Buch 1 - Studio Eskamotage

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Buch 1 - Studio Eskamotage
KOCHONTILLAN
ZWEI AUSSTEIGER IN DEN ANDEN
Band II
Der 2. Roman der Mariañaca Saga von
L. CERÓN
I UNTERGETAUCHT
Key to Victory
„Sahí! Saia! SAIA! S-A-I-A!“
In dem Moment tritt jemand mit voller Kraft gegen ihre Tür.
Sie springt auf.
Pimana knurrt.
Neal hält sie schnell am Halsband fest und beruhigt sie.
Polizei im Rahmen.
„Sahí! Saia! SAIA! S-A-I-A!“
Die Polizisten des Sonderkommandos richten die Waffen auf beide.
„Tál não diga! Perdon me! Momento! Minuto! Imediatamente!“,
Heben Neal und Plutarco sofort die Hände hoch.
Neal eine, weil er mit der anderen Pimana beruhigt,
Und Plutarco nur eine, weil sein Gipsarm in einer Schlinge hängt.
„Pronto! Pronto!“, schnarren die Polizisten ruppig.
Sie tragen Helme, Schutzschilde und Waffen;
Sie sehen aus wie gepanzerte Aliens.
„Tál não diga! Perdon me!“, nicken Neal und Plutarco Ihnen zu
und verlassen sofort die Hütte.
Ein paar Monate zuvor...
Neal und Plutarco passierten die Grenze nach Argentinien und fuhren in einer nicht enden wollenden Fahrt in Richtung Buenos Aires.
Ihr Geld hatte sich längst wieder verflüchtigt und nach der teuren
Schiffsreise zum Kap Hoorn noch viel schneller. Mit dem Lohn von
Arequipa waren sie wochenlang finanziell frei gewesen und hatten
meist wie ganz normale Touristen den Süden bereist: Kaffees in
Straßencafés getrunken, Restaurant-Besuche. Stadtbummel. Sehenswürdigkeiten. Gelegentlich ein einfaches Hotel, das fern der
großen Panamericana lag, deren Route sie nur lose gefolgt waren.
Sie hatten an den großen Küsten pausiert, hier und da einen kleinen
Zeh in das eisige Wasser des Ozeans steckend, scherzend, lachend.
Hätten sie genügend Geld gehabt, wären sie friedlich weiter spazieren gefahren. Doch sie hatten fast kein Geld mehr und ihre nervenaufreibenden Versuche der Jobsuche scheiterten erneut kläglich.
Und eigentlich ging es ihnen schlechter als zuvor in Peru oder im
nördlichen Südamerika. Nicht nur, dass sie finanziell ausgebrannt
waren, sondern auch nervlich angegriffen durch das harte Straßenleben und das unerbittlich kalte Klima, dass ihre Tage zu Albträumen werden ließ. Kein Benzin zum Weiterfahren, kaum Geld für Essen, aber: kühler Dauerregen, lähmende Kälte. Unwirtlichkeit, die an
ihnen nagte. Aufeinander gedrängt im engen Falcon. Frierend. Und
auch die Nächte blieben ein kalter Horror, der nicht endete. Dafür
flammte der vehemente Wunsch auf, schnell weiter in den wärmeren Norden zu gelangen. Sie waren weiterhin darauf angewiesen zu
versuchen, ihre Weiterfahrt auf kriminelle Art zu sichern. Das spürte man ihnen an; das sah man ihnen an. Sie, die vermeintlich gefährlichen Straßengangster, waren allseits nicht willkommen. Noch
weniger in dem ländlichen Argentinien, in dem sie nun gestrandet
waren.
„Ich fühle mich wie Pinocchio“, stöhnte Neal nach Tagen des kalten Regens, der sie aufweichte und der die Straßen überspült und
unpassierbar gemacht hatte.
