kunst, die dahinter steckt. Die Leute glauben ja gar nicht, wie
schwer es ist, als Stand-Up richtig gut zu sein, und zwar jeden
Abend aufs Neue. Aber das ist ein Thema für sich.
EDITION FÜR LIEBHABERINNEN
In Birdman kriegen unter anderem auch die Kritiker ihr Fett
weg. Aber es scheint, als scheren Sie sich wenig darum, was
im Nachhinein über Ihre Arbeit geschrieben wird.
Richtig. Ich bin da ganz praktisch. Wenn jemand mich anruft
und sagt: „Ich habe gerade eine super Kritik gelesen. Willst du
sie sehen?“, da sage ich natürlich nicht nein. Aber davon abgesehen lese ich kaum Kritiken, wenn ich es vermeiden kann.
Damit bin ich bislang immer ganz gut gefahren.
BIRDMAN (ODER DIE UNVERHOFFTE MACHT DER AHNUNGSLOSIGKEIT) /
BIRDMAN (OR THE UNEXPECTED VIRTUE OF IGNORANCE)
Tragikomödie, USA 2014 ~ Regie Alejandro González Iñárritu
Drehbuch Alejandro González Iñárritu, Nicolás Giacobone, Alexander
Dinelaris, Armando Bo Kamera Emmanuel Lubezki Schnitt Douglas Crise,
Stephen Mirrione Musik Antonio Sanchez Production Design Kevin Thompson
Kostüm Albert Wolsky
Mit Michael Keaton, Emma Stone, Edward Norton, Naomi Watts, Andrea
Riseborough, Zach Galifianakis, Amy Ryan, Damian Young, Merritt Wever
Verleih 20th Century Fox, 119 Minuten
Kinostart 30. Jänner
www.fox.de/birdman
Herausragende Filme aus Süd und Ost
auf DVD/Blu-ray und online
www.trigon-film.org
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MR. KAURISMÄKI,
WIE HABEN SIE
DAS GEMACHT?
Peter von Baghs Buch über Aki Kaurismäki hat neben aufschlussreich-humorvollen
Interviews mit dem Regisseur eine Vielzahl seltener Fotos zu bieten.
Text und Redaktion ~ Oliver Stangl
D
ass Trauer und Freude oft nah beieinander liegen, mag ein Gemeinplatz sein, doch wenn ein
Filmemacher wie Aki Kaurismäki am Werk ist,
werden Gemeinplätze zur Kunst. Seinen Figuren
weht stets ein rauer Wind entgegen, sie wappnen
sich gegen die Unbill des Lebens mit Alkohol, Zigaretten und
Schweigsamkeit. Und wenn sie schon glauben, dass es nicht
mehr weitergeht – wie der frustrierte Angestellte Henri Boulanger (Jean-Pierre Léaud), der in I Hired a Contract Killer einen Mörder auf sich selbst ansetzt – dann tun sich unverhofft
Glücksmomente auf, tritt die Liebe ins Leben. Trauer und Freude, sie liegen auch im Fall des eben auf deutsch erschienenen
Buches über den Finnen mit der unverwechselbaren, lakonischprägnanten Bildsprache nah beieinander.
Freude, weil „Kaurismäki über Kaurismäki“ ein exzellentes Buch
ist, in dem der Schöpfer von Werken wie Leningrad Cowboys Go
America oder Wolken ziehen vorüber viel über sich, seine Arbeitsweise und seine Weltsicht preisgibt. Zum Beispiel: „Mit Farben kann man eine Figur kommentieren, eine Szene definieren
und den Gemütszustand einer Figur andeuten. Mit Farben kann
man alles mögliche tun, zum Beispiel den Film kaputt machen,
wie Peter Greenaway es gezeigt hat. Aber auf der anderen Seite
bringt erst das Licht die Farben zum Strahlen und erzeugt die
Schatten, die – wie wir von Rembrandt gelernt haben – der Spiegel der Seele sind. FBI-Männer werfen keine Schatten.“ Oder:
„Hollywood ist von den großen Regisseuren gemacht worden.
Deswegen ist es dort heute so leer, weil sie weggegangen sind
und nur die Geldmach-Maschinerie übrig geblieben ist, und
auch die ist ins Stottern geraten.“
Trauer, weil der Autor des Buches, Peter von Bagh, am 17.
September 2014 im Alter von 71 Jahren in seiner Heimatstadt
Helsinki verstorben ist. Der Vielseitige war selbst als Regisseur
tätig (er dreht über 50 Essayfilme), stand mehreren Filmfestivals vor und war ein international gefragter Filmhistoriker, der
mehr als 30 Bücher schrieb. Für das Österreichische Filmmuseum hat Peter von Bagh noch gemeinsam mit Olaf Möller die
Schau „Finnland – Der Film“ zusammengestellt. Doch die Eröffnung der Schau hat er, ebenso wenig wie die Präsentation der
deutschsprachigen Ausgabe seines Kaurismäki-Buches, nicht
mehr erlebt. So ist das beim verdienstvollen Alexander Verlag
erschienene Buch mehr als nur eine Feier des großen Regisseurs
Kaurismäki. Es ist in gleichem Maß ein würdiges Andenken an
den großen Cineasten Peter von Bagh. Auf den folgenden Seiten
finden Sie einige Bilder aus dem Band.
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Peter von Bagh:
Kaurismäki über Kaurismäki.
Alexander Verlag, Berlin 2014.
Zahlreiche Abbildungen.
288 Seiten, € 39,10
Beruflic unterwegs in Jyväskylä, 1985
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Markku Peltola in Der Mann ohne Vergangenheit (Mies vailla menneisyyttä, 2002) Foto: Marja-Leena Hukkanen © Sputnik, Finnland
Kati Outinen und Matti Pellonpää in Schatten im Paradies (Varjoja paratiisissa, 1986) Foto: Marja-Leena Hukkanen © Sputnik, Finnland
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Kaurismäki und seine Frau Paula Oinonen, fotografiert von Jim Jarmusch (1987)
Matti Pellonpää und Laika in La Vie de Bohème (1992) © Moune Jamet
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André Wilms, Jean-Pierre Léaud, Kari Väänänen und Matti Pellonpää in La Vie de Bohème (1992) © Moune Jamet
In Leningrad Cowboys Go America (1989) hat Regisseur Jim Jarmusch (mit Kappe, neben ihm Kaurismäki) einen Auftritt als Autohändler. Foto: Marja-Leena Hukkanen © Sputnik, Finnland
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Kati Outinen, Kari Väänänen und Pietari in Wolken ziehen vorüber (1996) Foto: Marja-Leena Hukkanen © Sputnik, Finnland
Kaurismäki beim Inszenieren des Stummfilms Juha (1999) Foto: Marja-Leena Hukkanen © Sputnik, Finnland
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Kaurismäki und Jean-Pierre Léaud in I Hired a Contract Killer (1990)
Maria Järvenhelmi, Janne Hyytiäinen und Ilkka Koivula in Lichter der Vorstadt (Laitakaupungin, 2006)
Cinéma du Panthéon, 5. Arrondissement
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DIE ARBEITERKLASSE
KENNT KEIN VATERLAND
Aki Kaurismäki – Bolschewist des Herzens
Text ~ Jörg Becker
E
r war noch keine fünfzig, da hatte man ihm bereits große Retrospektiven gewidmet. Sein Werk, das eine Handvoll Schwarzweißfilme und sogar einen Stummfilm – Juha
(1999) – enthält, stellt eine Hommage dar an die Reinheit
eines früheren Kinos. In der Kritik taucht seitdem immer wieder das
Wort „Paralleluniversum“ auf, das Kaurismäkis Filmwelt ausstaffiere, eine zauberhafte Gegenversion der Wirklichkeit, eine künstliche,
dabei zur Gänze aus Realien bestehende Welt, deren Tristesse auf
unverkennbare Weise mit Notwendigkeit einem oft märchenhaften
Ausgang zugeführt wird. Und alles im Element beispielloser Lakonie, reduziertester Gestik, eines langsam schwelenden Humors und
entschieden gesetzter Filmeinstellungen, die ihre Schauplätze oft
etwas länger im Bild zeigen als die an ihnen stattfindende Handlung und damit den Objekten am Ort, die etwas Museales aus dem
späten Industriezeitalter bzw. der Moderne ausstrahlen, Geltung
verschaffen. Ein Auto mit Plastikstoßstange wird man jedenfalls in
keinem Kaurismäki-Film sehen, stattdessen Cadillacs, Wolgas und
Traktoren – Objekte mit Gesicht und Charakter.
Das Mädchen aus der Streichholzfabrik (1989) am Ende seiner
„Proletarischen Trilogie“ brachte Kaurismäki den Durchbruch: ein
Arbeitermädchen, von den Eltern ausgebeutet, von Fabrikarbeit und
enttäuschter Liebe entfremdet, revanchiert sich mit Rattengift für
all die Zumutungen ihres Lebens, ein befreiender Akt von Selbstbestimmung. Kaurismäkis Hauptfiguren, Müllfahrer oder Kassiererinnen, Straßenbahnschaffner oder Fließbandarbeiterinnen, Metzger
oder Kellnerinnen, prekärste Künstlerexistenzen (André Wilms in La
Vie de Bohème) – im jüngsten Film Le Havre Schuhputzer, mit allen
Härten der kapitalistischen Gesellschaft konfrontiert, widerfährt
doch immer wieder eine liebevolle Wendung ins Happy End. I Hired
a Contract Killer, der der Nouvelle-Vague-Ikone Jean-Pierre Léaud
einen beträchtlichen zweiten Schub gab, und La Vie de Bohème
entstanden nicht mehr in Finnland, sondern in London bzw. Paris,
in den Farben bzw. dem schwarzweißen Chiaroscuro der jeweiligen Filmtradition, die Kaurismäki
am Herzen gelegen haben mochte, Powell/Pressburger und der Poetische Realismus, überhaupt das
französische Kino der dreißiger Jahre, Marcel Carné,
René Clair, Jean Renoir.
Tatjana entstand in Tallinn und Leningrad Cowboys
Go America in der US-Provinz, die Heimatlosigkeit
scheint ihre gemeinsame Wurzel, doch, so sagt die
Blumenverkäuferin Margaret in Contract Killer zu
Henri/Léaud, den Alkohol und Liebe urplötzlich von
seiner Suizidfixierung abgebracht haben: „Die Arbeiterklasse kennt
kein Vaterland.“ Mit fürs Kino weichem Herzen Verlierer zu besingen, darum ging es nie, auch wenn man meinen könnte, Kaurismäki würde Filme aus übler Gegenwart in der Ausstattung einer
euphemistischen Vergangenheit drehen, in sparsamem Dekor und
reduzierten Dialogen, unter einem schauspielerischen Ausdrucksminimalismus, der die Andeutung eines Lächelns zum emotionalen
Höhepunkt werden lässt.
Der „Chef-Melancholiker des Autorenkinos“ (Rainer Gansera), der
die Tristesse seiner Filme mit Blues und Tango, Punk, russischen
Volksweisen und Tschaikowskys „Pathétique“ grundiert, steht in
der Nachfolge der Kunst großer Melodramen. In Anlehnung an sein
großes Vorbild Bresson gelten ihm, der sich einmal als „Bolschewist
des Herzens“ bezeichnet hat, seine aufrechten Akteure als Modelle;
deren Leidensweg läuft auf eine Rettung hinaus, die er als Regisseur
anordnen kann, weil er der Geschichte Gerechtigkeit widerfahren
lassen will. So gelangt das arbeitslose Paar in Wolken ziehen vorüber
schließlich an das Geld, um ein Restaurant eröffnen zu können, und
der Mann ohne Vergangenheit findet die Liebe seines Lebens in den
Armen des Engels der Heilsarmee in Gestalt von Kati Outinen, die
in neun Filmen unsere Vorstellung davon geprägt hat, was einen
Kaurismäki-Film ausmacht. Da ist jene soziale Insel solidarischer
Menschen, die – zuletzt in Le Havre (2011), der auch aus Kaurismäkis Zorn über die demütigende Behandlung der Afrika-Flüchtlinge durch die EU entstand („Ich bin zu alt, um unpolitische Filme zu
machen“) – das „paradis social“ des französischen Films wachruft.
Gleich zwei Wunder geschehen: Der Mensch ist edel, hilfreich und
gut, und die Frau ist von tödlicher Krankheit genesen. Am Schluss
sieht man die Kirschblüten blühen.
AKI KAURISMÄKI COLLECTION
Crime and Punishment, 1983; Calamari Union, 1985; Schatten
im Paradies, 1986; Hamlet goes Business, 1987; Ariel, 1988;
Leningrad Cowboys Go America / Das Mädchen aus der Streichholzfabrik, 1989; I Hired a Contract Killer, 1990; Das Leben der
Bohème, 1992; Total Balalaika Show, 1993; Leningrad Cowboys
Meet Moses / Tatjana, 1994; Wolken ziehen vorüber, 1996; Juha,
1998; Der Mann ohne Vergangenheit, 2002; Lichter der Vorstadt, 2006; Le Havre 2011. Sowie die Musik-Kurzfilme: Rocky VI;
Thru the Wire; Those were the Days; These Boots.
Gesamtlänge 1358 Minuten auf zehn DVDs
Pandora Film, ab ca. € 51,-
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SCHWERGEWICHTSCHAMPIONS
Ein Gipfeltreffen: Paul Thomas Anderson verfilmte Thomas Pynchons
Roman „Inherent Vice“ mit gewohnt großer Besetzung.
Text ~ Andreas Ungerböck
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Als Kassenschlager eignen sich Andersons Werke nur bedingt,
dazu sind sie einfach zu fordernd. „There Will Be Blood“
spielte aber immerhin 40 Millionen Dollar ein
I
m Oktober 2013 zählte „Entertainment Weekly“ die „25
Greatest Working Directors“ auf – eine Aufstellung,
über die man, wie über alle Best-of-Listen, trefflich
streiten kann: Spielberg Erster, Tarantino Zweiter. Soweit okay. Scorsese Dritter? Naja. Woody Allen Neunter, weit vor Roman Polanski? Hhhmm. Ben Affleck Elfter, drei
Plätze vor Michael Haneke? Wie bitte? Ang Lee 18., einige Plätze
hinter Darren Aronofsky? Im Ernst? Wie auch immer: Es gibt
vermutlich nur wenige der hier Gelisteten, die sowohl in der
Branche, als auch bei der Kritik, in der strengen „ray“-Redaktion
und bei jenem verschwindend geringen Teil des Publikums, der
Regisseurinnen und Regisseure überhaupt namentlich wahrnimmt, unumstritten sind. Dazu gehören ohne Zweifel Kathryn
Bigelow (Vierte) und Paul Thomas Anderson (Achter).
Das ehemalige „Wunderkind“ Anderson, geboren 1970 mitten
im Herzen der Filmindustrie, in Studio City, fiel schon 1996 mit
seinem Debütfilm Hard Eight (aka Sydney, aka Last Exit Reno)
auf, einer lakonischen Tragödie im Spielermilieu. Philip Baker
Hall, John C. Reilly, Gwyneth Paltrow, Samuel L. Jackson und Philip Seymour Hoffman: Das war ein illustrer Cast für den ersten,
eher sparsam budgetierten Film eines 26-Jährigen. Und schon
im folgenden Jahr gelang dem jungen Mann mit Boogie Nights
ein Werk, das man getrost zu den Highlights der jüngeren Filmgeschichte zählen darf und das wohl noch einige Jahrzehnte
Bestand haben wird. Wie es Anderson gelang, ein Ensemble von
gut einem Dutzend glänzend charakterisierter Figuren zweieinhalb Stunden lang zu dirigieren, eine zutiefst bewegende
Geschichte über Aufstieg und Fall eines jungen Mannes (Mark
Wahlberg) zu schreiben, der in die „Goldene Ära“ des Pornofilms
hineinschlittert, und zugleich ein fulminantes Zeitbild der siebziger und frühen achtziger Jahre zu entwerfen, das war schon
mehr als beeindruckend. In dieser Tonart ging es mit Magnolia
(1999) weiter, den manche noch über Boogie Nights stellen. Die
Szene, in der es Frösche vom Himmel regnet, wird wohl vielen
unvergesslich geblieben sein. Es folgte die sehr schräge Komödie Punch-Drunk Love (2002), in der Anderson u.a. bewies, dass
er nicht nur Tom Cruise (Magnolia), sondern auch Adam Sandler
in den Griff bekommen kann – keine leichte Übung, wie man in
der Branche weiß. There Will Be Blood (2007) wurde mit zwei
Oscars ausgezeichnet (Daniel Day-Lewis, needless to say, als
bester Hauptdarsteller und Robert Elswit als bester Kameramann); The Master (2012), das nur wenig verschlüsselte Porträt des Scientology-Gründers L. Ron Hubbard, bleibt vor allem
wegen der grandiosen Performance des 2014 tragisch aus dem
Leben geschiedenen Philip Seymour Hoffman, einem engen Vertrauten des Filmemachers, in Erinnerung.
Alle Filme Paul Thomas Andersons tragen eine Handschrift:
Sie sind komplex, um nicht zu sagen: labyrinthisch angelegt,
versammeln vielschichtige und reichhaltige Figurenensembles,
verfügen über äußerst einprägsame Scores und Soundtracks,
dauern in der Regel zweieinhalb Stunden und mehr, und werden
von der Kritik nahezu einhellig geschätzt. Kein Wunder, wenn
die Hollywood-Schauspielelite sich nicht lange bitten lässt,
wenn es darum geht, in seinen Filmen mitzuwirken (siehe auch
das nachfolgende Interview mit Owen Wilson). Als Kassenschlager eignen sich seine Werke hingegen nur bedingt, dazu sind
sie einfach zu fordernd. There Will Be Blood, satte 158 Minuten
lang, spielte aber immerhin 40 Millionen Dollar ein.
Was der erst 44-jährige Anderson für die Filmbranche ist, ist in
gewisser Weise der 77-jährige Thomas Pynchon für den US-amerikanischen Literaturbetrieb: eine Instanz, deren Charisma man
sich schwer entziehen kann. Dass der enigmatische, öffentlich-
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keitsscheue Schriftsteller von der Ostküste, dessen Familie bis
zu den Gründervätern zurückverfolgt werden kann, und der
Regie-Hot-Shot mitten aus L.A., Bruder von acht Geschwistern
und Sohn eines Fernsehschauspielers der sechziger Jahre, nun
anlässlich von Inherent Vice aufeinandertreffen, kann man nur
als künstlerischen Glücksfall bezeichnen.
Was Paul Thomas Anderson, einen erklärten Fan des Autors, zu
Pynchons 2009 erschienenem, vergleichsweise zugänglichem
und mit knapp 500 Seiten eher schmalem Roman (deutscher
Titel: „Natürliche Mängel“) hingezogen haben mag, lässt sich
leicht nachvollziehen: Da ist zum einen Pynchons hinreißende
Fabulierkunst, seine unnachahmliche Fähigkeit, in vergangene Epochen einzutauchen (man denke nur an „V.“) und, wahrscheinlich am wichtigsten, sein Genie, was das Entwerfen bunt
schillernder Charaktere betrifft. Noch dazu ist der Roman eine
Hommage an Los Angeles (nahezu alle Filme Andersons spielen
in Kalifornien), an Raymond Chandlers Philip-Marlowe-Romane
und an all die großartigen L.A.-Gangster-, Polizei- und Detektivfilme, notabene Roman Polanskis Chinatown und Curtis Hansons L.A. Confidential. Hier also „ermittelt“ der Privatdetektiv
Larry „Doc“ Sportello (Joaquin Phoenix, der schon in The Master
brillierte), oder besser gesagt: Er stolpert durch eine Story, gegen die die legendär undurchschaubare Geschichte von Chandlers „The Big Sleep“ geradezu linear erscheint. Da wir uns aber
nicht in den vierziger Jahren, sondern im Jahr 1970 befinden,
wird hier nicht (nur) viel getrunken, sondern es werden Drogen
aller Art konsumiert. Der stets ein wenig benebelte „Doc“ sieht
sich einer Vielzahl bizarrer Männer, darunter ein sexsüchtiger
Zahnarzt und ein heroinsüchtiger Saxofonspieler, und bisweilen
recht undurchschaubarer Frauen gegenüber, die seine Suche
nach einem verschwundenen Immobilienmakler nicht einfacher
machen. Und natürlich, das muss einfach so sein, hat der Privatschnüffler so seine Probleme mit der Polizei, hier in Gestalt
von Lieutenant Detective Christian F. „Bigfoot“ Bjornsen, der im
Film von Josh Brolin dargestellt wird.
Diesen Dschungel filmgerecht zu lichten, war, wie Paul Thomas
Anderson in einem „New York Times“-Interview im Vorfeld der
Dreharbeiten eingestand, keine Kleinigkeit. Dass Pynchon dabei
kooperierte, kann allein schon als Sensation gelten, auch wenn
Anderson anmerkte: „Statt Drehbuchautor sollte der Credit ,Sekretär des Autors‘ lauten. Aber das heißt nicht, dass es keinen
Spaß macht.“ Immerhin handelt es sich bei Inherent Vice um
die erste offizielle Leinwandadaption eines Pynchon-Romans,
wenn man von einem deutschen Film, der lose auf „Gravity’s
Rainbow“ (1973) basiert, einmal absieht. Anderson hat das alles
in dem Bestreben, „zumindest so lustig zu sein wie Pynchon“,
noch angereichert mit „the best fart and poop jokes I could
find“, wie er selbst sagt, ganz im Geiste seiner Lieblings-Underground-Comicsserie „The Fabulous Furry Freak Brothers“, die
ihren Ausgangspunkt in der Hippie-Szene im San Francisco der
späten sechziger Jahre hatte.
Alle Zutaten zu einem großen Film sind jedenfalls vorhanden,
auch Andersons Langzeit-Kameramann Robert Elswit, mit dem
er seit Boogie Nights alle seine Filme gedreht hat, ist wieder
dabei. Und über allem schwebt die grandiose Musik von Neil
Youngs zeitlosem Album „Harvest“.
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VON ANDERSON
ZU ANDERSON
Owen Wilson über Lampenfieber, die netten Nachrichten eines anerkannten Regisseurs
und über seine Liebe zu Wettbewerbsspielen.
Interview ~ Brit Andres
Übersetzung ~ Andreas Ungerböck
O
wen Wilson, geboren 1968 in Dallas, Texas, gehört zu den wohl beliebtesten Schauspielern des
zeitgenössischen Hollywood. Seit seinem Debüt
in Bottle Rocket (1996), das gleichzeitig die fulminante Regiekarriere seines Philosophie-Studienkollegen Wes Anderson einleitete, dem Wilson bis heute die
Treue gehalten hat, entwickelte sich der blonde Schauspieler mit
dem markant attraktiven Gesicht zu einem herausragenden Komödianten (Shanghai Noon, Zoolander, The Wedding Crashers,
Midnight in Paris), der aber auch die eine oder andere ernstere
Rolle nicht verschmäht. In Paul Thomas Andersons Inherent
Vice spielt er Coy Harlingen, den durchgeknallten Saxofonisten
einer Surf-Rockband.
„Inherent Vice“ ist eine Story, die sehr viel mit Los Angeles
zu tun hat. Wo in L.A. leben Sie?
In Malibu. (Lacht.)
Wie hat der Film Ihre Erfahrungen mit der Stadt geprägt?
Reflektiert er Ihre eigenen Erfahrungen mit Los Angeles?
Gibt es einen Ort, den Sie besonders mögen oder an den Sie
sich gerne erinnern? Und haben Sie so etwas wie LieblingsL.A.-Filme?
Nun, Chinatown ist großartig und schwer zu übertreffen. Und
Blade Runner, der steht für mich auch ganz oben. Wenn man in
Downtown L.A. ist und sich die Gebäude anschaut, dann sehen
manche von ihnen aus, als stammten sie aus Blade Runner.
Shampoo ist auch ein wichtiger Film. Und natürlich Inherent
Vice, dieser Film ist sooo Kalifornien.
Was macht Paul Thomas Anderson zu einem solch anerkannten Regisseur? Was ist das Besondere an ihm?
Zu allererst sind es die Filme, die er gemacht hat, die machen
ihn zu etwas Besonderem. Er hat diese Filme gemacht, die jeder
großartig findet. Und es gibt nicht viele Regisseure, die eine so
starke Vision haben wie er.
Hatten Sie das Gefühl, dass er eine andere Art hat an Dinge
heranzugehen als andere Leute, mit denen Sie schon gearbeitet haben?
Ja, es war sicher eine andere Art zu arbeiten als üblich. Was
mich überrascht hat, war, wie locker es da zuging. Ich wüsste gerne, ob er einfach so ist oder ob es nur dieses eine Mal
war, dass er beschloss, das so hingerotzt zu machen, quasi wie
bekifft, also ob er das so unorganisiert und zwanglos haben
wollte, oder ob er das immer so macht. Ich würde meinen, es
war nur dieses Mal so. Es war alles so locker, und ich kann mir
nicht vorstellen, dass er bei Boogie Nights oder Hard Eight so
gearbeitet hat. Ich würde das wirklich gerne wissen.
Wenn man die Chance bekommt, mit Anderson zu arbeiten,
wie wichtig sind da noch das Drehbuch und die Figur?
Wahrscheinlich spielt das dann nicht so eine große Rolle. Man
ist schon ziemlich geschmeichelt, dass er daran denkt, einen da
mitzunehmen und dass man einen Film machen wird, der gut
wird und den die Leute mögen. Es scheint so, als hätte man,
wenn man einen Film mit so jemandem macht, eine reelle Chance, dass es ein wirklich guter Film wird. Und darum, glaube ich,
sind Schauspieler so scharf darauf mit ihm zu arbeiten.
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Er hat Sie also angesprochen, ob Sie die Rolle übernehmen
wollen?
Ja. Ich bekam eine nette Nachricht von ihm, dass er an der Story
arbeite, und dann, glaube ich, schickte er gleich das Drehbuch.
Und, ja, noch eine nette Nachricht.
Wie wählen Sie Ihre Rollen aus? Sie arbeiten ja öfter mit
Regisseuren, die eher intellektuell und „arty“ sind, ganz besonders mit Wes Anderson.
Ja. Aber egal, mit wem arbeitet, ist es letztlich doch so, dass
man, wenn man eine Szene dreht, versucht, es echt oder interessant oder lustig oder lebendig werden zu lassen. Ich glaube,
was mit Schauspielern oft passiert, ist, dass sie den Regisseur
als eine Art Patriarch ansehen, oder auch wenn es eine Regisseurin ist, dann kann man gar nicht anders, als zu schauen, was
sie denken, wenn sie einen Take für beendet erklären. Man ist
da ein bisschen wie ein Kind, das fragt: „Wie war das? Habe ich
es gut gemacht?“
Fühlen Sie sich glücklich, dass Sie beim Publikum so gut
ankommen, sowohl in Komödien als auch in intellktuellen
Filmen?
Ja, das hat sich so ergeben. Man kann ja die Reaktionen der Leute nicht kontrollieren. Ich schätze, da ist auch viel Glück dabei.
Haben Sie jemals die Bücher von Thomas Pynchon gelesen?
Nein, kein einziges.
Wie haben Sie reagiert, als Sie das Drehbuch bekamen?
Es war sehr dicht, und das sind wohl auch Pynchons Bücher. Er
ist sehr bekannt und populär, aber ich glaube, dass nicht allzu viele Leute seine Bücher gelesen haben. Paul schon, und er
liebt sie. Darum sitzen wir jetzt hier. Ich hatte jedenfalls nicht
das Gefühl, dass das eine Komödie ist, und ich habe das Drehbuch nicht so gelesen. Als ich den fertigen Film sah, war ich ich
sehr bewegt, von den Bildern und von allem möglichen. Manche
Szenen zwischen Joaquin Phoenix und Katherine Waterston mit
dem Neil-Young-Song dazu sind unglaublich schön. Ich dachte:
Das ist genau das, was ich liebe.
Sowohl der Regisseur als auch der Autor und die Geschichte
haben einen sehr speziellen Stil. Schränkt Sie das als Schauspieler ein oder ist es befreiend?
Absolut nichts auf dem Set vermittelte einem das Gefühl, eingeschränkt zu sein. Im Gegenteil: Ich wusste, ich würde eine Million Chancen bekommen, etwas zu machen und so viele Takes
wie nötig, und man konnte immer etwas anderes ausprobieren,
wenn man eine entsprechende Idee hatte.
Sie arbeiten jetzt schon lang als Schauspieler. Gibt es auch
Momente, wo Sie Langeweile verspüren?
