Makoto Kusano - Depression und Naikan

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Makoto Kusano - Depression und Naikan
Depression und Naikan
von Dr. Makoto Kusano
In unserem Leben ist nicht unbedingt immer alles in Ordnung. Oft stoßen wir auf Schwierigkeiten, erleiden
Verluste von uns bedeutenden Personen oder Dingen. Dabei entstehen starke Schwermut und tiefe Traurigkeit.
Depression ist nichts weiter als eine Verstärkung dieser Empfindungen, also eine ganz gewöhnliche Krankheit
für uns Menschen.
Depression läßt sich in zwei Gruppen einteilen: reaktive Depression und endogene Depression. Reaktive
Depression wird sekundär durch die oben genannten Gründe verursacht, daher wird diese Form auch sekundäre
Depression genannt. Endogene Depression dagegen hat keine erklärlichen Gründe, und man bezieht sie auf
angeborene Konstitution und Anlage. Manchmal gibt es Motive, die das Erscheinen von Symptomen
veranlassen. Es wurde berichtet, daß Naikan-Therapie die Besserung von Depression bewirkt. Besonders auf
reaktive Depression hat sie eine starke Wirkung. Auf endogene Depression hat sie selten Wirkung, jedoch gibt es
auch Fälle, daß der Zustand sich verbessert, nachdem man die verschiedenen Konflikte beseitigt hat, die man im
Unterbewußtsein gefunden hat.
Ich nenne hier ein Beispiel einer Patientin, die unter langwierigen endogenen Depressionen gelitten hat und sich
gegen die Therapie gewehrt hat. Ihr Zustand hat sich erst verbessert, nachdem sie sich mit Naikan behandeln hat
lassen.
Sie ist eine ledige 26-jährige Frau und war seit der Kindheit immer von zurückhaltender leicht depressiver
Natur. Periodische Depressionen erschienen, als sie studierte. Sie fühlte sich nicht gut, verlor den Appetit und
hatte überhaupt keine Lust, irgendetwas zu machen, und sie fand keinen Grund dafür. Ihr fiel es schwer, im
Zimmer Ordnung zu machen, sie wurde schlampig, eine Verringerung ihrer organischen Funktionen zeigte sich
als Amenorrhoe. Nach dem Universitätsabschluß ging es ihr etwas besser, sie wohnte alleine in einer Wohnung
und arbeitete als Büroangestellte in einer Schule. Bald darauf fühlte sie sich wieder niedergedrückt und
unwohl, sie war gereizt. Sie hatte das Gefühl, daß sie frustriert war, aber sie wußte selbst nicht warum.
Körperlich war ihr auch schlecht und ihre Leistungsfähigkeit am Arbeitsplatz nahm ab. Sie fühlte sich
beobachtet und hatte immer größere Angst, daß andere Leute glauben könnten, daß sie ihre Pflicht nicht
erfülle. Eines Tages verübte sie einen Selbstmordversuch durch Einnahme einer Überdosis Beruhigungsmittel
und wurde ins Krankenhaus eingeliefert. Für diese Patientin war es zur Qual geworden, arbeiten gehen zu
müssen, und sie hatte im Unterbewußtsein gefühlt, daß sie nicht arbeiten gehen müsse, wenn sie tot wäre. Dies
wollte sie in die Tat umsetzen. Sie wurde aus dem Krankenhaus entlassen und dabei erhielt sie einen Hinweis
vom Psychiater, daß die Beziehung zu ihrer Mutter wichtig sei. Sie verstand aber nicht, was das bedeutete.
Die Depressionen dauerten an, und sie war fast ein ganzes Jahr lang weg vom Arbeitsplatz. Kaum
zurückgekehrt, war sie nach ein paar Monaten wieder arbeitsunfähig. Sie sagte, die Arbeit an sich sei nicht so
schlimm, sondern überhaupt die Verpflichtung arbeiten zu gehen. Ihr ganzer Tagesablauf kam durcheinander.
Sie war sehr depressiv und konnte untertags nicht ausgehen, weil sie sich beobachtet fühlte, und wenn das
Ausgehen unbedingt nötig war, dann nur in der Nacht. Die Depressionen wurden chronisch, sie hatte überhaupt
keine Aussicht, ihre Stelle wieder aufzunehmen. Tagaus, tagein hatte sie nur Kummer. Vor Angst und
Verzweiflung verübte sie noch ein paar Selbstmordversuche. In diesem Notstand kam sie in mein
Krankenhaus. Ich machte ambulante Psychotherapie und gab ihr Antidepressiva, die jedoch nicht viel halfen.
Sie ließ den Kopf nur hängen und sprach kaum, sie wollte ihre Seele nicht öffnen und reden. Ihre Depressionen
wurden immer dauerhafter und es gab kaum Hoffnung auf Besserung.
