Schöne neue Welt – gute alte Fähigkeiten

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Schöne neue Welt – gute alte Fähigkeiten
www.detecon-dmr.com
DMR
Das Magazin für Management und Technologie
ESSAY:
Schöne neue Welt –
gute alte Fähigkeiten
Detecon Management Report - 1 / 2011
Detecon Management Report - 1 / 2011
Moderne Technik sinn-voll nutzen
Thomas Lünendonk
Think ICT 2032!
Mehr als ein Gedankenspiel
Im Auge des Betrachters
Zukunftsszenarien für unser Leben in Augmented Realities
Spiel mit Grenzen
Die Zukunft der Netze
Detecon
Management
Report
1 / 2011
Editorial
ICT 2032
Liebe Leserinnen und Leser,
wir wagen den Blick in die Zukunft – wie wird sich die Informations- und Kommunikationstechnologie über die nächsten 20 Jahre entwickeln?
Eine spannende Fragestellung, der sich diese DMR-Ausgabe annimmt. Heute schon
erkennbar ist ein wichtiger Trend: ICT treibt als zentraler Produktionsfaktor Innova­
tionen in allen Branchen voran. Denn nicht nur die ICT-Branche selbst entwickelt sich
rasant weiter. Ihr Einfluss erreicht auch Anwendungsbereiche wie Energiewirtschaft,
Transport und Verkehr, Finanzdienstleistungen und andere mehr.
Zwei Prognosen leiten unsere Autoren hieraus ab: Zum einen wird ICT in nahezu
jedem Produkt vorhanden sein. Zum anderen verändern sich die zugehörigen Wertschöpfungsbereiche, beispielsweise indem Endkundenleistungen von ICT Anbietern
mit denen anderer Branchen verschmelzen. ICT Wertschöpfung wird sich auf marktund serviceorientierte Geschäftsbereiche (Business-as-a-Service) oder infrastrukturbezogende Dienstleistungen (Infrastructure-as-a-Service) konzentrieren. Entscheidend hierfür ist eine Organisationsstruktur, die es erlaubt, mit einer Vielzahl von Partnern ad hoc
zusammenzuarbeiten.
In der Zukunft erwarten uns also untereinander vernetzte Autos, intelligent gesteuerte
Stromnetze und Häuser sowie Smart Agents, die unsere Hauseinrichtung inklusive
Transport und Montage koordinieren. Schöne neue Welt? Ja, meint Essayist Thomas
Lünendonk. Und zwar dann, wenn wir moderne Informations- und Kommunika­
tionstechnologien mit Sinn und Verstand nutzen: „Als Fackel durch das Paradies und
den Dschungel der Möglichkeiten kann uns ein kleines Wort dienen: Warum?“
In diesem Sinne wünschen wir Ihnen eine anregende Lektüre!
Ingrid Blessing
Chefredakteurin
Detecon Management Report
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Detecon Management Report • 1 / 2011
ICT 2032
Inhalt
Essay
Schöne neue Welt –
gute alte Fähigkeiten
Moderne Technik sinn-voll nutzen
Seite
Thomas Lünendonk
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Strategy
Think ICT 2032! 8
Mehr als ein Gedankenspiel
Den Geschäftshorizont im Visier 18
Wie Sie sich für Business as a Service positionieren
InCar Kommunikation der Zukunft 26
Herausforderungen und Ansätze zur Umsetzung nachhaltiger ICT Lösungen
für die Automobilindustrie
Social Innovation 30
Eine Unternehmensperspektive auf die Mitgestaltung einer nachhaltigeren Gesellschaft
Connected Energy 36
Innovationstreiber ICT – eine Branche vor dem Umbruch
Impressum:
Herausgeber:
Detecon International GmbH
Frankfurter Straße 27
65760 Eschborn
Germany
www.detecon.com
[email protected]
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Detecon Management Report • 1 / 2011
Aufsichtsrat:
Klaus Werner (Vorsitz)
Chefredaktion:
Ingrid Blessing (V.i.S.d.P.)