Ein zorniger Blick auf diese, die sie als Fluchtwege aus der nassen
Kälte nehmen wollten und nicht konnten. Stattdessen waren sie eingekesselt; bewegungslos in einem Landstrich gefangen, der sie nicht
aus seiner Umarmung entlassen wollte. Sie stapften durch den nassen Lehm in Schuhen, die nicht trockneten; sie lagen im Falcon und
froren; sie kochten ihr spärliches Essen unter der Plane und doch
wurden sie nicht trocken, nicht warm und nicht satt. Und immer
wieder gab es in dem angrenzenden Dorf die simple Antwort: „La
calzada está bajo el agua“1; die Absperrung bestätigte dies unerbittlich.
Es war ein unangenehmes Dorf, das sich in ihrer Sichtweite befand.
Nur ein Lebensmittelmarkt und tausend misstrauische Augen, die
sie dorthin begleiteten; es war wie ein echtes Spalier-laufen. Auch
die Ladenbesitzerin verfolgte sie stets wie eine Rachegöttin auf
Schritt und Tritt, damit sie keine Gelegenheit hatten etwas zu stehlen. Und so gab es Stockbrot. Morgens. Mittags. Abends. Und Bohnen. Morgens, mittags, abends.
1
Span.: Die Straße ist unter Wasser
„Pinocchio? Wer ist das?“, fragte Plutarco, hockte vor dem Feuer,
Angst habend, sich auf den kalten Boden zu setzen, das Stockbrot
im leise glimmenden Feuer wendend.
„Eine Märchengestalt. Eine Holzpuppe, der Leben eingehaucht
wurde und die trotzdem eine Holzpuppe blieb – und als sie log
wuchs ihre Nase...“, fügte Neal lachend an.
Er griff an seine eigene, die sich dick anfühlte und die rot war; rot,
von einem echten Schnupfen; und es blieb die Angst, noch schlimmer krank zu werden, hier in der nassen, kalten Tundra.
Endlich war die Straße wieder passierbar, doch auch das Weiterkommen gestaltete sich nicht einfacher. Ihre Stimmung war mies,
die Laune schlecht und die Aggressionen manchmal schier ungebremst. Ja. Der Traum, das Ende der Welt gesehen zu haben, war
ausgeträumt und ein neuer war nicht in Sicht. Nicht einmal als
schillernde Seifenblase, die davon schwebte, um zu zerplatzen. Die
Kälte und Feuchtigkeit saß stattdessen in ihren Knochen und die
schlechte, unstete Lebensmittelversorgung der vergangenen Tage
begann sich langsam zu rächen. Weit und breit gab es nichts außer
dem kleinen Dorf in einer weiten Einöde. Auch untereinander eskalierte der Streit gelegentlich, und wenige Male waren sie kurz davor
sich zu trennen. Immer wieder jedoch gab einer von ihnen nach und
sie rauften sich wieder zusammen, denn sie wussten, dass sie alleine
keine Chance hatten. Und vielleicht wussten sie auch nicht, was sie
mit sich alleine anfangen sollten?
So gerade schafften sie es mehr schlecht als recht nach Buenos Aires, wo sie völlig mittellos...
„Plutarco! Wir sind in einer endlosen Zeitschleife gefangen.“
…in einem Außenbezirk landeten, der auf einer weiten flachen Ebene lag, abweisend wirkte und nicht mehr als eine Ansammlung von
schäbigen Holzverschlägen und Metallbaracken war.
Um irgendwo schlafen zu können, fragten sie sich mühsam durch
und konnten bei einem Argentinier unterkommen, dessen marode
Holzhütte ein wenig Platz für sie bot. Außer einer improvisierten
Kochgelegenheit, in der es nichts zu kochen gab, weil sie kein Geld
hatten, etwas zu kaufen, bot die Hütte nicht mehr als den blanken
kalten Boden und Nachbarn, die sich hauptsächlich aus Prostituierten und schonungslosen Dieben zusammensetzten, die ihnen alles
andere als wohlgesonnen waren. Ein Streit schien somit vorprogrammiert und eskalierte schon drei Tage später, als die alteingesessenen „Porteños“ sie als Konkurrenten und Nebenbuhler angriffen
und sich - nicht grundlos - um ihre Chancen beim Diebstahl betrogen fühlten.
