Ohne Übergriffe – Mädchen sein und Frau werden
Transcription
Ohne Übergriffe – Mädchen sein und Frau werden
Ohne Übergriffe – Mädchen sein und Frau werden Der Verein „Lobby für Mädchen/Mädchenhaus Köln e.V.“ Auch hierzulande haben Mädchen und Frauen mit fraglichen Frauenbildern und handfesten Benachteiligungen zu kämpfen. Der Verein „Lobby für Mädchen/Mädchenhaus Köln e.V.“ berät und begleitet seit nunmehr 18 Jahren Mädchen, die sexuelle Übergriffe, körperliche oder verbale Gewalt erlebt haben oder unter Essstörungen leiden. Ursula Radermacher hat von Frauke Mahr, verantwortlich für die Öffentlichkeitsarbeit bei „Lobby für Mädchen“, viel über die Beratungsarbeit erfahren. Sex sells oder Fußball und die Ware Frau Was hat der Fanclub des 1. FC Köln mit der Tabledance GmbH des Bordells Pascha zu tun? Auf den ersten Blick gar nichts, bei näherem Hinschauen jedoch sehr viel. Die beiden verband bis vor kurzem ein lukratives Sponsoring, das erst nach Veröffentlichung und Protesten von „Lobby für Mädchen“ aufgekündigt wurde. "Lobby für Mädchen" und ein sehr engagierter weiblicher Fan des 1. FC Köln fanden heraus, dass der Fanclub 20.000 Euro vom Pascha Tabledance erhielt und dafür im Gegenzug Vorstellungen in dem Etablissement besuchte. Die Tatsache, dass viele Mitglieder des Fanclubs Familien und fußballbegeisterte männliche Jugendliche sind, die solche Vorstellungen gar nicht besuchen dürfen bzw. dort ein sehr fragwürdiges Frauenbild vermittelt bekommen, war offensichtlich kein Hinderungsgrund für diese Partnerschaft, frei nach dem Kölner Motto „Mer kenne uns, mer helfe uns “. Dieser Fall ist nur eines von vielen Beispielen dafür, wie das Bild von Frauen als Ware/Objekt in der Öffentlichkeit transportiert wird. Mediale Gewalt gegen Frauen wird oft noch verharmlost und Kritiker als überempfindlich und moralinsauer abgetan. Es ist „Lobby für Mädchen“ allerdings nur am Rande möglich, Medien und Institutionen hinsichtlich der Darstellung von Frauen in der Öffentlichkeit kritisch zu beobachten und dagegen vorzugehen. Der eigentliche Arbeitsschwerpunkt liegt auf der Beratung und Begleitung von Mädchen. Gewalt und Benachteiligung sind fest verankert Warum ist überhaupt eine spezielle Beratung für Mädchen notwendig? In Deutschland sind Männer und Frauen gesetzlich gleichgestellt, Gewalt gegen Frauen wird strafrechtlich verfolgt. Eigentlich sollte man annehmen, dass dies ausreicht. Frauke Mahr: „Es reicht nicht! Eine große Anzahl von Frauen hat Erfahrung mit verbaler und körperlicher Gewalt und anderen Grenzüberschreitungen von Männern und eine Voraussetzung dafür ist die Missachtung und Geringschätzung von Frauen. Auch strukturelle Benachteiligung von Mädchen und Frauen ist in unserer Gesellschaft – trotz gesetzlicher Gleichstellung - immer noch fest verankert. Sie kann ganz schlicht daher kommen, beispielsweise wenn – wie eine Kölner Tageszeitung einmal berichtete – Jungen mehr zugetraut wird und sie mehr Taschengeld erhalten. Ein anderes Beispiel sind prominente Schauspielerinnen, die nur ein Drittel des Gehaltes ihrer männlichen Kollegen erhalten.