Ich glaube, ich habe bei fast allen Filmen, an denen ich mitgearbeitet habe, großes Glück gehabt. Normalerweise habe ich
dabei eine ziemlich gute Zeit und ein gutes Gefühl. Ich kann
mich nur an ganz wenige Gelegenheiten erinnern, bei denen
ich dachte: „Das macht mir jetzt aber gar keinen Spaß“, weil ich
das Gefühl hatte, das würde nicht richtig laufen. Aber selbst
dann kann es passieren, dass man denkt: „Es läuft zwar nicht so
richtig, aber vielleicht wird doch etwas ziemlich Gutes daraus.“
Es wäre auch zu deprimierend, jeden Tag zur Arbeit zu gehen
und zu denken, dass man etwas Lausiges macht. Also denkt
man schon mal, es könne immer noch etwas Gutes daraus entstehen. Und es gibt nur ganz wenige Dinge, bei denen ich mir
nicht einmal das einreden konnte.
Dass Sie nun bald auf die Fünfzig zugehen, macht Ihnen das
zu schaffen? Für manche Schauspieler ist das ja ein großes
Thema.
Für mich nicht. Das kümmert mich gar nicht. Das Alter ist nur
eine Zahl.
Was wollten Sie werden, als Sie ein Kind waren?
Nun, ich dachte jedenfalls nicht daran, Filme machen zu können. Ich sah Filme und liebte Filme, aber der Wunsch, Schauspieler zu werden und in Hollywood zu arbeiten, hätte lächerlich geklungen.Die Leute hätten mich ausgelacht. Es hätte so
lächerlich geklungen, dass ich mich wahrscheinlich dafür entschieden hätte, das zu tun, was mein Vater tat, in die Werbung
zu gehen oder ähnliches, oder vielleicht etwas zu schreiben.
Ich wuchs in Dallas auf, also erschien es fast unmöglich, an so
etwas wie Schauspielerei zu denken.
Sie bringen sehr viele Leute zum Lachen. Was machen Sie
denn gern in Ihrer Freizeit?
Danke. Ich bin gern am Meer und surfe, und ich liebe Wettbewerbe, Tischtennis oder Tennis, oder „Hey, lass uns mal sehen,
wer einen Stein werfen und diesen Baum dort treffen kann.“
Vielleicht kommt das daher, dass ich mit zwei Brüdern aufgewachsen bin. Ich liebe Backgammon und Domino, eigentlich
alle Arten von Spielen. Und ich freue mich schon darauf, wenn
meine Söhne, der eine ist jetzt vier, der andere knapp ein Jahr
alt, so weit sind, dass man mit ihnen so etwas spielen kann.
Diese Fragen sind für mich immer so wie die Centerfold-Fragen
im „Playboy“: „Was turnt sie an?“ Ich mag das Meer, Sonnenuntergänge und Dinner bei Kerzenschein.
Sind Sie manchmal noch nervös, wenn Sie anfangen, an einem Film zu arbeiten?
Ja, bin ich! Jedes Mal, wenn man anfängt, gibt es diesen ersten
Tag, an dem man ein bisschen nervös ist. Man sollte meinen,
dass das verschwindet, wenn man so viele Filme gemacht hat.
Am dritten Tag ist es ja auch weg, aber am ersten fühle ich mich
schon immer ein bisschen gehemmt.
© 2014 Brit Andres / The Interview People
INHERENT VICE – NATÜRLICHE MÄNGEL / INHERENT VICE
Literaturverfilmung/Komödie, USA 2014 ~ Regie Paul Thomas Anderson
Drehbuch Paul Thomas Anderson nach dem Roman (2009) von Thomas
Pynchon Kamera Robert Elswit Schnitt Leslie Jones Musik Jonny Greenwood
Production Design David Crank Kostüm Mark Bridges
Mit Joaquin Phoenix, Josh Brolin, Owen Wilson, Katherine Waterston,
Reese Witherspoon, Benicio del Toro, Joanna Newsom, Martin Short
Verleih Warner Bros., 148 Minuten
inherentvicemovie.com
Kinostart 13. Februar
50 ray
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M a g i s c h e
M o m e n t e
Suspicion
Text ~ Klaus Kreimeier
Ein breiter Lichtstreifen springt ins Dunkel, auf seiner grell weißen Fläche zeichnet sich ein Schatten ab. Steil von oben zeigt
die Kamera den Menschen, dem er gehört. Er geht durch eine Halle, balanciert dabei ein Glas auf einem Tablett. Englisches
Landhaus, englische Schauerromantik plus deutscher Expressionismus – Fensterstreben und Balustraden werfen Gitternetze
auf die Wände. Eine Treppe führt in elegantem Bogen auf den Kamerastandpunkt zu. Stufe um Stufe nähert sich der Mann
mit dem Tablett, sein Schatten wandert mit. Sein Gesicht bleibt unkenntlich. Das Glas enthält, bis an den Rand, eine sehr
weiße, seltsam leuchtende Flüssigkeit. Hitchcock, das wird er später Truffaut verraten, hat eine Lampe ins Glas stecken
lassen. „Weil es wirklich strahlend erscheinen musste. Cary Grant geht die Treppe hinauf, und man muss wirklich nur auf
das Glas schauen.“
Das funktioniert. Der Mann, den Cary Grant spielt, erreicht die oberste Stufe. Knisternder Thrill, die Düsternis des Film
noir, eine Kette zwingender Verdachtsmomente und die siedende Erwartung, nein, die Gewissheit: Hier ist ein Mörder unterwegs. Alles an ihm und um ihn herum bleibt dunkel, ganz weiß aber und am Ende ganz groß im Bild: das Glas. Schnitt.
In ihrem Schlafzimmer liegt Joan Fontaine im Bett, starrt auf die Tür. Marternde Frage: Naht irgendeine Rettung, kann sie
dem Anschlag auf ihr Leben noch entgehen? Die Tür öffnet sich, der Raum ist hell, der Mann, den Cary Grant spielt, tritt
ein. Sein Anzug ist so schwarz wie seine Gedanken; die Milch im Glas so weiß wie Joan Fontaines Negligé.
Ginge es nach der Romanvorlage, „Before the Fact“ von Francis Iles, wüsste sie, dass die Milch vergiftet und ihr Ehemann
ein Mörder ist. Aus Verzweiflung darüber, aber auch aus lauter Liebe zu ihm würde sie sich umbringen lassen. In Alfred
Hitchcocks Suspicion (1941) nimmt die Sache einen anderen Verlauf. Cary Grant nähert sich sehr langsam und stocksteif
seiner Frau, stellt das Glas behutsam auf den Nachttisch, setzt sich auf den Bettrand, gibt seiner Frau einen Kuss und sagt:
„Gute Nacht, mein Schatz.“ Er steht auf und geht stocksteif aus dem Raum. Joan Fontaine blickt ihm wie versteinert nach.
Schnitt: Es ist heller Morgen, die Kamera zeigt groß das unberührte Glas.
Jetzt muss nur noch eine Szene her, die plausibel erklärt, dass Cary Grant in diesem Film zwar ein von seiner Wettleidenschaft geplagter, reichlich verlogener, im übrigen jedoch liebenswerter Dandy namens Johnny ist – ein netter Hochstapler,
der ob seiner bedenklichen finanziellen Lage eher sich selbst vergiften würde als seine Frau. Hitchcock hat diese Lösung,
wie er Truffaut gesteht, nie gemocht. Nach seinen Vorstellungen sollte Johnny wirklich seine Frau umbringen. Verhindert
hat das die Produktionsfirma RKO: Das Starsystem Hollywoods, vermutlich auch der Hays Code mit seinen rigiden Zensurbestimmungen, hätten es nicht zugelassen, aus Grant einen Mörder zu machen.
Damit hatte sich Hitch ein schier unlöbares Problem eingehandelt. Sein Film sieht so aus, als hätte er ihn chronologisch
gedreht, dabei Zug um Zug ein immer dichteres Netz eindeutiger Indizien und Hinweise um seine Hauptfigur zusammengeschnürt, den Handlungsbogen zuletzt auf eine nervenstrapazierende Klimax getrieben – und kurz vor dem letzten Dreh, nein,
vor der letzten Klappe hätte ihm RKO mitgeteilt, Cary Grant dürfe alles, nur unter gar keinen Umständen ein Mörder sein.
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r a y - A b o
Wer ray jetzt zum Vollpreis abonniert, erhält zusätzlich zum Abo die brandneue
DVD von Nicolas Roegs in Wien angesiedeltem Erotik-Thriller Blackout – Anatomie einer Leidenschaft mit Harvey Keitel als Inspektor Netusil (!), Theresa Russell
und Art Garfunkel. Zur Verfügung gestellt von Koch Media Home Entertainment.
Wien, Ende der Siebziger: Die junge Amerikanerin Milena Flaherty wird nach einer
Überdosis in die Notaufnahme gebracht, ihr Zustand scheint hoffnungslos. An
ihrer Seite der Psychoanalytiker Dr. Alex Linden, zu dem sie offensichtlich eine
obsessive Beziehung unterhielt. In Rückblenden erfahren wir, dass er offenbar
nicht der einzige Mann in ihrem Leben war. Zwischen Glück und Verzweiflung tun
sich seelische Abgründe auf, die ihren Spiegel in den Fin-de-siècle-Dekors von
Wien finden. „Ein kranker Film von kranken Menschen für kranke Menschen“ – so
lautete noch 1980 das Urteil der produzierenden Rank Organisation über Nicolas Roegs längst zum Kultfilm avancierten Neo-Noir-Albtraum. Tatsächlich wurde
Blackout mit seiner nichtlinearen Szenenmontage erst spät zum Triumph für Roeg.
Heute gilt diese „Amour fou“ zu Recht als Meilenstein des Autorenkinos.
Als Bonusmaterial gibt es den Trailer, geschnittene Szenen (ca. 17 Minuten) und
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f i l m s t a r t s
Benedict Cumberbatch hat sich als eine der herausragenden schauspielerischen Begabungen seiner Generation
etabliert. Sein darstellerisches Spektrum umfasst so unterschiedliche Charaktere wie den legendären Detektiv
Sherlock Holmes oder den umstrittenen WikiLeaks-Aktivisten Julian Assange. In „The Imitation Game“, der
Verfilmung der tragischen Lebensgeschichte des genialen Mathematikers Alan Turing, hat Cumberbatch die
Hauptrolle übernommen, was ihm nun seine erste Oscar-Nominierung eingetragen hat.
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f i l m s t a r t s
20,000 DAYS ON EARTH
Das Gesamtkunstwerk zum dunklen Barden
D
üster und grausam geht es zu in der musikalischliterarischen Welt des Nick Cave: Gott kennt kein
Erbarmen und die Liebe führt eher zu Tod und
Verderben als dass sie Vergnügen brächte. Seit über
drei Jahrzehnten ist der gebürtige Australier, Jahrgang 1957,
nun schon ein fixer Bestandteil der Popkultur. Nach Anfängen mit Bands wie The Birthday Party wurde Cave spätestens
als Frontmann der Formation The Bad Seeds (Debütalbum
„From Here to Eternity“, 1984) zur Kultfigur. Doch auch als
Romancier („And the Ass Saw the Angel“) und Drehbuchautor (The Proposition, 2005) konnte der Mann mit dem pechschwarz gefärbten Haar reüssieren. Nimmt man noch Extreme wie jahrzehntelange Heroinsucht oder ein Duett mit Kylie
Minogue („Where the Wild Roses Grow“) auf die Rechnung,
hat man ein Leben, das geradezu nach einem filmischen Porträt schreit. Umgesetzt hat dies nun das Künstlerduo Iain Forsyth und Jane Pollard (unter tatkräftiger Mithilfe von Cave,
der selbst hat am Drehbuch mitgearbeitet hat). Das Ergebnis
ist ein genreüberschreitendes Werk, das sich gängigen (vor allem dokumentarischen) Kategorien in der Sparte Musikerfilm
konsequent und geglückt verweigert. Statt das Leben Caves zu
banalisieren, setzen die Regisseure beim enormen Selbstinszenierungstalent des Sängers an und übersetzen dies in eine
stark stilisierte Filmsprache – Kameraarbeit und Sounddesign
sind exzellent. Der Beginn gleicht einem Urknall in Bildern:
Auf Fernsehschirmen sieht man in rascher Folge Ausschnitte
aus Nachrichtensendungen und klassischen Fernsehshows,
dazu läuft ein Countdown. Ein Wecker klingelt, Cave schlägt
die Augen auf und macht sich ans Tagwerk. Es ist sein 20.000.
Tag auf Erden. Man sieht ihn beim Schreiben auf einer mechanischen Schreibmaschine, beim Psychiater (mit dem er
unter anderem über die Bedeutung Gottes für sein Schaffen
spricht), beim Proben mit The Bad Seeds oder beim Plaudern
mit seinem Bandkollegen Warren Ellis (der einen Aal kocht).
Dazwischen fährt er mit einem Jaguar durch Brighton. Was
davon nun stimmt oder nicht, ist gar nicht so wichtig. Wichtig
ist vielmehr, dass es funktioniert. Zu den Hauptthemen des
Films zählen das Vergehen der Zeit und die Erinnerung an
prägende Momente und so tauchen am Nebensitz oder auf der
Rückbank des Jaguars immer wieder Weggefährten auf: Schauspieler Ray Winstone (The Proposition) plaudert mit Cave
darüber, dass man sich manchmal neu erfinden muss und
Blixa Bargeld erzählt, warum er die Bad Seeds verließ. Eine
andere Szene spielt gar in einem Archiv, das Dokumente aus
Caves Leben beherbergt. Letztlich ergeht sich das Werk aber
nicht in Nostalgie sondern feiert das Leben im Hier und Jetzt.
OLIVER STANGL
Künstlerporträt, Großbritannnien 2014
Regie Iain Forsyth, Jane Pollard Drehbuch Iain Forsyth, Jane Pollard,
Nick Cave Kamera Erik Wilson Schnitt Jonathan Amos
Musik Nick Cave & Warren Ellis Production Design Simon Rogers
Verleih Stadtkino Wien, 96 Minuten
www.20000daysonearth.com
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f i l m s t a r t s
CASANOVA VARIATIONS
Being Giacomo Casanova
S
chon zu Lebzeiten eine Legende, bietet die Biografie
des legendären italienischen Verführers und Schriftstellers Giacomo Casanova (1725–1798) bis heute
Stoff für Opern, Romane und Filme. Dabei steht allerdings nicht immer der Liebhaber in der Blüte des Lebens im
Mittelpunkt: In Schnitzlers Novelle „Casanovas Heimkehr“ etwa ist der alte Abenteurer vom Leben schon ordentlich desillusioniert. Und auch in Michael Sturmingers 2011 uraufgeführter
Kammeroper „The Giacomo Variations“, die Passagen aus Mozart-Opern mit Textpassagen kombiniert, ist Casanova müde
geworden. John Malkovich spielte die Rolle unter viel Applaus
in Häusern von Wien bis New York, wobei er sich die Bühne
mit klassischen Sängern teilte. Die sagenumwobene Vita Casanovas mit den Mozart/da Ponte-Opern kurzzuschließen, macht
Sinn, werden dort doch mit Sinnlichkeit und Witz ebenfalls
Triebes- und Liebeswirren thematisiert, zudem waren da Ponte
und Casanova befreundet. Für seinen Film Casanova Variations
schwebte Sturminger mehr vor als bloß die Aufzeichnung eines
musikalischen Theaterabends und so spielt sich das Geschehen auf mehreren Ebenen ab: Die „historische“ thematisiert
einen Besuch Elisas (Veronika Ferres) bei Casanova, der als
Bibliothekar auf Schloss Duchcov arbeitet und dort seine Memoiren zu Papier bringt. Elisa interessiert sich sehr für das Manuskript, doch für Casanova stellt sich die Frage, ob es sich für
einen Gentleman geziemt, eine Biografie voller Indiskretionen
zu veröffentlichen. Dann gibt es die Ebene einer szenischen
Aufführung des Stücks in Lissabon, bei der die Illusion des
Bühnengeschehens des Öfteren in die Reihen des Publikums
eindringt. Und schließlich wird – Being John Malkovich lässt
grüßen – auch noch ein Blick hinter die Kulissen geworfen, wo
Malkovich wechselweise von Groupies belästigt wird oder eine
Filmproduzentin ihn wissen lässt, dass das Stück nicht zur Verfilmung tauge. Unter den vielen Themen, die der Film anschneidet – amüsant etwa die Seitenhiebe auf ein eventhungriges Publikum, das weniger an der Kunst des Gebotenen interessiert zu
sein scheint, als vielmehr daran, einen Hollywoodstar mittels
Smartphone zu fotografieren – sind es vor allem die Fragen
nach Selbst- und Fremdbild, die im Gedächtnis bleiben. Dynamisch baut sich das filmische Experiment zunächst auf, trägt
jedoch möglicherweise nicht über seine volle Laufzeit (so stellt
sich die Frage nach der Sinnhaftigkeit der „historischen“ Ebene
jenseits von Ausstattungskino, da sie ebenso distanziert präsentiert wird wie die Theaterebene). Jederzeit ein Trumpf sind
die gute Kameraarbeit und natürlich die unsterbliche Musik.
OLIVER STANGL
Filmexperiment, Österreich/Frankreich/Deutschland 2014
Regie, Drehbuch Michael Sturminger Kamera André Szankowski
Schnitt Evi Romen Ausstattung, Kostüm Andreas Donhauser,
Renate Martin
Mit John Malkovich, Veronika Ferres, Florian Boesch, Jonas Kaufmann,
Fanny Ardant, Mia Persson, Lola Naymark, Victoria Guerra
Verleih Filmladen, 118 Minuten
www.casanova.derfilm.at
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f i l m s t a r t s
CHINA REVERSE
Interessanter Blick auf die Lebenssituation von chinesischen Auswanderern in Österreich
I
n den achtziger Jahren verließen viele Chinesen auf
Grund der schlechten wirtschaftlichen Lage ihre Heimat, um im Westen einen höheren Lebensstandard zu
erreichen. In einer Provinzstadt wie Qingtian gingen von
500.000 Einwohnern im Lauf der Jahre über 200.000 in alle
europäischen Länder, beinahe die Hälfte der chinesischen Restaurants in Österreich wird beispielsweise von Menschen aus
dieser Region betrieben. Sehr viele Österreicher haben wohl
in den letzten 30 Jahren mit den kulinarischen „Acht Schätzen“ Bekanntschaft gemacht hat, vielleicht hat sich manch
einer gefragt, wie die Lebensumstände dieser Minderheit hierzulande sind.
In ihrem Regiedebüt begleitet die Kamerafrau Judith Benedikt (Hana dul sed) drei dieser Menschen, die sich in Wien
dauerhaft mit ihren Familien niedergelassen haben. In Interviews, aber auch in sehr stimmungsvoll dokumentierten Alltagsszenen erschließt sich eine relativ hermetische Welt. Die
meisten Einwanderer hatten vor ihrem großen Schritt von Österreich bzw. Europa überhaupt keine Vorstellung, sie kamen
ohne Besitztümer, ohne ein Wort Deutsch zu können, ohne
irgendjemanden außer vielleicht einen entfernten Cousin zu
kennen. Die drei Protagonisten – eine Supermarktbesitzerin,
der Gründer der Fastfood-Kette „Mr. Lee“ und die Betreiberin des Kinos in Mistelbach – stehen exemplarisch für viele
Lebenswege in der chinesischen Community. Geschickt verdichtet die Regisseurin in der ersten Hälfte des Films das Bild
von aufstiegswilligen, opferbereiten Menschen, die wegen der
ständigen Arbeitsüberlastung vor allem wenig Zeit haben –
weder für ihre Kinder noch für Deutschkurse. Ganz beiläufig,
fast mit einem Lächeln wird die doch eher traurige Tatsache
berichtet, dass man kaum Erinnerungen an die ersten zehn
Jahre hier außerhalb der Arbeit hat.
Im zweiten Teil gewinnt der Film mit der Fokussierung auf
die in China gebliebenen Freunde und Verwandten, von denen etliche durch den Wirtschaftsboom mehr Geld angehäuft
haben als die Emigranten, eine neue Dimension. Man kommt
den Protagonisten auf ihrer Reise in die alte Heimat menschlich viel näher, sei es wenn sie durch die Eröffnung eines
Viennese Coffehouse von der Hipness westlicher Klischees
bei den Neureichen profitieren wollen oder wenn sie zugeben,
keine gute Mutter zu sein, weil ihre Lebensphilosophie die
ständige Bewegung ist.
Viele humorvolle Culture-Clash-Details, der kluge Einsatz
von unterschiedlichen Musikstilen und die gute Kameraarbeit
tragen dazu bei, dass man als Zuschauer einen kurzweiligen
Einblick in die sehr stark an der Vermehrung des Wohlstands
orientierte chinesische Kultur zu Hause und in der Ferne gewinnt. GÜNTER PSCHEIDER
Dokumentarfilm, Österreich 2014
Regie, Kamera Judith Benedikt Drehbuch Judith Benedikt,
Gregor Stadlober Schnitt Andrea Wagner, Niki Mossböck
Verleih Filmdelights, 90 Minuten
www.filmdelights.com
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ist
das gerausch,
das denkt.
100 JAHRE
Seit 100 Jahren ist das Wiener Admiral Kino ein beliebtes
Nahversorgerkino im 7. Bezirk und seit 2008 ein Programmkino
mit besonderem Angebot.
Täglich gute Filme!
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Wien 7., Burggasse 119
Öffis: U6, 48A, 5er
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Fotos: Eine Nacht in London (GB/D 1928)
Am 2. August 1929 besuchte Arthur Schnitzler das Admiral Kino
um sich EINE NACHT IN LONDON von Lupu Pick
mit Lilian Harvey in der Hauptrolle anzusehen.
Tagebucheintrag 2/8/29. Schnitzler wohnte in der Burggasse 100.
f i l m s t a r t s
DIE FRAU IN SCHWARZ 2: ENGEL DES TODES /
THE WOMAN IN BLACK 2: ANGEL OF DEATH
Mäßig gespenstisches Sequel, das an Genreklischees und einer faden Handlung leidet
D
as Problem mit Geistern ist und bleibt ihre Beharrlichkeit. Immer, wenn man meint, man sei sie ein
für alle Mal los, tauchen sie irgendwann, irgendwo
wieder auf. Das ist auch bei der Frau in Schwarz
nicht anders, mit der die unlängst regenerierte britische Produktionsfirma Hammer Films vor gut zwei Jahren einen Neustart
wagte. Am Ende der Kinoadaption von Susan Hills Roman,
damals verfilmt unter der Regie von James Watkins, gab es eigentlich keine Zweifel mehr: Der Fluch war gebrochen, alles
Böse vernichtet und der Spuk damit Gottseidank vorbei. Hätte
es da nicht den verdächtigen letzten Wink mit dem Zaunpfahl
gegeben, der ein Sequel, je nach Bedarf und Erfolgsaussichten
des Erstlings, rechtfertigen würde.
Nun ist sie also wieder da, die mysteriöse Gestalt einer in
Schwarz gekleideten Frau, die in Tom Harpers Fortsetzung mit
dem Untertitel Angel of Death nicht mehr im viktorianischen
England, sondern diesmal zur Zeit des Zweiten Weltkriegs in
einem verwaisten und mächtig heruntergekommenen Gutshaus
in der britischen Provinz ihr Unwesen treibt. Was die Sache
noch unheimlicher macht: Das einst recht noble Anwesen, in
dem eine Gruppe verschreckter Schulkinder unter Aufsicht ihrer zwei Lehrerinnen vor den Bomben der Großstadt in Sicherheit gebracht werden soll, befindet sich inmitten einer schwer
zugänglichen, in dicken Nebel gehüllten Moorlandschaft. Eve
(Phoebe Fox), die jüngere und warmherzigere der beiden aufsichtspflichtigen Damen (Helen McCrory gibt die unterkühlte
Direktorin), ahnt schnell, dass noch jemand anderes den Ort
für sich beansprucht hat, und nachdem das erste Kind sterben
muss und die verbleibenden sich immer merkwürdiger verhalten, nimmt der Horror seinen gewohnten Lauf.
Es ist immer wieder erschreckend, mit welcher Ignoranz
gegenüber einem mittlerweile doch recht Horror-geeichten
Publikum Filme wie diese auf die Leinwand geworfen werden,
die ihren Mangel an Originalität ungeniert mit müden Genreklischees, billigen Special Effects und klassischen Schreckelementen zu kompensieren versuchen.
Geschrieben wurde das hanebüchene Drehbuch nunmehr
lediglich „unter Anweisungen“ von Susan Hill. Und mit dem
Starpotenzial eines Daniel Radcliffe, der dem Vorgänger zumindest ein gewisses Flair von Eigentümlichkeit zu verleihen
wusste, kann hier der auch noch so adrette Jeremy Irvine als
zur Rettung eilender Jüngling bei weitem nicht mithalten.
Bleibt zu hoffen, dass die unvermeidliche Vorahnung am
Schluss diesmal nicht wirklich ernst gemeint ist und Hammer
die bösen Geister nun vorerst ruhen lässt. PAMELA JAHN
Horror, Großbritannien/Kanada 2014
Regie Tom Harper Drehbuch Jon Croker Kamera George Steel
Schnitt Mark Eckersley Musik Marco Beltrami, Brandon Roberts
Production Design Jacqueline Abrahams Kostüm Annie Symons
Mit Helen McCrory, Jeremy Irvine, Leanne Best, Ned Dennehy,
Adrian Rawlins, Oaklee Pendergast, Leilah de Meza
Verleih Constantin Film, 98 Minuten
www.frauinschwarz2-film.de
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GRUBER GEHT
Weitgehend gelungene Bestseller-Verfilmung über einen oberflächlichen Zyniker auf dem Weg der Besserung
W
enn Gewalt oft eine Folge der Angst vor dem
Versagen (der Männlichkeit) ist, so resultiert die
Angst vor Nähe oft in einem nihilistischen Zynismus, der die Leere einer Existenz ohne Bindungen
notdürftig überdeckt. Johannes, genannt John, Gruber ist der
typische Fall eines solchen mit viel destruktivem Humor gesegneten Zeitgenossen, der erfolgreich zwischen Werbeagentur,
Fitnessstudio, Drogenkonsum und One-Night-Stands ein hedonistisches Traumleben führt. Familientermine auf dem Land
sind bestenfalls lästige Pflichtübungen, Schwester und Mutter
behandelt er wie nervende Angestellte, die Dialoge mit seinen
„Freunden“, die alle auf dem gleichen Trip sind, wirken wie
Boxkämpfe, bei denen jeder unbedingt gewinnen will. Grubers
rücksichtslose Siegermentalität erhält einen starken Dämpfer,
als er mit der Diagnose Krebs konfrontiert wird und sich – in
einem ebenso klugen wie unwahrscheinlichen Kunstgriff –
gleichzeitig von einer Berliner DJane angezogen fühlt.
Die Geschichte der Läuterung eines oberflächlichen Grantscherms ist Hollywood-Standardrepertoire. Mit Jack Nicholson kann Hauptdarsteller Manuel Rubey nicht ganz mithalten,
obwohl er in seiner vielleicht ersten richtigen Charakterrolle
eine durchaus reife Leistung zeigt. Bernadette Heerwagen ist
mit ihrem rauen Charme perfekt als Gegenpol zu Grubers
üblichen Model-Freundinnen gecastet, ihre gegenseitige Anziehung ist zumindest plausibel, wenn auch die für den weiteren
Handlungsverlauf extrem wichtigen Kennenlernszenen nicht
hundertprozentig funktionieren.
Marie Kreutzer (Die Vaterlosen) setzt ganz auf inszenatorischen
Realismus und vermeidet die meisten Klischees und Sentimentalitäten, die beim Thema Sterblichkeit in der Lebensmitte
schnell zur Hand sind. Durch die trotz des Themas erstaunlich
geringe Fallhöhe identifiziert man sich aber auch nicht übermäßig mit dem (Anti-) Helden, er ist für den Zuschauer mehr
ein entfernter Bekannter als ein Freund, um dessen Leben man
wirklich zittert. Der Score ist keinesfalls schlecht, schafft es
aber auch nicht, das Geschehen auf eine neue emotionale Ebene zu heben. Gar nicht geht, wenn die Lyrics das Geschehen
auf der Leinwand beschreiben – so erklingt „Tumble Down“
von Naked Lunch, als Gruber in seiner Wohnung zusammenbricht. Doris Knecht ist eine hervorragende Beobachterin und
Beschreiberin menschlicher Schwächen. Marie Kreutzer hat
aus dem Roman einen weitgehend gelungenen Film über die
absolute Notwendigkeit gemacht, sich mit der Welt, den Menschen und sich selber verbunden zu fühlen. GÜNTER PSCHEIDER
Drama, Österreich 2015
Regie Marie Kreutzer Drehbuch Marie Kreutzer nach dem Roman
von Doris Knecht Kamera Leena Koppe Schnitt Ulrike Kofler Musik
Florian Blauensteiner, Florian Horwath Ausstatung Martin Reiter
Kostüm Monika Buttinger
Mit Manuel Rubey, Bernadette Heerwagen, Doris Schretzmayer,
Harald Windisch, Patricia Hirschbichler, Thomas Stipsits
Verleih Thimfilm, 104 Minuten
www.grubergeht.at
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THE IMITATION GAME
Codes geknackt, die Etikette gebrochen
A
re you paying attention?“ will Alan Turing wissen.