„Sollen sie bleiben, wo der Pfeffer wächst“, zeterte Plutarco enerviert, als sie im letzten Moment flüchten konnten und dabei ihren
einzigen Topf zurücklassen mussten, in dem eine improvisierte Kartoffel-Mehlsuppe kochte. „Ich verzichte auf dreizehn Millionen Mitbewohner und zehnspurige Autostraßen... und ihre blöden Sehenswürdigkeiten sollen sie sich auch behalten.“
„Der Topf war gut und Hunger habe ich auch“, schimpfte Neal
grollend.
„Gehe zurück und hole ihn. Dann grillen sie dich und du sparst dir
jeglichen Hunger und Selbstzweifel.“
Die Abwesenheit von jeglichem Geld verhinderte eine sofortige Weiterreise. Zornig lungerten sie am Rande der Barackensiedlung. Anfangs schweigend. Schnell steigerten sie sich in ihren Gedanken,
dass sie ihren einzigen Topf haben wollten, der mit jedem Satz schöner wurde.
„Ich habe doch keine Angst vor DER Gang, du?“, fragte Neal.
„Ich? Nein!“
Damit stand ihr Entschluss. In einer wagemutigen „Nacht- und Nebelaktion“, die eher ein „High Noon“ war, holten sie sich ihren Topf
zurück. Es kam zu einer handfesten Auseinandersetzung, aus der sie
sich nur so gerade eben übel herausraufen konnten, bevor sie flüchteten. Sie beide trugen Abschürfungen und schier endlos blaue Flecken davon. Jod und Verbandszeug musste her. Sie brauchten auch
Lebensmittel und Benzin. Alles jenes organisierten sie sich auf sehr
unschöne Art und Weise, die man eher als „Raub“ denn als „Diebstahl“ bezeichnen konnte. Diesmal war es knapp. Atemlos lauschten
sie den vorbeifahrenden Polizeisirenen, die ihnen bereits folgten,
während sie den Falcon hinter einem Container parkten. Sie verließen den Stadtteil schnell wie gerne.
Es war dämmerte bereits, als sie mit Geld und damit wieder mit
Benzin ausgestattet waren. Müde vom anstrengenden, nervenaufreibenden Tag fuhren sie in Richtung Hafen. Sie planten, per Autofähre nach Uruguay überzusetzen, einfach um schnell weit weg zu sein
und einen großen Sprung in Richtung Rio zu tätigen. Da an diesem
stürmischen Tag der Fährverkehr eingestellt worden war, warteten
sie in einer dunklen Ecke am Rande des Hafens die Nacht ab, aßen
ein karges Abendessen und tranken genervt und noch aufgerieben
einige Dosen Bier gemeinsam leer. Sie schwiegen nur, starrten vor
sich hin; warfen keinen Blick auf die schummerige Hafengegend, die
alles andere als schön war und irgendwie nicht da zu sein schien.
Weder faktisch, noch in ihren Gedanken.
„Was willst du?“, protestierte Plutarco. „Es ging diesmal nicht anders. Du weißt es.“
„Ich weiß gar nichts“, knifft Neal die Lippen zusammen, trank seine Biere wie Leitungswasser und hörte weg.
Er schaute sich nicht die Schiffe an, nicht die Kais, nicht die düsteren Straßenlaternen, die eine Endzeitstimmung hervorriefen. Er
schaute sich gar nichts an, sondern blieb auf dem Boden hocken, die
Hände auf den Knien, starrte auf den Boden und trank Bier Nr. 3, 4,
5, bis er einschlief. Als er frierend wach wurde, hangelte er sich zu
dem Falcon, holte sich seine Decke, wickelte sich in sie ein und
schlief einfach weiter.