“ Der Jahresbericht der Europäischen Kommission stellt diesbezüglich fest, dass die Gehaltsdifferenz zwischen Männern und Frauen gemessen am Bruttostundenverdienst 23 Prozent beträgt. Die Beraterinnen bei „Lobby für Mädchen“ schauen mit mädchenspezifischem Blick, d.h. in erster Linie auf die individuelle Lebenssituation, aber eben auch auf die gesellschaftliche Benachteiligung von Mädchen aufgrund ihres Geschlechts. Die große Zahl von Mädchen/Frauen, die Gewalt/sexuelle Gewalt oder andere Grenzüberschreitungen erlebt haben und hier Unterstützung suchen, zeigt, dass noch viel zu tun ist. Beraten und begleiten bei sexuellem Missbrauch Bettina M., 16 Jahre, kam über eine Lehrerin in die Beratung, der ihr extremer Leistungsabfall im Unterricht aufgefallen war. Sie war ständig müde, unkonzentriert und hatte die Kontakte zu ihren Freundinnen abgebrochen. Auf Ansprache der Lehrerin schilderte Bettina die Schwierigkeiten zuhause, besonders mit dem Vater. Die Lehrerin schlug ihr vor, die Mädchenberatung aufzusuchen und Bettina stimmte zu. Die zugesicherte Anonymität erleichterte ihr diesen Schritt, denn ihre Familie sollte nichts erfahren. Bettina berichtete aus Schule, Elternhaus, von ihren Geschwistern und ihren Hobbys. Zunächst blieb sie eher allgemein. Nur am Rande erwähnte sie den Vater, der sie im Badezimmer aufsuchte oder nachts ihr Zimmer betrat. Auch nur nebenbei kam sie auf ihre Mutter zu spreche, die unwirsch auf ihre Nöte reagierte. Die Beraterin fragte in dieser Situation behutsam nach, um Bettina nicht zu bedrängen: „Wann kommt Dein Vater, was macht er, wie fühlst Du Dich dabei?“ Bettina signalisierte am Ende des Gesprächs, dass sie weitere Beratungen wünsche. In der nächsten Stunde trafen die beiden Abmachungen: Zur Wahrung der Anonymität wurde eine Kontaktperson bestimmt, für den Fall, dass Bettina aufgrund von Krisen in der Familie nicht in der Beratung erscheinen kann. Bettina ihrerseits sollte verbindlich Termine einhalten und auch die Beraterin verpflichtete sich, Bettina über alle Schritte zu informieren. Sie schlug darüber hinaus ein Heim als sicheren Ort in Krisenzeiten vor. Auf dieser Vertrauensgrundlage fanden mehrere Sitzungen statt und Bettina machte deutlich, dass ihr Hauptanliegen die Überwindung der jetzigen Situation sei und weniger die Besprechung der Erlebnisse mit dem Vater. Neben dem Durchspielen diverser Möglichkeiten ging es vor allem um die Gefühle, die diese bei Bettina auslösen. Sie hatte Angst, ihre Mutter, die Geschwister, die Katze zu verlieren und an der Zerstörung der Familie schuld zu sein. Sie meinte, die jüngere Schwester schützen zu müssen. Der Vater hatte zwar gedroht, aber Bettina wagte nun mehr Widerstand. Der Vater zog sich zunächst zurück, übte dann aber wieder Druck mittels Vorwürfen auf sie aus. Für den Fall der Zuspitzung wurden in der Beratung Absprachen getroffen und durch die genaue Planung und die Erreichbarkeit der Beraterin behielt Bettina trotzdem ihre Stabilität. Nach dem nächsten Missbrauchsversuch des Vaters traf sie sich mit der Beraterin und wurde von ihr in ein Mädchenheim gebracht. Das Jugendamt nahm Kontakt zu den Eltern auf und Bettina setzte die Beratungen im Mädchenhaus fort. Die zentrale Frage in der Beratung ist immer: Was ist für das Mädchen tragbar? Frauke Mahr: „Das Mädchen muss JA dazu sagen können.