Im Verlauf ihrer Behandlung hatte ich eine Sprechstunde mit ihrer Mutter, und dabei erfuhr ich folgenden
Sachverhalt: Nach der Heirat wohnte ihre Mutter mit ihrem Vater bei der Großmutter väterlicherseits. Diese
Großmutter genau und streng. Die Mutter der Patientin arbeitete auch nach der Heirat in einer Spinnerei, und
als sie nach der Arbeit sofort zum Baby (Patientin) ging, schimpften die Großmutter und der Vater. Sie dachte,
sie würde irgendwann belohnt, wenn sie ihre Pflicht im Haus und in der Spinnerei eifrig erfüllte, und strengte
sich an. Sie durfte sich nicht selber um ihr Kind (Patientin) kümmern, obwohl sie es gerne getan hätte, daher
war die Beziehung zu ihrem Mann nicht harmonisch, und gegenüber ihrer Schwiegermutter hatte sie immer ein
Haßgefühl. Deswegen war im Haus immer eine gedrückte Stimmung und zwischen den drei Personen gab es
oft Streitigkeiten. Das Kind (Patientin) wurde daraufhin melancholisch und labil. Die Mutter meinte, an der
Krankeit ihres Kindes seien sie, ihr Mann und ihre Schwiegermutter schuld. Andererseits war der Vater der
Patientin unbekümmert, und kümmerte sich auch nicht um die Beziehung seiner Frau zu seiner Mutter. Der
Vater sagte: „An der Großmutter hängt meine Tochter überhaupt nicht. Vielleicht kommt das davon, daß ihre
Mutter nichts von der Großmutter hielt.“ Die Krankheit kann die Folge davon sein, daß die Familie zu sehr mit
der eigenen Landwirtschaft beschäftigt war und sich wenig um die Patientin gekümmert hat.
Ich dachte, daß diese familiären Probleme auf die Charakterbildung und den derzeitigen psychischen Zustand
der Patientin Einfluß gehabt haben müssen. Vor allem spürte ich, daß die Beziehung zwischen Mutter und
Kind stark verzerrt war. Ich habe keine andere Methode gefunden als Naikan, mit der man sie „retten“ konnte.
Ich erzählte ihr und ihrer Mutter, daß man eine Besserung erzielen könnte, wenn sie beide sich gleichzeitig
durch Naikan behandeln lassen würden. Aber die Patientin wehrte sich eisern dagegen, und so redete ich
vorläufig nur der Mutter intensiv zu. Die Mutter ließ allein eine intensive Naikan-Therapie bei Dr. Nagashima
vom Hokuriku Naikan Institut machen, den Vater bat ich, die Beziehung zwischen der Patientin und der
Großmutter während der Abwesenheit der Mutter zu regeln, und gab ihm den Hinweis, daß er auf die Patientin
besonders wegen ihres Selbstmordversuches aufpassen müßte. Es war zu befürchten, daß sie wieder einen
Selbstmordversuch machen könnte, weil sie an der Zukunft verzweifelte und pessimistisch wurde. Ich erklärte
der Patientin, daß es möglich wäre, ihren Zustand zu bessern, und sie versprach, nie wieder einen
Selbstmordversuch zu unternehmen. Als ihre Mutter im Hokuriku Naikan Institut war, kam sie einmal zu mir
und ich glaubte, sie verhielt sich etwas lockerer. Damals sagte sie zu mir: „Ich habe eine unbestimmte Angst.
Diese spüre ich, wenn ich allein bin oder durch irgend etwas gereizt werde. Ich glaube, ich war schon von
Kindheit her eine melancholische Natur. Vielleicht ist sie jetzt erst explodiert.“
Die Mutter war vom Naikan Institut zurückgekehrt, aber die Beziehung zwischen Mutter und Tochter wurde
nicht unbedingt besser. Als die Patientin das nächste Mal zu mir kam, sagte sie: „Ich habe mit der Mutter
gestritten.“ Die Mutter redete der Patientin aus Angst zu stark zu, Naikan machen zu lassen. Die Patientin
sagte: „Die Mutter hat mir vehement geraten, Naikan machen zu lassen. Sie war immer so. Ich hege Mißtrauen
gegen sie. Ich glaube nicht, daß sie sich nach der Naikan-Therapie verändert hat.“ Sie sagte, sie habe die ganze
Zeit im Bett verbracht und die ganze Nacht geweint.