Design:
Ernst Formes
Geschäftsführung:
Dr. Klaus Hofmann (Vorsitz)
Andreas Baumann
Local Court Bonn HRB 2093
Registered Office: Bonn
Redaktion:
Christine Wolters
e-Mail: [email protected]
Druck:
Kristandt GmbH&Co.KG
Frankfurt/Main
Erscheinungsweise: vierteljährlich
ISSN 1867-3147
Inhalt
Organization
Im Auge des Betrachters 44
Zukunftsszenarien für unser Leben in Augmented Realities
Auf zu neuen Ufern 50
Warum die Suche nach der perfekten Organisationsstruktur niemals endet
„Wird es in der Zukunft überhaupt so etwas wie
ein Telekommunikationsunternehmen geben?“ 56
Interview mit Mike Kelly, Senior Technical Manager des TM Forums
Keine Musik mehr in der Warteschleife 60
Self-Service prägt die Servicekultur 2032
Technology
Intelligente Helfer erobern die Welt 66
Die Renaissance der künstlichen Intelligenz
Spiel mit Grenzen 72
Die Zukunft der Netze
Detecon publiziert ! 79
Detecon meets Young Art 80
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Detecon Management Report • 1 / 2011
Essay
Schöne neue Welt –
gute alte Fähigkeiten
Moderne Technik sinn-voll nutzen
Thomas Lünendonk
M
anchmal sind Kinder einfach die besten Berater. Sie haben den goldenen Schlüssel für Beratungserfolg bereits mit zwei bis drei Jahren in der Tasche. Und sie ziehen ihn unerbittlich. Dieser
Schlüssel besteht aus nur einem einzigen Wort mit fünf Buchstaben: „Warum?“
Warum (!) schreibe ich das? Weil wir uns diese Frage immer wieder einmal stellen sollten, wenn
wir in der Welt der Innovationen und der Technik nicht untergehen wollen. Wenn wir wissen und
verstehen wollen, welchen Nutzen uns neue Möglichkeiten bieten. Wenn wir mit Sinn und Verstand
neue Wege gehen möchten.
Die Antworten auf diese Frage gehen nicht selten über den ökonomischen Horizont hinaus. Sie
beschäftigen sich auch damit, inwieweit menschliche Fähigkeiten und Fertigkeiten ergänzt, erweitert
oder eventuell reduziert werden.
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Schöne neue Welt – gute alte Fähigkeiten
Was man so alles kann...
Die Ankündigungen von Technologie- und Service-Unternehmen arbeiten viel und gerne mit dem
Wörtchen „kann“: „Dieses Smartphone kann dies und das“, „Mit diesem E-Pad können Sie dieses
und jenes“, „In wenigen Minuten können Sie sich mit so und so viel Menschen vernetzen“ etc.
In jeder Zeile dieser Werbebotschaften schimmert die Begeisterung der Ingenieure durch, die mit
Recht stolz darauf sind, neue Möglichkeiten erschlossen zu haben. Und natürlich erklingt da auch
die Stimme der Marketiers, die sich von den neuen Features mehr Kundennutzen und mehr Umsatz
erhoffen. Das ist gut und legitim. Der Erfindungsgeist in der Informations- und Kommunikationstechnik hat in den letzten Jahrzehnten viel Wohlstand erzeugt und auch sehr viel Komfort bereit­
gestellt, den die Menschen heute nicht mehr missen möchten.
Und doch darf immer wieder die Frage nach dem Warum gestellt werden. Warum ist es gut, sich
mit so und so viel Menschen zu vernetzen? Sind wir nicht gelegentlich schon mit der familiären oder
nachbarschaftlichen Kommunikation überfordert? Warum sollen andere und ich jederzeit verfügbar
sein? Ist temporäre Ruhe nicht auch ein Wert?
Chancen und Risiken...
Die Frage nach dem Warum im Umgang mit Kommunikationstechnik hat jedoch weitaus mehr
Facetten als nur die Reflexion über persönliche Verhaltenspräferenzen. Bei aller Begeisterung über
neue technologische Möglichkeiten sollte der Blick auch immer wieder einmal darauf fallen, welche
Chancen und Risiken gleichermaßen in deren Gebrauch liegen.