Irgendwann am nächsten Morgen wurde er wach. Er aß trockenes
Brot, trank schwarzen Kaffee und holte aus dem Koffer der Weisheiten von Mónica Chichitzeca eine Lektüre heraus, während er an die
lieben Großeltern dachte; an deren Ermahnungen und seine Versprechungen, die in Scherben vor ihm lagen. Die schrecklich abweisende unschöne Hafengegend und das Warten auf die Fähre machte
es nicht besser. Halten wir fest:
Der Widerstand ist in drei Phasen eingeteilt:
Defensive, Gleichgewicht, Gegenoffensive.
heißt: selbst wenn ich jetzt passiv bin, könnte ich das noch als defensiven Widerstand bezeichnen?
Wenn man für Freiheit, Unabhängigkeit, Demokratie
und Frieden kämpft, so muss dies auf allen Ebenen
geschehen: Militärisch, wirtschaftlich, politisch und kulturell.
Ich praktiziere also quasi kulturellen Widerstand?
Das Leitmotiv des Widerstands im Krieg ist die Hinhaltetaktik;
sie ist der Schlüssel zum erfolgreichen Sieg.2
Key to victory? Ob das auch für mich gilt? Verschleppen meines persönlichen Krieges als Schlüssel des Erfolgs? Oder sollte ich aufgeben?
Eine zweifelsfrei berechtigte Frage, die ich mir stellen muss.
2
Frei nach Trường Chinh (Born Xuân Khu): The Resistance will win. S. 12/29
Plutarco wurde wach, als er Neal lesen sah. Ein vorwurfsvoller Blick,
ein kurzes Zetern, das vergessen machen sollte, dass auch er zornig
auf sich selbst war.
„Wie kannst du dich nur mit solcherlei Schriften auseinandersetzen, wenn um uns herum die Welt untergeht?“
„Um uns geht nicht die Welt unter, sondern nur wir gehen unter.
Soll ich es mir etwa anschauen, wie ich untergehe? Träume ich lieber von einer besseren Welt“, wartete Neal nach dem Aufwachen
mit sehr brummenden Schädel und mindestens mit ebenso schlechter Laune auf, wie er eingeschlafen war. Außerdem wollte er wollte
beim Lesen nicht gestört werden, aber Plutarco störte ihn; seine
grollende Stimme und ein schier tödlicher Blick klärte diesen Umstand. Beides jedoch prallte an Plutarco ab. Jener warf Neal nur
einen kurzen Blick zu und schüttelte dann für sich den Kopf. Anschließend schaute er über das Hafengelände, das laut war, heftig
nach Öl roch und alles andere als romantisch war. Er schämte sich
mindestens ebenso sehr für den Raub, den sie am Tag zuvor verübt
hatten. Er wusste, dafür gab es keine Entschuldigung außer dem
Wunsch zu überleben. Aber zweifelsfrei musste auch er sich zugeben, dass er nichts geregelt bekam, denn DAS war kein Weg.
„COIN ist keine bessere Welt. Du liest von Krieg, Gewalt und Gegengewalt“, versuchte Plutarco seine kritischen Selbstzweifel umzulenken.
„Nicht immer sind die Mittel und Wege hehr, um etwas zum Guten zu verändern“, protestierte Neal.
„Du glaubst, wenn du das liest, wirst du ein besserer Mensch?
Traumtänzer!“
„Nein! Ein Realist. Indem ich mich mit anderen Dingen beschäftige,
rückte ich das, was um mich herum passiert aus meinem gedanklichen Fokus und kann es distanzierter betrachten.“
„Vielleicht sollten wir uns distanzierter betrachten und nicht alles
andere“, blieb Plutarco streitlustig.
Neal schaute nur. „Ich verachte mich. Ist dir das distanziert genug?“
Sie stritten sich so heftig wie nie zuvor. Plutarco ging mit Pimana
spazieren ohne zu frühstücken. Er wollte die Hafengegend auch
nicht kennen lernen; er wollte nur laufen, um das Gefühl zu haben,
in Bewegung zu bleiben, während sein Geist stehen blieb. Neal gestaltete es umgedreht; er blieb sitzen, las und ließ seine Gedanken
wandern.
