Wie die Zelle dem Chaos Zügel anlegt How the cell controls chaos

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Wie die Zelle dem Chaos Zügel anlegt How the cell controls chaos
Jahrbuch 2010/2011 | W edlich-Söldner, Roland | W ie die Zelle dem Chaos Zügel anlegt
Wie die Zelle dem Chaos Zügel anlegt
How the cell controls chaos
W edlich-Söldner, Roland
Max-Planck-Institut für Biochemie, Martinsried
Korrespondierender Autor
E-Mail: w [email protected]
Zusammenfassung
Kräne und Bagger und viele Arbeiter: Die straffe Organisation auf einer Baustelle erschließt sich nur dem
geduldigen Beobachter. Einen ähnlich langen Atem brauchen Forscher, um zelluläre Prozesse zu entschlüsseln.
Mithilfe moderner Mikroskopie, die in Kombination mit sensitiven Kameras und computergestützen Verfahren
zum Einsatz kommt, können nun aber bislang unbekannte Strukturen und Prozesse sichtbar gemacht und mit
fast mathematischer Präzision analysiert w erden. So etabliert sich ein neues Bild von der Zelle – als
hochdynamisches und zugleich streng koordiniertes biologisches System.
Summary
Cranes, dump trucks, pow er shovels and lots and lots of w orkers: The tight organization of large construction
sites reveals itself only to the patient observer. Similar endurance is needed w hen scientists study cellular
processes. W ith the help of new microscopes, sensitive cameras and computational approaches cell biologists
reveal new types of structures and processes and analyze them w ith nearly mathematical precision. Step by
step a new image of the cell emerges – as a highly dynamic and strictly coordinated biological system.
Der Blick in die lebende Zelle
Die Mikroskopie stellt seit mehreren Jahrhunderten eine Schlüsseltechnologie der biologischen Forschung dar.
Einen Grundstein legte im 17. Jahrhundert der niederländische Mikroskopbauer Antoni van Leeuw enhoek,
dessen Geräte bereits Bakterien sichtbar machen konnten. Lichtmikroskope der heutigen Generation
enthalten perfektionierte Linsen, die Vergrößerungen nahe den physikalisch gesetzten Grenzen ermöglichen.
Sie erlauben die Abbildung kleinster zellulärer Strukturen und sind für die Forschung im Bereich der Zellbiologie
unabdingbar. Ein bahnbrechender Schritt für die Mikroskopie an lebenden Zellen – im Jahr 2008 mit dem
Nobelpreis für Chemie gew ürdigt – w ar die Entdeckung des grün fluoreszierenden Proteins GFP [1]. Dieses
Molekül stammt aus der Qualle Aequorea victoria und hat zw ei für die Forschung unschätzbare Eigenschaften:
Zum einen kann es mit einer Vielzahl zellulärer Proteine gekoppelt w erden. Hinzu kommt, dass GFP unter
Anregung mit blauem oder ultraviolettem Licht fluoresziert. Auf diese Weise verrät es den Forschern auch den
Aufenhaltssort desjenigen Moleküls, mit dem es fusioniert ist.
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GFP w ar nur der erste in einer Reihe vielseitig einsatzbarer biologischer Marker, die unter anderem analysieren
helfen, w o und in w elcher Menge sich ein Protein zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Zelle befindet. Für die
Forschung w ar dieser Nachw eis zuvor oft w ie die Suche nach einer Nadel im Heuhaufen, präsentiert sich die
Zelle doch auf den ersten Blick als koordiniertes Chaos aus einer Unmenge molekularer Strukturen. Um zu
analysieren, w as die Aufnahmen überhaupt zeigen, müssen als Dritter im Bunde neben der modernen
Mikroskopie- und Kameratechnik auch bildverarbeitende Verfahren zum Zuge kommen. Sie w eisen mit fast
mathematischer Präzision nach, w ie biologische Prozesse in der Zelle ablaufen. Mit bloßem Auge ist nämlich oft
nicht erkennbar, w as sich aber zw ingend aus komplexen Berechnungen ergibt: Vom Chaos findet sich in der
Zelle keine Spur; sie ist vielmehr straff und effizient organisiert.