Nehmen wir ein ganz simples Beispiel: Ein Mensch schreibt einen Liebesbrief. Er schreibt ihn mit
dem PC. Die Zeile „Ich liebe Dich“ fügt er in das Dokument mit 12 Tastendrücken für Buchstaben
und zweimaligem Drücken der Leertaste ein. (Wir wollen an dieser Stelle hoffen, dass er aufgrund
häufigen Partnerinnenwechsels das Ganze nicht mit „Copy& Paste“ praktiziert hat.) Die hochemotionale Liebesbotschaft ist also mit mehrfachen mechanischen Bewegungen produziert worden. Und
anstelle der 12 Buchstaben für „Ich liebe Dich“ hätten auch beliebige andere Wörter mit ebenso
vielen Buchstaben oder nur Ziffern geschrieben werden können. Es ist in jedem Falle eine Botschaft
per Tastendrücken.
Handarbeit schafft Datenstürme im Kopf...
Nun die Alternative: Ein Mensch verfasst handschriftlich die gleiche Liebesbotschaft. Hier handelt
es sich nicht um wiederkehrendes Tastendrücken, sondern um das Malen von Buchstaben zu Wortbildern. Im Gotischen stand das Wort „malen“ sowieso gleichermaßen für schreiben wie für malen.
Dieses Vorgehen hat eine andere Qualität – nicht was die Liebe, sondern was den Schreibprozess
betrifft. Hier wird mit einer erlernten Motorik der Hand, beispielsweise der rechten, die linke Gehirnhälfte, die für die Steuerung der rechten Gliedmaßen zuständig ist, aktiviert. Parallel dazu wird
die rechte Gehirnhemisphäre, die bei Bildern und Emotionen dominiert, ebenfalls adressiert und es
entwickelt sich über die Verbindung der beiden Hemisphären, das sogenannte Corpus Callosum,
ein lebhafter „Datenverkehr“. Diese Aktivierung mehrerer Gehirnbereiche erhöht die Erlebnis- und
Merkfähigkeit. Die etwas langsamere „Handarbeit“ des Schreibens verleiht dem Vorgang auch noch
eine temporäre Wertsteigerung.
Was hier für den Vorgang „Liebesbrief“ dargestellt wurde, hat natürlich auch seine Bedeutung für
wissenschaftliches Arbeiten. Auch im Zeitalter der PCs und Scanner sieht man viele Studentinnen
und Studenten an ihren Bleistiften nagen, weil das Herausfiltern und Erarbeiten von Wissen durch
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Detecon Management Report • 1 / 2011
Essay
handschriftliche Notizen besser unterstützt wird. Hinzu kommt, dass die Fertigkeit der Handschrift
sich positiv auf die Merkfähigkeit auswirkt und mehr Synapsen im Gehirn „unter Strom“ setzt als
einfaches Tastendrücken.
Die fünf Sinne verbinden...
Warum? Bei der Handschrift sind mehrere Sinne miteinander verbunden. Zum einen die Sensorik
der Hand, zum anderen das Sehen eines Wortbildes in einer Vorlage beziehungsweise das Imaginieren eines Wortbildes im Kopf, um es anschließend auf Papier umzusetzen. Darüber hinaus gibt
einem ein Füllfederhalter oder ein Bleistift Halt und ein Stück Papier ist fassbar und vermittelt uns
das Gefühl, etwas bleibend „erfasst“ zu haben. Wenn wir im übrigen das Gelesene auch noch leise
vor uns hinmurmeln und damit den Sprachsinn und unser auditives Zentrum aktivieren, so steht
einem größeren Erkenntnis- oder Lernerfolg nicht mehr viel im Wege.
Also zurück zum Bleistift? Warum? Wenn wir diese oben dargestellten Vorteile des tradierten Arbeitens berücksichtigen, dann können wir sie auch nutzbringend auf neuen Plattformen realisieren.
Zum Beispiel können wir einen so genannten Smart Pen verwenden, mit dem sich sowohl Hören
(integrierte Aufnahmetechnik) als auch Schreiben (handschriftlich) lässt und der nach Abschluss
eines Seminars, Vortrags oder eines individuellen Lernprozesses das Gehörte und Handgeschriebene
auf einen PC überträgt.
Wege zum Umgang mit neuer Technik...
Dieses Beispiel ist besonders schön, weil es sich gegen die häufig gestellte, recht dumme Frage wehrt:
„Was ersetzt das?“ Vielmehr wird hier deutlich, dass sich durch Berücksichtigung alter Fähigkeiten
und der Aufgeschlossenheit für moderne Technik neue Potenziale erschließen lassen. Die richtigen
Fragen lauten daher: „Was ergänzt meine Fähigkeiten? Was erweitert meine Möglichkeiten? Warum,
mit welcher Motivation und Zielsetzung, nutze ich beispielsweise Informations- und Kommunika­
tionstechnik?“ Die Technologie bleibt die Gleiche, doch die Herangehensweise ist eine andere.