Seine eindringliche Stimme führt uns ein in seine
Geschichte, die lange Zeit ein britisches Staatsgeheimnis war und davon erzählt, wie er den Zweiten
Weltkrieg um geschätzte zwei Jahre verkürzte, um später von
einer Nachkriegsgesellschaft vor die Wahl zwischen Gefängnis oder chemische Kastration gestellt zu werden. Verkörpert
wird der britische Mathematiker von Benedict Cumberbatch,
dem to-go-to-Schauspieler wenn es um arrogante Genies geht,
die – irgendwo auf dem autistischen Spektrum – jedwede soziale Kompetenzen vermissen lassen.
Wir begegnen Turing in drei Phasen seines Lebens: bei einem
Verhör wegen „grober Unzucht“ im Jahr 1951; während
des Kriegs in Bletchley Park und in einem Internat in den
1930ern. Mit nur 27 Jahren bietet er Commander Denniston
(Charles Dance) seine Dienste an, um mit einem Team von
Experten und der Kryptoanalytikerin Joan Clarke (eine willkommene Angelegenheit: Keira Knightly), die Chiffriermaschine der Nazis, die Enigma, zu entschlüsseln und zwar mit
einem Rechner, der einem Computer schon sehr nahe kommt.
Turing war aber auch homosexuell in einer Zeit, in der das
strafbar war. Standesgemäß findet das im Off statt, was frustrierend ist, weil es ohnehin schon ein repressiver Teil seiner
Identität ist und er sehr wohl Affären hatte. Der norwegische
Regisseur Morten Tyldum (Headhunters) arrangiert seinen
Spionagethriller dramatisch, aber sehr gesittet auf die „feine
englische Art“.
Cumberbatch dabei zuzusehen, wie er den Wissenschaftler
mit all seinen Ticks, dem Stottern und den Zuckungen mimt,
ist enorm imposant, aber man vergisst an fast keiner Stelle,
dass man einem Schauspieler zusieht, dessen Rollen als Rätselknacker allmählich ineinander verschwimmen. Was ihn
dennoch so gewaltig als Sherlock Holmes, Julian Assange
und Alan Turing macht, ist seine Fähigkeit, abweisende Gefühllosigkeit mit tiefer Verletzbarkeit zu verkörpern. Er steht
nicht nur vor einem Rätsel, er selbst stellt eines dar. Der Titel des Films bezieht sich sowohl auf Turings Ambitionen,
festzustellen, ob Maschinen ähnlich wie Menschen denken
können, als auch seine Anstrengungen sich der Norm einer
phantasielosen Gesellschaft anzupassen. In Turings Worten:
„Just because something things differently from you, does that
mean its not thinking?“ Die Zweideutigkeit ist nicht an uns
verloren und die faszinierende, wenn auch zu ordentlich erzählte Geschichte ist es auch nicht. MARIETTA STEINHART
Biografie/Drama/Thriller, USA/Großbritannien 2014
Regie Morten Tyldum Drehbuch Graham Moore nach der Biografie
„Alan Turing: The Enigma“ von Andrew Hodges Kamera Óscar Faura
Schnitt William Goldenberg Musik Alexandre Desplat
Production Design Maria Djurkovic Kostüm Sammy Sheldon
Mit Benedict Cumberbatch, Keira Knightley, Matthew Goode, Allen
Leech, Matthew Beard, Charles Dance, Mark Strong, Alex Lawther
Verleih Constantin Film, 114 Minuten
www.theimitationgamemovie.com
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f i l m s t a r t s
THE INTERVIEW
Wer hat Angst vor Kim Jong-un?
D
as Volk befreit sich, indem es das Bedrohliche auslacht. Seth Rogen und Evan Goldberg mögen vielleicht nicht Michail Bachtin gelesen haben, aber der
russische Theoretiker beschrieb genau das, was The
Interview gerne sein will: ein grotesker Befreiungsschlag.
In der ersten Szene singt ein nordkoreanisches Mädchen mit
lieblicher Stimme: „Die, America, die!“ und so weiter. Man
könnte es für ein nettes Lied halten, wenn da nicht die Untertitel wären, die uns über die Hasstirade aufklären. Unterdessen
führt Dave Skylark (James Franco) ein Interview mit Eminem
(großartiges Cameo), der gesteht, er hätte eine „schwule Brotkrümelspur“ in seinen Texten hinterlassen. Für Daves Produzenten und besten Freund Aaron (Seth Rogen) ist das der
Tiefpunkt einer gehaltlosen Karriere. Die beiden reisen also
nach Nordkorea für ein seriöses Interview mit Kim Jong-un,
doch die CIA wünscht, dass sie den „Obersten Führer“ vergiften, nichts ahnend, dass Dave mit Kim Margaritas nippen und
„Firework“ von Katy Perry in einem Stalin-Panzer grölen wird.
Rogen ist der Samweis zu Francos Frodo, der übersteuert und
ganz überragend die westliche Trashkultur reflektiert, doch die
Show stiehlt Randall Park als Kim Jong-un, ein „Man-Baby“
mit Minderwertigkeitskomplexen, das sich vor versammelter
Welt in die Hosen scheißt.
Sicher, die Witz sind infantil, anal-fixiert und rassistisch (und
repetitiv im Œuvre Rogens), aber mitunter smart. Viele Gags
kommen von unterhalb der Lenden, aber der Scherz geht auf
Kosten des dummen Amerikaners, der Koreanisch nicht von
Japanisch unterscheiden kann oder sich eine Drohne in den
Hintern schiebt. Vorgemacht haben das Filme von Charlie
Chaplin, Woody Allen oder Quentin Tarantino, die sich einreihen in die Tradition amerikanischer Satiren über faschistische
Staatsmänner. Team America: World Police karikierte Kim Jongil, und Saddam Hussein wird in Hot Shots: Part Deux in Stücke
zerschmettert.
Es grenzt an Absurdität, dass dieselben Kerle, die uns Superbad, Pineapple Express und This Is The End gaben, imstande
sind, einen globalen Cyberkrieg von der Stange zu brechen
und ungewollt zum Symbol für Freiheit zu avancieren. Das
Debakel hat sich in Cyberstaub aufgelöst, aber wenn eine
Bro-Comedy wie The Interview – vielmehr feuchter amerikanischer Traum als politisches Skandalon – eine so starke Reaktion hervorrufen kann und ein Hackerangriff Hollywood in die
Knie zu zwingen vermag, dann liegt darin etwas Erhabenes.
Oder aber es lacht die eine Hälfte der Welt über die andere,
und Narren sind wir alle. MARIETTA STEINHART
Komödie, USA 2014
Regie Seth Rogen, Evan Goldberg Drehbuch Dan Sterling Kamera
Brandon Trost Schnitt Zene Baker, Evan Henke Musik Henry Jackman
Production Design Jon Billington Kostüm Carla Hetland
Mit Seth Rogen, James Franco, Randall Park, Diana Bang, Lizzy
Caplan, Timothy Simons, Reese Alexander
Verleih Sony Pictures, 112 Minuten
www.theinterview.de
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INTO THE WOODS
„Once upon a time ... later“: subversives Märchen-Mash-Up
E
s war einmal...“ endet nicht immer mit „und sie lebten
glücklich bis ans Ende ihrer Tage“. Um den Fluch einer Hexe (Meryl Streep) aufzuheben, begibt sich ein
kinderloses Ehepaar (James Corden und Emily Blunt)
auf einen tragikomischen Kollisionskurs in den Wald, um vier
Elemente zu finden: „eine Kuh, weiß wie Milch, Haar so gelb
wie Mais, einen Umhang so rot wie Blut und einen Schuh so
rein wie Gold“. In dem Wald treffen sie auf ein Konglomerat
Grimm’scher und Perrault’scher Stars: einen pädophilen Wolf
(Johnny Depp) und sein kleptomanisches Rotkäppchen (Lilla
Crawford); ein manipulatives Aschenputtel (Anna Kendrick),
das auf der Flucht vor ihrem Freier (Chris Pine) bewusst einen
Schuh zurücklässt; Jack (Daniel Huttlestone), der seine Kuh
für magische Bohnen verkauft; und Rapunzel (MacKenzie
Mauzy), die gelangweilt in ihrem Turm hockt.
Der erste Akt des hierzulande eher unbekannten StephenSondheim-Musicals „Into the Woods“ aus dem Jahr 1987 folgt
dem „happily ever after“-Prinzip, aber die zweite, dunklere
Hälfte fragt, was danach kommt. Die Konventionen klassischer
Märchen zu verfremden, ist in einer Post-Shrek-Ära wahrlich
nichts Neues, vor über zwanzig Jahren war das indessen einmalig und aus heutiger Sicht merkwürdig politisch. Stephen Sondheims (Musik und Texte) und James Lepines (Buch und Drehbuch) Freud’scher Kommentar zu psychosozialen Krisen von
Märchenhelden und Disneys Heile-Welt-Philosophie bilden ein
reizvolles Zwiegespräch. Es liegt eine gewisse Ironie darin, dass
dasselbe Hollywoodstudio, das uns von klein auf unrealistische
Erwartungen vom Leben vermittelte, nun unter der Regie von
Rob Marshall unsere liebsten Gute-Nacht-Geschichten zertrümmert. Und es ist angenehm erfrischend. Der Märchenwald
wird zur Metapher für das Unbewusste und zum Schauplatz
von Enttäuschungen, sexuellen Abenteuern und Mord. Sondheims anspruchsvolle Kompositionen und Stakkato-Texte sind
herrlich verdichtet mit mehrdeutigen Bonmots und rastlosen
Reimen, doch das All-Star-Ensemble ist dem gewachsen.
Meryl Streep ist das Aushängeschild (ihre klobige Gesangsperformance in Mamma Mia! ist vergeben – nicht vergessen), aber
es ist Emily Blunt, die Into The Woods ein übergroßes, verästeltes Herz schenkt, und es ist Chris Pines liebestoller Prinz,
der dem Film seine charmanten Comic-Highlights beschert.
„Kinder brauchen Märchen“, dafür plädierte der Psychologe
Bruno Bettelheim. Erwachsene auch. Besonders solche mit
widerspenstigen Aschenputtels, tapferen Hausfrauen und hysterischen Hexen. MARIETTA STEINHART
Fantasy/Musical, USA 2014
Regie Rob Marshall Drehbuch James Lapine nach dem Musical von
Stephen Sondheim und James Lapine Kamera Dion Beebe Schnitt
Wyatt Smith Musik Stephen Sondheim Production Design Dennis
Gassner Kostüm Colleen Atwood
Mit Meryl Streep, Anna Kendrick, James Corden, Emily Blunt,
Chris Pine, Billy Magnussen, Johnny Depp, Lilla Crawford
Verleih Walt Disney Studios, 125 Minuten
www.into-the-woods.de
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f i l m s t a r t s
JOHN WICK
Kompetent inszenierter Rachefeldzug
J
ohn Wick (Keanu Reeves) hat vor kurzem seine Frau verloren, aber er bekommt einen Funken Hoffnung in Form
eines zauberhaften Beagle-Welpen – was seine Frau noch
vor ihrem Tod arrangiert hat. Dummerweise stört der
hitzköpfige Gangster Iosef (Alfie Allen) Johns Trauer, bricht
in sein Haus ein, stiehlt seinen schwarzen 69er Mustang und
tötet den Hund. Der einzige Fehler, den er macht, ist Wick am
Leben zu lassen, denn was der russische Mobster nicht weiß:
John ist ein pensionierter Auftragskiller und erfinderisch, wenn
es darum geht einen soliden Rachefeldzug gegen die Unterwelt
zu führen, die er einst der Liebe wegen verließ. John Wick ist
nicht der Bogeyman – „He’s who you send to kill the fucking
bogeyman.“ Anders formuliert: Er ist imstande, Charaktere wie
den von Liam Neeson in Taken und von Denzel Washington in
The Equalizer gespielten aus dem Verkehr zu ziehen.
John Wick hat einen ziemlich guten Sinn für Humor und macht
sich einen Jux aus der Mythologisierung seiner Figur. Die erstmaligen Regisseure Chad Stahelski und David Leitch (StuntKoordinatoren und Reeves’ einstige Doubles) sind gewandte
Choreografen, die ihren Beruf schätzen und ihr Handwerk verstehen. Anstelle eines rasanten Schnitts und wackeliger Bilder
nehmen sie sich Zeit für aufwändig choreografierte, kohärente
Kampfszenen mit Kulissen in schrillem Neon oder poliertem
Stahl, eine Clubszene ruft Michael Manns Collateral ins Gedächtnis. Die Kamera von Jonathan Sela filmt atmosphärische Szenen in blaugrauen, metallenen Couleurs, die dunkle
Schatten werfen. John Wick geht sehr selbstbewusst mit seiner
Simplizität um, und Drehbuchautor Derek Kolstad hat eine imposante hermetische Welt geschaffen. Darunter ein New Yorker High-End-Hotel (mit Ian McShane als Inhaber und Lance
Reddick als Manager) – eine für neutral erklärte Zone für Mafiosi – und einen Verhaltenskodex unter den charismatischen
Hitman-Kollegen (u.a. Willem Dafoe und Adrianne Palicki),
die „Dinner-Reservierungen“ in einer „Reinigungsfirma“ machen, um Leichen zu entsorgen.
Keanu Reeves wird nicht mehr als sein übliches Portfolio abverlangt, ein stoischer Gesichtsausdruck und eine filigrane Figur,
aber der Fünfzigjährige ist glaubhaft in den wenigen emotionalen Beats, die er spielt und fast auffallend schön anzusehen,
wenn er jemandem über einer Elektro-Tonspur das Gehirn
wegschießt oder die Wirbelsäule bricht. „People keep asking if
I am back“, brüllt er in einer Szene. „Yeah, I think I’m back“.
Es sieht ganz danach aus.
MARIETTA STEINHART
Action/Thriller, USA/Kanada/China 2014
Regie David Leitch, Chad Stahelski Drehbuch Derek Kolstad Kamera
Jonathan Sela Schnitt Elísabet Ronaldsdóttir Musik Taylor Bates, Joel
J. Richard Production Design Dan Leigh Kostüm Luca Mosca
Mit Keanu Reeves, Michael Nyqvist, Alfie Allen, Willem Dafoe,
Adrianne Palicki, Ian McShane, John Leguizamo, Lance Reddick,
Bridget Moynahan, Keith Jardine, Dean Winters
Verleih Constantin Film, 96 Minuten
www.johnwick.de
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THE LOFT
Beziehungsdrama über trügerische Freundschaften und einen mysteriösen Todesfall
D
er Kinohit Loft (2008) brach Kassenrekorde in
Belgien, und Regisseur Eric Van Looy erhielt Gelegenheit, selbst das US-Remake des spannenden
Psycho-Krimis zu inszenieren. Wesley Strick sorgte
für eine kongeniale englische Version des flämischen Originaldrehbuchs von Bart De Pauw, eine komplex strukturierte,
sehr überraschungsreiche „Whodunnit“-Geschichte mit falschen Fährten und vielen Rückblenden, die das Geschehen
in immer wieder neuem Licht erscheinen lassen und zu einer
immer tiefer gehenden Charakterisierung der Hauptfiguren
führen. Um durch Hotelrechnungen oder Zahlungen per
Kreditkarte keinen Verdacht bei ihren Ehefrauen zu erregen,
erwerben fünf gutsituierte Freunde mit typischer Yuppie-Mentalität gemeinsam ein großräumiges Hochhaus-Apartment für
Schäferstündchen mit Liebhaberinnen oder Prostituierten.
Als dort eine mit Handschellen ans blutbesudelte Bett gefesselte tote Frau gefunden wird, stellt sich die Frage, wer von
den fünf der Mörder ist, denn nur sie allein hatten je einen
Schlüssel zur Wohnung. Oder doch nicht?
Vor dem Eintreffen der Polizei kommt es am Tatort zum
heftigen Streit zwischen den Verdächtigen: Sie beschuldigen
einander gegenseitig, sie streiten ab, jeder könnte ein Motiv
für den Mord gehabt haben. Es stellt sich mehr und mehr
heraus, das es um wahre Freundschaft und Vertrauenswürdigkeit nicht gut bestellt ist bei den von ihrer Persönlichkeit her
ganz unterschiedlichen Männern, am Ende entpuppt sich die
Gruppe als ein „Quintet infernal“.
Während der Rückblenden werden auch die Ehegattinnen
und Sexpartnerinnen vorgestellt, die Darstellung des sozialen Umfelds wirft ein denkbar schlechtes Licht auf die USamerikanische Bourgeoisie: Dekadenz, Egoismus, Habgier,
Sexbesessenheit, Alkohol- und Drogensucht. Moralische
Haltlosigkeit und sittliche Verkommenheit allerorten. Korrupte Politiker und Karrieristen kungeln mit kapitalistischen
Magnaten um profitable Aufträge.
Im letzten Filmdrittel werden das Schnitttempo und die Dramatik zügig gesteigert, ständig gibt es neue, oft widersprüchliche Hinweise auf den Tathergang. Das raffinierte Szenario
verlangt vom Zuschauer Konzentration und Aufmerksamkeit,
bleibt aber dennoch einigermaßen plausibel. Dann die kaum
vorhersehbare, gruppeninterne Lösung des Falles ... und danach noch eine weitere, unerwartete Wendung am Schluss.
Mehr soll hier nicht verraten werden.
RALPH UMARD
Krimi/Thriller, USA 2014
Regie Eric Van Looy Drehbuch Bart De Pauw, Wesley Strick Kamera
Nicolas Karakatsanis Schnitt Eddie Hamilton Musik John Frizzell
Production Design Maia Javan Kostüm Liz Staub
Mit James Marsden, Wentworth Miller, Karl Urban, Rhona Mitra,
Eric Stonestreet, Matthias Schoenaerts, Isabel Lucas, Rachael Taylor
Verleih Constantin Film, 104 Minuten
www.the-loft-film.de
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PRIVATE REVOLUTIONS –
JUNG, WEIBLICH, ÄGYPTISCH
Spannender, dichter Dokumentarfilm über vier ägyptische Frauen
A
n diesem Film von Alexandra Schneider ist vieles
klug gedacht und beeindruckend umgesetzt: Das beginnt beim Titel, der gar nicht erst suggeriert, der
Film befasse sich in erster Linie mit der sogenannten „ägyptischen Revolution“. Das tut er zwar auch, aber es
geht in erster Linie um vier Frauen, deren Leben davon zwar
betroffen ist – aber nicht in gleichem Maße. Tatsächlich ist
die aktuelle Lebenssituation der vier Protagonistinnen sehr
unterschiedlich. Gemeinsam ist ihnen „nur“, dass sie allesamt
gebildet sind und sich sehr gut artikulieren können – ein wohltuender Kontrast zum Klischee, Frauen in islamischen Ländern seien per se zu keinen eigenen Gedanken fähig.
Im Gegenteil: Sharbat Abdullah wird sich im Laufe des Films
von ihrem etwas unbedarften Mann scheiden lassen – keine
einfache Sache, zumal Scheidungen zwar gang und gäbe, aber
immer noch nicht gesellschaftlich sanktioniert sind, wenn sie
von Frauen betrieben werden. Dass Sharbats Ehemann nicht
aus der gemeinsamen Wohnung ausziehen will, ist eine tragikomische Begleiterscheinung. Stichwort Scheidung: Amani
Eltunsi, die auch einen kleinen Radiosender für Frauen und
frauenorientierte Themen betreibt, hat ein Buch zu dem Thema geschrieben; die Buchpräsentation ist ein Höhepunkt des
Films – ebenso wie eine kurze Diskussion, die sie mit zwei
jungen Frauen zum Thema weibliche Beschneidung führt.
Die Beschränkung auf vier Schicksale erlaubt der Filmemacherin, die selten im Bild, aber ständig aufmerksam ist, wie gelegentliche pointierte Zwischenfragen beweisen, eine wirklich
substanzielle Beschäftigung mit dem Leben von Sharbat Abdullah, Fatema Abouzeid, Amani Eltunsi und May Gah Allah,
von denen Letztere vielleicht am meisten beeindruckt: eine
junge, moderne Frau, die sich in einem besonders konservativen Umfeld bewegt und sich für die Selbstermächtigung
der stark bedrängten nubischen Minderheit, der sie selbst
angehört, einsetzt. In exzellentem Englisch berichtet sie von
Behördenschikanen und von der Mühsal, in der Community
selbst, die im Zuge der fortschreitenden Arabisierung droht,
ihre Sprache und ihre Wurzeln zu verlieren, zu bestehen.
Ebenso eloquent ist Fatema Abouzeid, die ihr PolitologieStudium mit Auszeichnung absolviert und sich vor der Präsidentenwahl 2012 im Kampagnenbüro von Mohammed Mursi
und der Moslembrüderschaft, der auch ihr Vater prominent
angehört, engagiert. Dass sie eines Tages ankündigt, ihre
Arbeitgeber würden gerne noch einmal den Vertrag mit der
Filmemacherin lesen und dass sie letztlich aus dem Film „verschwindet“, sagt mehr als tausend Worte. Der Wirkung dieses
hervorragenden, fast ausschließlich von und mit Frauen hergestellten Films tut dies keinen Abbruch. ANDREAS UNGERBÖCK
Dokumentarfilm, Österreich 2014
Regie Alexandra Schneider Kamera Sandra Merseburger, Alexandra
Schneider Schnitt Alexandra Löwy Ton Alexandra Schneider,
Daniela Praher Musik Julian Hruza, Fayrouz Karawaya
Verleih Daniela Praher Filmproduktion, 98 Minuten
www.privaterevolutions-film.com
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March 11-15
International
Animation
Filmfestival
METRO Kinokulturhaus
Vienna
13. Februar bis 9. März 2015
Asphalt
Stadtmenschen im
Weimarer Kino
2015
26.02.- 05.03.2015 // FILMHAUS KINO
Eröffnung.Filmcasino // Infos. www.frauenfilmtage.at
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Augustinerstraße 1
1010 Wien
T +43/1/533 70 54
www.filmmuseum.at
f i l m s t a r t s
RED ARMY
Spektakulärer Dokumentarfilm zu einer spektakulären Sportart
K
ein Wunder, dass dieser Film nach seiner Premiere
in Cannes 2014 zum Festivalrenner wurde und nun
auch regulär ins Kino kommt: Gabe Polsky, Produzent von Werner Herzogs Bad Lieutenant, selbst russischer Abstammung und eher erfolgloser ehemaliger Eishockeyspieler, hat sich ein Stück Sportgeschichte vorgenommen,
dass alle, die es erlebt haben, mit großer Freude und zugleich
Wehmut erfüllt. Im Fokus von Red Army steht die mutmaßlich
beste Eishockey-Mannschaft aller Zeiten, die Einser-Linie von
ZSKA Moskau (dem Armee-Klub) und der sowjetischen Nationalmannschaft von Mitte der siebziger bis weit in die achtziger Jahre hinein. Fetisov – Kasatonov; Krutov – Larionov
– Makarov, das waren mehr als Eishockeyspieler, eher schon
Eis-Zauberer. Mit ausgeklügelten Kombinationen in atemberaubender Geschwindigkeit spielten sie ihre Gegner schwindlig und gewannen alles, was es zu gewinnen gab – alles
außer die Olympische Goldmedaille in Lake Placid 1980, die
ihnen eine vergleichsweise unerfahrene, junge US-Truppe in
einem als „Miracle on Ice“ legendär gewordenen Finale wegschnappte – aber das ist eine andere Geschichte.
Natürlich war dieses Finale mitten im Kalten Krieg auch politisch hoch explosiv und ein Prestigeduell für beide Seiten. Um
Politik geht es denn auch sehr viel in Gabe Polskys Film, nicht
nur weil mit dem Ende der Sowjetunion auch die sowjetische
Sport-Übermacht zerbröselte, weil der legendäre, kürzlich verstorbene Trainer Viktor Tichonov, der die jungen Spieler mit
eiserner Disziplin und unerbittlicher Strenge zum Erfolg trieb,
vom KGB eingesetzt war, und weil – generell – der Sport eine
wichtige propagandistische Funktion hatte. Die Überlegenheit im Sport sollte die Überlegenheit des politischen Systems
demonstrieren. Nicht verwunderlich also, dass der Film mit
Kaltem Krieg (und einer Ronald Reagan-Rede) beginnt, dass
auch andere Politiker zu Wort kommen, und dass der Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan ebenso thematisiert
wird wie der Fall des Eisernen Vorhangs.
Protagonist des Films ist der wohl beste Verteidiger aller Zeiten, Vyacheslav Fetisov, heute ein charismatischer, mehr als
selbstbewusster Geschäftsmann. Wenn er erzählt, dann wird
die Legende Wahrheit, wie es bei John Ford so schön heißt,
bzw. dann bekommt die Legende auch einige Kratzer ab –
vor allem, was seinen eigenen Kampf mit Tichonov und dem
Sportministerium betrifft, als er schon längst Angebote aus
der NHL hatte. Gabe Polsky kann nicht nur in punkto Interviews aus dem Vollen schöpfen. Er hat phänomenales Material zusammengetragen, und er nützt diesen Vorteil weidlich
aus – eine Doku, die hält, was sie verspricht.
ANDREAS UNGERBÖCK
Dokumentarfilm, USA 2014
Regie, Drehbuch Gabe Polsky Kamera Peter Zeitlinger, Svetlana
Cvetko Schnitt Eli Despres, Kurt Engfehr Ton E.J. Holowicki
Musik Christopher Beck, Leo Birenberg
Verleih Filmladen, 85 Minuten
www.redarmy.weltkino.de
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f i l m s t a r t s
WHIPLASH
Ausgezeichneter Musikfilm, hervorragendes Psychodrama
Ü
ben. Üben, üben. Üben, üben, üben. Bis die Hände bluten. Für einen Musiker, der seine Sache ernst
meint, ist das nicht unbedingt ungewöhnlich. Schon
wer nur gut sein will, muss Opfer bringen. Wer jedoch zu den wirklich Großen strebt, der muss sein Leben danach ausrichten. Selbstdisziplinarische Propaganda? Lust- und
lebensfeindliche Indoktrination? Jeder, der sich schon einmal
an der Beherrschung eines Instrumentes versucht hat, weiß,
dass: leider nein. Da kann Buddy Rich noch so sehr der Meinung sein, dass nicht das Üben, sondern das Spielen in einer
Band letztlich ausschlaggebend für Könnerschaft sei.
Buddy Rich (1917–1987), einer der technisch versiertesten und
bedeutendsten Jazz-Schlagzeuger der Welt, ist Andrews großes
Vorbild. Und Fletcher, Andrews Bandleader an der Shaffer
Music School, träumt davon, den nächsten Charlie Parker zu entdecken. Bescheidenheit ist eine Zier … Dementsprechend rücksichtslos knallen Andrews und Fletchers Mega-Egos aufeinander.
In Whiplash verarbeitet Damien Chazelle (dessen Debütfilm
Guy and Madeline on a Park Bench 2009 im Rahmen der
Viennale zu sehen war) eigene Erfahrungen als Drummer einer High-School-Band. Weder das Vergnügen an ihr noch die
Möglichkeit, sich durch sie auszudrücken, hätten damals sein
Verhältnis zur Musik bestimmt, so Chazelle in den Produktionsnotizen zu Whiplash. Das bestimmende Gefühl, das er mit
dem Musikmachen assoziiert habe, sei das der Angst gewesen.
Angst vor Ungenügen, Angst vor Versagen, vor allem aber
Angst vor seinem Lehrer.
Am Beispiel von Andrew und Fletcher nimmt Chazelle nun
also ein Schüler-Lehrer-Verhältnis unter die Lupe und fächert
es von der Demütigung über den Psychoterror bis zur physischen Gewalt, vom Einschleimen über das Aufbegehren bis
hin zum Verrat in allen nur denkbaren, negativen Facetten auf.
Dabei wird der Widerspruch zwischen der Freiheit der Musik
und der Knechtschaft, die ihre Entstehung ist, offenkundig.