A bb. 1: Ve rte ilung e ine s P rote ins in de r P la sm a m e m bra n
e ine r He fe ze lle . Ma n e rk e nnt, da ss sich da s Mole k ül inne rha lb
e ine r ne tzwe rk a rtige n Struk tur be we gt. Die Abbildung, e rze ugt
durch TIR FM (total internal reflection microscopy), ste llt e ine
Übe rla ge rung von dre i Bilde rn da r, die m it je e ine r Minute
Absta nd a ufge nom m e n wurde n (0 m in: bla u, 1 m in: grün, 2
m in: rot). De r Größe nba lk e n e ntspricht 1 µm .
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Das w ird immer dann deutlich, w enn mithilfe der neuen Methoden bislang unbekannte zelluläre Strukturen
nachgew iesen w erden können. Ein Beispiel ist die Plasmamembran, die als Barriere und Kontaktstelle zur
Außenw elt der Zelle gleichermaßen w ichtige Funktionen erfüllt. Sie besteht aus einer Vielzahl von Lipiden und
Proteinen, die auf dem flüssigen Zellinneren „schw immen“ und dabei – so w urde bislang jedenfalls vermutet –
über ein hohes Maß an Bew egungsfreiheit verfügt. Erst jetzt konnte aber gezeigt w erden, dass die Membran
von Hefezellen nicht gleichförmig, sondern strukturiert ist – w obei unterschiedliche Proteine in dynamischen,
netzw erkartigen Bereichen residieren (Abb. 1). Ermöglicht w urde diese Einsicht durch den Einsatz ausgefeilter
optischer Methoden w ie etw a TIRFM, kurz für total internal reflection microscopy, die hoch aufgelöste
Aufnahmen an und direkt unter der Zellmembran erlaubt. Eine w eitere Technik, die fluorescence recovery after
photobleaching, oder oder kurz FRAP, erlaubt, die Bew egung von Molekülen zu messen und quantitativ zu
erfassen.
Ein dynamisches Gerüst im Rampenlicht
Erst jetzt, mit dem geeigneten Instrumentarium an der Hand, zeichnet sich ab, w ie w ichtig eine Erfassung der
Bew egung von Zellbausteinen für das Verständnis zellulärer Prozesse ist. Einen entscheidenden Anteil an
dieser Dynamik trägt dabei ein zentraler Bestandteil aller höheren Zellen: das Zytoskelett. Es verleiht der Zelle
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unter anderem ihre Form, stützt sie und w ird zudem als mikroskopisch kleines Schienensystem für den
Transport molekularer „Güter“ bei nahezu allen zellulären Prozessen herangezogen. Dabei sorgt das
Zytoskelett nicht nur für Bew egung, sondern ist als flexibles Geflecht aus Filamenten auch selbst
hochdynamisch.
A bb. 2: De r Ma rk e r lifeact fä rbt Ak tinstruk ture n. In de r hie r
ge ze igte n Ne rve nze lle a us de m R a tte nge hirn la sse n sich e in
Ne tzwe rk und finge ra rtige Ausstülpunge n e rk e nne n. Die
Aufna hm e wurde m it TIR FM ge m a cht (s. Abb. 1). Die
He lligk e it, a lso die je we ilige Me nge a n vorha nde ne m Ak tin, ist
in Fa lschfa rbe n da rge ste llt. De r Größe nba lk e n e ntspricht 3 µm .