Dem Vater hatte ich auch Naikan empfohlen, aber er konnte bis jetzt wegen Terminen nicht gehen. Er sagte, er
hoffe, im Urlaub Ende des Jahres sich irgendwie die Zeit dafür nehmen zu können. Die Patientin sagte: „Ich
kann nicht gut schlafen. Ich kann nicht einschlafen und wache morgens früh auf. Das macht mich fertig. Mir
geht es jeden Tag schlecht. Ich habe kein Ziel für die Zukunft.“ Sie nahm wieder große Mengen
Psychopharmaka. „Ich war so fertig und dachte, daß es mir nie besser gehen würde. Deswegen habe ich so viel
Medizin genommen.“
Mittlerweile bekam sie einen Anruf vom Schuldirektor. Er wollte wissen, ob sie wieder arbeiten könne oder ob
sie die Karenzzeit verlängern wolle, da diese bald ablief. Sie hatte deswegen schon einen Brief von ihrem
Vorgesetzten bekommen, den sie aber liegen ließ, weil sie sich nicht entscheiden konnte. Der Anruf war eine
Mahnung. Sie traute sich nicht zu ihrem Arbeitsplatz zurückzukehren und wendete sich an mich. Bei dieser
Gelegenheit empfahl ich ihr wieder Naikan. Ich überredete sie, daß es noch nicht zu spät wäre, auch wenn sie
erst nach Naikan die Karenzierung beantragen würde. Ich erklärte, daß ihr Zustand sich möglicherweise doch
nicht ändern würde, aber daß es trotzdem einen Sinn hätte Naikan zu probieren, wenn es auch nur die geringste
Chance gäbe, daß Naikan hilft. Endlich akzeptierte sie meinen Rat und entschloß sich, eine Naikan-Therapie zu
besuchen. Der Vater nahm auch Urlaub und fuhr auch zum Hokuriku Naikan Institut, wo er mit seiner Tochter
intensive Naikan-Therapie machte. An den Sprechstunden nahm neben Dr. Nagashima auch ich als der
behandelnde Arzt teil. Nach der Naikan-Therapie war sie kaum wiederzuerkennen, weil ihr Gesichtsausdruck
heiter geworden war. Sie sagte: „Ich fühle mich frisch. Ich weiß gar nicht, warum ich mich wegen
Kleinigkeiten ständig gequält habe.“
Bei der ersten Sprechstunde nach der Heimkehr erzählte sie mir munter und lebendig: „Der Himmel, den ich
auf dem Weg vom Hokuriku Naikan Institut nach Hause aus dem Zugfenster gesehen habe, war wunderschön.
Es hat zwar geregnet, aber zwischen den Wolken habe ich einen Fleck blauen Himmels gesehen, und das war
sehr schön. Ich gehe wieder arbeiten, da es keinen Sinn hat, endlos meine Karenzzeit zu verlängern.“ Zwei
lange Jahre hatte sie unter schweren Depressionen gelitten und war von ihrem Arbeitsplatz ferngeblieben, doch
nach der knapp einwöchigen Naikan-Therapie änderte sie sich derartig, daß sie wieder Lust zu arbeiten hatte.
Das war auch für mich überraschend. Seitdem sie wieder zu arbeiten begonnen hat, geht es ihr jetzt gut. Sie
sagt, daß sie jetzt ganz natürlich arbeiten kann, nicht verkrampft wie bisher.
Die Symptome der Depression sind hauptsächlich gedrückte Stimmungen. Aber wenn die Krankheit
fortschreitet oder sich verlängert, verlieren die Patienten das Interesse an Dingen und ihrer Umgebung; ihr
Denkvermögen, ihre Konzentrationsfähigkeit, Geisteskraft sowie Entscheidungsvermögen sinken. Sie haben
Hemmungen vor jeglichen Aktivitäten und klagen über Müdigkeit, allgemeine Mattigkeit,
Minderwertigkeitsgefühl, Wertlosigkeitsgefühl, Schuldgefühl und Angst. Wenn die Depressionen stärker
werden, verlieren die Patienten jegliches Lebensziel und hegen Selbstmordgedanken, manchmal unternehmen
sie sogar Selbstmordversuche. Funktionen des Organismus sinken analog zu den geistigen Kräften. Die
Symptome wie Kopfschmerzen, trockener Mund, Ohrensausen, steife Schultern, Schmerzen in einzelnen
Körperteilen, Einschlafen von Gliedern, kalte Hände und Füße, woran die Fehlfunktion des autonomen
Nervensystems schuld ist. Ferner nimmt die Lebenskraft ab, da auch die körperliche Energie abnimmt.
Menschliche Bedürfnisse wie Essen, Schlaf, Geschlechtsverkehr nehmen auch ab, und Amenorrhoe kann auch
vorkommen wie bei der geschilderten Patientin. Wenn die Depression durch Naikan leichter wird,
verschwinden die oben genannten Symptome. Ich denke, Naikan zeigt dadurch Wirkung, daß die Offenlegung
von den im Unterbewußtsein versteckten, verschiedenen Konflikte und die Entstehung von Lebensenergie
(Wiedergeburtserlebnis) erfolgen. Über das Wiedergeburtserlebnis werde ich bei anderer Gelegenheit erzählen,
da ich das wegen Platzmangels hier nicht tun kann.
Dr. Makoto Kusano ist Leiter des Fukui Landeskrankenhauses (Psychiatrisches Krankenhaus) von Toyama,
Japan.