Generalregeln im Krieg
„Mein König! Ich habe den Feind genauestens beobachtet...“
„Ja, ja, ja, ja – und weiter?“
„Wir haben kaum Geld und kein Brot, um den Krieg...“
„Haben wir nun genug Männer und Waffen?“
„Ja, mein König.“
„Na also! Geht doch. Männer mit Waffen finden immer Geld
und Brot – nicht umgedreht! Act as soon as possible!“3
Yeah! Act as soon as possible...
Er saß mittlerweile auf einem alten Poller aus massiven Eisen am
Rande der alten Hafenstraße aus Kopfsteinpflaster. Um ihn war ein
dickes hellrotes Tau gebunden. Neal ließ seine Beine auf das Kopfsteinpflaster baumeln und folgte mit seinen Blicken dem dicken
Tau, an dessen Ende ein alter Kahn hing. Es handelte sich um ein altes dunkelrotes Frachtschiff, das überall mit Rost und Flugrost überzogen war und kaum fahrtüchtig wirkte. Unermüdlich wurde es von
der Strömung an die Kaimauer getrieben. Gurgelndes Wasser fing
sich zwischen seinem Rumpf und der Steinmauer, wie um das Schiff
mit sich in den tiefen Untergrund zu ziehen und dann wieder loszulassen. Der Kahn war nur eines der Bilder am Rande dieses Industriehafens, das von Eisenschrottbergen, Containern, Bahnschienen,
Kränen und großen Umladestationen geprägt war. Die Umgebung
war sehr laut, meist zumindest. Manchmal nicht. Dann ebbte der
stetige Lärm ab und Ruhe kehrte ein. Sekunden nur. Dann hörte
man das Gurgeln des Wassers, das Knarren der Schiffe, das Reiben
der Bojen, das Quietschen der Kräne...
Von dem alten Kahn glitt Neals Blick zurück zu der Kopfsteinpflasterstraße, die stur geradeaus führte, entlang des Kais, entlang von
weiteren Pollern und Kähnen, entlang der Schienen, links abgegrenzt von Container, die vierfach hoch gestapelt dicht standen. Es
roch nach Brackwasser, Öl und Eisen, und eigentlich hätte sich Neal
an den Geruch gewöhnt haben müssen. Doch er hatte nicht und der
Gestank blieb ein Fremdkörper wie der alte Mann, der die Straße
entlang lief: Braune Cordhose, blaukariertes Hemd. Blaue Weste.
Schiffermütze. Gehstock. Langsam kam jener näher und näher.
Tock, tock, tock... sein Stock auf dem harten Pflaster. Langsam ging
jener vorbei. Tock, tock, tock... humpelnd. Vor sich hinschauend. Der
alte Mann hatte einen grauen Bart und hellblaue Augen mit ste3
Vergleiche NICCOLÒ MACHIAVELLI: The Arte of Warre, In the seventh booke
chenden Blicken, die Neal nicht trafen, denn er schaute weiterhin
auf den Kahn und die Strömung, die diesen träge schaukeln ließ.
Endlich war der alte Mann vorbeigegangen. Er verlief sich weiter
hinten, wo der Metallschrott lagerte. Das Knarren eines Tores, das
sich weiter entfernt öffnete. Das Bellen eines Hundes, das verstummte. Dann war Ruhe. Aber nur, bis sich der hohe Kran der Umladestation wieder mit einem lauten Getöse zu drehen begann. Ein
lautes Sirren, ein Pfeifen, ein Knirschen, das in den Zähnen zog und
schon schwenkte er einmal ganz herum. Neals Blicke schwenkten
zu dem Metallschrott zurück. Er dachte, dass es viele Menschen gab,
die lebten, wie er nicht leben wollte, doch das machte die Vergangenheit und die Gegenwart nicht wett. Er erinnerte sich zurück.
▶New York.