Technik ist also kein Selbstzweck, sondern sollte Fragen beantworten und tatsächliche Bedürfnisse
befriedigen. Mit der Frage nach dem Warum wird schnell offenkundig, ob es um echten oder synthetischen Bedarf geht. Umberto Eco hat das einmal sehr schön dargestellt. Er berichtete, wie schwierig
es war, das Wissen einer Zeit in einem handgeschriebenen, mittelalterlichen Lexikon zusammenzufassen. Die moderne Drucktechnik brachte hier die Lösung. Das Gegenteil der Neuzeit: Als die CDs
und DVDs aufkamen, stellte sich die Frage: „Womit füllen wir diesen Speicherplatz?“ Und wenn wir
einmal ehrlich sind, so ist auch heute die eine oder andere App der Tatsache geschuldet, dass bereitgestellter Speicherplatz irgendwie befüllt werden muss. Man fühlt sich gelegentlich an den Wunsch
stolzer Schrankwandbesitzer „Eiche rustikal“ erinnert, die Bücher nur kauften, um die Regale im
Wohnzimmer zu füllen. Manches analoge Phänomen der Vergangenheit verlagert sich fast 1:1 in die
digitale Gegenwart.
Ähnliches gilt übrigens auch für die elektronischen Medien. Gibt es heute so viele TV-Sender mit
Lach-Shows, weil es so viele gute Komiker gibt? Oder gibt es so viele grottenschlechte bis mittel­
mäßige Komiker, weil so viele Sendeplätze bestückt werden müssen? Die Technik ist auch hier nicht
schuld, sie bietet nur die Plattform. Und vielleicht sollte sich auch mancher Sender einmal neben
dem Quotendenken die „Warum“-Frage stellen.
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Schöne neue Welt – gute alte Fähigkeiten
Viel hilft nicht immer viel...
Warum bin ich denn nun beim TV gelandet? Weil das ein schöner Übergang zum Thema „Multitasking“ ist. Wer schaut denn, bitte schön, heute noch einfach so Fernsehen? Es wird dabei gegessen, getrunken, gelesen, geredet. Das Ganze lässt sich natürlich noch weiter auf die Spitze treiben.
Wir schauen TV am PC. Das Programm läuft in einem Fenster, parallel hören wir über Kopfhörer
iTunes, lesen mit einem Auge aktuelle RSS-Feeds, essen eine Pizza, trinken eine Limo und – genau!
– wir schreiben dabei noch einen Liebesbrief. Wir machen sozusagen Vieles, aber nix richtig. Alle
Sinne sind zwar einbezogen: das Sehen, das Hören, das Olfaktorische (die Pizza duftet), das Gustatorische (die Pizza und die Limo schmecken) und das haptisch Sensorische (wir fassen die heiße Pizza
und die langsam fettig werdende Tastatur an). Außerdem sind wir auch noch emotional angerührt
(Liebesbrief ). Multi-Channel-Tasking erster Güte.
Warum ist das schlecht? Ist es nicht! Es ist nur qualitätsmäßig suboptimal. Goethe hat einmal nett
gesagt: „Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen“ (Faust I, Vers 97). Aber eben nicht jedem
immer alles und auch noch gleichzeitig. Und so ist das auch beim Versuch des Multitaskings. Ein
wenig gelingt es, aber eben nur ein wenig. Wer gleichzeitig in zu vielen Kanälen schwimmt und zu
viele Sinne mit unterschiedlichen Themen und Aktivitäten adressiert, der hat zwar den Eindruck
prallen Lebens, er schwimmt aber nicht im Teich, sondern auf der Oberfläche des Teichs. Das ist
besser als Ertrinken, aber auf Dauer oberflächlich.
Nicht mehr, sondern besser...
Und gerade das wollen wir doch eigentlich mit der neuen Technik vermeiden – oder? Wir wollen
nicht mehr, sondern besser verstehen. Wir wollen nicht alles, sondern das Richtige tun. Wir wollen
nicht herumirren, sondern an Ziele kommen. Wir wollen nicht Atlanten sammeln, sondern Wege
finden.