“ Den Arbeitsschwerpunkt „Sexualisierte Gewalt/Gewalt“ deckt die Beratungsstelle mit Einzelberatungen, Prozessbegleitung und der Stabilisierungsgruppe ab. In dieser Gruppe lernen die Mädchen mittels Methodentraining ihren Alltag wieder zu bewältigen. Auf diesen Bereich entfallen gut 31 Prozent der Beratungsaktivitäten von „Lobby für Mädchen“. Essstörungen sind kein Modethema Seit 2000 gibt es einen anwachsenden Beratungsbedarf zu Essstörungen. Dieses Thema hielt Frauke Mahr zu Anfang eher für medial hochgespielt. Die jahrelangen Beratungen zeigen jedoch, dass hier oft eine Selbstwertproblematik zugrunde liegt. Mädchen messen sich am medialen Frauenbild der Models und Schauspielerinnen und geraten in Konflikte um Fragen des Selbstbewusstseins, der Selbstbehauptung, dem Mädchensein und dem Frauwerden mit all den damit verbundenen widersprüchlichen oder gar sich ausschließenden gesellschaftlichen Anforderungen. Die Essstörungen Fettsucht, Bulimie und Magersucht sind auch oft mit Gewalterlebnissen gepaart. In Einzelberatungen, die 34 Prozent der Beratungstätigkeit ausmachen, Gruppenangeboten und der Telefonhotline können sich Mädchen kostenfrei und anonym beraten lassen. Internationaler Mädchentreff Ein weiterer Praxisbereich wurde im Jahr 2000 mit dem internationalen Mädchentreff geschaffen, bei dem Mädchen ab 10 Jahren aus 16 Nationen zusammenkommen. Sie nutzen die Angebote wie Hausaufgabenhilfe, Computerkurse und Bewerbungstrainings. In verschiedenen Projekten mit Fachfrauen wurde eine eigene Homepage aufgebaut, musikalisch gearbeitet und in Selbstbehauptungsseminaren gelernt. Auch hier gibt es ein Gesprächsangebot, weil viele Mädchen mit Migrationshintergrund unter enormem häuslichen Druck stehen. In Schulen und Sportvereine geht „Lobby für Mädchen“ mit Präventionsveranstaltungen. Das Thema „Wir zeigen die rote Karte gegen sexuelle Gewalt im Sport“ ist ein Erfolg in der Zusammenarbeit mit den Vereinen. In den Kooperationen mit Schulen werden in kleinen Gruppen Themen wie „Mädchen sein“, „Körper, Schönheit, Aussehen“, Liebe, Freundschaft, Sexualität“ oder „Selbstbewusstsein und Streit“ angesprochen. Oftmals schließen sich daran Einzelbesuche in der Beratungsstelle an. Die Zielgruppe sind Mädchen bzw. junge Frauen zwischen 12 und 27 Jahren, die allein oder vermittelt durch ihr soziales Umfeld in die Beratungsstelle kommen. Im Jahr 2004 wurden insgesamt 118 Mädchen betreut. Trotz der unbestrittenen Notwendigkeit des Angebotes steht die Finanzierung immer noch auf wackeligen Füßen. Aktuell ist „Lobby für Mädchen“ vom neuen Landeshaushalt, durch dessen Zuschüsse zusammen mit denen der Stadt der Verein in den vergangenen Jahren etwa ein Drittel seines Gesamtetats finanzierte, mit Kürzungen von 16 Prozent bedroht. Zwei Drittel des Etats werden durch Spenden- und Bußgelder gedeckt, wobei gerade diese keine feste und verlässliche Größe sind. Es war ein großer Glücksfall, dass der Verein im vergangenen Jahr Bußgelder in Höhe von 40.000 € aus dem Trienekens–Prozess erhielt. So führte die bundesweit bekannt gewordene Affäre des „Kölschen Klüngels“ mit seinem Motto „mer kenne uns, mer helfe uns“ – zumindest aus Sicht von „Lobby für Mädchen“ - vorerst zu einem positiven Ende. Ursula Radermacher Ursula Radermacher ist Mitarbeiterin im Bereich Bildung, Werbung, Öffentlichkeitsarbeit in der AGEH.