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Eine Hauptkomponente des Zytoskelets ist Aktin; viele kugelförmige Aktinmonomere lagern sich zu langen
Filamenten zusammen. Bis vor kurzem w ar die Markierung von Aktinfilamenten in lebenden Zellen nur mit
Substanzen oder Sonden möglich, die entw eder kompliziert in der Handhabung w aren oder die Dynamik der
Aktinmoleküle beeinträchtigten. Es w ar deshalb ein großer Fortschritt, als hier die Entw icklung eines fast
universell verw endbaren Markers gelang, der die zellulären Prozesse nicht verfälscht [2]. Dieser Marker, lifeact
genannt, w ird mittlerw eile in Kombination mit verschiedenen Fluoreszenfarbstoffen zur Untersuchung des
Aktinzytoskeletts
in
einer Vielzahl von
pflanzlichen
und
tierischen
Zellen
eingesetzt (Abb. 2). Der
Grundlagenforschung w ie auch der Biomedizin stehen damit ganz neue Optionen offen, um das Aktin-Protein
und all seine Funktionen zu analysieren – von denen es eine ganze Reihe gibt. So w irken Aktinfilamente bei
der Teilung, Bew egung, mechanischen Stabilisierung und Formgebung von Zellen mit. Aktin spielt aber auch
eine zentrale Rolle bei vielen Krankheiten, w ie Muskeldystrophien oder Neurodegenerativen Erkrankungen [3].
Ohne Aktin aber w ürden Zellen zum Stillstand kommen und in sich zusammenfallen.
Gut vernetzt
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A bb. 3: De r Ma rk e r lifeact fä rbt wurm ä hnliche Ak tinbünde l in
e ine r m e nschliche n Ha utze lle . De r Größe nba lk e n e ntspricht 2
µm .
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Meist treten Aktinfilamente in größeren Verbänden auf. Sie können sogar Netzw erke bilden. Einzelne Filamente
in diesem Geflecht w erden ständig neu gebildet und ebenso schnell w ieder abgebaut. Manchmal durchlaufen
sie dabei eine Art Zyklus. Dann w erden an ihrem Vorderende neue Aktinmoleküle angefügt, w ährend am
Hinterende entsprechend Untereinheiten w egfallen. Das Filament scheint sich dann – gleichzeitig w achsend
und schrumpfend – durch die Zelle zu bew egen. Ein Netzw erk aus solchen „Aktintretmühlen“ entw ickelt
ausreichend Kraft, um die Zellmembran vorw ärts schieben zu können und ermöglichen Zellen dadurch eine
fließende Bew egung, also Mobilität – w ie sie etw a für w eiße Blutkörperchen bei der Immunabw ehr
charakteristisch ist [4]. Dabei ist noch lange nicht restlos geklärt, w elche Aktinstrukturen sich in Zellen bilden
können: Neue Beobachtungen an der Oberseite von Epithelzellen aus Säugetieren offenbarten w urmähnliche
Aktinbündel (Abb. 3) mit ungew öhnlicher Dynamik: Diese Strukturen sind in ständiger Bew egung und zeigen
eine hohe Plastizität mit häufigen Fusionen oder Spaltung von Bündeln in mehrere kürzere Stücke.
Gleichzeitige Markierung von Aktin und dem in der Muskelkontraktion w ichtigen Myosin zeigen, dass die
Zelloberfläche komplett von einem gemeinsamen Netzw erk dieser beiden Proteine bedeckt ist. Vermutlich
dient dieses Geflecht dazu, den Einfluss externer Kräfte auf die Zelle auszugleichen. Diese w irken vor allem
w ährend der Zellw anderung oder bei größeren Umlagerungen von Gew eben und Zellverbänden, etw a
w ährend der Embryonalentw icklung oder bei der Verbreitung von Krebszellen im Körper. In w elchem Maße sich
mechanische Kräfte und andere Faktoren der Umgebung auf biologische Systeme ausw irken, ist mittlerw eile
sogar Gegenstand eines eigenen Forschungszw eiges – der Mechanobiologie. So w eiß man, dass sich noch
undifferenzierte Stammzellen auf einem harten Untergrund eher zu Knochenzellen, auf einer etw as w eicheren
Unterlage zu Muskelzellen und in ganz w eicher Umgebung zu Nervenzellen entw ickeln [5].
Das Skelett der Bakterien
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A bb. 4: In Ba k te rie n ordne n sich a k tinä hnliche P rote ine in
P la ttform e n a n, wie die se Fä rbung e rk e nne n lä sst. Die se
Aufna hm e wurde a n Bacillus subtilis ge m a cht. Die Ze lle
be finde t sich in de r Te ilungspha se . De r Größe nba lk e n
e ntspricht 1 µm .