Und doch ist Whiplash kein quälendes, sondern ein mitreißendes Musikfilm-Psychodrama. Dank Miles Teller, dessen langjährige Erfahrung als Schlagzeuger diverser Bands Andrews
kompromißlosen Einsatz glaubwürdig wirken lässt. Und dank
J.K. Simmons, dem die begeisterte Gnadenlosigkeit seines Fletcher soeben eine Oscar-Nominierung als Bester Nebendarsteller einbrachte. Am Ende jedenfalls versteht man, warum der
Schlagzeuger der Muppets – mit dem Buddy Rich sich einst ein
legendäres Duell lieferte – den Namen „Tier“ trägt.
ALEXANDRA SEITZ
Musikfilm/Psychodrama, USA 2014
Regie, Drehbuch Damien Chazelle Kamera Sharone Meir Schnitt
Tom Cross Musik Justin Hurwitz Production Design Melanie Jones
Kostüm Lisa Norcia
Mit Miles Teller, J.K. Simmons, Melissa Benoist, Paul Reiser, Austin
Stowell, Chris Mulkey, Nate Lang, Damon Gupton
Verleih Sony Pictures, 107 Minuten
www.whiplash-film.de
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WINTERSCHLAF / KIŞ UYKUSU
Klassenunterschiede in der Türkei
D
er türkische Starregisseur Nuri Bilge Ceylan gewinnt, so oft er einen seiner Filme beim Wettbewerb in Cannes einreicht, einen der Hauptpreise
und in diesem Jahr mit Winterschlaf endlich die
Goldene Palme. Man wundert sich nicht, denn der Film ist
lang, langsam und dialoglastig und vereint ansehnliche Darsteller vor dem Hintergrund der attraktiv-bizarren kappadokischen Höhlenlandschaft im Winter.
Das kleine Hotel, das der ehemalige Schauspieler Aydın dort
betreibt, ist ziemlich leer, und als auch noch die drei letzten
Gäste abreisen, bleiben er und seine junge Frau Nihal, seine
Schwester Necla und sein Personal, der Verwalter und die
Köchin, dort oben übrig. Man erwartet, dass die fünf zusammenrücken, aber das geschieht nicht; im Gegenteil scheint
jede Person vor sich hin zu agieren, ungeachtet dessen, was
die anderen tun. Vertrautheit, ja Intimität, scheint nur zwischen Aydın und seiner Schwester Necla möglich. Während
er abends Kolumnen für die Lokalzeitung schreibt, sitzt sie
mit einem Buch auf dem Sofa und liest, dabei träge mit ihm
plaudernd. Bis man die Ehefrau Nihal zum ersten Mal überhaupt sieht, dauert es sehr lange; die Eheleute wohnen auf verschiedenen Ebenen des weitläufigen Geländes. Der Verwalter
erledigt alle anfallenden Arbeiten, auch die Eintreibung der
Mieten im Dorf, denn Aydın gehören dort einige Häuser. Eins
bewohnt der Hodscha, der jedoch mit der Miete im Rückstand
ist. Unerfreuliche Begegnungen zwischen den beiden Parteien
haben bereits stattgefunden, aber Aydın drückt sich gern vor
der Begegnung mit seinen Mietern. Es ist ihm peinlich, dass
er wohlhabend und intellektuell ist, andererseits nerven sie
ihn mit ihren Anliegen, ihrer Beflissenheit und ihren Ritualen.
So unerfreulich ist die Gemengelage im kappadokischen Hotel, und sie wird im Verlauf des Films nicht besser; es stellt
sich nämlich heraus – wie häufig bei Nuri Bilge Ceylan – dass
Aydın den eigenen Ansprüchen nicht gewachsen ist und das
ahnt. Ein Abend unter Männern im Suff und der darauf folgende Jagdausflug bringen ein paar Erkenntnisse.
Wie eine Rüstung trägt Aydın seinen schweren, nachtblauen
Wollmantel und die Wanderstiefel, mit denen er durch den
Schnee stapft. Trotz der weiten Landschaft ist die Szenerie
kammerspielartig, Ceylan beruft sich auf Motive aus zwei
Kurzgeschichten Tschechows, auf Molière und auf Shakespeare sowieso. Man denkt, dass es für einen türkischen Filmemacher aktuellere Referenzen gäbe.
DANIELA SANNWALD
Drama, Türkei/Deutschland/Frankreich, 2014
Regie Nuri Bilge Ceylan Drehbuch Ebru Ceylan, Nuri Bilge Ceylan
Kamera Gökhan Tiryaki Schnitt Nuri Bilge Ceylan, Bora Göksingöl
Ausstattung Gamze Kus Kostüm Monika Münnich, Anke Thot
Mit
Verleih Stadtkino Wien, 196 Minuten
www.stadtkinowien.at
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FILM+MUSIKLIVE
«Blackmail»
Stummfilm mit Live-Musik
Regie: Alfred Hitchcock, GB 1929
Musik: Stephen Horne, GB
Stephen Horne Klavier, Flöte, Akkordeon
Sonntag, 15. Februar 2015, 19.30 Uhr, Großer Saal
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My Name Is Salt
Jupiter Ascending
Selma
Wild Card
UND AUSSERDEM ...
Salzabbau, Wachowski-Geschwister, US-Bürgerrechte und Jason Statham. Der Rest des Kinomonats.
W
er gelegentlich meint, das Leben in unserer europäischen Luxusfestung sei "so anstrengend",
der oder die (und nicht nur der oder die) möge
sich My Name Is Salt (trigon-film, 30. Jänner)
anschauen. Der indisch-schweizerische Dokumentarfilm von
Farida Pacha, der auch bei der Viennale zu sehen war, berichtet von den tausenden indischen Familien, die Jahr für Jahr
für endlose acht Monate in die Wüste ziehen, um Salz aus
dem glühenden Boden zu holen. Mit jedem Monsun werden
ihre Salzfelder weggespült, und die Wüste verwandelt sich in
Meer. Trotzdem kehren die Salzbauern zurück, voller Stolz,
das weißeste Salz der Erde zu produzieren. Fasziniert von
dem Thema hat Farida Pacha in der Salzwüste von Kutch,
im Westen Gujarats, ein Jahr lang unglaubliches Material
gesammelt und daraus einen überwältigenden, geradezu meditativen Film gestaltet.
Offensichtlich in einer anderen Zeit und in einem anderen
Universum spielt Jupiter Ascending (Warner Bros., 6. Februar). Die Königin des Universums wird das Gefühl nicht los,
die US-amerikanische Putzfrau (sic!) Jupiter Jones werde ihr
demnächst die Herrschaft entreißen, weil diese nämlich einen
besonderen genetischen Code hat, der sie dazu prädestiniert.
Also sendet die Queen den ehemaligen Elite-Soldaten Caine
auf die Erde, um Jupiter zu eliminieren. Dass der sich, wie
weiland der gute alte Terminator, in sein potenzielles Opfer
verliebt, verändert die Sachlage allerdings nachhaltig. Man
muss schon sehr fest an die großen historischen Verdienste
(Bound, Matrix) der ehemaligen Brüder und nunmehrigen Geschwister Wachowski glauben, um sich darunter einen guten
Film vorstellen zu können, vor allem wenn man an das letzte
Œuvre, bei dem sie für Drehbuch und Produktion verantwortlich zeichneten, denkt, nämlich Cloud Atlas. Die Besetzung
immerhin ist tadellos: Channing Tatum, Mila Kunis und
Oscar-Nominee Eddie Redmayne.
Einem zeitgeschichtlichen Kapitel widmet sich hingegen Selma
(Constantin Film, 20 Februar). Im Jahr 1965 herrschte
zwar in den Vereinigten Staaten formal Gleichberechtigung,
doch insbesondere in den Südstaaten sahen sich afroamerikanische Bürger unfassbaren Diskriminierungen gegenüber,
sogar das verfassungsmäßig verbriefte Wahlrecht wurde ihnen dort in der Praxis oft verwehrt. Als sich immer stärkerer
Widerstand regt, beschließt der Bürgerrechtsaktivist Dr. Martin Luther King friedlichen Protest dagegen zu organisieren.
Erste Demonstrationen finden in der titelgebenden Kleinstadt
in Alabama statt, doch die örtliche Polizei reagiert mit brutaler Gewalt. Als ein Bürgerrechtler dabei den Tod findet,
soll mit einem Marsch von Selma bis nach Montgomery,
Hauptstadt des Bundesstaates, reagiert werden, doch damit
zieht man sich nicht nur den Unwillen von George Wallace,
Gouverneur von Alabama, auf sich. Die Rolle des Friedensnobelpreisträgers Dr. King hat David Oyelowo übernommen,
daneben agieren Tom Wilkinson als Lyndon B. Johnson und
Tim Roth als Gouverneur Wallace.
Gar nicht gewaltfrei agiert Jason Statham, der sich in Wild
Card (Constantin Film, 13. Februar), mit dem organisierten
Verbrechen von Las Vegas anlegt. Regie bei diesem Remake –
Vorlage war Heat mit Burt Reynolds in der Hauptrolle – führt
Simon West. ANDREAS UNGERBÖCK, JÖRG SCHIFFAUER
72 ray
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K o l u m n e :
B u t t g e r e i t
Die letzte Vorstellung
Text und Foto ~ Jörg Buttgereit
17. Dezember 2014. Es war die letzte Pressevorführung von Sony Pictures vor den Weihnachtsferien im Berliner Sony Center. Traditionell gibt es zu diesem Anlass immer eine leicht verträgliche Komödie für die ganze Familie und man darf eine
Begleitperson mitbringen. Es wurde Glühwein und Bockwurst gereicht um für gute Stimmung zu sorgen. Gezeigt wurde die
übermütige Nordkorea-Satire The Interview von Seth Rogen und Evan Goldberg, deren Kinostart für den 2. Februar 2015
angekündigt war. Da ich erst kürzlich für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk das Hörspiel „Das Märchen vom unglaublichen Super-Kim aus Pjöngjang“ geschrieben und inszeniert hatte, war ich besonders gespannt wie respektlos Hollywood mit
dem Diktator Kim Jong-un umspringen würde. Rogen und Goldberg gehen gewohnt brachial zu Werke. The Interview ist eine
durch und durch herabwürdigende Verunglimpfung des „obersten Führers“ der „Demokratischen Volksrepublik Korea“ Kim
Jong-un. Die beiden Journalisten Aaron Rapaport (Seth Rogen) und Dave Skylark (James Franco) dürfen in Pjöngjang ein
Interview mit dem Diktator für das amerikanische Fernsehen führen und sollen ihn bei der Gelegenheit im Auftrag des CIA
um die Ecke bringen. Im Finale schießen sie den flüchtenden Kim Jong-un im Hubschrauber ab und verhindern damit den
Abschuss von Atomraketen auf die USA. Kim verglüht in Zeitlupe in der Feuersbrunst. „He must die! That’s the American
way.“ sagt Rogen schon zu Beginn des Films. Kein Wunder also, das die nordkoreanische Regierung die Mordskomödie in
einem Brief an UNO-Generalsekretär Ban Ki Moon als „unverhohlene Förderung des Terrorismus sowie eine Kriegshandlung“ gebrandmarkt hat.
Über Team America, den zehn Jahre alten, subversiven Marionetten-Film der South Park-Macher Matt Stone und Trey Parker,
im dem Kim Jong-il als singender Superbösewicht die Schauspielelite Hollywoods massakriert, hat sich „der geliebte Führer“
damals nicht ereifert. Denn Kim Jong-uns Vater war ein bekennender Filmliebhaber, der die zur Chefsache erklärte Propaganda-Filmproduktion seines Landes erfolgreich belebte, indem er 1978 seinen südkoreanischen Lieblings-Regisseur Shin San-ok
und dessen Ex-Ehefrau, die beliebte Schauspielerin Choi Eun-hee, entführen und Filme drehen ließ. War es Kim Jong-il als
bekennenden James-Bond-Fan womöglich eine Ehre, in Team America als diabolischer Filmbösewicht dargestellt zu werden?
Die politische Relevanz und Originalität von The Interview leidet unter dem infantilen Fäkalhumor der beiden dummdreisten Protagonisten Rogen und Franco. So mein erster fachmännischer Eindruck nach Sichtung der derben Komödie beim
Verzehren der zweiten Bockwurst. Als Sony an nächsten Morgen verlauten ließ, man werde den Film aufgrund von Terrorwarnungen aus dem Verkehr ziehen, habe ich nicht schlecht gestaunt. Der Schenkelklopfer hatte wohl doch mehr Brisanz,
als ich ihm zugestanden hatte. Ich war einer der Auserwählten, die den Film noch gesehen hatten und jetzt bestimmt vom
nordkoreanischen Geheimdienst überwacht wurde. Nachdem US-Präsident Obama kritisierte „Wir können nicht in einer
Gesellschaft leben, in der ein Diktator irgendwo anfängt, in den USA Zensur auszuüben“ wurde der Film wie geplant am
ersten Weihnachtstag in 300 US-Programmkinos gezeigt. Außerdem war er zeitgleich auf diversen Online-Kanälen verfügbar
und hat Sony den besten Online-Filmstart in seiner Geschichte beschert. Sequel gefällig?
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IST FÜNF
Die tolle Mini-Serie „Olive Kitteridge“ mit der großartigen
Frances McDormand in der Titelrolle
Text ~ Roman Scheiber
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E
ine tiefsitzende Unzufriedenheit scheint diese Frau
umzutreiben. Wir lernen sie erst in der Mitte ihres Lebens kennen, und doch haben wir sehr bald
eine Vorstellung davon, wie dieses Leben bislang
verlaufen sein könnte. Viel Pflicht, wenig Kür. Eher
hart als herzlich. Olive Kitteridge erscheint nach außen als eine
selbstsichere Frau, aber auch als eine gänzlich unsensible Persönlichkeit. Anerkennung und Anteilnahme scheinen ihr fremd
zu sein. Ruppigkeit wäre ein Hilfsausdruck für ihr Verhalten.
Zumeist agiert sie misstrauisch, gedankenlos und abweisend.
Ihr Gesichtsaudruck ist oft verkniffen, ihre Zunge schärfer, als
es ihrer Umwelt gut tut.
Warum soll man sich für so eine Antiheldin interessieren? Weil
sie eine wunderbar authentische, direkt aus dem Leben gegriffene Figur ist. Weil sich hinter einer harten Schale oft ein verletzlicher Kern verbirgt. Und weil die eigenwillige Olive immer
wieder überraschende Sachen macht. Gleich zu Beginn zum
Beispiel kniet sie sich im Wald auf eine Decke, holt einen „To
whom it may concern“ adressierten Brief aus ihrer Handtasche
und hält sich einen Revolver an den Schädel: eine Vorblende,
die einen der dramatischeren Töne der ein Vierteljahrhundert
fassenden, herrlich unaufgeregt erzählten Alltagsgeschichte anklingen lässt – und der noch einige überaus effektiv gesetzte
Vor- und Rückblenden folgen werden.
Vier US-Amerikanerinnen zeichnen in der Hauptsache für Olive
Kitteridge verantwortlich. Basierend auf dem Pulitzer-preisgekrönten Roman von Elizabeth Strout (die aus Maine stammt),
von Jane Anderson (How to Make an American Quilt, 1995) adaptiert, auf Betreiben der Hauptdarstellerin Frances McDormand
vom Pay-TV-Sender HBO als vierteilige Miniserie produziert und
von Lisa Cholodenko (The Kids Are All Right, 2010) inszeniert,
faltet das Period Piece ein Kleinstadt-Familienalbum auf, dessen stimmige Atmosphäre und subtile Qualität sich vor allem
zwischen den Seiten offenbart. Hat man sich von diesem Mikrokosmos präzis gezeichneter, unter der landläufigen Oberfläche
leise pathologischer Figuren einmal ansaugen lassen, mag man
Augen und Ohren nicht mehr davon lösen.
Im Zentrum der seltsam angespannten Pseudo-Gewöhnlichkeit,
in der Serie noch stärker als im Roman, steht Olive, angesehene
Mathematik-Lehrerin in ihrem Geburtsort Crosby, Maine, New
England. Sie scheint sich um wenig mehr als die eigene Familie
zu kümmern, doch wirkt sie auch innerhalb dieser über weite
Strecken isoliert. Das Verhältnis zu ihrem anfangs 13-jährigen
Sohn Chris (Devin Druid, später John Gallagher Jr.) ist und bleibt
kühl. Von ihrem im Grunde gutherzigen Mann Henry (Richard
Jenkins) wirkt sie entfremdet. Er ist der Apotheker am Ort, seine
Kunden behandelt er mit ausgesuchter Freundlichkeit. Da Olive auf seine Art der Zuwendung verzichtet (eine Valentinstagskarte befördert sie mit den Worten „I know what it says“ in den
Müll), beschenkt Henry junge Mitbürger damit, darunter seine
hilflos wirkende Assistentin Denise (Zoe Kazan) – was Olive zunächst eher lächerlich findet, als dass es sie eifersüchtig macht.
Verstanden fühlt sie sich nur von einem Lehrerkollegen (Peter
Mullan), versagt sich aber eine Affäre mit ihm.
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TRAGIK HINTER KOMIK
„You won’t like Frances McDormand in Olive Kitteridge ... but
you might love her“, schreibt eine US-Kritikerin und charakterisiert sie treffend als „one of our great unsentimental actresses“.
McDormand spielt Olive souverän, nuancenreich und uneitel wie
immer. Mit ihren nunmehr 57 Jahren ist die Charakterdarstellerin, die der plastischen Chirurgie dezidiert abschwört, viel zu
selten auf der Leinwand zu sehen, jedenfalls zu selten in tragender Rolle. McDormand ist bis heute die einzige Schauspielerin,
die für eine Rolle in einer Regiearbeit des Ehegatten den Oscar
gewann (Fargo, Joel Coen, 1996) – jedoch dürfte die ikonische
Figur der Marge Gunderson ihre Karriere auch eingeschränkt
haben (siehe auch das nachfolgende Interview).
Eine dysfunktionale Frau spielte McDormand schon einmal in
einer früheren Kollaboration mit der Regisseurin und Drehbuchautorin Lisa Cholodenko, in dem Drama Laurel Canyon
(2002). Wie viele ihrer kreativen Kolleginnen und Kollegen in
den vergangenen Jahren haben die beiden sich das Format der
Fernsehserie neu erschlossen. Vielleicht hat McDormand sich
mit Olive Kitteridge sogar die Rolle ihres Lebens gesichert – in
einer vier Erzählstunden langen Geschichte, in der nichts fehlt
und nichts überflüssig ist, in der hinter der Komik die Tragik zu
spüren ist und in der Tragik die nur mit Humor zu ertragende
Leichtigkeit des Seins. Olive Kitteridge ist das berührende Porträt einer verstockten Frau, aber mehr noch erzählt es universell
über Kleinbürgerlichkeit und Provinzialität, über das Verhältnis
der Generationen, über die ungeschriebenen Gesetze der Part-
nerwahl, über Identitätsprobleme, sozialen Determinismus und
den wechselseitigen Umgang von Menschen, die oft nicht viel
mehr miteinander gemein haben als ihre Herkunft.
L’inconnu du lac ein „schwules Meisterwerk“ zu nennen, sei so
lächerlich, als würde man Stromboli ein „heterosexuelles Meisterwerk“ nennen, schrieb Hans Hurch über den jüngsten Film
von Alain Guiraudie (Teil der Viennale-DVD-Edition 2014). Obwohl Frances McDormand sich selbst als Feministin bezeichnet, wäre es ebenso lächerlich, würde man Olive Kitteridge ein
„feministisches Meisterwerk“ nennen. Dies ist weder ein Bestärkungsfilm für Frauenrechtsaktivistinnen, noch ein Lehrfilm
für Retroweibchen, sondern ein sehr zu empfehlender Film für
empathiefähige Menschen, alte, junge, weibliche, männliche,
homo- und heterosexuelle, und wer aus einer bloß scheinbar
funktionalen Familie stammt, hat vielleicht noch mehr davon
als die anderen. Auf der großen Leinwand, wie löblicher Weise
bei der vergangenen Viennale, wird Olive Kitteridge nun leider
kaum noch zu sehen sein. Aber wie groß dieses Kino auch auf
dem kleinen Bildschirm ist, beweist u.a. der letzte Teil: Wenn
Olive auf den Witwer Jack (Bill Murray) trifft, ist das so abgeklärt
wie erfrischend, und so aufrichtig wie selten in der üblichen
Arthouse-Mainstream-Beziehungskiste.
„I’m waiting for the dog to die so I can shoot myself“, sagt Olive
zu Jack. Er amüsiert sich darüber, und wir uns mit ihm. Zu diesem Zeitpunkt hat sie uns schon so weit, dass wir nicht denken:
„Alte, sei doch nicht so zynisch!“, sondern eher: „Na, wenn dir
da mal keiner dazwischenkommt.“
OLIVE KITTERIDGE
Vierteilige Drama-Miniserie, USA 2014 ~ Regie Lisa Cholodenko
Drehbuch Jane Anderson, basierend auf dem Roman von Elizabeth Strout
Kamera Frederick Elmes Schnitt Jeffrey Werner Musik Carter Burwell
Production Design Julie Berghoff Kostüm Jenny Eagan
Mit Frances McDormand, Richard Jenkins, Zoe Kazan, Peter Mullan,
Ann Dowd, Martha Wainwright, John Gallagher Jr., Rosemarie DeWitt,
Brady Corbet, Jesse Plemons, Rachel Brosnahan, Bill Murray
Gesamtlänge 233 Minuten
Ab 3. Februar 2015 exklusiv auf Sky Atlantic HD,
Sky Go und Sky Anytime
Ein Interview mit Regisseurin Lisa Cholodenko lesen Sie auf
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NEUES BABY STATT
ECHTEM BABY
Frances McDormand erklärt, warum sie zehn Jahre lang die Klappe gehalten hat,
wie sie zu Olive Kitteridge wurde und wie der Beruf als Hausfrau ideal auf
den Beruf als Produzentin vorbereitet.
Interview ~ Thomas Abeltshauser
Nach der Polizistin Marge Gunderson in Fargo haben Sie mit
Olive Kitteridge nun eine weitere unvergessliche Frauenfigur erschaffen. Wie nah sind Ihnen diese beiden? Sind Sie
ein bisschen Marge, ein bisschen Olive?
Nein, umgekehrt: Marge und Olive sind zum Teil Frances. Ich
glaube, es war für alle an Fargo Beteiligten faszinierend zu sehen, wie Marge zu einer Ikone wurde. Niemand, wirklich niemand hatte damit gerechnet. Als wir den Film drehten, waren
wir alle hin und weg von Peter Stormares und Steve Buschemis
Figuren, diesen beiden Kleinkriminellen. Aber irgendwas war
damals in der Luft, der Film traf auf einen kulturellen Zeitgeist
und die Situation von Frauen in der Arbeitswelt, was Marge Gunderson zu einem Phänomen werden ließ.
Fargo wurde im vergangen Jahr zu einer TV-Serie weiterentwickelt ...
Nie gesehen. Ich habe gehört, die Kritiken waren sehr gut. Aber
wir haben nichts damit zu tun. Ich schaue einfach kein Fernsehen. Ich werde es mir wahrscheinlich ansehen, wenn es als
DVD-Box erscheint, wenn ich es auf einen Rutsch schauen kann.
Wie hat die Rolle der Marge Gunderson Ihre Laufbahn beeinflusst?
Ich habe eine 35 Jahre andauernde Karriere daraus gemacht,
kleine Rollen zu spielen, supporting roles, wie es im Englischen
heißt, die Unterstützung für die männlichen Hauptfiguren. Meine Karriere beruht auf amerikanischen, ein bisschen unordentlichen Frauen der Arbeiterklasse, das habe ich mein gesamtes
Leben gespielt, das bin ich. Und jetzt, mit 57, wurde mir die
Möglichkeit geschenkt, Olive zu spielen. Und ich glaube, sie
ist eine ebenso ikonische Figur wie Marge damals. Sie ist die
Mathelehrerin in einer Kleinstadt, verheiratet mit dem Apotheker. Jeder kennt sie, sie ist ein Faktotum, aber man würde sie
eher nicht zu sich zum Abendessen einladen. Wir alle kennen
jemanden wie Olive.
Regisseurin Lisa Cholodenko nannte die Adaption von Olive
Kitteridge Ihr Baby.
Ja, es ist mein Baby! Ich war bislang nie eine Schauspielerin, die
sich Filmrechte sicherte. Dazu fehlt mir die Aufmerksamkeitsspanne, ich will nicht so lange warten. Ich bekomme einen Job
am liebsten zwei Monate, bevor es losgeht. Im Theater ist es ein
bisschen anders, da gibt es schon mal einen Vorlauf von einem
Jahr, aber bei einem Film werde ich maximal ein paar Monate
vorher besetzt. Die Vorstellung, auf ein Projekt länger warten
zu müssen, würde mich in den Wahnsinn treiben. Aber als ich
Elizabeth Strouts Roman „Olive Kitteridge“ (deutsch: „Mit Blick
aufs Meer“) las, war mein Sohn 13 Jahre alt. Ich wusste, er würde
in etwa fünf Jahren ausziehen und aufs College gehen. Als er
noch zur Schule ging, blieb ich zuhause und habe viel von zuhause aus gearbeitet und bin nur zu Dreharbeiten, wenn mein
Mann (Regisseur Joel Coen) übernehmen konnte. Also wusste
ich, wenn mein Sohn 18 wird, muss ich sehr, sehr beschäftigt
sein. Also sorgte ich vor und stieß diverse Projekte an. Und
dann passierten vier in einem Jahr: ich produzierte einen Spielfilm, ein Theaterstück mit der Wooster Group in New York ging
auf Tour, Olive Kitteridge ging los ... aber so wollte ich es ja! Es
war ein neues Baby, um mich darüber hinwegzutrösten, dass
mein echtes Baby flügge geworden ist. Und um ihm Platz zum
Atmen zu geben.
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Hausfrau zu sein ist ein Beruf, das meine ich todernst.
Aber wenn ich meinen Lebenslauf als Hausfrau schreiben
würde, wäre ich für die meisten Jobs überqualifiziert
Wie schwierig war die Entwicklung der Adaption?
Es war überraschend einfach. Und das liegt an HBO und dem
langen Fernsehformat. Der Roman ist episodisch, er besteht
aus 13 einzelnen Kurzgeschichten. Und Olive ist eine Figur, die
immer wieder in diesen Geschichten auftaucht, mal mehr, mal
weniger prominent. Als ich den Roman las, dachte ich sofort an
eine Serienstruktur. Ich hatte kurz zuvor die HBO-Serie The Wire
gesehen, in einem durch in zwei Monaten. Und damit war ich
bei Weitem nicht die einzige, da änderte sich gerade etwas im
Zuschauerverhalten, es gibt keine Limitierung mehr auf Spielfilmlänge. Und mir war klar, das ist die Art, wie man die Geschichte einer weiblichen Protagonistin erzählen muss. Ich lese
für mein Leben gern. Ich liebe Bücher. Erinnern Sie sich, diese
dicken Dinger aus Papier? Ich lese nur auf Papier, ich habe meterlange Bücherregale zuhause. Zunächst genoss ich also den
Roman erstmal nur als Literatur und verschenkte danach das
Buch an viele Freunde, weil ich so begeistert war. Eine Freundin,
die Schauspielerin Katherine Borowitz, rief mich zwei Tage später an und sagte nur: „Du musst diese Rolle spielen!“, und ich
meinte nur: „Nein, das taugt nicht als Film.“ Es ist zu komplex
für 90 Minuten, das reicht nicht für ihre Geschichte. Es kann
nur mit dem dramaturgischen Atem eines Serienformats funktionieren. Persönlich wollte ich nie eine reguläre Serie machen,
ich will einfach nicht fünf Jahre in einem Projekt gefangen sein.
Dazu habe ich das falsche Temperament. Aber ein Mehrteiler
mit vier oder sechs Stunden: perfekt! Und so wurde es am Ende
ein Vierstünder.
Worin sehen Sie genau den Vorteil dieses langen Atems?
Das kann ich beantworten, indem ich einen der erfreulichsten
Momente der Dreharbeiten beschreibe. Normalerweise sind bei
den Proben immer nur die notwendigsten Leute dabei, Schauspieler, Regisseur, ein paar andere. Wenn die ganze Crew dabei
sein und zuschauen will, ist das sehr schmeichelhaft. Und es hat
was von Theater. Es ist nicht Film, es ist nicht das, was am Ende
im Schnitt entsteht. Es ist pures Theater. Und in der Szene, in
der Christopher nach Henrys Herzinfarkt zurückkommt und er
Olive beim Dinner vorwirft, was für eine furchtbare Mutter sie
war und sie um Gnade betteln lässt, strömte plötzlich die Crew
in Trauben herein, bis hin zu dem jungen Mann, der die Sets
malte. Er brachte eine Obstkiste mit und stellte sich in einer
Ecke darauf, um sehen zu können, was passiert. Alle wollten
diese Konfrontation sehen. Es war wie ein griechisches Drama.