Am frühen Morgen kommt das „wild chaos“ an. Einen der beiden in
Detroit gestohlenen Wagen, haben sie über eine Rampe ins Kanalwasser gekippt – wie nicht das erste Mal.
„BYE! Eigentum von euch SPIESSERN“, hat Linus laut gebrüllt und
mit Anrai kräftig angeschoben.
GLUBBS – ist der Wagen im Hafenwasser untergetaucht.
Den zweiten haben sie in einer Seitengasse stehen gelassen und abgefackelt – wegen der Fingerabdrücke.
„BYE Wrack“, grölt Nerio.
„Ausgebrannt. Nicht mehr als eine Hülle“, lacht Micah.
„Bullen! WEG!“, brüllt Denzel laut.
Sie sprinten durch die Gassen und sind verschwunden, bevor die Polizei ihren Wagen gedreht hat. Ein paar Sprünge die Treppen herunter, ein Tritt gegen die wackelige Tür, ein paar Schritte durch den
dunklen Keller und schon sind sie in dem Abbruchhaus, das sie stets
bewohnen, wenn sie in New York sind. Diesmal sind sie nicht alleine, denn einer der Räume wird von drei Obdachlosen bewohnt, die
ihre Einkaufswagen mit ihrer Habe dort abgestellt haben.
„Yo“, sagt Micah im Vorbeigehen. „Auch ausgebrannt und nicht
mehr als eine Hülle, nicht wahr?“
„Yo, cuz!“, bestätigt Denzel und fügt theatralisch an. „Das
Leben,nicht mehr als eine Gewohnheit ohne Ziel.“
„Wenn ich mal so bin, dann schubst mich auch ins Hafenwasser“,
schnauft Nerio.4◀
4
Inspiriert von CHARLES DICKENS: Little Dorrit; Chapter 31 Spirit
Im nächsten Moment sah Neal eine kleine Pflanze, kaum eine Handbreit groß, die sich neben dem Poller zwischen dem Kopfsteinpflaster inmitten von Grasbüscheln in den Himmel zu recken versuchte.
Sie trug drei Blätter, zwei kleine und ein größeres, die fächerförmig
waren. Vielleicht wie ein Eichenblatt aber vielleicht auch wie ein
Ginkgo? Der heilige Baum der Tempelgärten Chinas.
Das Tau des Schiffes kam der kleinen Pflanze bedrohlich nahe. Neal
hielt die Luft an, weil es einen Moment aussah, als würde es die
kleine Pflanze einfach platt walzen. Wie durch Geisterhand drehte
sich das Tau plötzlich weg. Es machte ein knirschendes Geräusch
dabei und Neal atmete befreit aus. Im gleichen Moment dachte er
an Lyež. Ein Gedanke: Hier hat der kleine Baum keine Chance groß
und alt zu werden. Er strengt sich ganz umsonst an, zu wachsen, denn
hier wird er getötet. Welch sinnlose Ressourcenverschwendung! Will
ich das? NEIN!
Behände sprang er auf, holte aus dem Falcon ein Messer, einen Löffel und kramte nach einer Plastiktüte. Ein vorsichtiges Graben, ein
noch vorsichtigeres Ziehen, ein liebevolles Streicheln, bevor er die
kleine Pflanze in die Tüte gab. Leben und leben lassen!
Gerade rechtzeitig. Eine Welle ließ das Schiff heftig schaukeln. Das
Tau peitschte plötzlich unbarmherzig über den Boden. Zerstörte die
Grasnarbe. Schrappte mit eisigen Kräften über den Boden. Zerstörte
alles. Ein Geräusch wie eine Kettensäge. Neal erschrak und sprang
zur Seite. Er streichelte liebevoll über die Tüte. Gerettet. Wenigstens
ein Lebewesen dieser Welt. Ich bringe dich weit weg in Sicherheit. Das
schwöre ich.
Als Plutarco zurückkam widmete er sich längst wieder Machiavelli.
„Machiavelli?“, fragte Plutarco freundlich. „Wer ist das?“
Neal schaute hoch und lächelte fast ein wenig scheu.