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Für seine erstmalige Beschreibung von Bakterien im menschlichen Speichel erntete Antoni van Leeuw enhoek
noch großen Spott. Heute aber kennt man nicht nur eine Vielfalt an Bakterien, sondern kann sogar
beobachten, w as sich im Detail in ihnen abspielt. Dabei zeigte sich erst vor w enigen Jahren, dass das
Zytoskelett w ohl sehr früh in der Evolution entstanden ist, w eil sich in Bakterien eine Entsprechung findet.
MreB etw a heißt eine aktinähnliche Komponente, die bei der Organisation der bakteriellen Zellw and eine
w ichtige
Rolle
spielt. Bislang
w urde
vermutet, dass
sich
MreB-Filamente
zu
einer
langen
Wendel
zusammenlagern, die die Bakterienzelle durchzieht und dadurch Proteine für die Zellw andsynthese positioniert
[6]. Untersuchungen am Bakterium Bacillus subtilis – auch hier mithilfe von TIRFM und FRAP – zeigten jetzt
aber, dass MreB-Filamente lediglich kleine Plattformen bilden, die sich auf Kreisbahnen entlang der
Zellmembran bew egen (Abb. 4). Überraschenderw eise
w ird
diese
Bew egung
allerdings
nicht
durch
Motorproteine oder die Dynamik des Zytoskeletts angetrieben, sondern direkt von der Zellw andsynthese.
Dieser Fund w iderlegt nicht nur lang gehegte Modelle zum Aufbau der Zellw and, sondern könnte durchaus
auch von praktischem Nutzen sein: Viele Antiobiotika w irken auf die bakterielle Zellw and. Ein besseres
Verständnis der hier zugrunde liegenden Vorgänge könnte zur Entw icklung neuer W irkstoffe und zur
Vermeidung zunehmender Resistenzen bei Erregern beitragen.
Ausblick
Vom Bakterium bis zur Säugerzelle: In vielen interdisziplinär arbeitenden zellbiologischen Arbeitsgruppen
w erden vielfältige Ansätze aus der Biologie, Physik, Chemie, Mathematik und Informatik kombiniert. Nur so
lassen sich die komplexen Grundlagen vieler biologischer Prozesse mit ausreichender Präzision analysieren
und auch quantitativ erfassen. Modelle liefern dabei die theoretische Grundlage und Ergänzung zur
mikroskopischen Untersuchung an den diversen biologischen Objekten. Transportiert, gebaut, umgebaut und
abgebaut w ird in allen Zellen. Die molekularen Großbaustellen mit ihrer verborgenen Organisation finden sich
nicht zuletzt auch in uns.
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[1] R. Y . Tsien:
The green fluorescent protein.
Annual Review of Biochemistry 67, 509 - 544 (1998).
[2] J. Riedl, A. H. Crevenna, K. Kessenbrock, J. H. Y u, D. Neukirchen, M. Bista, F. Bradke, D. Jenne, T. A.
Holak, Z. Werb, M. Sixt, R. Wedlich-Soldner:
Lifeact: a versatile marker to visualize F-actin.
Nature Methods 5, 605 - 607 (2008).
[3] J. R. Bamburg, O. P. Wiggan:
ADF/cofilin and actin dynamics in disease.
Trends in Cell Biology 12, 598 - 605 (2002).
[4] T. Lammermann, B. L. Bader, S. J. Monkley, T. Worbs, R. Wedlich-Soldner, K. Hirsch, M. Keller, R.
Forster, D. R. Critchley, R. Fassler, M. Sixt:
Rapid leukocyte migration by integrin-independent flowing and squeezing.
Nature 453, 51 - 55 (2008).
[5] A. J. Engler, S. Sen, H. L. Sweeney, D. E. Discher:
Matrix elasticity directs stem cell lineage specification.
Cell 126, 677 - 689 (2006).
[6] R. Carballido-Lopez:
Orchestrating bacterial cell morphogenesis.
Molecular Microbiology 60, 815 - 819 (2006).
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