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Kapitel 4 – Tugendethik
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Lösungsvorschläge zu den Fragen und Aufgaben
Kapitel 4 – Tugendethik
1. Platons Definitionen der vier Kardinaltugenden sind im ersten Zugang verständlich und nachvollziehbar, können aber bei genauerem Hinsehen gelegentliche
Deutungsprobleme aufwerfen. Dies zeigt sich vor allem, wenn man Konstellationen durchspielt, in denen nicht alle vier Tugenden vorliegen, sondern eine oder
mehrere fehlen. Wie wären die folgenden Fälle am ehesten zu verstehen, d.h. um
was für Charaktere handelt es sich, und warum sind sie nicht gerecht? Wo ist die
Interpretation klar, wo ergeben sich Schwierigkeiten, und weshalb?
(a) Eine Person ist nicht weise, aber tapfer und besonnen: Solch eine Person hat verkehrte
Vorstellungen von Richtig und Falsch, weil ihre Vernunft unzureichend ausgebildet ist. Sie
setzt diese Vorstellungen aber gegenüber Furcht und Verlockung durch, da ihr Mutartiges
daran festhält. Und sie lässt sich auch nicht durch Überstürzung oder Lust davon abbringen,
da die Vernunft in ihr herrscht und weder Mutartiges noch Begierden dagegen aufbegehren.
Wegen ihrer verkehrten Einsichten ist die Person aber nicht gerecht, was sich auch in ihrem
Verhalten zeigt.
Beispiel: Ein Mensch ist überzeugt, dass man die Kinder seiner Feinde umbringen muss.
Dies tut er, auch unter großer Gefahr und trotz starken Mitleids.
(b) Eine Person ist nicht tapfer, aber weise und besonnen: Eine solche Person erkennt sehr
wohl, was richtig und was falsch ist, weil sie weise ist. Sie ist auch willens, diesem Urteil die
Leitung über ihr Handeln zu überlassen, weil sie besonnen ist. Es fehlt ihr aber die Entschlossenheit, jene Vorgaben umzusetzen, da sie nicht tapfer ist. Wegen dieser mangelnden
Durchsetzungskraft wäre diese Person nicht gerecht, was nicht zuletzt in ihrem Verhalten
deutlich würde.
Beispiel: Ein Mensch weiß, dass er einen Verfolgten gegen seine Angreifer verteidigen sollte,
und wird auch nicht durch Hitzigkeit oder Anfechtungen von diesem Gedanken abgebracht.
Er kann aber schlichtweg nicht seine Angst überwinden, diese Überzeugung zu verwirklichen.
(c) Eine Person ist nicht besonnen, aber weise und tapfer: Diese Konstellation ist schwieriger
zu verstehen, weil Weisheit bedeutet, dass eine solche Person Richtig und Falsch erkennt,
und Tapferkeit heißt, dass sie an diesen Vorgaben der Vernunft auch gegen Widerstände der
Begierden festhält. Es ist daher nicht unmittelbar klar, in welchem Sinne es ihr noch an
Besonnenheit fehlen könnte, wenn Weisheit und Tapferkeit doch zu implizieren scheinen,
dass ihr Mutartiges die Einsichten ihrer Vernunft in die Tat umsetzt. Am plausibelsten ist
wohl, dass in diesem Fall das Mutartige zwar Angst und Verlockung überwinden könnte,
um den Anweisungen der Vernunft zu folgen, dass aber die Begierden es hierzu nicht kom-
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men lassen, indem sie mit ihren eigenen Bestrebungen diese Vorsätze übertönen. Zumindest
dürfte diese Deutung einem landläufigen Verständnis der Begriffe entsprechen und zudem
hinreichend nah an Platons Definitionen sein.
Beispiel: Ein Mensch sieht ein, dass er sich im Widerstand engagieren sollte, und es fehlt
ihm auch nicht an Mut, diese Aufgabe zu übernehmen. Aber er kann sich nicht dazu aufraffen, weil er ständig von seinen Leidenschaften abgelenkt wird.