„Machiavelli? Ein Staatstheoretiker. Jeder Politiker liest ihn, jeder
kennt ihn. Der erste Punk quasi, angblich wie Nero: Brutal, noch
brutaler, ganz brutal und dabei link und...“
„Abgedreht?“
„Weiß nicht! Eher nicht. Habe ich noch nicht gelesen, übrigens.“
„Wer war der erste Staatstheoretiker? Platon? Soll ich dir ein Buch
von ihm besorgen? – Was macht übrigens deine Verletzung?“
Neal lachte nur, sprang auf, stellte sich gerade hin, nahm eine dicke
Eisenstange, die herumlag, stütze sich auf sie und erhob seine Stimme: „Die Narben der Zeit, die Narben der Kriege! Du wirst sie finden
in meinem Gemüte und nirgendwo anders! Ich, der Wanderer der
Welt, der Wanderer durch Traum und Wirklichkeit! Gut und Böse,
Recht und Unrecht! Welch hehre Worte und doch verblassen sie im
Schatten der Freiheit, die den ganzen Kosmos umfasst. Ich bin der
Held der wahren Wertigkeiten. Ich tausche einen alten Kochtopf gegen Sieg und Tod. Yeah! Und jetzt“, triumphierte er, „Chichitzeca:
Die Freiheit, die ich meine. Szene 130, Klappe, die 1.! FILMRISS!
Yeah!“
Er warf die Eisenstange in einem hohen Bogen in das Wasser. Plutarco lachte nur freundlich.
„Auf! Die Fähre wartet. Wir lassen uns nach Montevideo schippern. Fast 200 km quer über den Atlantik. Das wird spannend, wetten? Ich rieche den Seewind und spüre ihn auf meiner Haut, während wir auf dem Bug des Schiffes stehen...“, referierte er pathetisch.
„Und danach sind wir wieder pleite!“, lachte Neal nur.
INHALT
I UNTERGETAUCHT
Key to Victory
Ich sah eine Stadt...
Wandelt in Asche
Wohin des Weges?
Welteroberer und Ghetto-Blaster
A goblin spirits away
9
18
22
39
53
73
II PECH UND SCHWEFEL
Einfangen gilt nicht
79
Straßensperren wie Luftspiegelungen 84
Im Dornengestrüpp
103
Tourist-Robber-Tour
116
Sonnenaufgang im Westen
123
Schatten des Zorns
132
Trockenschwimmen
142
Der zerbrochene Spiegel
154
Ich sah sein Schwert leuchten
166
III STRASSENKRIEGE
Domino Effekt
Villa Colina
Kopfgeld
Aufstand im Ghetto
Im Kettenkarussel
Hundert Feinde
Und weg aus dem Zuckerschloss
Kill ye, slo-mo
Lichtmaschine und Flaschenpost
Mocoa: ¡Ofensiva Paramilitar!
Die Sonne der Cachana
Moosmänner und Erddrachen
178
189
197
207
225
239
255
265
276
308
333
335
IV NEUE WEGE
Andenbegegnung
Qhuchu-qhuchulla – Muddle up!
Unívoco-equívoco
Pipeline
Tagebuch der Trennung
Flucht durch den Regen
Pläne unter Palmen
Gefahr voraus
338
357
366
368
379
397
407
415
DRAMATIS PERSONAE
422
QUELLENVERZEICHNIS
426
DIE MARIAÑACA SAGA
432
IMPRESSUM
433
DIE MARIAÑACA SAGA
Roman 1: Shoot the Freak – Wilde Jugend
Neal ist hochbegabter Schulsprecher und engagierter Akteur der freien
Theatergruppe „Hypogeal“, der mit 14 seine Familie verlässt. Er finanziert sich mit einer Gang von „Rustlern“ und schließt sich ausgelassenen
„Freaks“ an. Mit ihnen kommt er mit dem Gesetz in Konflikt und wird
zum polizeilich gesuchten Ausreißer, der auf der Straße lebt.