Die Szene war aber auch brillant geschrieben, wie ein Einakter.
Und so haben wir es auch gespielt, in einem Rutsch. Und das
ist ein Vorteil des Serienformats: diese dramaturgischen Bögen
und ikonischen Momente. Würden wir Olives Geschichte in 90
Minuten erzählen, wäre sie unausstehlich.
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Was macht für Sie die Faszination dieser Figur aus? Sie ist ja
durchaus ambivalent ...
Das war einer der größten Konflikte zwischen Lisa und mir: die
emotionale Spannbreite von Olive. Ich hatte nie Bedenken, ob
Olive sympathisch ist oder ob wir die Empathie der Zuschauer
verlieren. Darüber konnte ich mir gar keine Gedanken machen,
weil OIive es auch nicht tut. Ich wollte nicht, dass es in der
Geschichte darum geht, dass sie irgendwann weint. Olive bricht
nicht zusammen, ihre Verletzungen sind wie Haarrisse, die sich
zu einem großen Loch akkumulieren, aber es sind keine großen
Risse. Sie reißt sich zusammen und handelt. Auf ihre Depression und Ängste reagiert sie, in dem sie aktiv wird. Statt zu
heulen, putzt sie. Ich liebe dieses Geräusch, wenn sie etwas
sauberschrubbt, das ist für mich die Quintessenz von Olive und
ihrer stoischen Art.
Welche Frau hat Sie persönlich beeindruckt oder geprägt?
So viele, ich könnte nicht einzelne Namen nennen. Ich bin das
Ergebnis eines langen Flusses an Mentoren, nicht nur Frauen.
Ich bin Feministin, und es tut mir in der Seele weh, wie sich
junge Frauen wie Beyoncé im Showbusiness winden müssen,
um ja nicht in diese Ecke gestellt zu werden. Darf sich eine Frau
Feministin nennen? Ja! Dürfen sich junge Männer Feministen
nennen? Natürlich!!! Darum geht’s doch! Wir können alles sein,
was wir wollen. Und das macht Angst! Es gibt unendlich viele
Positionen im Genderspektrum – und ich weiß noch nicht mal,
was es heißt, eine weiße heterosexuelle Frau in einer monogamen Beziehung zu sein!
Worin liegt das Problem, die Geschichte einer weiblichen
Hauptfigur in Spielfilmlänge zu erzählen?
Ich habe mein ganzes Leben im Film Nebenrollen gespielt, nur
auf der Bühne waren Hauptrollen, denn in den Theaterstücken
ist es sehr viel üblicher, eine weibliche Hauptfigur zu haben. Im
Film gibt es nur eine Handvoll Genres: das Buddy Movie, der Actionfilm, die Romantikkomödie, das Epos, der Film Noir... und
alle sind um einen männlichen Protagonisten herum gebaut.
Man kann sie für weibliche Figuren umschreiben, wie Thelma
und Louise, aber es bleibt ein Buddy Movie. Man kann Salt mit
Angelina Jolie als Heldin besetzen, aber es bleibt ein Actionfilm. Es gibt also Ausnahmen für die Regel, aber es gibt kein
Genre, das per se eine weibliche Hauptfigur hat, außer die Romantikkomödie und das Melodram. Aber die werden kaum noch
geschrieben, weil uns Meister wie George Cukor oder Douglas
Sirk fehlen. Ich glaube, wir brauchen lange dramaturgische Bögen, in denen sich die Figuren entwickeln können, wir brauchen
zyklische Erzählweisen, nicht lineare. Ich wollte Olive Kitteridge
nicht chronologisch erzählen, auch die Romanvorlage springt
permanent in der Zeit. Und ich bin überzeugt, dass es so funktioniert. Im Grunde kann man die vier Teile in beliebiger Reihenfolge sehen, man kann mit Kapitel 4 anfangen, dann zu Kapitel
2 springen, danach 3, dann 1. Es funktioniert trotzdem.
Warum haben Sie sich für Lisa Cholodenko als Regisseurin
entschieden?
Ganz ohne Larifari, weil ich ein sehr pragmatischer Mensch bin:
Sie war die richtige, weil sie es machen wollte. Jane Anderson,
die den Roman adaptiert hat, kenne ich seit einem Vierteljahrhundert, und sie hat mir in dieser Zeit immer wieder Rollen in
einem ihrer Filme oder Theaterstücke angeboten. Eines Abends
saßen wir beim Dinner und redeten darüber, was wir gerade
machen und ich erzählte, dass ich gerade die Rechte an einem
Buch erworben habe und auf der Suche nach einem Drehbuchautor bin. Und jetzt, sechs Jahre später, hat Jane das wahrscheinlich herausragende Drehbuch ihrer Karriere geschrieben.
Lisa und ich kennen uns auch schon eine Weile. Sie hat mich
in Laurel Canyon besetzt, den sie auch selbst geschrieben hat.
Niemand anderes hätte mir diese Rolle gegeben, wir sind uns
damals im genau richtigen Moment begegnet. Und sie war die
richtige, weil sie vom Independent-Kino kommt, weil sie den
Atem für einen vierstündigen Film hat, weil sie mit einem überschaubaren Budget arbeiten kann, weil sie eine Geschichte mit
einer gewissen Ironie erzählen kann.
Nach welchen Kriterien wählen Sie eine Rolle aus?
Ich suche immer nach der Wahrheit, nach dem innersten Kern
einer Figur. Und damit übertreibe ich es bisweilen ein bisschen.
Wenn sich Joel einen meiner Film anschaut, fragt er mich oft:
„Musst du wirklich so furchtbar aussehen? Es ist bloß ein Film!“
Ich glaube, ich treffe manchmal Entscheidungen, die härter und
ehrlicher als vielleicht notwendig sind.
Weil das Ihrem Naturell entspricht?
Wahrscheinlich. Dieses Interview ist mein erstes seit zehn Jahren.
Ich habe mich ganz bewusst dagegen entschieden, weil ich mich
vor elf Jahren in diesem Radwerk gesehen habe, wo ich nur von
einem Fünfminutenfernsehauftritt zum nächsten hetze und mir
immer wieder dieselbe Frage zu meinem viel berühmteren Kollegen gestellt wurde und ich irgendwann nicht mehr glaubhaft
wiederholen konnte, wie sehr ich seine Anwesenheit und die Zusammenarbeit mit ihm genossen habe. Und ich sagte, dass mein
damals neunjähriger Sohn smartere Dinge sagt und gefährdete
damit viele Jobs. Also zog ich mich zurück und hielt die Klappe.
Haben Sie mal überlegt, selbst Regie zu führen?
Oh, einer in der Familie ist mehr als genug! Und ich bin eine
der Produzentinnen, das reicht an Einflussnahme. Mein einziger
kontinuierlicher Beruf neben der Schauspielerei ist es, Hausfrau
zu sein. Und ich meine es todernst: es ist ein Beruf. Und ein unbezahlter dazu. Aber wenn ich meinen Lebenslauf als Hausfrau
schreiben würde, wäre ich wohl für die meisten Jobs überqualifiziert. Soll ich meine Skills als Hausfrau mal aufzählen? Ich
habe für meinen Sohn Schulen auf der ganzen Welt ausgewählt,
diverse Haushalte aufgebaut, die Lebenshaltungskosten für
meine Familie organisiert, ich war Privatsekretärin für meinen
Ehemann und meinen Sohn ... diese Erfahrungen gehen weit
darüber hinaus, was man als Produzentin so zu tun hat. Ich war
also gut vorbereitet.
Wie sehen Sie Ihre Zukunft in der Filmbranche?
Als amerikanische Schauspielerin eines gewissen Alters kommt
man, wenn man Glück hat, irgendwann in die „europäische Phase“, wenn sich Autorenfilmer für einen interessieren. Ich habe dazu den Nachteil, nur eine Sprache zu beherrschen, ich
muss also warten, bis jemand eine amerikanische Darstellerin
braucht. Mit Paolo Sorrentino in Cheyenne hatte ich das Glück.
Wir sind uns über gemeinsame Freunde begegnet und er kannte
meine Filme – sehr viel besser übrigens als die meisten amerikanischen Regisseure, die oft keine Ahnung haben, wer ich bin
und was ich gemacht habe. Dialekte sind kein Problem, aber
eine andere Sprache wäre unmöglich. Es sei denn, es wäre wie
bei Fellini, der Leute einfach das Alphabet und Zahlen aufsagen
und dann nachsynchronisieren ließ. Das kann ich gut! Schreiben
Sie das bitte. Ich stehe zur Verfügung!
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NULLEN UND
EINSEN UND
VOLLES ROHR
RADAU
Von der Hutmode und anderen schicken Dingen: „Blackhat“ von Michael Mann,
ein sehenswert daneben gehender Thriller über globalisierte Cyberkriminalität
und vernetzte Gegenwehr.
Text ~ Alexandra Seitz
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Anhand des schwarzen Hutes ließen sich in den frühen
Western die Schurken von den weiß behüteten Gesetzestreuen
unterscheiden; neuerdings bezeichnet „Blackhat“ einen
Hacker, der mit krimineller Absicht in Netzwerke eindringt
C
omputerkriminalität spannend ins Bild zu setzen
ist keine einfache Aufgabe. An der Oberfläche:
Tastaturen und Bildschirme, Festplatten, Server
und Kabelsalat. Dahinter: Nullen und Einsen. Alles
digital, alles virtuell. Was soll schon aufregend daran sein, wenn einer mit Schmackes auf die „Enter“-Taste haut?
Zu Beginn von Michael Manns Blackhat geschieht eben dies,
dann saust ein Licht durch mikroskopische Prozessorlandschaften wie das Feuer einer Zündschnur und am Ende explodiert ein
chinesisches Atomkraftwerk. Das ist also kein Sack Reis, der
da umfällt, und dementsprechend groß der ausgelöste Aufruhr.
Nicht viel später befindet man sich auch schon inmitten einer
Story, die James Bond zur Ehre gereichen würde; das Atomkraftwerk war – wen wundert’s? – lediglich der Anfang, Börsenkurse
geraten ins Visier, Gewinne werden eingestrichen, Unsummen
transferiert. Aus welchem Grund? Zu welchem Zweck? Alsbald
holt das bläuliche Bildschirmlicht der Aufklärung global vernetzte Bösewichter, Strohmänner und Strippenzieher aus dem
finsteren Schatten der Morallosigkeit.
Zugegeben, es wird viel in Computer gestarrt und programmiert, mit Smartphones hantiert und per GPS geortet – allerdings von der sehr ansehnlichen Paarung Chris Hemsworth als
großer, starker Hacker Nick Hathaway und Wei Tang als zierliche, hübsche Netzwerkspezialistin Chen Lien. Und immer dann,
wenn einem die beiden ein wenig zu viel werden, weil sie eigentlich ein wenig zu wenig sind, oder immer dann, wenn die
Abläufe in den Blackboxes den Horizont zu übersteigen drohen,
besinnt sich Michael Mann auf den reizvollen Kontrast. Dann
kracht es im Gebälk, donnern Projektile aus großkalibrigen Waffen, sterben Handlanger den kollateralen Tod, gerät die anonyme Masse ins Kreuzfeuer.
Anhand des schwarzen Hutes, den sie trugen, ließen sich in den
Western filmgeschichtlicher Frühzeit die Schurken von den weiß
behüteten Gesetzestreuen unterscheiden; neuerdings bezeichnet „Blackhat“ einen Hacker, der mit krimineller Absicht in Netzwerke eindringt, gleich ob er dieses dann zerstört, beschädigt
oder sich (zunächst) mit dem Machtgefühl der erlangten Kontrolle zufrieden gibt. Die eingeschleuste Malware mag mitunter
jahrelang auf ihren Einsatz warten – wie im vorliegenden Fall, in
dem ein von Elite-Hackern geschriebenes Patch von einem anderen entdeckt und genutzt wird, mit oben erwähnten Folgen.
Doch kein Dunkel ohne Licht, und also ist mit dem Auftauchen
weißer Hüte immer und überall zu rechnen. Die vergleichsweise
leichte Angreifbarkeit eines Systems aus Nullen und Einsen, das
wiederum an nationale Interessen gekoppelt ist, die bekanntlich
jederzeit und allerorten bedroht sind, sein könnten oder möglicherweise werden, führt zur Aufrüstung. Zur Erweiterung des
Kriegsschauplatzes, wenn man so will: wo ein Blackhat Hacker,
da alsbald auch ein Whitehat Hacker.
Auftritt Computerspezialist Chen Dawai, Bruder der zierlichen
Netzwerkspezialistin, in den USA ausgebildeter Hauptmann
der chinesischen Volksarmee und beauftragt mit der Untersuchung des Anschlags. Ein Blick genügt und er realisiert, dass
das kriminell genutzte Patch, ein RAT (Remote Access Tool),
auf seinem eigenen Mist gewachsen ist. Genauer, auf seinem
und dem seines guten Freundes und Studienkollegen am MIT,
genau: Hacker Nick. Nur hat der dummerweise den schwarzen
Hut aufgesetzt, sich erwischen lassen und sitzt nun in den USA
im Knast.
Dieser Umstand wiederum macht jene von beiden Seiten nur
äußerst ungern eingegangene Zusammenarbeit zwischen chinesischen und US-amerikanischen Behörden notwendig, die die
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Das Banale und das Komplexe, sie liegen in Michael Manns
aktuellem Werk nicht nur nahe beieinander, sie kommen
auch des Öfteren zur Deckungsgleiche
Handlung von Blackhat voran treibt. Denn dem global operierenden Verbrechen ist nur mittels gemeinsamer Anstrengung
beizukommen, das ist zwar klar wie Kloßbrühe, kann aber
trotzdem nicht oft genug gesagt werden; und wenn es bei der
Gelegenheit auch noch zu einer der Völkerverständigung wie
dem menschlichen Genpool überaus dienlichen Paarung zweier
bildhübscher Masterminds kommt, umso besser.
Das Banale und das Komplexe, sie liegen in Manns aktuellem
Werk nicht nur nahe beieinander, sie kommen auch des Öfteren zur Deckungsgleiche. So ambitioniert das Drehbuch von
Morgan Davis Foehl in seinem Versuch, der Fragilität unserer
computerisierten Gegenwart gerecht zu werden, auch scheinen
mag, so konventionell wirkt, zumindest im Kontext von Manns
bisherigem Œuvre, dem Blackhat nichts zwingend Neues hinzufügt, dessen inszenatorische Umsetzung. Freilich, das ist Jammern auf hohem Niveau, ändert aber eben auch nichts an der
Tatsache, dass es Mann nicht wirklich gelingt, jenes Zittern am
Abgrund zu vermitteln, das den Status Quo der turbokapitalistischen Gesellschaften definiert.
Das Entsetzen, auf das die Geschichte hinaus laufen will, der
Schrecken darüber, dass ein Einzelner die Möglichkeit hat, via
Manipulation an Nullen und Einsen nicht nur Wirtschaftssysteme zum Einsturz zu bringen, sondern das Weichbild eines Landstrichs zu verändern und die dort lebende Bevölkerung auszuradieren – es teilt sich nicht mit. Die moderne Zivilisationen
prägenden Strukturen – Überwachung und Kontrolle, Paranoia
und Alarmismus – bleiben illustrativ. Die trügerische Sicherheit,
in der wir alle uns jeden Tag wiegen, sie wird immer wieder
sichtbar, doch in ihren Grundfesten erschüttert wird sie nicht.
Woran liegt das?
Mann stellt sich sozusagen selbst ein Bein. Mit geradezu verbotener filmemacherischer Lässigkeit demonstriert er seine
Souveränität im Umgang mit dem vielschichtigen Stoff. Cool
bis dort hinaus zeigt er seine Könnerschaft im Schaffen sinnlicher Bildtexturen. Im Inneren eines Computers sieht es aus
wie im Tron-Remake, und im Inneren eines Gefängnisses hat
die Zukunft bereits begonnen. Raubkatzengleich elegant fließt
die von Stuart Dryburgh geführte Kamera von Schauplatz zu
Schauplatz – China, USA, Malaysia, Indonesien, Wherever – und
vergisst nie, auch ein wenig Lokalkolorit aufzunehmen. Man
kann gar nicht genug bekommen von der Brillanz und Dynamik
dieser Bilder, von den Nahaufnahmen der Gesichter, den beiläufig eingefangenen Details, der vermeintlichen Flüchtigkeit des
Chris Hemsworth und Michael Mann
Blicks, in dem doch sorgsame Planung steckt. Da schaut man
also und sieht hier die teure Sonnenbrille und den schicken Anzug, dort die Submachine-Gun und das aus der Trainingshose
hängende Labbershirt. Hier die hübschen Menschen, hier die
eher hässlichen, die einen tragen weiße, die anderen schwarze
Hüte. Posen, Gesten, Symbole und Metaphern. Alles schön und
gut, aber auch kalt und glatt. Wären da nicht Viola Davis, die
als FBI-Agentin Carol Barrett die Mission koordiniert, und Ritchie
Coster, der als Söldner Kassar für die Feuergefechte zuständig
ist, Blackhat bliebe eine Blackbox ohne Herz. Doch Davis und
Coster gelingt es, einen Virus ins Programm zu schleusen, eine alte analoge Technik, gegen die noch kein digitales Kraut
gewachsen ist. Sie heißt Figurencharakterisierung, baut auf
Mitgefühl und Interesse auf, setzt emotionales Gewicht gegen
bleierne Artifizialität.
BLACKHAT
Thriller, USA 2015 ~ Regie Michael Mann Drehbuch Morgan Davis Foehl
Kamera Stuart Dryburgh Schnitt Mako Kamitsuna, Jeremiah O’Driscoll,
Stephen E. Rivkin, Joe Walker Musik Harry Gregson-Williams, Atticus Ross,
Leopold Ross Productions Design Guy Hendrix Dyas Kostüm Colleen Atwood
Mit Chris Hemsworth, Tang Wei, Viola Davis, Ritchie Coster, Wang Leehom,
William Mapother, John Ortiz, Holt McCallany, Andy On
Verleih Universal Pictures, 134 Minuten
www.blackhat-film.at
Kinostart 5. Februar
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Asphalt
Metropolis
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DER ZAUBER
DER STRASSE
Ab 13. Februar im Österreichischen Filmmuseum: „Asphalt.
Stadtmenschen im Weimarer Kino, 1923–1933“
Text ~ Jörg Becker
D
ie Auswahl, die das Filmmuseum zum Kino der
Weimarer Republik getroffen hat, umfasst etwa
dreißig Werke aus der Dekade zwischen 1923
und 1933, vom Ende der Inflation bis zum Übergang von der präsidialdemokratischen Republik
in die NS-Diktatur. Das Spektrum erstreckt sich zwischen dem
Genre-begründenden Film Die Straße (Karl Grune) und dem aus
historischer Rückschau sarkastisch anmutenden Titel Morgen
beginnt das Leben (Werner Hochbaum): ein Film noch in der Formensprache des Weimarer Stadtfilms, wenngleich bereits in den
ersten Monaten der Nazi-Regierung entstanden. Mit ihm ging
ein frühes Kapitel realistischer Filmkunst des modernen Stadtlebens zu Ende. Gewichtige Markierungen des deutschen Kinos
jener Jahre jenseits des ausdrücklichen Topos Straße bilden die
Ufa-Prestigeproduktionen Der Walzertraum (Ludwig Berger,
1925), Metropolis (Fritz Lang, 1927) und Der blaue Engel (Josef
von Sternberg, 1930). Mit dem Walzertraum kam, nach der Vorlage einer Oscar-Straus-Bühnenoperette, das „Alt-Wien“-Genre
in die Welt; mit Der blaue Engel, im Kolorit der spätwilhelminischen Ära, gewann Marlene Dietrich als gefundene Verkörperung einer erotisch libertären Moderne auf dem ungeregelten
Libido-Markt der Kräfte Wunsch, Verlangen, Gier und Verführung Ikonenstatus; und Metropolis, dieses Monstrum, das, von
utopischem Zukunftspunkt aus, eine rückblickende Phantasie
übergreifender Menschheitsmythen enthält, „bester Ausdruck
des Imaginären in Deutschland während der ‚relativen Stabilität‘“ (Bernard Eisenschitz).
Der Zauber der Straße, dieses schmutzigen Schauplatzes von
kommunalem, öffentlichem Leben – das war auch der Zauber
des Kinos. Karl Grunes Die Straße (1923) zeigt Menschen in ih-
ren Milieus, definiert sie räumlich. Lichtreize, Stimulantien von
außen ziehen den Biedermann aus seiner Innerlichkeit in die
ungeschützten Räume der Großstadt. Der Freiheitstraum eines
braven Bankkassiers hat in Siegfried Kracauers sozialpsychologische Diagnose des Weimarer Kinos, „Von Caligari zu Hitler“
(1947), eingewirkt: „Das Aufkommen dieser realistischen Tendenz in Die Straße zeigt deutlich, dass der allgemeine Rückzug
ins Schneckenhaus, der symptomatisch für die Nachkriegsjahre
war, abgeblasen werden sollte. Es war, als hätte dieser Rückzug
mit der Annahme der Devise ‚Von der Auflehnung zur Unterwerfung‘ sein Ziel erreicht und als wollte jetzt, wo der Prozess
innerer Anpassung zu einem Abschluss gekommen war, das
Kollektivbewusstsein den Kontakt mit der äußeren Realität wieder aufnehmen.“ Bezeichnend für den Straßenfilm erscheint der
infantil-regressive Charakter einer Schutz suchenden, wiedergutmachen-wollenden Gebärde eines reumütigen Rückkehrers
im Schoß der Gattin oder in den Armen der Geliebten, einer
Gebärde, wie sie etwa in Asphalt (1929) oder Morgen beginnt
das Leben (1933) den Zyklus der Handlung beschließt.
REIZÜBERFLUTUNG DER STADTMASCHINE
Der letzte Mann (1924), F.W. Murnaus Tragikomödie eines alternden Hotelportiers, gehört auch noch zum Genre Kammerspielfilm, erfüllt von mimisch-gestischem Psychodrama, das
die Ängste des deutschen Kleinbürgers in der Inflationsphase
reflektiert. „In seinem Kern ist dieser Film eine Herrschersatire.“
(Karl Prümm) Eine Satire allerdings als universelle kapitalistische
Parabel um einen „Modernisierungsverlierer“ (Thomas Koebner),
eine Parabel, in der allerdings der Faktor „Status und Scham“
bei Gesichtsverlust des Degradierten dazu angelegt war, dem
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M – Eine Stadt sucht einen Mörder
Zuschauer für lange Zeit zu schaffen zu machen, bis dieser Niedergang ironisch aufs Unwahrscheinlichste umgebogen wird ins
Happy End einer großen Erbschaft, die ein verrückter amerikanischer Millionär dem zum Klomann herabgewürdigten Portier
hinterlässt. US-Dollars lassen den von seiner Uniform Gehäuteten urplötzlich aus den Tiefen der Aborte in unglaublicher
Wendung nach oben schießen, empor in die Salons – zu denken
an die US-Investitionen in Deutschland, die als Auswirkung des
Dawes-Plans die Verhältnisse der Republik umwälzten, worauf
das Hauptmotiv des Grand Hotels, die Drehtür, welche die Einund Ausgehenden herumwirbelt, das zentrale Sinnbild abgibt.
Tatsächlich verdankte sich der wirtschaftliche Aufschwung
nach der Ablösung der Rentenmark durch die Reichsmark in
Deutschland in erster Linie ausländischem, vor allem US-Kapital,
das infolge des Dawes-Plans, der durch die Räumung des Ruhrgebiets, die Senkung der Reparationsleistungen sowie große
Anleihen an Deutschland eine Scheinblüte verursachte, in der
Republik angelegt wurde.
Mit Franz Biberkopf, dem ehrlichen Ganoven aus dem Kriminellenmilieu, gerade aus dem Gefängnis entlassen, fährt der
Film Berlin-Alexanderplatz (Piel Jutzi, 1931) vom Rand der Stadt
(Tegel) in die Mitte Berlins, in Richtung Scheunenviertel, und
der Held fühlt sich nach Jahren der Absenz von der Reizüberflutung der Stadtmaschine, in die er eindringt, zunehmend in
Panik versetzt. Wiederholt wird der Alexanderplatz als authentischer Topos einbezogen, wo der nunmehr einarmige Biberkopf sich schließlich mit eisernem Willen behaupten kann durch
den Verkauf von Stehaufmännchen – dessen Geheimnis: „Es hat
Metall am rechten Fleck!“ Der Querschnitt durch die Stadt – in
unterschiedlichster Weise findet er sich in Berlin – Die Sinfonie
der Großstadt (Walther Ruttmann, 1927): 24 Stunden im Leben
einer Stadt, phänomenologisch und nach formalen Prinzipien,
musikalisch in rhythmischen Sequenzen komponiert, zielt der
Film auf visuelle Wirkungen des modernen Metropolenlebens
mehr als auf soziale Zusammenhänge und stellt eine Eroberung
der Wirklichkeit des Dokumentarischen durch den Avantgardefilm dar. Ein anderer filmischer Berlin-Querschnitt zeigt sich in
Emil und die Detektive (Gerhard Lamprecht, 1931) nach Erich
Kästner, denn während der Entdeckungsreise bzw. Verfolgung
des Diebes quer durch die Stadt wird Berlin selbst zum Träger
der Handlung.
DIE METROPOLE, DER DSCHUNGEL
Mit M – Eine Stadt sucht einen Mörder (1931), der Geschichte
einer Menschenjagd, traf Fritz Lang die Atmosphäre in Deutschland kurz vor dem Machtantritt der Nazis. M markiert Langs
Kino der Angst, das darauf angelegt war, dem noch Unbekannten Gestalt zu geben und Ahnungen zukünftiger Dinge identifizierbar zu machen. Der Film synchronisiert die Fahndungsgeschichte von Polizei und Unterwelt: Während jene die Stadt
rasterhaft erschließt, bewegt sich diese wie im Dschungel, auf
eigener Wildbahn, ist damit im Vorteil und zerrt den getriebenen Täter (Peter Lorre), eine gehetzte, zerrissene Gestalt, vor ihr
unterirdisches Tribunal.
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Berlin Alexanderplatz
Auf der Flucht vor der Polizei landet ein Einbrecher-Matrose
(Friedrich Gnaß) im Zimmer eines Straßenmädchens (Gina Falckenberg), im Nu bricht die Liebe aus, mit ihr keimt der Traum
von einem anderen Leben, doch während der Nacht in der
Kongo-Bar zieht sich das Fahndungsnetz immer enger zusammen. Ein lumpenproletarischer poetischer Realismus von Werner Hochbaums Film aus dem Hafenmilieu, Razzia in St. Pauli
(1932), habe, so Peter Nau, „das verbrauchte, abgestorbene Material des aus der Stummfilmzeit überkommenen Ganoven- und
Dirnenfilms durch Verwandlung in eine originale und aktuelle
Filmform gleichzeitig aufgedeckt und gerettet“.
Der von Piel Jutzi für die KPD-nahe Prometheus-Filmgesellschaft
inszenierte Film Mutter Krausens Fahrt ins Glück (1929) galt als
der proletarische Film seiner Zeit, der das Wohnungselend in
den Berliner Arbeitervierteln anprangerte und in von Heinrich
Zille inspirierten Bildern eine Authentizität vorgab, die hier eher
noch als die Montagetechnik des erfolgreichen „Russenfilms“
seine agitatorische Wirkung forcierte. Gegenüber diesem naturalistischen Melodram markiert Slatan Dudows Kuhle Wampe
oder Wem gehört die Welt (1932) nach Brecht und Ottwaldt als
politisches Werk eine erhebliche Differenz. Aufruf zur Veränderung der sozialen Verhältnisse auf dem Höhepunkt der Arbeitslosigkeit Anfang 1932 mit 6,1 Millionen Arbeitslosen, ist Kuhle
Wampe, letzter klassenkämpferischer Film der Weimarer Republik, ein betont unsentimentaler Film, „ein Experiment“, schrieb
Herbert Ihering 1932. „Er ist jenseits des Betriebs gemacht, mit
künstlerischer Überzeugung und restlosem Einsatz.“
Asta Nielsens Gesicht, das in Die freudlose Gasse (G.W. Pabst,
1925) zur „dramatischen Bühne“ der Metamorphose des
Schmerzes wird, beschreibt Balázs in seinem Werk „Der sichtbare Mensch“ (1930). Die freudlose Gasse konfrontiert die sozial Deklassierten und Hungernden im Wien der NachkriegsInflationszeit mit den Spekulationsgewinnern zur Zeit der
„Entwertung aller Werte“; entgegen der kriminalistischen Vorlage konzentrierte sich Pabst auf den sozialen Kontrast und
die herrschende Korruption. Der Blick auf Greta Garbo, die in
ihrem einzigen deutschen Film eine arbeitslose Beamtentochter
verkörpert, wird meist als Tableau inszeniert, nah, was in einem
reizvollen Spannungsverhältnis steht zum sozialkritischen Impetus des Films.