(d) Eine Person ist nur weise, aber weder tapfer noch besonnen: Eine solche Person weiß, was
zu tun wäre. Sie hat aber weder den Mut dazu noch ein Interesse daran, diese Einsicht für
ihr Handeln wirksam werden zu lassen. Sie wird also von Furcht und Verlockungen davon
abgehalten, ihren Einsichten zu folgen. Zugleich gibt sie ganz anderen Bestrebungen Raum,
ihr Verhalten zu bestimmen.
(e) Eine Person ist nur tapfer, aber weder weise noch besonnen: Solch eine Person wäre entschlossen genug, ihre Überzeugungen in die Tat umsetzen. Sie befindet sich aber im Irrtum,
was das Gute und was das Schlechte ist. Zudem wird sie von Leidenschaften kontrolliert,
die von ihrem Tun Besitz ergreifen. Auf diese Weise sind sowohl ihre Vorsätze als auch ihre
Handlungen verfehlt.
(f) Eine Person ist nur besonnen, aber weder weise noch tapfer: In diesem Fall ist jemand
grundsätzlich bereit, seiner Vernunft zu folgen, statt sich in Übereilung oder Anfechtung
zu verlieren. Aber erstens begeht er Fehler dahingehend, was die Moral von ihm verlangt.
Und zweitens traut er sich im Zweifelsfall nicht, seinen Überzeugungen zu folgen. Somit
erscheint er zwar ruhig und ausgeglichen, hat aber fehlerhafte Vorstellungen und mangelhafte Durchsetzungskraft.
2. Aristoteles behauptet in seinen Erläuterungen zur ›ausgleichenden Gerechtigkeit‹, dass bei Verbrechen der Täter stets einen Vorteil habe. Ist das bei allen
Verbrechen einleuchtend? Wo ja, wo nicht? Aristoteles fordert weiter, dass dieser
Vorteil seitens des Täters durch den Richter wieder ausgeglichen werden müsse.
Was könnte dies in konkreten Fällen wie Diebstahl oder Mord bedeuten? Erscheint eine derart bemessene Strafe womöglich zu milde oder zu streng, ließe
sich das Prinzip vielleicht anders auslegen?
Ein Vorteil des Täters ist unmittelbar plausibel bei Eigentumsdelikten wie Diebstahl oder
Betrug, bei Plagiatsfällen in Wissenschaft oder Kunst, bei unfairem Konkurrenzverhalten
in Sport oder Politik. Weniger einsichtig ist dieses Konzept bei Tötungsdelikten wie Mord
oder Totschlag, insbesondere wenn sie mit keinem dauerhaften Nutzen für den Täter einhergehen, sondern allein momentanen Stimmungen wie Rachedurst entspringen.
Der Ausgleich jenes Vorteils scheint bei Eigentumsdelikten wie Diebstahl auf eine bloße
Rückgabe hinauszulaufen, weil eben auf diese Weise dem Täter sein Vorteil wieder genommen und dem Opfer sein Nachteil wieder erstattet würde. Dies wäre irritierend milde, da
es hierdurch eigentlich gar nicht zu einer Strafe, sondern allein zu einer Wiederherstellung
des Status quo käme, ähnlich der Reparationszahlung nach einem Unfall. Bei Tötungsdelikten wie Mord scheint das Konzept eine unbedingte Hinrichtung zu verlangen, weil sich
nur auf diese Weise das Verhältnis zwischen Täter und Opfer zu einem Ausgleich bringen
ließe. Dies wäre überaus streng, auch wenn es der klassischen Vorstellung des ›ius talionis‹,
d.h. des Prinzips ›Auge um Auge, Zahn um Zahn‹, entsprechen mag.
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Eine andere Auslegung des Prinzips wäre möglich, wenn man Vorteil bzw. Gleichheit nicht
allein auf die materielle Ebene bezöge. Stattdessen könnte die Bemessungsgrundlage immaterielle Aspekte mit einbeziehen.
Im Falle des Diebstahls ließe sich nicht allein das erbeutete Objekt, sondern auch die emotionale Schädigung des Opfers oder die interaktive Verletzung seiner Sphäre in die Rechnung einbeziehen. Der Ausgleich dieser Beeinträchtigungen könnte dann stärkere Sanktionen beim Täter rechtfertigen, als dass er lediglich zur Rückgabe genötigt würde. Im Falle
des Mordes ließen sich nicht allein physische Beeinträchtigungen, sondern auch psychische
Konfrontationen des Täters oder die soziale Ächtung seiner Person in die Bilanz aufnehmen.