Diese Wege zur Erkenntnis können zu ganz banalen und alltäglichen Themen, Fragen und A
­ ntworten
führen. Sie können aber auch genutzt werden, um sich über die Sinnhaftigkeit des Lebens oder des
eigenen Verhaltens immer wieder einmal Gedanken zu machen. Nicht im Sinne einer Selbstkritik,
sondern im Sinne einer Überprüfung aktueller Positionen und Wünsche.
Dabei kann uns die moderne Informations- und Kommunikationstechnik phantastisch helfen.
­Dabei kann auch Social Media nützlich sein. Die Technik und das Netz sind aber nur das Mittel,
nicht der Zweck. Und als Fackel durch das Paradies und den Dschungel der Möglichkeiten kann uns
ein kleines Wort dienen: Warum?
Thomas Lünendonk, gelernter Journalist, Marktanalyst und Unternehmensberater, ist Gründer und Inhaber der Lünendonk
GmbH, Kaufbeuren. Seit 1983 ist er Herausgeber von Markt-Rankings- und -Studien, den so genannten Lünendonk®-Listen
und -Studien. Diese gelten sowohl in Deutschland als auch in den Nachbarländern als Standard und Marktbarometer. Mit
dem Konzept Kompetenz³ bietet das Informations- und Transformations-Unternehmen Lünendonk GmbH Marktforschung,
Marktanalysen und Marktberatung in der Informationstechnik-, Beratungs- und Dienstleistungsbranche aus einer Hand an.
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Strategy
m Jahr 2032 wird man rückblickend sagen, dass Anna eine
IVorform
der Smart Agents ist, die dann die Interaktion und
Dr. Karl-Michael Henneking
Think
ICT 2032!
Mehr als ein Gedankenspiel
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Transaktion im Internet dominieren werden. Man stelle sich
einfach vor, Anna könnte Gesichter und Sprachen erkennen
und auch per Stimme antworten. Man stelle sich vor, Anna
­hätte nicht nur das Wissen über IKEA, sondern auch über
weitere Unternehmen, die sich per Internet – oder besser:
ICT – vernetzt hätten. Man stelle sich vor, die Produkt- und
­Lagerbestände dieser Unternehmen seien einem Smart Agent
zugänglich. Anna könnte dann nicht nur den Teppich, sondern
auch die gesamte Einrichtung eines Zimmers inklusive Dienstleistungen wie Transport und Montage koordinieren. Natürlich
nur, wenn die Konsumenten dies 2032 auch wollen. Manch
­einer mag nun skeptisch werden, aber welche Meinung hat dazu
wohl die ­Generation der heutigen Digital Natives?
Neben Smart Agents werden Smart Business Networks
­charakteristisch für die Geschäftswelt im Jahr 2032 sein. In
Smart Business Networks schließen sich Partner ad hoc und
­flexibel zur Lösung einer Aufgabe zusammen, in aller Regel
zur Befriedigung eines Kundenbedarfs. Es werden jeweils nur
die Partner aktiviert, die zur Problemlösung benötigt werden. ­Beispiele für Geschäftsnetzwerke existieren schon heute,
­allerdings ist ihr Potenzial bei weitem nicht ausgeschöpft. Erst
Think ICT 2032!
Letzte Woche habe ich mit Anna gesprochen. Anna ist eine sympathische junge Dame, die ein blau-gelbes
­Poloshirt trägt. Ich habe sie gefragt, wie ich am schnellsten zu Ikea komme. Anna hat mir mit einer Skizze des
Anfahrtsweges zum IKEA-Markt in Köln geantwortet. Anna erscheint in einem Pop-up-Fenster beim Aufruf
der IKEA-Homepage. Sie sieht ein bisschen aus wie ein Avatar, hat aber nichts technisches, sondern wirkt sehr
menschlich mit ihrem freundlichen Lächeln. Anna ist ein Lingubot. Man kommuniziert mit ihr, indem man in
ein Textfenster Fragen eintippt, die sie in vollständigen Sätzen beantwortet. Das ist beeindruckend und offensichtlich ein erheblich besserer Service als die Auflistung von Links, die zum Beispiel eine Suchmaschine im Internet
liefert. Auf die Frage nach den günstigsten Teppichen hat mich Anna automatisch auf die IKEA-Seite mit dem
­entsprechenden Sortiment gelenkt. Nicht „one click“, sondern „zero click as a service“. Cool! Natürlich möchte
man nach solchen Kostproben wissen, was Anna noch kann, also wie „intelligent“ sie eigentlich ist.