FILMGESCHICHTLICHER PAUKENSCHLAG
Ein „Film ohne Schauspieler“, sollte es sein, „ein Taxi-Chauffeur,
ein Weinreisender, ein Ladenmädel (verkauft Schallplatten von
Caruso bis Sunnyboy), eine Filmkomparsin und ein Mannequin
– was passiert? Nichts? Nichts passiert.“ So warb das Programmblatt zur Uraufführung mit Ereignislosigkeit, weckte Neugier auf
die alternative Attraktion: Ein Sonntag wie tausend andere wird
dokumentiert in Menschen am Sonntag (Robert Siodmak, Edgar
G. Ulmer, Buch: Billie Wilder, nach Curt Siodmak, 1930), dem
Film, der die Konventionen des damaligen Erzählkinos unterlief. Zu sehen ist eine visuelle Studie der Urbanität, die vor und
unabhängig von jeder Inszenierung existiert, Stilisierung ausschließt und stark auf Spontaneität, Zufällen und Gefundenem
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Emil und die Detektive
Ich bei Tag und du bei Nacht
Die Straße
basiert. Das Porträt einer jungen Stadtgeneration erscheint wie
ein Lob auf deren Vitalität und wie sich diese in der Metropole entfalten kann – überdies „ein filmgeschichtlicher Paukenschlag. Formal der Neuen Sachlichkeit zugehörig, antizipiert der
Film den Neorealismus.“ (Thomas Brandlmeier)
Siodmaks anschließender abendfüllender Tonfilm, Abschied
(1930), ein Milieu-Nachwuchsfilm der Ufa, widersprach ebenfalls den Mustern des Starkinos. Die insgeheime Adaption von
Maxim Gorkis „Nachtasyl“ (1902) liefert eine typische Berliner
Geschichte aus Vertrautheit mit Ort und Milieu: „Menschen in
einer kleinen Pension, es ist ein Stadtfilm des Innenraums. Die
sich überschneidenden Bewegungslinien, Zufallskonstellationen
und ein unablässiges Zirkulieren sind für ihn kennzeichnend.“
(Karl Prümm) Die Beschränkungen auf den Innenraum des Studios, weil Tonaußenaufnahmen noch nicht möglich waren,
nimmt der Film ins Konzept seiner Reduktion von Raum und
Zeit sowie des Kamerablicks auf. „Die Handlung beginnt abends
um 7, und gegen 9 Uhr endet sie schon. Die Zeitfolge wird gar
nicht unterbrochen. Und auch die Einheit des Milieus nicht. (…)
Mit der Absicht, die tonfilmisch toten Stellen zu überbrücken,
spielt im Film während seiner ganzen Dauer ein Klavier.“ (Drehbuchautor Emmerich Preßburger).
„Irgendwo auf der Welt gibt’s ein kleines bißchen Glück“, singt
Lilian Harvey in Ein blonder Traum (Paul Martin, 1932). Statt
Filmstar in Hollywood zu werden, entscheidet sich die abgebrannte Variétékünstlerin für den Fensterputzer Willy Fritsch
(das deutsche Filmtraumpaar jener Jahre, von dem auch die
Menschen am Sonntag schwärmen). Das eskapistische kleine
Glück, zentrales Element der Tonfilmoperette jener Jahre, machte das Ufa-Erfolgsrezept in der Notverordnungsphase der späten Republik maßgeblich aus. Zeitweilig kommen die Lebenskünstler aus Armut in Laubenkolonien unter („Wir zahlen keine
Menschen am Sonntag
Miete mehr, wir sind im Grünen zuhaus‘“). Aus Geldnot in der
Krise müssen sich die Maniküre Grete (Käthe von Nagy) und der
Kellner Hans (Willy Fritsch), der nachts arbeitet, arrangieren und
im Schichtdienst ein Untermietzimmer teilen, doch kennt man
sich nicht persönlich, sondern verliebt sich an neutralem Ort.
Der Hauptschlager des Films Ich bei Tag und du bei Nacht (Ludwig Berger, 1932) besingt das Kleine-Leute-Vergnügen: Kino im
Film, der durchaus selbstironisch die Realitätsflucht, die das
Medium bedient, bloßstellt. „Wenn ich sonntags in mein Kino
geh‘ und den Himmel voller Geigen seh‘, träum‘ ich noch am
Montag früh: Einmal leben so wie die – doch zu sowas kommt
man nie!“
Asphalt. Stadtmenschen im Weimarer Kino, 1923–1933
Österreichisches Filmmuseum, 13. Februar bis 9. März
Außerdem zu sehen: Der zweite Atem. Rezente Restaurierungen des
Filmmuseums. 35 von 350 restaurierten bzw. umkopierten Werken
aller Gattungen und Formate, entstanden zwischen 1907 und 2001,
vom Klassiker bis zum historischen Amateur-Fundstück, sind ab 26.
Februar zu sehen. An der Auswahl, die Kennerinnen und Kenner des
Filmmuseums nicht überraschen wird, lassen sich auch die Grundlinien der Sammlungsgestaltung ablesen: Filme von Dziga Vertov,
Dušan Makavejev, Apichatpong Weerasethakul, Ulrich Seidl, Heinz
Emigholz oder James Benning (zu letzteren beiden siehe auch die DVDTippstrecke in diesem Heft), aber auch schablonenkolorierte Tourismusfilme der 1910er Jahre oder das Werk einer der ersten Spielfilmregisseurinnen: „Das Teufelchen“ (1917) von Rosa Porten. Eröffnet wird die Reihe
mit Lav Diaz’ fünfstündigem, in der philippinischen Diaspora in New
Jersey angesiedeltem Meisterwerk „Batang West Side“ (2001).
26. Februar bis 11. März
www.filmmuseum.at
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D r. Z
Die Poesie des Realen: mit Umberto D. in Rom
Text ~ Peter Zawrel
Wenn es Februar wird im „ray“, verbringt Dr. Z seine Abende im Filmmuseum, das ist im Jahreslauf so festgeschrieben. In
seiner – zugegebenermaßen sehr subjektiven – Retrospektiven-Rangliste liegen die Wintermonate im Kino seines Vertrauens
ungefährdet ganz vorne. Als er vor genau drei Jahren die erste Kolumne verfasste, blieb ihm mangels anderer Eindrücke
gar nichts anderes übrig, als einen Vorfall an der Bar des Filmmuseums zum Anlass des Schreibens zu nehmen, nämlich
den – unvergesslich gebliebenen! – vergeblichen Versuch einer Besucherin, am 16. Dezember 2012 einen „Sportgummi“ zu
erstehen, um sich durch die Vorführung von Macao zu rascheln … und nun ist es wieder so weit, denn von Dezember bis
Februar heißt die wichtigste Frage wieder, ob der Lieblingsplatz in Reihe 8 frei ist oder nicht!
Von diesem Platz aus lassen sich im perfekten Blickwinkel die wundersamsten Reisen unternehmen, neulich etwa mit der
Straßenbahn durch das Rom der Nachkriegszeit. Als ich selbst 1983 in Rom angekommen war, um dort einige Zeit zu
verbringen, folgte ich dem Rat einheimischer Freunde und verbrachte meinen ersten freien Tag in der Straßenbahn. Besser
als durch die Fenster einer Tram an einem frühen Sonntagmorgen erschließt sich einem die Stadt nicht. Die Fassaden der
hohen Gebäude, die am Tiber schon vor Jahrhunderten in den Himmel wuchsen, zeigen sich in den harten Schatten des
Morgenlichts gleißend hell oder tief verdunkelt. Man möchte nicht aufhören, durch das Häusermeer zu gleiten, auch wenn
es gefährlich rumpelt.
Vittorio De Sica lässt seinen Anti-Helden Umberto D. am frühen Morgen das ihm verleidete Quartier an der Ecke Via San
Martino della Battaglia/Campo Pretorio verlassen, in einem Koffer seine letzten Habseligkeiten, die er einsetzen will, um
seinem Hund Flike ein Auskommen in einer Hundepension in der Via Luccosa zu sichern, bevor er, der alt und nutzlos
gewordene, verschuldete Beamte i.R. sich aus seinem sinnlosen Hiersein hinwegstiehlt. Als er die Straßenbahn besteigt, beginnt eine der schönsten urbanen Sequenzen der Filmgeschichte, ein Kleinod an Rhythmus und Stimmigkeit. Wir verfolgen
drei Bewegungen: jene der Tram durch das halbschlafene Rom, jene des Signor D., der sich aus seinem vertrauten Leben
zur letzten Reise aufmacht, und jene seiner Blicke, die er zuerst zurück wendet, zu dem im Fenster seines alten Domizils
stehenden Zimmermädchen Maria, des einzigen Menschen, der ihn ernstgenommen hat, bevor er sich in die Fahrtrichtung
wendet und hinauf zu den Häusern, die vorbeiziehen wie stumme Zuschauer, und weiter hinauf in den römischen Himmel.
Er braucht aber noch einen letzten Anstoß, damit er sich ganz dem Blick aus dem Fenster widmet, das ist der Mann, der sich
neben ihn setzt, ihn keines verschlafenen Blickes würdigt.
Einmal leuchtet ein weißer Fleck in einem Fenster hoch oben auf, aber da ist kein Mensch, nur Wäsche im Sonnenlicht. Auch
die Straßen sind leer, und in der Via Leccosa wird Umberto D. nur auf Karikaturen von Menschen treffen, die uns wehmütig
an Maria zurückdenken lassen. Die Straßenbahnfahrt dauert knapp 70 Sekunden, die man immer und immer wieder sehen
will. Wir verstehen, dass nun der letzte Teil des Filmes beginnen muss, dass es kein Zurück mehr gibt, ein Ende naht. Dass
dieses ganz anders sein wird, als wir glauben, können wir nicht einmal erahnen. (Alleine dafür hätte der Drehbuchautor
Cesare Zavattini den Oscar verdient, für den er nominiert war.) Aber wir können 70 Sekunden lang mit Umberto D. und
Flike durch Rom fahren, den Blick die Häuser entlang in den Himmel träumen lassen, uns der Poesie des Realen hingeben
und die Misere des Lebens vergessen.
PS: Das Filmmuseum zeigt Umberto D. auch noch am 5. Februar, und wenn das neue „ray“ rechtzeitig im Postkasten liegt,
sollte sich der Ausflug nach Rom für seine Leserinnen und Leser noch ausgehen.
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AUSTRIAN PSYCHO
James Bond in Osttirol? Was ist das schon gegen diesen Thriller: Das British Film Institute sucht einen
verschollenen, 1926 in den Tiroler Bergen gedrehten Film von Meister Alfred Hitchcock.
Text – Heinz Kampel
E
s dürfte wohl nur eingefleischten Cineastinnen und
Cineasten bekannt sein, dass der legendäre Alfred
Hitchcock in Österreich einen Film gedreht hat. Für
seine zweite Regiearbeit wählte der spätere Master
of Suspense das Dorf Obergurgl in Tirol als Schauplatz. Die wenigen erhaltenen Setfotos zeigen Sir Alfred mit
voller Haarpracht inmitten schneebedeckter Landschaften. Von
den Filmrollen selbst hingegen fehlt bis heute jegliche (Schi-)
Spur. Bei der Wahl der Location führte ein bisschen auch der Zufall Regie. Ursprünglich war Hitchcock in bayrischen Landen unterwegs, als er in München, so die Legende, an einem Kiosk eine
Postkarte eines völlig entlegenen Bergdorfes entdeckte. Hitchcock war sehr angetan, denn bar jeder Zivilisation musste die
Ortschaft sein, um die Einsamkeit der ansässigen Bevölkerung
zum Ausdruck bringen. Die steilen Hänge der Ötztaler Alpen
standen symbolisch wohl auch für die menschlichen Abgründe
der handelnden Personen des in Kentucky angesiedelten Melodramas. Analytische Inszenierung psychischer Beeinträchtigungen sollte in späteren Jahren zu einer fixen Zutat eines echten
Hitchcocktails werden.
Handlung, Hauptdarsteller und Hintergründe des 1926 entstandenen Stummfilms sind bekannt. Titel des Films war nicht Das
Fenster zum Bauernhof, sondern The Mountain Eagle. Das BergWerk behandelt eine Vierecks-Geschichte zwischen einem Vater,
dessen Sohn, einem geächteten Eremiten und einer hinreißenden, hin- und hergerissenen Lehrerin. Dass diese Konstellation
nicht für alle Protagonisten gut ausgehen konnte, versteht sich
von selbst. Als Cutterin war damals auch schon Alma Reville,
die Muse des Maestros und spätere Mrs. Hitchcock, mit von der
Partie. Sie war es, die dem Regisseur beistand, als er einmal an
Vertigo litt. Sie kredenzte ihm seine Lieblingslimonade aus den
Zitrusfrüchten, die er eigens in einem prall gefüllten Rucksack
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angeschleppt hatte. Sie vermittelte, als die für die weibliche
Hauptrolle engagierte amerikanische Diva Nita Naldi, die ehemalige Stummfilm-Partnerin Rodolfo Valentinos, sich zu Drehbeginn lautstark beschwerte: Ihre Anreise nämlich hatte sechs
Stunden bergauf im Pferdewagen gedauert, zudem musste sie
für ihre Performance als Mädchen vom Lande ihre schönen langen Fingernägel opfern und von ihren eleganten Pumps auf
Haferlschuhe umsteigen.
Ganz generell standen die für zwei Wochen angesetzten Dreharbeiten unter keinem guten Stern. Der ungewöhnlich früh einsetzende Schneefall bedingte, dass die örtliche Feuerwehr zur
Schneeräumung herangezogen werden musste. Auf die weiße
Pracht hätte Hitch gerne verzichtet, hatte er doch die Drehorte
zuvor nur in Grünlage besichtigt. Diesbezüglich die bekannteste von Hitchcock überlieferte Anekdote zu dem Film: „Nach
Tagen der Untätigkeit beschlossen wir, Tauwetter zu produzieren. Ich überzeugte eine Handvoll Männer, mit der Handpumpe
der Freiwilligen Feuerwehr den Schnee wegzuwaschen. Eines
ums andere befreiten sie die Dächer vom Schnee. Doch eines
der Hausdächer gab unter den Wassermassen nach, und die
Bewohnerin beschwerte sich zu Recht über ihr geflutetes Heim.
Der Bürgermeister meinte, dass ein Schilling Entschädigung für
die Frau angemessen wäre. Sie bekam zwei von mir. Gemessen
an ihrer Freude, hätte ich für zehn Schilling wohl das ganze Dorf
unter Wasser setzen dürfen.“
Das British Film Institute räumt dem Film einen hohen Stellenwert innerhalb der Filmgeschichte ein und hat eine Kampagne zur weltweiten Suche nach einer Kopie ausgerufen. Auch
Johannes Köck, der Geschäftsführer von CineTirol, hat sich der
Auffindung von The Mountain Eagle verschrieben. Er sieht es als
Verpflichtung an, der Nachwelt Hitchcocks Heimatthriller vorzuführen. Seine Nachforschungen reichen von Russland, wo die
Filmrollen als Nachkriegsbeute gebunkert sein könnten, bis in
ein Filmarchiv in Neuseeland, einem beliebten letzten Ruheort
rund um die Welt gereister Filmkopien. Sachdienliche Hinweise
und der Film im Besonderen werden von ihm zu jeder Tagesund Nachtzeit entgegengenommen.
Hitchcock selbst teilte die Begeisterung offenbar nicht: Als Sir
Alfred von François Truffaut auf sein verschollenes Frühwerk
angesprochen wurde, äußerte er sich abfällig und befand The
Mountain Eagle für vernachlässigbar. Wir werden uns wahrscheinlich kein Lichtbild mehr davon machen können. Genauso wenig wie wir wissen können, wie es gewesen wäre, hätte
Hitchcock den ersten James-Bond-Film gedreht, wie Ian Fleming
es sich gewünscht hatte. Aber das ist wieder eine ganz andere
interessante Geschichte.
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t i p p s
d e s
m o n a t s
Trois couleurs: Rouge (1994)
GROSSMEISTER
Krzysztof Kieślowski, 1941 in Warschau zur Welt gekommen und 1996
ebendort verstorben, zählt zu den
bedeutendsten Regisseuren des 20.
Jahrhunderts. Begann er zunächst
mit Dokumentarfilmen, die einen
kritischen Blick auf soziale Realitäten warfen (und die allesamt von der
polnischen Regierung stark zensiert
wurden) war zunächst auch sein Stil
als Spielfilmregisseur von sozialem
Realismus geprägt. Während der
Dreharbeiten zu Ohne Ende (1984)
lernte Kieślowski, der am Filmemachen besonders den Aspekt der Zusammenarbeit mit anderen Künstlern
schätzte, zwei prägende künftige Mitarbeiter kennen: den Drehbuchautor
Krzysztof Piesiwicz und den Komponisten Zbigniew Preisner. Mit beiden
arbeitete er für den Fernseh-Zehnteiler Dekalog zusammen, der ihm den
internationalen Durchbruch bescherte. Diese Verfilmung der zehn Gebote
funktionierte abseits von Bibelkitsch
und stellte Fragen nach der moralischen Relevanz der Gebote in der Gegenwart. Zwei der Episoden erregten
auch in längeren Versionen Aufsehen:
Ein kurzer Film über das Töten und
Ein kurzer Film über die Liebe. Nach
dem geheimnisvollen Drama Die zwei
Leben der Veronika drehte Kieślowski
die berühmte, mehrfach preisgekrönte „Drei-Farben“-Trilogie – Blau, Weiß,
Rot – die sich mit den Farben und Werten der französischen Flagge (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit) beschäftigt. Die Kunst Kieślowskis war
es, moralische Fragen auf spannende
Weise, ohne erhobenen Zeigefinger,
zu stellen. Wenn Sie Kieślowski neuoder wiederentdecken wollen: Eine
DVD-Besprechung zu Dekalog finden
Sie auf Seite 98, einen Literaturtipp
zu einem Buch über den Filmemacher
auf Seite 104. Oliver Stangl
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d v d
c l a s s i c s
RELIGIOSITÄT OHNE
RELIGION
Ein im besten Sinne zeitloses Kino: Auch ein Vierteljahrhundert nach ihrer
Entstehung hat Krzysztof Kieś lowskis zehnteilige Filmreihe „Dekalog“ (1988–1989)
nichts von ihrer emotionalen Wucht und Vielschichtigkeit verloren.
Text ~ Benjamin Moldenhauer
Illustration ~ Franz Suess
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c l a s s i c s
D
ie Bibel-Verfilmungen sind zahlreich, und die
meisten sind unerquicklich. Die angestammten
Genres sind der Monumentalfilm und der JesusEssay. Manchmal geht das gut (Martin Scorseses
Die letzte Versuchung Christi), manchmal nicht
(Mel Gibsons Die Passion Christi). Auf die Idee, von Religiosität anders als im Modus des Biopic oder als einer Abfolge von
großen Taten bärtiger Männer zu erzählen, kommen nur die
wenigsten (Pier Paolo Pasolini mit Das 1. Evangelium-Matthäus
etwa, um auf noch etwas Gelungenes hinzuweisen); vielleicht
auch deswegen, weil die allermeisten Produzenten einem Regisseur, der ein Exposé für einen Film, der nach der Aktualität
christlicher Ethik fragt, auf den Tisch legt, bestenfalls freundlich aber bestimmt die Tür zeigen würden.
Der polnische Regisseur Krzysztof Kieślowski hat nicht nur einen gedreht, sondern gleich zehn, einen zu jedem Gebot. Sein
„Dekalog“-Zyklus ist Ende der achtziger Jahre für das polnische
Fernsehen produziert worden, und jeder einzelne der knapp
einstündigen Filme ist auch heute noch von einer bestürzenden Intensität. All die Tragödien, Grausamkeiten und Glücksmomente, die Kieślowski zeigt, spielen sich in und um einen
Warschauer Neubaukomplex ab, alle funktionieren als eigenständige Geschichten über Menschen, die sich verloren haben
oder deren Halt in der Welt mit einem Mal äußerst porös geworden ist.
„Immer häufiger hatte ich den unabweisbaren Eindruck, ich sähe Menschen, die nicht wirklich wüssten, warum sie leben“, erzählt Kieślowski im Interview, bietet dem Zuschauer aber keine
Erbauung an: „Ich weiß nicht, wie es sein sollte.“ Vielleicht deswegen können diese Filme ihre Wirkung nachweislich auch für
Zuschauer entfalten, die sich, wie der Rezensent, für Agnostiker
halten. Es geht Kieślowski nicht darum, was Jesus getan hätte.
Es geht um einen präzisen, zugleich aber konsequent zurückhaltenden Blick auf die Menschen und ihr Tun und Lassen. Man
sieht, was Hybris, was Einsamkeit, was ein Dilemma ist; im Film
zum fünften Gebot bekommt man, in einer der unerträglichsten
Gewaltszenen der Kinogeschichte, gezeigt, was es bedeutet, einen Menschen zu töten.
Natürlich sind diese Filme nicht frei von Moral (wie immer das
auch aussehen könnte), im Gegenteil – nur gibt Kieślowski
nichts vor, sondern zeigt, was vorliegt. Die Klarheit und die
Einfachheit dieser Bilder entstehen nicht durch die Suggestion eines Realismus, der behauptet, einfach nur die Kamera
draufzuhalten. Jeder der zehn Filme ist mit einem anderen Kameramann gedreht, die Tonfälle differieren, jede Einstellung
wirkt durchkomponiert. Es ist die Offenheit des Blicks, die den
Zuschauer tatsächlich dazu zwingt, über diese Bilder nachzudenken. Wer das verweigert, kann sich die Zeit sparen und weiter HBO schauen. Die „Dekalog“-Filme wollen, wenn die etwas
schiefe Formulierung gestattet ist, vom Zuschauer wissen, wer
er ist. Und dieses ganz grundsätzliche Ernstnehmen – durch das
sich das Gesamtwerk Kieślowskis im Übrigen ganz fundamental
von, sagen wir, 95 Prozent der internationalen Filmproduktion
unterscheidet – findet seine Entsprechung in der Haltung zu
den Figuren auf der Leinwand. Man kann sie alle verstehen, ohne dass man sie mögen müsste. Niemand wird gerichtet. Diese
Haltung zeugt von einer Religiosität, die mit der institutionalisierten Religion, wie wir sie heute kennen, nichts mehr zu tun
hat. „Ich brauche keine Vermittler“, sagt Kieślowski.
Warum die polnische Originalfassung im Fall dieser ansonsten
rundum sorgfältig editierten DVD-Box ohne deutsche Untertitel
auskommen muss, bleibt rätselhaft. Die deutsche Synchronisation jedenfalls macht keine Freude.
DEKALOG
Bibelfilmzyklus, Polen 1988/1989
Regie Krzysztof Kieś lowski
Drehbuch Krzysztof Piesiewicz, Krzysztof Kieś lowski
Kamera Wieslaw Zdort, Piotr Sobocinski, Jacek Blawut u.a.
Musik Zbigniew Preisner, Henryk Baranowski, Wojciech Klata,
Daniel Olbrychski, Maria Pakulnis, Joanna Szczepowska, u.v.a.
Bonus „Still Alive“ (Dokumentation über Krzysztof Kieś lowski),
„100 Fragen an Krzysztof Kieś lowski“ (Aufzeichnung eines TV-Gesprächs mit
dem Regisseur, 42 Min.)
Gesamtfilmlänge 563 Minuten auf 6 DVDs
absolut Medien
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Parabeton, Perret in Frankreich und Algerien, The Airstrip
Im Kopf vervollständigen
Mit „The Airstrip“ erscheint der dritte Teil der Architekturfilmreihe „Aufbruch der Moderne“ von Heinz Emigholz.
„Meine Arbeit als Filmemacher
besteht darin, den dreidimensionalen Raum auf einer zweidimensionalen Bildfläche zu präsentieren, ihn also in filmische
Einstellungen zu zerlegen und
in der Projektion neu zu konstruieren. Kameraarbeit ist so
gesehen eine architektonische
Tätigkeit.“ („Bauwelt“ 37/2004)
Nach zahlreichen, an Werkkatalogen favorisierter Architekten
und Ingenieure der klassischen
Moderne orientierten monografischen Filmen setzt sich in The
Airstrip nunmehr ein Interesse an
„anonymen, architektonischen
Situationen“ durch.
Vom „gefesselten Prometheus“
zu den künstlichen Landungsb r ü cke n a n d e r K ü s t e d e r
Normandie, anschließend der
Lichteinfall durch die Kuppel
des Pantheon, es folgt eine Betonkuppel von 1913 in Breslau,
unter der die Nazis Großversammlungen abhielten, und ein
Warenhaus aus demselben Jahr
in Görlitz – „Der Kapitalismus
baute Filmsets für unschuldige
Träume ...“ –, ein Einkaufszentrum um 2000 in Arceuil, 2011 „Die Moderne – ein Schrottplatz
für architektonische Utopien ...“
Am Schluss der „Neptunbrunnen“, von Reinhold Begas, wie
der Prometheus, aus der wilhelminisch-kolonialistischen Ära.
Die monografischen Filme zum
Werk der Architekten Pier Luigi
Nervi und Auguste Perret geben
Porträts ihrer geschaffenen Räume als „Handlungsräume“, die
Emigholz mit Kameraeinstellungen für die Vorstellungskraft des
Filmbetrachters komponiert.
Das geschieht durchweg mit
atmosphärischem Originalton
der Bauten bzw. dem Klang ihrer äußeren Welt, ohne jeden
Kommentar, ohne Menschenhandlung, in fixen Kadragen.
In den Blickvarianten der Aufnahmeausschnitte wird ein vom
ruhenden Objekt, der gegenständlichen Welt der Architektur inspirierter Kamerazugang
kenntlich. Oft findet die Annä-
herung an ein Bauwerk aus weiträumigem Ambiente statt, mit
Sinn für die Integration einer
Architektur in eine Landschaft,
dann tendieren die Einstellungen ins Innere, Durchgänge,
Raumanordnungen in die Tiefe
ziehen den Blick an, mit Vorliebe bleibt die Kameraperspektive
im Aufwärtsblick an komplexen
Deckenkonstruktionen haften,
betrachtet die geometrischen
Lösungen der Begegnung von
Flächen und Linien.
Für The Airstrip filmte Emigholz auf den Marianen-Inseln
im Pazifik die Betongruben, aus
denen die beiden Atombomben
für Hiroshima und Nagasaki in
die Flugzeuge verladen wurden;
später suchte er den Strand von
Aramanche in der Bretagne auf,
wo zwei riesige Betonbunkeranlagen, von den Alliierten im
Zweiten Weltkrieg als künstliche Häfen angelegt, im Gezeitenwechsel der Küste daliegen.
Emigholz setzt mit The Airstrip
die Ästhetik seiner Architektur-
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filme fort, schlägt allerdings,
neben dem verlesenen Autorentext, mit Überblendungen, Spezialeffekten und Musik der Band
Kreidler neue Töne an. Womöglich eröffnet der historiografisch
begründete Verknüpfungssinn
seinem Werk neue Horizonte.
JÖRG BECKER
Parabeton. Pier Luigi Nervi und römischer Beton (DE 2012) Aufbruch
der Moderne – Teil I Bonus 72 min.
additional shots; Presseheft
Filmlänge 100 Minuten
Perret in Frankreich und Algerien
(DE 2012) Aufbruch der Moderne
– Teil II Bonus 113 min. additional
shots; Presseheft
Filmlänge 110 Minuten
The Airstrip (DE 2013) Aufbruch
der Moderne – Teil III Bonus Kurzfilm
„Zwei Museen“ (18 min.) mit Gebäuden
von Samuel Bickels und Renzo Piano,
Kapitelmenü; Presseheft (DVD ROM)
Filmlänge 108 Minuten
Regie / Kamera / Schnitt
Heinz Emigholz
Filmgalerie 451
r e v i ed w
s
v d
Bilitis, Nurse
l i t e r a t u r
NYMPH()MANIAC 1&2 –
DIRECTOR’S CUT (DK 2013)
BILITIS
UNHUNG HERO
NURSE
(FR/IT 1977)
(USA 2013)
(USA 2014)
In „Rumpelstilzchen“ wird ein
Mädchen von einem Gnom symbolisch-sexuell ausgenutzt gegen
frisch gesponnenes Gold, das sie
stracks ihrem König/Ehemann/
Zuhälter abliefert. „Rumpelstilzchen“ – das war der Tarnname
für den klandestinen Versand
der Vorab-Presse-DVDs, vermutlich, damit dem Briefträger
seine brisante Fracht verborgen
bleibt: Die Langversionen von
Lars von Triers schon legendärem zweiteiligen Nymph()maniac.