Roman 2: Kochontillan - Zwei Aussteiger in den Anden
Neals „freakig-punkige“ Weltanschauung bleibt in harter Konfrontation
mit der bürgerlichen Welt. Er begibt sich auf eine dreijährige Odyssee
quer durch Südamerika. Der Falcon ist die einzige Bleibe für ihn und seinen Freund Plutarco, einen indigenen Peruaner. Gänzlich mittellos leben
sie von Diebstählen und Gelegenheitsjobs „das tödliche Gesetz der Straße“.
Roman 3: Do Laze – Fehde in Mexiko
Auf einer Hacienda in Mexiko wird Neal zur Mithilfe bei einem Versicherungsbetrug genötigt und verliebt sich. Als „Schutzengel“ kommt er in
Kontakt mit der politisch verfolgten Untergrundbewegung „Mariañaca“ und
erstellt ein „political profiling“ über deren Aktivitäten. Er gerät in eine Intrige und wird von der Mariañaca, einem Drogenlord sowie kolumbianischen Milizen gejagt. Wer ist Freund und Feind?
Wie es weitergeht:
Neal baut aus dem US-amerikanischen Exil eine lateinamerikanische
Menschenrechtsliga auf, die sich gegen Gouverneur Santander und das
Drogenkartell Péncamas aufstellt. Durch Raubzüge mit dem paramilitärischen Team „Gino und Sergio“, Schwarzmarktgeschäfte und Hochfinanztransaktionen steigt er zum reichen Gegenspieler des Kartells auf. Sein
französisch-amerikanischer Jugendfreund Oliver wird vom intriganten
Gegenspieler zum wiedergewonnenen Freund. Attentate, feindliche Übernahmen, politische Korruption und militärische Gewalt bestimmen den Alltag. Befreiungsaktionen aus Hochsicherheitsgefängnissen, die Rettung eines Geldwäschers aus den Fängen der Mafia... Neal gerät persönlich und
finanziell unter Druck und nimmt den Kampf und den Zweikampf gegen
die Brüder Santander auf allen Ebenen auf.
INFORMATIONEN ZUM BUCH
2. überarbeitete Auflage
ISBN-10: 1507815190
ISBN-13: 978-1507815199
Erhältlich bei
Amazon
Kindle
Weitere Informationen über
WWW.ESKAMOTAGE.ORG
Gestaltung und Konzept:
I. Kapitelvignetten: kreiert mit „PD“- Algorithmus
II. Titel- und Dekorschrift: „Eskamotage-Egyptienne“
III. Coverbild: „Schlangen“ aus der „Jolly Daubs“ Kollektion
© Studio Eskamotage 2015
Textschriften: Linux Biolinum, Linux Libertine, Linux Libertine Mono
Copyright © 2003–2012, Philipp H. Poll
Alle in der Leseprobe befindlichen Handlungen und Personen sind frei
erfunden. Jegliche Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen oder
Handlungen sind unbeabsichtigt und rein zufällig.
QUELLEN DER LESEPROBE:
Dickens, Charles: Little Dorrit;
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it away or re-use it under the terms of the Project
Gutenberg License included with this eBook or online at
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abgerufen: 23.11.2014
Holguin, Diego Gonçáles: Vocabulario de la Lengua Qquichua;
Titulo original: Vocabulario de la Lengva
General de todo el Perv llamada Lengva Qquichua o del Inca.
Lima, imprenta de Francisco del Canto, 1608. 2a edición:
Vocabulario de la Lengua General de todo el Per ú llamada
Lengua Qquichua o del Inca. Edición y Prólogo de Ra úl
Porras Barrenechea. Lima, Universidad Nacional Mayor de
San Marcos 1952. - Without Copyright.
www.archive.org – abgerufen: 23.11.2014
Machiavelli, Niccolò: The Arte of Warre; Volume I
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Trường Chinh (Born Xuân Khu),
The Resistance Will win. 1947
http://www.marxists.org/archive/truong-chinh/index.html
abgerufen am: 13.12.2014