Der Ausgleich gegenüber dem Opfer könnte dann auch durch schwächere Sanktionen als
eine Hinrichtung erreicht werden, etwa durch eine Gefängnisstrafe.
3. Aristoteles vertritt in seiner Theorie der ›austeilenden Gerechtigkeit‹ das Prinzip
der Meritokratie, d.h. der Verteilung gemäß Verdienst. In seinem Anwendungsfeld, der öffentlichen Anerkennung von bürgerlichen Leistungen, ist dies naheliegend. Gilt dies auch für das moderne Verständnis von Verteilungsgerechtigkeit,
als Bereich der Versorgungsleistungen und Unterstützungsmaßnahmen? Wenn
nein, welche Verteilungskriterien erscheinen Ihnen hier erwägenswert und plausibel?
Verteilungsgerechtigkeit wird in der Regel nicht mehr als Anerkennung von Leistungen
konzipiert. Vielmehr steht sie vornehmlich unter der Überschrift der Versorgung und Unterstützung der Bevölkerung.
Entsprechend wird sie kaum mehr gemäß dem Grundsatz der Meritokratie gestaltet. Stattdessen kommen in der modernen Verteilungsdebatte bevorzugt andere Prinzipien zur Geltung. Hierzu gehören strukturelle Kriterien wie die Maximierung des Gesamtwohls, der
Abbau von Ungleichheiten oder die Vermeidung von Armut. Ebenso treten prozedurale
Kriterien auf wie der freie Markt, die mehrheitliche Abstimmung sowie die faire Auslosung.
Eine meritokratische Verteilung gemäß geleistetem Verdienst scheint gegenwärtig nur in
besonderen Bereichen vertreten zu werden, etwa bei Schulnoten oder Ehrungen, bei Leistungsprämien oder Preisen. Selbst hier gibt es indessen Grund zum Zweifel, ob bei genauerem Hinsehen von einem meritokratischen Prinzip gesprochen werden kann.
Erstens kommt es nicht immer zu einer Verteilung von Gütern, sondern oftmals lediglich
zu einer Zuerkennung von Graden. Diese haben keinen unmittelbaren Wert für den Empfänger, sondern dienen allein dem Fortkommen in entsprechenden Ausbildungssystemen.
Zweitens geht es nicht immer um den Zweck einer Entlohnung von vergangenen Leistungen,
sondern oftmals um einen Ansporn zu weiterem Tun. Dieser mag letztlich aufgrund anderer Kriterien gewünscht sein, etwa zur Steigerung des Gesamtwohls oder zur Behebung von
Armut.
4. Rekonstruieren Sie die Komponenten und Formen des praktischen Syllogismus
bei Aristoteles anhand des Beispiels der Besonnenheit.
Für den Unerfahrenen: Ein Mensch befindet sich erstmals in einer Situation, in der er zu einem
maßvollen Umgang mit dem eigenen Körper aufgefordert ist, beispielsweise bei einem Fest,
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auf dem Alkohol ausgeschenkt wird. Er ist sich bewusst, dass die moralische Herausforderung
in dieser neuen Situation für ihn darin besteht, seinem Handeln den Charakter der Besonnenheit zu geben, während er selbst die Tugend der Besonnenheit noch nicht ausgebildet hat.
Entsprechend würde sein Obersatz lauten: ›Besonnenheit ist beim Umgang mit dem eigenen
Körper das höchste Ziel.‹ Hier wäre noch keinerlei inhaltliche Bestimmung erfolgt, worin
dieses Ziel genauer besteht. Der Satz lieferte lediglich eine definitorische Festlegung, dass
Besonnenheit die relevante Tugend für die anstehende Situation ist.
Entsprechend wäre es nun an der Klugheit, die eigentlich moralische Aufgabe zu erfüllen,
nämlich herauszufinden, was diese abstrakte Vorgabe im konkreten Fall bedeutet. Dabei
würde sie im Sinne der aristotelischen rechten Mitte die richtige Handlung wohl weder im
Extrem eines sinnlosen Besäufnisses noch im Extrem völliger Abstinenz suchen. Indem sie
die genaueren Umstände des bevorstehenden Festes in ihre Überlegung einbezieht, könnte
sie den folgenden Untersatz bilden: ›Heute ein Glas Wein zu trinken ist besonnen.‹ Hieraus
ergäbe sich dann die Konklusion: ›Ich sollte heute ein Glas Wein trinken.‹
Für den Erfahrenen: Nachdem die Person sich auf diese Weise mehrfach bei derartigen
Festivitäten bewährt hat, ist es bei ihr zu einer entsprechenden Gewöhnung gekommen.