Den gekürzten Kinofassungen
weit überlegen – nicht nur wegen
expliziter Sexszenen –, geht es
um Obsessionen der Triebe, des
Erzählens und Zuhörens in der
dialektischen Dynamik der Ausnutzung. All den innerfilmischen
Exkursen und Abschweifungen
vom Fliegenfischen und Einparken, von Bach’schem Orgelchoral und Ost- und Westkirche, von
Fingernägelschneiden und Rugelach, von Linden, Eschen und
von Fibonacci-Penetration – all
diesen Bereicherungen fügt der
paratextuelle „Rumpelstilzchen“Verweis eine weitere, klug gewählte Fußnote hinzu.
Kult der Unschuld. Zeitkonserven-Erotikon, Schmalztapete
oder Pädophilen-Pampe? Bilitis
lässt bis heute niemanden kalt.
Der britische Fotograf David
Hamilton, König des Weichzeichners, wurde zur Ikone der sexuellen Liberalisierung der Siebziger,
als er sich mit impressionistischer
Tattrigkeit auf vornehmlich unverhüllte Minderjährige konzentrierte. Knospende Früchte an
Schamhaar-Gamsbart. Wallegewänder im Gegenlicht. Gebutterte Optik am Mittelmeerstrand.
Es gibt viel zu entdecken inmitten der Überdosis Kitsch
rundum den bisexuellen ersten
Forschungsurlaub einer TeenieNymphe: Denn das Drehbuch
der späteren Regie-Provokateurin
Catherine Breillat enthält etliche
böse Spitzen gegen das MachoPatriarchat. Sinnlichkeit und
Farbgebung nehmen das spätere
französische Kommerzkino eines
Besson oder Beineix komplett
vorweg. Und die selbstverständliche Leichtigkeit der Erotik hier,
so fragwürdig sie in vielen Dingen sein mag, demonstriert perfekt, in welch politisch korrektem
Mief das Kino aktuell steckt.
Patrick Moote hat nicht eben
den Größten, meint dessen Ex.
„Unterdurchschnittlich“ seien
Penislänge wie -dicke, bescheinigt die daraufhin zu Rate gezogene Urologin. Kein Mann hört
dergleichen gerne, aller „size
doesn’t matter“-Autosuggestion
zum Trotz. Unerschrocken aber
macht Moote sich nun daran, das
„Problem“ zu beheben. Er begibt
sich auf das weite Feld der Vergrößerung eines „zu klein“ geratenen Gemächts, und Brian Spitz
begleitet ihn auf einer Reise, die
von den USA nach Südostasien
führt, Begegnungen mit Ärzten,
Wissenschaftlern, Pornostars,
Medizinmännern, Quacksalbern
und Esoterikern mit sich bringt
und doch zuvörderst der Frage nach der Relation zwischen
männlicher Identität und männlichem Geschlechtsteil nachgeht.
Mit welcher Offenheit Moote
uns an seinem Selbstversuch teilhaben lässt, ist nicht weniger als
heldenhaft; und auch wenn Unhung Hero mitunter etwas albern
und narzisstisch wirkt, die unverkrampfte Weise, auf die sich hier
ein Mann mit seinem Schwanz
auseinandersetzt, nimmt ein.
Der pathologische Hass auf Ehebrecher infolge eines schweren
Kindheitstraumas treibt eine im
Arbeitsalltag tüchtige Krankenschwester dazu, untreue Männer
mit Verstümmelung und dem
Tod zu bestrafen. Ein Opfer des
Liebesverlangens der tückischen
Serienkillerin – mit verlockendem Pornstar-Appeal affektiert
verkörpert von Paz de la Huerta wird eine hübsche neue Kollegin.
Als die den Kontakt abbricht,
kommt es zu einem Massaker
auf der Intensivstation. Die nach
Art klassischer Exploitation
Movies versiert inszenierte Femdom-Story wird streckenweise
aus der Perpektive und mit OffKommentaren der Psychopathin
geschildert, „The Killer Inside
Me“ von Jim Thompson mag da
als Anregung gedient haben. Mit
aufreizenden Kostümen, Catfights, einer chirurgischen Folterszene und literweise verspritztem
Kunstblut werden sadomasochistische Gelüste, Fetisch- und GoreFans gleichermaßen bedient. Für
Komik sorgt eine penetrant frohsinnige Klatschbase, die Kranke
und Klinikpersonal mit SmileyAufklebern nervt.
PAUL POET
ALEXANDRA SEITZ
RALPH UMARD
Mit Charlotte Gainsbourg, Stellan
Regie David Hamilton
Regie Brian Spitz
Regie Douglas Aarniokoski
Skarsgård, Stacy Martin, Shia LaBe-
Musik Francis Lai
Mit Patrick Moote, Axel Braun, John
Mit Paz de la Huerta, Catrina Bow-
ouf, Christian Slater, Uma Thurman,
Mit Patti d’Arbanville, Mona Kristen-
Falcon, Allie Haze
den, Corbin Bleu, Judd Nelson
Jamie Bell, Willem Dafoe
sen, Bernard Giraudeau, Matthieu
Filmlänge 84 Minuten
Bonus Regiekommentar, Making-of,
Bonus Interviews mit den Darstellern
Carrière, Gilles Kohler
Filmconfect
Featurette
Filmlänge 327 Minuten
Länge 91 Minuten
Filmlänge 84 Minuten
Concorde Film
Alive
Universum
HARALD MÜHLBEYER
Regie Lars von Trier
ray 101
Persönliches Exemplar von [email protected], alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at
Harms, Ruhr
d v d
WHEN ANIMALS DREAM
HARMS
55 DAYS AT PEKING
NATURAL HISTORY / RUHR
(DK 2014)
(DE 2013)
(USA 1963)
(AT 2014 / DE 2009)
Ein Mädchen in einem dänischen Dorf am Meer, die Mutter ist mit Medikamenten ruhig
gestellt, der Vater besorgt wegen
eines nicht weiter spezifizierten
Familienf luchs. Die Pubertät
ist in vollem Gange, es wachsen
Haare, wo sie eigentlich nicht
hingehören, die Dorfgemeinschaft wird unruhig und natürlich dauert es nicht allzu lang,
bis die erste Leiche im Vorgarten vergraben werden muss. Der
dänische Film When Animals
Dream knüpft an die WerwolfMythologie an, der Horror aber
ist hier nur der Aufhänger, um
etwas ganz und gar Grundlegendes über Etablierte und Außenseiter zu erzählen. Dass sich
schon sehr bald die nominell
Normalen als die eigentlichen
Monster herausstellen, ist nun
wiederum nichts Neues, wird
aber nicht oft so en passant und
überzeugend erzählt wie hier.
Ein feministisch informierter
und auch filmästhetisch eigensinniger Werwolf-Horror: Fast
jede Einstellung wirkt wie gemalt, und durch die Stilisierung
entsteht eine genreuntypische
Langsamkeit.
„Für mich ist unheimlich wichtig, dass ich endlich wieder
Leute erschießen kann“, sagt
André Hennicke im Interview zu
Harms: „Rollen, in denen wenig
gesprochen und viel geschossen
wird, sind für mich immer ganz
besondere Highlights.“ Das umreißt ziemlich genau die Motivation, die Regisseur Nikolai
Müllerschön und Produzent/
Hauptdarsteller Heiner Lauterbach antrieb zu diesem ungeförderten, kompromisslosen,
straighten Gangsterfilm: Frisch
aus dem Gefängnis, ein letzter
großer Coup, die alten friends
in crime, 100 Millionen in der
Bundesbank, knackige OneLiner und natürlich Verrat, Blut
und Tod – kurz, alles, was man
braucht, ist drin in dieser Story
um den harten Hund Harms.
Und das ist nicht nur für eine
deutsche Produktion beachtlich:
dass von vorn bis hinten Hochspannung herrscht, dass mehr
die Waffen als die Münder sprechen. Und dass die alte Garde
der Senioren-Kriminellen sich
allwöchentlich trifft, um ein paar
Runden „Risiko“ zu spielen.
Virtuose Kamerakranfahrten
verbinden das Flaggenhissen
von zwölf Botschaften in Beijing,
begleitet von Klängen der Nationalhymnen – ein kakophonischer
Effekt zu Beginn. Die Belagerung der Auslandsvertretungen
durch die Boxer-Aufständischen
im Jahr 1900 schafft für 55 Tage
eine Allianz, bis am Ende wieder
jede Nation ihre eigene Melodie
spielt. In der Dekadenzphase
Hollywoods produzierte Sam
Bronston, Neffe von Leo Trotzki
und Spezialist für Monumentales, in der Nähe von Madrid, um
Kosten zu sparen, wenngleich das
Geld üppig floss. Die Vorstellung
eines (Meta-)Films über die ruinös komplizierten Dreharbeiten,
zwischen Eitelkeiten, Labilitäten
und Machtgebärden seiner Beteiligten, übertrifft das filmfeudale
Spektakel bei weitem an Reiz.
Nicholas Ray hatte sich vom Regiehonorar im Anschluss künstlerische Autonomie versprochen,
doch die Rechnung ging nicht
auf. Am 11. September 1962 kollabierte er am Set. Ein Traum hatte ihn gewarnt: „Something came
to me in the night, and told me
that if I do this film I will never
make another.“ JÖRG BECKER
Eingeweihten Kreisen ist der USamerikanische Mathematiker,
Landschaftssoziologe und monolithische Filmemacher James
Benning seit Jahrzehnten ein Begriff. Ihm ist die Entwicklung des
Mediums ins Narrative zu schnell
gegangen; in seinem überwiegend
von langen, starren Einstellungen
geprägten Werk übernimmt der
jeweils sorgsam gewählte Frame
die Rolle des Erzählers. Bennings
bislang einzige zwei „außeramerikanischen“ Filme bilden die
fünfte Ausgabe der BenningReihe der Edition Filmmuseum.
In Ruhr, seiner Ode an das Ruhrgebiet, schlägt sich sein Umstieg
aufs Digitale u.a. in der zentralen
Einstellung des Kühlturms einer
Kokerei nieder (in dieser Länge
nicht möglich mit einer 16mmFilmrolle). In natural history
wiederum, einem hinter die Kulissen schauenden „Porträt“ des
Wiener Naturhistorischen Museums – mit sensationellem End
Frame – spielt die Zahl Pi die
verborgene Hauptrolle. Bonus:
eine allfällige Einstiegshürden abbauende WDR-Doku, entstanden
während der Arbeit an seinem
Meisterwerk 13 Lakes (2004).
HARALD MÜHLBEYER
BENJAMIN MOLDENHAUER
ROMAN SCHEIBER
Regie Nikolai Müllerschön
Regie Jonas Alexander Arnby
Mit Heiner Lauterbach, Friedrich von
Regie Nicholas Ray
Regie James Benning
Mit Sonia Suhl, Lars Mikkelsen, Sonja
Thun, Axel Prahl, Martin Brambach,
Mit Charlton Heston, Ava Gardner,
Bonus „James Benning: Circling the
Richter, Jakob Oftebro
André Hennicke, Helmut Lohner, Ble-
David Niven, Flora Robson
Image“ (Reinhard Wulf, DE 2003, 84
Bonus Making-of, unveröffentlichte
rim Destani, Valentina Sauca
Bonus Deutscher Trailer, Restaura-
Min.), Viennale-Trailer 2009, ausführ-
Szene, Trailer
Bonus Behind the Scenes
tions-Demo-Szene
liches Booklet (Deutsch, Englisch)
Filmlänge 75 Minuten
Filmlänge 102 Minuten
Filmlänge 155 Minuten
Filmlängen 122 bzw. 77 Minuten
Prokino
Alive
Koch Media
Edition Filmmuseum
102 ray
Persönliches Exemplar von [email protected], alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at
KURT WEILL | BERTOLT BRECHT
DIE SIEBEN
TODSÜN
TODSÜNDEN
DEN
Es spielt das Orchester
der Vereinigten Bühnen Wien
unter der Leitung
von Milan Turković
Karten: (01) 52 111-400
www.volkstheater.at
Foto © Christoph Sebastian
„Maria Bill macht Die Sieben Todsünden
zum Triumph.“ (Die Presse)
Persönliches Exemplar von [email protected], alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at
l i t e r a t u r
Krzysztof Kieślowski: Zufall und Notwendigkeit
Ansprechendes Buch über den früh verstorbenen Regiegiganten
2001 hatte die Filmhistorikerin
Margarete Wach ihre erste Monografie „Kino der moralischen
Unruhe“ auf Basis ihrer Dissertation über Krzysztof Kieślowski (1941–1996) veröffentlicht.
Der Titel bezieht sich auf die
Beschreibung des engagierten,
Missstände anprangernden Kinos der zweiten Hälfte der 1970er
Jahre: „Diese Bezeichnung habe
ich nicht ausstehen können, aber
sie hat funktioniert“, so zitiert
die Autorin Kieślowski. Wach,
gebürtige Polin, hat sich in ihrer
Forschung an diversen Univer-
sitäten von Köln bis Łódź sehr
intensiv mit dem polnischen
Film beschäftigt. Der Regisseur
Krzysztof Kieślowski war und
ist dabei stets einer ihrer Forschungsschwerpunkte. Sie hat
nun mit dem Schüren Verlag in
der Edition film-dienst eine zweite, überarbeitete Auflage ihrer
Monografie über den polnischen
Meister vorgelegt.
„Zufall und Notwendigkeit“, so
der neue Untertitel, soll die Aufmerksamkeit der zweiten Auflage auf Kieslowskis „vielleicht
wichtigste ästhetische und epistemologische Kategorien“ lenken. Wach möchte den großen
Einfluss deutlich machen, den
Kieślowski auf das episodische
Erzählkino von beispielsweise
Tom Tykwer, Jean-Pierre Jeunet
oder Paul Thomas Anderson
hatte: „So sind Zufallskombinationen und Zwangslagen für
Kieś lowski Poetik eines narrati-
ven Netzwerks der offenen Lebenswege wie für sein ethisches
Paradoxon einer indeterminierten Determiniertheit konstituierend.“ Das Buch wurde um
mehr als 100 Seiten erweitert
und stark umgearbeitet. Neu ist
vor allem die Wiederentdeckung
und Interpretation des 40 Jahre
lang verloren geglaubten 16mmFilms Zdjȩ cie („Das Foto“) aus
dem Jahr 1968. Es handelt sich
hierbei um eine 32-minütige Dokumentation über zwei Männer,
die ein altes Foto zweier Jungen
mit Gewehren in der Hand –
sie selbst – aus der Kriegszeit
betrachten, sich gemeinsam erinnern. Entsprechend hat sich
Wach Gedanken zur Fotografie
gemacht. Fotos, Screenshots und
Sequenzen-Stills wurden auch
deshalb eindrucksvoll in die
Analyse des Werks eingearbeitet.
Darüber hinaus weist das Buch
einen enormen Quellenkorpus
104 ray
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auf, darunter eine große Anzahl
aus der polnischsprachigen Publizistik. Stilistisch stören hier
und da allzu lobende Adjektive
den Lesefluss des sonst im eher
wissenschaftlichen Duktus verfassten Buchs. Inhaltlich jedoch
bietet Wachs Buch innerhalb
der Kiesś lowskiana einen sehr
umfangreichen und detaillierten
Einblick, macht wohl überlegte
und genau beobachtete Interpretationsangebote für ein grundlegendes Verständnis der Filmästhetik und -poetik von Krzysztof
Kieś lowski. Wach zollt damit
auch fast 20 Jahre nach seinem
Tod einem der bekanntesten und
einflussreichsten polnischen Regisseure ihren Respekt.
JENNIFER BORRMANN
Margarete Wach: Krzysztof Kieślowski. Zufall und Notwendigkeit.
Edition film-dienst. Schüren Verlag,
Marburg 2014. 624 Seiten, € 49,40
l i t e r a t u r
ANSCHAUEN UND
VORSTELLEN
Belletristisch begeisterte, jedoch
dem Kino abgeneigte Menschen
erklären ihre Aversion gern so:
„Ich möchte mir meine eigenen
Bilder von einer Geschichte machen.“ Doch die Rezeption eines
Films erschöpft sich nicht im Erfassen vorgegebener Bildinformationen. Die Zuschauer versuchen
Figuren zu identifizieren, Orte
zu erkennen, narrative Muster
zu deuten, Farben, Töne und
Symbole zu dechiffrieren. Um
einen Film verstehen zu können,
bedarf es in aller Regel imaginativer Ergänzungen, des geistigen
Vor- oder Rückgriffs, des Auffüllens von Ausgelassenem, sprich:
der Vorstellungskraft. „Aktive
Zuschauer sind tätig bis in ihr
Unbewusstes hinein, schon wenn
sie die Leinwand automatisiert
abtasten nach signif ikantem
Material“, schreibt Heinz-Peter
Preusser in der Einführung.
Erstaunlich genug, dass die Forschung sich erst in jüngster Zeit
verstärkt dem Phänomen der
Rezipientenaktivität widmet bzw.
umgekehrt Filme auf deren Imaginationslenkungsstruktur hin
untersucht, nach Lenkungsmarkierungen im Filmtext fahndet.
Wie breit das Feld ist, zeigt ein
Blick auf die Arbeitsgebiete der
Autorinnen und Autoren neben
der Film- und Medienwissenschaft: u.a. Germanistik, Sprach-,
Literatur-, Musik- und Kulturwis-
senschaft, Philosophie, Ästhetik,
Psychoanalyse, Didaktik, Kognitive Neuroinformatik und eben:
Textualitätsforschung.
Wer gedacht hat, Michael Hanekes Das weiße Band (2009) sei
bereits ausinterpretiert, wird hier
eines besseren belehrt: Gleich
sechs Beiträge aus unterschiedlicher methodologischer Perspektive verdeutlichen, mit welch
gehaltvollen Leerstellen der Filmtext die Phantasie der Zuschauer
herausfordert und emotionale
Ambivalenz hervorruft. Für Haneke-Kenner besonders lesenswert
ist der aus didaktischer Sicht
formulierte Ansatz „Die Kinder
in Das weiße Band (nicht) verstehen“ von Ulf Abraham.
Als die Bilder laufen und die
Zuschauer mitlaufen lernten:
„ray“-Kolumnist Klaus Kreimeier
liefert unter dem Aspekt „Entfesselung und Steuerung“ eine mit
vielen Beispielen unterfütterte
Konzentration von Überlegungen
zum frühen (Attraktions-)Kino,
die er in seinem schönen Buch
„Traum und Exzess“ angestellt
hat; Julia Schoderer analysiert
akribisch die 2008 restaurierte
früh-expressionistische „Stummfilmsymphonie“ Nerven (1919,
Robert Reinert, auf DVD in der
Edition Filmmuseum).
Naturgemäß sind die meisten
Aufsätze nur für wissenschaftlich
Vorgebildete durchweg verständlich. Von den Ausnahmen sei
Julian Hanichs Typisierung der
„suggestiven Verbalisierungen
im Film“ erwähnt. Seinem Text
stellt er einen Satz von Wittgenstein voran: „Das Aussprechen
eines Wortes ist gleichsam ein
Anschlagen einer Taste auf dem
Vorstellungsklavier.“
ROMAN SCHEIBER
Heinz-Peter Preusser (Hg.): Anschauen und Vorstellen. Gelenkte Imagination im Kino. Schriftenreihe zur
Textualität des Films, Band 4. Schüren Verlag, Marburg 2014. 452 Seiten, zahlreiche Abbildungen, € 49,40
INDIENS KINOKULTUREN
„Ein Buch über den Plural“ –
besser kann man das Projekt
nicht zusammenfassen, dem sich
die Herausgeberinnen Susanne
Marschall und Rada Biberstein
mit „Indiens Kinokulturen. Geschichte – Dramaturgie – Ästhetik“ zugewandt haben. Zwar
ist Bollywood inzwischen in
Europa ein bekannter Begriff,
zwar sind Regisseure wie Satyajit Ray (Pather Panchali, 1955),
Ritwik Ghatak (Subarnarekha,
1962)oder Guru Dutt (Kaagaz
Ke Phool, 1959) dem ArthousePublikum bekannt. Doch kann
die Komplexität und Heterogenität der indischen Kinokulturen bezüglich ästhetischer
Formenvielfalt, Symbolik und
gesellschaftlicher Wirkungskraft
im deutschsprachigen Raum als
weitgehend unbekannt vermutet
werden. Mit der Lektüre von
„Indiens Kinokulturen“ taucht
man in die Vielschichtigkeit
dieser Kinokulturen ein und erkennt das Ausmaß der für einen
Durchschnittseuropäer kaum
entschlüsselbaren Inhalte.
Der optimistische Ansatz, Filmbilder seien universell verständlich, wie dies die Vertreter des
globalen Kinos in den achtziger
und neunziger Jahren propagierten, entlarvt sich mit der
Lektüre dieses Buches einmal
mehr als Trugschluss: Es sind
im Gegenteil die kulturellen Besonderheiten in den Bildern und
Narrativen, die ästhetischen Genuss und intellektuelle Befriedigung ermöglichen und ein Kino
der globalen Vielfalt ausmachen.
„Indiens Kinokulturen“ umfasst
20 Beiträge – fast ausschließlich
von Europäern verfasst – und ist
in drei Teile gegliedert: Im ersten Teil wird das Phänomen Bollywood reflektiert und bietet u.a.
erhellende Essays zum Einfluss
westlicher Indien-Stereotypen
auf den Diskurs zu Bollywood
sowie die Bedeutung des populären Hindi-Films für die indische
Diaspora.
Der zweite Teil, „Figuren –
Figurationen – Motive“, ist
dem Bezugsrahmen indischer
Kunstgeschichte und Religion
gewidmet. Codierung, Inszenierung und Wirkungsmacht von
mythischen Figuren oder der
Rolle der Natur werden analysiert, die Geschlechterrollen vor
diesem Hintergrund reflektiert.
Kursorisch wirkt der dritte Teil,
„Vielfalt entdecken“, mit exemplarischen Filmanalysen und
Interviews u.a. mit Mrinal Sen
und Loveleen Tandan. Die kulturwissenschaftlichen, filmtheoretischen und bildanalytischen
Beiträge entstanden anlässlich
einer Konferenz zur indischen
Kinokultur an der JohannesGutenberg Universität in Mainz,
woraus sich die methodische
Vielfalt, aber auch thematische
Lücken erklären lassen. Nur am
Rande findet die pluralistische
politische Ästhetik dieser Kinokulturen Erwähnung, die Indien seit 100 Jahren hervorbringt.
In seiner Informationsdichte ist
„Indiens Kinokulturen“ aber
eine genussvolle, äußerst bereichernde Lektüre für Kinokosmopoliten und alle, die es werden
wollen. VERENA TEISSL
Suanne Marschall, Rada Bieberstein
(Hg): Indiens Kinokulturen. Geschichte – Dramaturgie – Ästhetik.
Schüren Verlag, Marburg 2014. 356
Seiten, € 30,80
ray 105
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s o u n d
Inherent Vice
Auch die dritte Zusammenarbeit zwischen Johnny Greenwood und Paul Thomas Anderson erfreut
Nonesuch
Jonny Greenwoods Kompositionen für die Filme von Paul Thomas Anderson waren das, was
die dazugehörigen Filme selbst
auch waren: die Highlights ihrer jeweiligen Jahrgänge. Die
Streber sozusagen. Die Klassenbesten. There Will Be Blood
(2007) war musikalisch spröde
Landschaftsmalerei, The Master
(2012) karger Impressionismus,
der Debussy stolz gemacht hätte.
Diesem Duo folgt nun Inherent
Vice, der damit eine schwere
Nachfolge antritt. Erstaunlich
(und erfreulich, weil originell)
ist, dass Greenwood für Inherent
Vice keine bluesige Neo-NoirMusik geschrieben hat, wie dies
einst Jerry Goldsmith für Roman Polanskis legendären Film
Chinatown (1974) tat. Angeboten hätte es sich ja schließlich,
bedenkt man, dass es sich bei
dieser Verfilmung eines Romans
von Thomas Pynchon um das
schmuddelige Los Angeles der
siebziger Jahre handelt, in denen ein heruntergekommener,
drogenabhängiger Privatdetektiv
nach einer ehemaligen Freundin
sucht.
Aber kein Jazz, kein Saxophon,
kein träges Schlagzeug. Lasziv,
erotisch aufgeladen, geheimnisvoll und düster ist sie trotzdem,
die spröde Musik, die sich eher
dem Impressionismus aus The
Master annähert, als sich an den
Filmmusiken der siebziger Jah-
re zu orientieren. Greenwood
arbeitet auch hier mit kleinen
Motiven statt mit prägnanten
Themen, lässt den Holzbläsern
prominente Parts zukommen
und schafft im Zusammenspiel
mit den drängend-dräuenden
Streichern damit eine treibende
Spannungsmusik, die den amerikanischen Privatdetektiv bei seiner Odyssee durch Los Angeles
aufmerksam begleitet wie einst
Bernard Herrmanns grandiose
Vertigo-Musik Scottie Ferguson
(James Stewart) durch San Francisco.
Ein Gespür für die Seventies zu
erzeugen, das besorgen stattdessen die eingestreuten Songs, die
mit der sinfonischen Filmmusik
Johnny Greenwoods herzlich
wenig gemein haben, die in ihrer Tanzbarkeit und in ihren unschuldig-verklärten Pop-Rhythmen ein absurdes Gegenteil des
106 ray
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grimmigen Impressionismus darstellen; das ist eine eigenwillige
Mischung, die dem Höralbum
allerdings zugute kommt, es am
Laufen hält und nicht eintönig
werden lässt. Diese urige Mischung passt zum eigenwilligen
Ton des Films, ist mit ihren
gutgelaunten Popsongs, die sich
mit den schwermütigen, nervösen Instrumentalkompositionen
abwechseln, derart verstörend,
dass sie den Hörer unmittelbar
in den amerikanischen Abgrund
des Films zieht, der Joaquin
Phoenix als Privatdetektiv zu
zerstören droht.
Das macht Inherent Vice zu
einer der wohl gelungensten
Soundtrack-Alben des Jahres
2014. Man darf jetzt schon auf
die nächste Zusammenarbeit des
Duos Anderson/Greenwood gespannt sein.
STEPHAN EICKE
s o u n d
UNBROKEN
FADING GIGOLO
Milan Records / Warner Music
ASTERIX IM LAND DER
GÖTTER / Boriginal
BIRDMAN
Parlophone
Als Regisseurin ist Angelina Jolie
bislang eher mäßig erfolgreich.
Ihr Debüt In the Land of Blood
and Honey f loppte an den Kinokassen und Unbroken erntete
trotz eines Skripts der erfahrenen
und vielfach prämierten Brüder
Coen nur mäßige Kritiken. Musikalisch scheint sie aber durch die
von ihr präferierte Herangehensweise einen deutlichen Stil gefunden zu haben. Nach Gabriel Yared beauftragte sie nun Alexandre
Desplat mit der Komposition
und damit erneut einen Maestro,
der für seine einfühlsamen Orchestermelodien bekannt ist. Somit liefert Desplat auch das, was
er am besten kann: Einfühlsame
Orchestermelodien. Damit ist
ihm eine zurückhaltende, niemals
kitschige Partitur gelungen, die
Einflüsse japanischer Musikkultur in die schwermütige westliche
Sinfonik einbindet. Zwar hat das
mit 61 Minuten großzügig bemessene Album einige Längen zu verzeichnen, kann dies aber durch
die einprägsamen Themen und
deren subtile Orchestration wieder wettmachen. Erstaunlich ist,
wie differenziert Desplat sein musikalisches Material behandelt,
dass die Größe der Geschichte
zwar erahnen lässt, aber niemals
in süffigen Hollywood-Bombast
ausartet und über weite Strecken
äußerst subtil die emotionale
Reise des Kriegsgefangenen Louis Zamperini begleitet. Desplat
drückt die richtigen Knöpfe.
In John Turturros Lustspiel gehen männliche Wunschphantasien in Erfüllung, im Grunde aber
ist es ein Film über Einsamkeit
und die Sehnsucht nach Liebe.
Dementsprechend romantisch
ist die Grundstimmung des famosen Soundtracks, der zum
Träumen und Tanzen anregt.
Neben zwei originalen Filmscore-Kompositionen von Bill
Maxwell enthält er ein abwechslungsreiches Potpourri von Musikstücken aus über 40 Jahren,
das beim Hören aber einen kohärenten klanglichen Gesamteindruck hinterlässt. Pop, Swing,
Chansons, Latin-Sound von Alacran und – da Fading Gigolo in
enger Zusammenarbeit mit dem
Jazz-Enthusiasten Woody Allen
entstand – schöne Aufnahmen
mit dem Tenorsaxophonisten
Gene Ammons (1925-1974),
der mit „Canadian Sunset“ und
einer zart tönenden Version des
Klassikers „My Romance“ aus
dem Jahr 1960 vertreten ist.