Durch wiederholtes Handeln gemäß der obigen Schlussfolgerung hat sie die Tugend der
Besonnenheit ausgebildet, d.h. eine verankerte Disposition zu entsprechenden Handlungen,
einen festen Habitus, der zwischen den falschen Extremen der Zügellosigkeit und der
Stumpfheit liegt. Dieser könnte sich in dem Obersatz artikulieren: ›Ein Glas Wein an einem
geselligen Abend mit Freunden ist besonnen.‹ Hier wäre eine inhaltliche Bestimmung getroffen, welches Verhalten gefordert ist. Der Satz wäre der adäquate Ausdruck dafür, dass
die geforderte Tugend der Besonnenheit nun als verinnerlichte Disposition vorliegt.
Dabei wäre es eben die wiederholte Klugheit gewesen, die sich in jene Disposition transformiert hätte, was zur Folge hätte, dass jene Klugheit nunmehr allein noch eine faktische
Aufgabe übernehmen müsste. Sie müsste nämlich lediglich bestimmen, ob der fragliche
Anwendungsfall vorliegt. Dies wäre vergleichsweise trivial, der relevante Untersatz könnte
heißen: ›Heute ist ein geselliger Abend mit Freunden.‹ Hieraus ergäbe sich wiederum die
Konklusion: ›Ich sollte heute ein Glas Wein trinken.‹
5. Verdeutlichen Sie an konkreten Beispielen, wie die drei theologischen Tugenden
Glaube, Hoffnung und Liebe bei Thomas von Aquin zur Vollendung der vier Kardinaltugenden Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit bzw. Besonnenheit beitragen
können.
Der Glaube vermittelt die Wahrheiten der christlichen Doktrin, insbesondere die Existenz
Gottes. Indem er in der Vernunft beheimatet ist, kann er vor allem die Überlegungen der
Klugheit beeinflussen, wenn es um die rechte Mitte beim jeweiligen Handeln geht. An Gottes
Existenz zu glauben, kann beispielsweise wichtig sein, um die rechte Mitte zwischen Vergebung und Vergeltung gegenüber anderen Menschen zu bestimmen: Dass Gott als letzter
Richter der menschlichen Taten existiert, legt zwar kein völliges Absehen von irdischer Strafe nahe, macht aber auch keine lückenlose Abgeltung erfolgten Fehlverhaltens nötig.
Die Hoffnung bezieht sich auf die Verheißungen der christlichen Lehre, namentlich die
Unsterblichkeit der eigenen Seele. Sie betrifft zunächst den Willen, als eigentliches Entscheidungsvermögen des Menschen, und auch das Überwindungsvermögen, mit seinen spezifischen Leidenschaften. Auf die Unsterblichkeit der Seele zu hoffen, kann somit die Gerech-
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tigkeit und die Tapferkeit stärken: Erst diese besondere christliche Aussicht lässt gegenüber
körperlichen wie seelischen Gefahren die richtige Balance von Zuversicht und Furcht entstehen, und auch sie erst kann etwa in der austeilenden Gerechtigkeit das richtige Maß der
zuzuweisenden Güter treffen.
Die Liebe umfasst die Gegenstände der christlichen Zuwendung, darunter den Nächsten
und den Feind. Sie betrifft wiederum den Willen, als wesentliche Instanz der Entschlussfassung, und zudem das Begehrungsvermögen, mit seinen besonderen Leidenschaften. Den
Nächsten bzw. den Feind zu lieben, ist somit für Gerechtigkeit und Besonnenheit förderlich:
Allein diese spezifisch christliche Haltung bringt gegenüber anderen die angemessene Form
von Zuneigung oder Abneigung hervor, und auch sie allein vermag etwa in der ausgleichenden Gerechtigkeit eine angemessene Korrektur von erfolgtem Unrecht entstehen zu lassen.