Dean Martin croont „Sway“ und
„I’m a Fool to Want You“ der
gebürtigen Tunesierin M’Barka
Ben Taleb wirkt wie eine Einladung zum Liebesspiel.
Da die französische Sängerin
Vanessa Paradis eine der weiblichen Hauptrollen spielt, ist
natürlich auch sie mit einem
Lied vertreten: Auf dem elften,
vorletzten Track trägt sie mit
Flüsterstimme „Tu si na cosa
grande“ vor.
Mit verlässlicher Regelmäßigkeit schafft es der unbeugsame
Gallier Asterix ins Kino. Der
neueste Streich ist die 3D-CGIAnimation von „Die Trabantenstadt“. Die Musik folgt dabei
beinahe einer Tradition, denn sie
ist besser als der Film. Wenn der
cineastische Asterix inhaltlich
Klamauk ausgesetzt ist, dann
ist es gut, dass sich nicht ganz
Gallien diesen Albernheiten
hingibt, sondern es nach wie vor
ein paar Verantwortliche gibt,
die den kleinen Krieger ernst
nehmen und den Filmen wenigstens eine gute, profunde Musik
zugestehen.
Für Asterix im Land der Götter
hat Philippe Rombi den musikalischen Zaubertrank zusammengerührt. Rombi, der sich nicht
nur einen Namen als Stammkomponist von Regisseur François Ozon gemacht hat, hat eine
komische, aber keine Komödienmusik für Asterix geschrieben.
Obwohl voll mit kompositorischem und stilistischem Witz,
ist seine Arbeit zuvörderst eine
Abenteuermusik; zu jeder Zeit
leicht und verspielt, aber dennoch primär daran interessiert,
eine Geschichte zu erzählen.
Den Klamauk weitestgehend –
Rombi ist sich für die eine oder
andere kompositorischen Zote
auch nicht zu schade – der Bildebene überlassend, gibt seine
Musik der Handlung die Ernsthaftigkeit zurück.
Es ist selten, dass ein Tonträger
auf den Markt kommt, der die
Gesetze desselben zu ignorieren
und sich gar nicht erst um die
Hörgewohnheiten des Filmmusik-Mainstreams zu kümmern
scheint. Der Originalscore zu
Alejandro González Iñárritus
mehrfach oscarnominierter Tragikomödie Birdman besteht fast
ausschließlich aus Percussion,
für die Jazzdrummer Antonio
Sanchez verantwortlich zeichnet. Sanchez nutzt die Percussion nicht bloß als Stilmittel,
das sich dann aber schnell einem
symphonischen Klang unterordnen darf, sondern stellt sie in
den Vordergrund – und in den
Hintergrund und auf alle anderen Ebenen dazwischen. Nur mit
den Mitteln des Schlagwerks ist
es dem mexikanischen Virtuosen gelungen, einen in seiner
klanglichen Stringenz abwechslungsreichen Score zu erarbeiten, der dem Film eine unwirkliche Schmerzhaftigkeit verleiht.
Durch den Verzicht auf eine harmonisch-symphonische, angenehme Musik ist ein Score entstanden, der seinesgleichen erst
suchen muss. Dass dies auch
vom Bild losgelöst funktioniert
und ungeachtet der klassischen
Stücke, die, an die Originalmusik angehängt, das Album auf
seine 77 Minuten Laufzeit bringen, zeugt von den immer noch
unterschätzten Möglichkeiten
des Schlagwerks.
STEPHAN EICKE
RALPH UMARD
DAVID SERONG
DAVID SERONG
Milan Records
ray 107
Persönliches Exemplar von [email protected], alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at
v e r a n s t a l t u n g e n
Karl Markovics’ Superwelt © Thimfilm/Petro Domenigg
Nikolaus Geyrhalters Über die Jahre © Nikolaus Geyrhalter Film
50 Schattierungen und 399 andere Filme
Wegen anhaltenden Erfolges zum 65. Male: die Internationalen Filmfestspiele Berlin
Alle Jahre wieder drängen sich
Medien, Moguln und Menschenmassen in dem architektonisch
und von seiner gastronomischen
Ausstattung her ein wenig fragwürdigen Viertel rund um den
Potsdamer Platz, wohin man um
die Jahrtausendwende die Berliner Filmfestspiele verpflanzt
hat. Zwar gibt es die alten Spielstätten im Westen wie den Zoo
Palast (siehe auch S. 8) oder
das Delphi (einst legendär für
seine zum Bersten gefüllten Mitternachtsvorstellungen) immer
noch, aber aus pragmatischen
Gründen der Zeitersparnis bleiben die meisten Festival-Profis
dann doch lieber in Mitte.
Am 5. Februar hebt mit Isabel
Coixets Nobody Wants the Night
mit Juliette Binoche in der
Hauptrolle die 65. Berlinale an
– eine, wie gewohnt, etwas eklektische Entscheidung des charismatischen Festivaldirektors Dieter Kosslick. Ganz ohne Zweifel
hat Kosslick im Laufe seiner nun
auch schon 15-jährigen Amtszeit
mehr gute Dinge getan, als man
hier aufzählen kann – etwa, dass
er die einst grotesk zerstrittenen
Sektionen Wettbewerb, Panorama und Forum wieder unter
einem Dach vereint hat. Auf der
Soll-Seite steht jedoch die von
Jahr zu Jahr zunehmende Berlinale-Unübersichtlichkeit: Kosslick und sein Team haben einen
Wust an Reihen und Nebenreihen, an neuen Veranstaltungen
und Gimmicks installiert, und
das leider oft an Spielstätten, die
ihren Namen nicht verdienen,
jedenfalls nicht als Kinos.
So vergeht derzeit kein Tag, an
dem nicht eine neue Pressemeldung eintrudelt, meistens sogar
mehrere. Der Erfolg, gemessen
an Zuschauermassen (491.316
waren es 2014), verstopften
Foyers und überfüllten Kinos,
gibt den Festivalmacherinnen
und -machern Recht, Kosslicks
Auswahl seiner Filme, etwa im
Wettbewerb, nicht ganz so sehr.
Und hat man kein Glück, kommt
auch noch Pech dazu: Dass ausgerechnet solch ein Jahrhundert-Festival-Film wie Richard
Linklaters Boyhood nicht den
Goldenen Bären überreicht bekam, konnte 2014 wirklich niemand verstehen.
Betrachtet man das Programm
des Wettbewerbs 2015, sieht
man – zumindest auf den ersten Blick – nicht allzu viel, für
das man um 7 Uhr aufstehen
und um 9 Uhr schon im Kino sitzen möchte. Es handelt
sich, wie so oft, um eine Art
hochkarätiges Veteranentreffen
– von Greenaway bis Herzog,
von Malick bis Branagh, von Benoît Jacquot bis Jiang Wen – mit
schrägen Einsprengseln. Hoffnung machen – wieder einmal –
die deutschen Filme (vor allem
Sebastian Schippers Victoria und
Andreas Dresens Als wir träumten), aber auch diese gingen bekanntlich letztes Jahr fast leer
aus. Auch dass die Jury diesmal
unter dem Vorsitz des ehemaligen US-Independent-Regisseurs
Darren Aronofsky steht, macht
einen nach seinem ganz und gar
unsäglichen Bibelschinken Noah
nicht wirklich froh.
Wie auch immer: So viel können
Dieter Kosslick und seine Mitprogrammierer in Wettbewerb,
Panorama, Forum (darin befinden sich zwei mit Spannung
erwartete österreichische Filme:
108 ray
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Karl Markovics’ Superwelt und
Nikolaus Geyrhalters Über die
Jahre), Retrospektive (Technicolor, im April auch in Wien im
Filmmuseum zu sehen), Hommage (Wim Wenders), Perspektive Deutsches Kino, Berlinale
Classics (mit drei digital restaurierten deutschen Filmen), Berlinale Specials, usw. gar nicht
hineinpacken, dass nicht der
„Höhepunkt“ des diesjährigen
Festivals bereits im Vorfeld feststünde: Am 11. Februar 2015
nämlich wird Berlin unter der
Weltpremiere des „Erotik-Thrillers“ 50 Shades of Grey erzittern,
mit Dakota Johnson, der Tochter von Melanie Griffith und
Don Johnson, in der Hauptrolle.
Was wohl Alfred Bauer, der legendäre erste Direktor der Berlinale, oder sein Nachfolger Wolf
Donner dazu gesagt hätten?
Übrigens: Erstmals können Sie
dieses Jahr auf www.ray-magazin.at alle Pressekonferenzen der
Berlinale im Livestream gratis
mitverfolgen. ANDREAS UNGERBÖCK
5. bis 15. Februar, Berlin
www.berlinale.de
v e r a n s t a l t u n g e n
Dear John von Hans Scheugl im Stadtkino Wien
FRAUENFILMTAGE 2015
Die Wiener FrauenFilmTage
finden zum bereits zwölften Mal
statt. Wie jedes Jahr steht eine
Auswahl von österreichischen
und internationalen Spiel- und
Dokumentarfilmen von Frauen und mit frauenspezifischen
Themen auf dem Programm.
Ebenfalls schon Tradition ist die
Verleihung eines Ehrenpreises
durch eine Jury an eine Frau, die
sich seit Jahren für die Sichtbarkeit weiblicher Filmschaffender
einsetzt. Die Personale 2015 gilt
Katharina Wöppermann (siehe
auch das ausführliche Interview
in „ray“ 12/14), die sich seit Anfang der achtziger Jahre mit der
Gestaltung filmischer Räume
– on location und im Studio –
beschäftigt. Sie bezeichnet sich
heute als Production Designerin
gemäß dem international geläufigsten Begriff. Beruflich bewegt
sich die renommierte Szenenbildnerin zwischen technischen,
ästhetischen, visuellen, organisatorischen und budgetären Aufgaben. Katharina Wöppermann
wurde mit zahlreichen Preisen
ausgezeichnet, u.a. 2011 mit dem
Österreichischen Filmpreis für
Beste Ausstattung in Shirin Neshats Women Without Men und
bei der Diagonale 2012 für das
Beste Kostümbild (Stillleben).
Bei den FrauenFilmTagen wird
es einige moderierte Diskussionen mit Katharina Wöppermann
geben, aber auch Möglichkeiten
für gegenseitigen Austausch.
27. Februar bis 5. März, Filmhaus
Kino am Spittelberg, Wien; Eröffnung
am 26. Februar im Filmcasino
www.frauenfilmtage.at
Alfred Hitchcocks Blackmail bei Film + Musik Live im Wiener Konzerthaus
STADTKINO WIEN:
HANS SCHEUGL
Hans Scheugls neuer Film Dear
John, der zuvor bei der Berlinale
zu sehen ist, feiert am 3. März
im Stadtkino seine ÖsterreichPremiere bei freiem Eintritt.
Als zweiten Film zeigt Scheugl
anschließend seinen ersten,
18-minütigen Film Miliz in der
Früh (1966), da beide Filme
zeitlich korrespondieren. Miliz,
so Scheugl, beschreibt Gegensätze, die einander nicht ausschließen. Ein junger Mann soll
getötet werden; er ist vielleicht
schon tot oder er wird erst geboren. Er ist das ewige Opfer, denn
die Vergangenheit streckt sich
in die vergessliche Zukunft. (…)
Die Gestalt, die die Entstehung
von Miliz in der Früh begleitete,
war Godards Pierrot le Fou, der
seinen eigenen privaten Vietnamkrieg führte. „Dear John“
wiederum ist die Anrede an einen amerikanischen Freund, mit
dem sich für Scheugl vor 50 Jahren die Möglichkeit öffnete, aus
seinem damaligen Leben auszusteigen und in Amerika ein anderes, neues Leben zu beginnen.
Das entnimmt der Filmemacher
den Briefen, die der Freund ihm
einst schrieb und die Scheugl vor
einiger Zeit in einer Schachtel
gefunden und gelesen hat. Bei
den Briefen wäre es geblieben,
hätte Scheugl im Internet nicht
jenes Haus entdeckt, in dem
John jetzt wohnt und mit dem
sich ihm auf unerwartete Weise
die imaginäre, da fast vergessene Person der Vergangenheit
in ein reales Bild seines gegenwärtigen Lebens verwandelte.
Diese Transformation bewog
den Künstler dazu, den Film zu
machen, allerdings ohne die Absicht, mit „Dear John“ real einen
Dialog aufzunehmen. Scheugl:
„Der unvermutete Blick auf das
Haus ließ plötzlich die vergangenen 50 Jahre als Leerstelle
ins Bewusstsein treten, ohne das
abhanden gekommene Leben –
dessen Sinnbild dieses Haus ist –
nachträglich mit Inhalten füllen
zu können. Nicht dass ich das
gewollt hätte, die zeitliche und
räumliche Distanz ist real uneinholbar. Mit dem Film hingegen
kann ich versuchen, der in den
Briefen entworfenen Idee von einem anderen Leben in Amerika
aus der Gegenwart und von dem
Ort aus, in dem ich lebe, zu begegnen.“
3. März, 19 Uhr, Stadtkino im
Künstlerhaus, Wien
scheugl.org
KONZERTHAUS:
FILM + MUSIK LIVE
Im Zyklus „Film + Musik Live“
ist diesmal ein besonders prächtiges Highlight zu sehen: Alfred
Hitchcocks früher Klassiker
Blackmail aus dem Jahre 1929
mit Anny Ondra in der Hauptrolle. Der Film ist in vieler
Hinsicht bemerkenswert, unter
anderem deswegen, weil der junge Michael Powell am Drehbuch
mitarbeitete und weil das Projekt als Stummfilm begonnen,
aber schließlich zunächst als
Tonfilm herausgebracht wurde.
Anny Ondras deutscher Akzent
war jedoch so „störend“, dass
sie von Joan Barry synchronisiert wurde. Das Konzerthaus
zeigt die seinerzeit populärere,
aber heute nahezu unbekannte
stumme Fassung. Die Musik zu
Blackmail stammt von Stephen
Horne, der den Film am Klavier,
auf der Flöte und auf dem Akkordeon begleitet.
15. Februar, 19.30 Uhr
Wiener Konzerthaus, Großer Saal
www.konzerthaus.at
THEATER AKZENT:
RODDY FRAME
Nach der Absage im Oktober
jetzt aber wirklich: Ein „Jahrhundertereignis“ für Freunde feinster britischer Pop-Kultur ist der
Auftritt des aus Schottland stammenden Gitarristen, Singers
und Songwriters Roddy Frame.
Frame war ein Zentralgestirn der
britischen Pop-Landschaft der
frühen Achtziger, Vorreiter und
Wegbereiter für Brit-Pop und
Independent-Szene. Ausgehend
von der Industrie- und Arbeiterstadt Glasgow bildete Frame
mit seiner Band Aztec Camera
damals einen vor Harmonien
und Einfallsreichtum nur so
strotzenden musikalischen Gegenpol zum mitunter recht rüde
ausfallenden (Post-)Punk jener
Tage. Er gilt bis heute als Inbegriff für „Pop-Perfektionismus“
und Singer/Songwriter-Kunst auf
höchstem Niveau. Roddy Frame
kommt mit dem Programm seines vierten Solo-Albums „Seven Dials“, das nahtlos an die
schönsten Momente früherer
Tage anschließt.
19. Februar, 20 Uhr
Theater Akzent, Wien
www. akzent.at
www.roddyframe.com
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v e r a n s t a l t u n g e n
Fitzcarraldo bei der Ö1 Filmnacht
Claudia Cardinale in Il gattopardo (Stadtkino Basel)
Ö1 FILMNACHT MIT RAY
Das Thema der alljährlichen Ö1
Filmnacht im Wiener Technischen Museum ist diesmal „Mobilität“. Zu sehen sind vier ausgesprochen schöne Raritäten,
nämlich Billy Wilders The Spirit
of St. Louis (1957) mit James
Stewart als Charles Lindbergh,
David Lynchs The Straight Story
(1999), Wolfgang Petersens Die
unendliche Geschichte (1984)
und Werner Herzogs Fitzcarraldo (deutsche Fassung, 1982).
Als besonderes Zuckerl wird
die Ö1 Filmnacht die einminütige Ankunft eines Zuges auf dem
Bahnhof in La Ciotat (Brüder
Lumière, 1895) präsentieren,
die beweist, dass Mobilität seit
Beginn der Filmgeschichte eines der zentralen Themen des
Mediums war und ist. Die Filmauswahl besorgte wie immer das
„ray Filmmagazin“.
sche übersetzt. Im Anschluss daran läuft Richard Brooks’ Western The Professionals (1966), in
dem Claudia Cardinale an der
Seite von Hollywood-Haudegen
wie Burt Lancaster, Lee Marvin,
Robert Ryan und Woody Strode
zu sehen ist. Außerdem umfasst
die großartige Filmschau Meisterwerke wie Mario Monicellis I soliti ignoti (Diebe haben’s
schwer, 1958), Luchino Viscontis Rocco e i suoi fratelli (Rocco
und seine Brüder, 1960) und Il
gattopardo (Der Leopard, 1963),
Fellinis 8 ½ (1963), Blake Edwards’ Pink Panther (1963),
Sergio Leones C’era una volta
il West (Spiel mir das Lied vom
Tod, 1968) und Damiano Damianis Politthriller Il giorno della
civetta (Der Tag der Eule, 1968).
13. Februar, ab 18 Uhr
DEUTSCHES FILMMUSEUM: FILMTHEATER
Das Kino als magischer Ort
steht im Mittelpunkt der Ausstellung „Filmtheater. Kinofotografien von Yves Marchand und
Romain Meffre“ im Deutschen
Filmmuseum Frankfurt. Die
beiden Pariser Künstler begeben
sich als fotografische Archäologen seit 2001 auf Spurensuche
in den Ruinen der modernen
Industr iegesellschaft. 2010
machten sie mit ihrem Buch
„Ruins of Detroit“ Furore, das
den Verfall der einstigen AutoBoomtown auf faszinierende Art
dokumentierte. In ihrer Fotoserie „Theaters“ erforschen die
beiden Künstler seit 2005 mit einer großformatigen Kamera alte
Technisches Museum, Wien
oe1.orf.at, www.technischesmuseum.at
STADTKINO BASEL:
CLAUDIA CARDINALE
Ausgesprochen hohen Besuch
erwartet das Stadtkino Basel:
Anlässlich einer ihr gewidmeten
Retrospektive beehrt Claudia
Cardinale, einer der großen Diven des italienischen Films, am
20. Februar das Basler Lichtspieltheater. Im Gespräch mit
dem Filmwissenschaftler und
-journalisten Till Brockmann
(19 Uhr) wirft Cardinale einen
Blick zurück auf ihre bewegte
Karriere. Das Gespräch wird auf
Italienisch geführt und ins Deut-
ab 1. Februar, Stadtkino Basel
www.stadtkino.ch
US-Kinopaläste. In den teilweise
verfallenen Gebäuden suchen sie
nach Bildern, die die „Psychologie einer Ära“ einfangen. Denn
für Marchand und Meffre sind
die alten Kinogebäude mehr als
nur architektonische Überbleibsel einer längst vergangenen
Zeit. Sie sehen die leerstehenden oder fremdgenutzten Filmtheater auch als „Sinnbilder der
komplexen Beziehung zwischen
Kunst, Geschichte, Wirtschaft
und Moderne, die den Wandel
hin zu Massenproduktion und
Globalisierung verdeutlichen.“
noch bis 31. Mai
Deutsches Filmmuseum Frankfurt
deutsches-filminstitut.de/
filmmuseum
21ER HAUS: SCHLAFLOS
Vor mehr als 40 Jahren gingen
Yoko Ono und John Lennon zusammen ins Bett, um gegen den
Krieg zu protestieren. Das damals berühmteste Künstlerpaar
der Welt machte seine Flitterwochen öffentlich und verkündete
aus dem Bett heraus: „Make love,
not war!“ In Onos und Lennons
Szene wird das Bett zum politischen Instrument der bildenden
Kunst. Yoko Onos legendärer
Film Bed Peace (1969) wird im
März im Rahmen der Ausstellung „Schlaflos – Das Bett in Geschichte und Gegenwartskunst“
im Wiener 21er Haus zu sehen
sein. Diese umfasst Gemälde,
Skulpturen, Zeichnungen, Fotografien und Videoarbeiten, deren
Bandbreite sich von Werken alter Meister bis zu Arbeiten der
Gegenwartskunst spannt, die
einander thematisch und asso-
110 ray
Persönliches Exemplar von [email protected], alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at
ziativ gegenübergestellt werden.
Als Schauplatz von Geburt,
Liebe, Krankheit und Tod, als
Ort jeglicher menschlicher Ausdrucksform, in der Geschichte
jedweder Kultur zu finden, gehört das Bett wohl zu den am
häufigsten in der Kunst reproduzierten Gegenständen, und nicht
selten hat seine Darstellung
metaphorische Bedeutung: das
Bett als Veranschaulichung der
Bedingungen menschlicher Existenz. Ein Großteil der Menschen
wird auf einem Bett geboren,
man könnte sagen, dass das unerklärliche Wunder des Lebens
auf einem Bett seinen Anfang
nimmt. Ein Werk der Ausstellung ist ein Gemälde von Lavinia
Fontana aus dem 16. Jahrhundert, das ein Kind in einer Wiege
zeigt – die wahrscheinlich erste
Umsetzung dieses Sujets in der
Kunstgeschichte. Die Tradition
der Darstellung der Geburt hat
sich bis heute fortgesetzt, wie
beispielsweise bei Robert Gober
oder Sherrie Levine.
Zahlreiche Künstlerinnen und
Künstler der Gegenwart, von
Nobuyoshi Araki, Diane Arbus,
Lucian Freud, Yayoi Kusama
über Jannis Kounellis, Antoni
Tàpies, Rosemarie Trockel bis
Egon Schiele, Jürgen Teller oder
Franz West und Rachel Whiteread haben sich der Form des
Bettes bedient oder – wie Tracey
Emin, Mona Hatoum, Damian
Hirst, Jim Lambie und Sarah
Lucas – das Bett als Readymade
verwendet.
30. Jänner bis 7. Juni
21er Haus, Wien
www.21erhaus.at
ray Filmmagazin und Filmdelights präsentieren
China Reverse
Meist sind sie zufällig in Wien gelandet, in einem China-Restaurant, um Geld für ein
eigenes Unternehmen zu verdienen oder die Einreise für Familienmitglieder zu finanzieren. Die Arbeit ging weiter, endlos, bis man es sich ein wenig gemütlicher machen
konnte. Erst dann tauchten die Fragen an das Leben auf. Hier setzt China Reverse
an, fragt nicht viel und stellt fast alles in Frage.
Es hätte anders kommen können, weniger in Europa als in China. Wer dort blieb,
konnte den Wirtschaftsboom nützen. Es lässt sich noch aufspringen auf diesen Zug,
für einige zumindest. China Reverse sucht nicht nach offensichtlichen Erfolgsgeschichten, sondern blickt hinter die Fassaden. Nur scheinbar beiläufig bleibt man an
den kleinen Details hängen, an Porzellanschalen, Liedern aus der Heimat, und am
Lächeln, das auf die Zukunft weisen will, dabei aber ein wenig zittert.
In Anwesenheit der Regisseurin und der Protagonistinnen und Protagonisten
ray verlost 50 x 2 Karten
Schicken Sie bis 19. Februar eine Mail mit dem Betreff
„China Reverse“ an [email protected]
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Dienstag
24.02.
20.15 Uhr
Filmcasino
Margaretenstraße 78
1050 Wien
Österreich 2014
Regie Judith Benedikt
Mit Hu Zhuming, Xie Feiru,
Shan Jiaqian, u.a.
Originalfassung (Deutsch und
Chinesisch) mit Untertiteln
90 Minuten
g e w i n n s p i e l e
BIRDMAN ODER (DIE UNVERHOFFTE
MACHT DER AHNUNGSLOSIGKEIT)
Rechtzeitig zum Kinostart von Alejandro González Iñarritus für neun Oscars
nominierter Tragikomödie am 30. Jänner verlost ray zweimal ein T-Shirt mit
einem Zitat aus dem Film („Beliebtheit ist die nuttige kleine Cousine von
Wertschätzung, mein Freund“), zwei Soundtracks und zwei Posters.
KINGSMAN: THE SECRET SERVICE
Rechtzeitig zum Kinostart von Matthew Vaughns Comicbook-Verfilmung
am 27. Februar verlost ray zweimal einen Flaschenöffner, zwei verspiegelte
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Wie heißt Hauptdarsteller Michael Keaton mit seinem richtigen Namen?
Beantworten Sie die folgende Frage:
Wie heißt die Ehefrau von Regisseur Matthew Vaughn?
a) Michael Douglas b) Michael Jackson c) Michael Moore
a) Marylou Vaughn b) Emma Vaughn c) Claudia Schiffer
Schicken Sie bis 26. Februar eine Mail mit dem Betreff
„Birdman“ an [email protected]
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Wer spricht in der Originalfassung den Waschbären Rocket?
Beantworten Sie die folgende Frage:
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U r b a n e r s
L e g e n d e n
Mickys vergessener Bruder
Text ~ Roman Urbaner
„Alles begann mit einer Maus“, lautet zwar eine gerne zitierte Bemerkung Walt Disneys, aber es wäre ebenso richtig gewesen,
hätte er stattdessen von einem Kaninchen gesprochen. Denn unmittelbar, bevor Micky mit Steamboat Willie Ende 1928 zum
ersten Zeichentrickstar der Tonfilmära avancierte, hatte es Disney einige Monate lang mit einem langohrigen Geschöpf namens „Oswald the Lucky Rabbit“ versucht. Und das durchaus mit Erfolg – bis ihn sein Produzent bei einem Geschäftstreffen
in New York über den Tisch zog, sodass der junge Trickfilmer plötzlich ohne Job und ohne die Rechte an seiner eigenen
Kreation dastand.
Walt Disney musste also wieder ganz von vorne beginnen: „Auf dem Rückweg nach Hollywood habe ich gedacht, ich kann
nicht mit leeren Händen ankommen“, erinnerte Disney sich später an die Geburtsstunde der Maus, die sein Imperium
begründen sollte. Noch auf der Zugfahrt brachte er, so will es zumindest die Legende, die allererste Skizze seines künftigen
Protagonisten zu Papier. Dass dabei das knopfäugige Kaninchen Oswald Pate stand, ist kaum zu übersehen: „Micky Maus
sieht im Endeffekt genauso aus wie Oswald, nur die langen Hasenohren wurden abgeschnitten und der Schwanz etwas
länger“, erklärt der Disney-Biograf und FAZ-Redakteur Andreas Platthaus; selbst die kurze Hose scheint Micky direkt von
seinem Vorgänger übernommen zu haben.
Oswalds Leinwanddebüt lag damals noch kaum ein Jahr zurück: Am 5. September 1927 hatte sich das schelmische
Kaninchen im Kurzfilm Trolley Troubles erstmals der Öffentlichkeit präsentiert. Zuvor war die Figur nach einem ersten, missglückten Probelauf (Poor Papa) radikal überarbeitet worden. Jetzt aber lief alles wie am Schnürchen: Die Oswald-Serie geriet
zum kommerziellen Erfolg, den Universal mit allerlei Merchandising-Produkten weidlich auszuschlachten verstand. Am
laufenden Band fabrizierten Walt Disney und Ub Iwerks – schon damals Disneys rechte Hand am Zeichentisch – immer neue
Oswald-Cartoons; über zwei Dutzend waren es insgesamt. Zwei Filmrollen eines bislang verloren geglaubten Oswald-Streifens
(Disneys erster Weihnachtsfilm Empty Socks von 1927) sind erst neulich in einem norwegischen Archiv wieder aufgetaucht.
Dann kam das abrupte Ende. Doch auch nach Disneys Abgang dauerte der Publikumserfolg des Kaninchens zunächst
unvermindert an, dümpelte dann – nach etlichen Umgestaltungen und Personalrochaden – noch einige Jahre vor sich hin,
bis Oswald schließlich um 1940 gänzlich von der Bildfläche verschwand. Seit kurzem aber bemüht sich die „Walt Disney
Company“ nun wieder um die lange vergessene Disney-Figur. Die Rechte an den frühen Oswald-Cartoons wanderten im
Zuge eines ungewöhnlichen Deals (im Gegenzug wechselte ein Sportmoderator zu NBC/Universal) zurück zu Disney. Dort
machte man sich sogleich an die Edition der noch erhaltenen Filme und verschaffte dem heimgekehrten Kaninchen in „Epic
Mickey“ wenigstens ein Comeback als Computerspiel-Figur, wenn auch nur als Mickys von Neid zerfressener Gegenspieler.
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