Ich fordere Anna heraus, in dem ich ihr eine persönliche Frage stelle: „Anna, wie alt bist Du?“ Meine Erwartungshaltung: Systemfehler, nicht zulässige Frage oder eventuell ein Weiterleiten zu einer IKEA-Seite, auf der das
Wort „alt“ in einer Produktbeschreibung auftaucht. Annas Antwort: „Ich bin 29, aber Alter spielt für mich keine
Rolle.“ Aha, Hut ab. „Und wie ist Dein Familienname?“ „Du kannst mich gerne Anna nennen, meine Freunde
rufen mich immer so.“ Ich konstatiere: Anna ist smart.1
durch eine weitgehende Automatisierung der Geschäftsprozesse
und -regeln über ICT können sich die Netze voll entfalten
­beziehungsweise smart, das heißt intelligent werden.
Wem dies zu abstrakt erscheint, dem sei folgendes Beispiel
vor Augen geführt: Das in Hongkong ansässige Unternehmen
Li&Fung ist ein global tätiger Supply Chain Enabler, der zum
Beispiel für Nike, Walmart und Avon arbeitet, ein Netz von
12.000 Produzenten in 40 Ländern steuert und mit seinem
„asset-light“-Geschäftsmodell 16 Milliarden US-Dollar Umsatz
erwirtschaftet, ohne eine einzige Fabrik zu besitzen. Im Gegensatz zu den traditionellen Verfahren der Beschaffung geht man
in diesem Geschäftsnetzwerk alternative Wege. Beispielsweise
wird ein Hemd nicht in einer einzigen Fabrik gefertigt, sondern
Li&Fung bestimmt nach Preis- und Qualitätskriterien sowie eigenen Vorstellungen zum Design, wo das Garn zu beziehen ist,
wer die Stoffe webt, färbt und wo sie zusammengenäht werden.
Die einzelnen Bestellungen der Kunden werden zu Großaufträgen gebündelt. Da das Netzwerk vorwiegend kleinere Fabriken
umfasst, beherrscht Li&Fung seine Orderbücher und kann so1 Mehr zu Anna und weiteren Innovationen im Kundenservice finden
Sie in der Detecon-Studie „Kundenservice der Zukunft“.
http://www.detecon.com/de/studies/kundenservice-der-zukunft_2010
mit Preis- und Qualitätsvorteile in der Beschaffung realisieren.
Vom Design bis zur Lieferung können alle Produktionsschritte
abgedeckt werden, was insbesondere für Abnehmer wie große
Modehäuser mit Eigenmarkengeschäft attraktiv ist.
Für die Steuerung dieses Geschäftsnetzwerks setzt Li&Fung
8000 Agenten ein, die in den Fabriken vor Ort die Disposition
optimieren. Li&Fung hat die erste Stufe eines Smart Business
Networks bereits jetzt durch den Einsatz von Web Services,
Videokonferenztechnologien und intelligenten mobilen Endgeräten erreicht. Damit sind die Prozessdurchlaufzeiten erheblich
verkürzt worden. Weitere Wertschöpfungspotenziale können
gehoben werden, wenn die Zulieferer über ICT vernetzt Echtzeitdaten über Produktionskapazitäten übertragen und darauf
aufbauend die Bestell-, Produktions- und Auslieferungsprozesse
optimiert werden.
Smart Business Networks können aber auch ganz andere Formen annehmen als am Beispiel von Li&Fung illustriert. Insbesondere muss das Unternehmensnetz nicht durch eine zentrale
Instanz dominierend gesteuert werden, sondern kann weitaus
dezentraler organisiert sein, indem sich zum Beispiel kleine
und mittelständische Unternehmen zusammenschließen, um
ihre Marktposition oder Verhandlungsmacht zu verbessern.
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Strategy
Entscheidend ist, dass das Netz durch ein Regelwerk – ein Geschäftsbetriebssystem – gesteuert wird, das die notwendigen
Geschäftsprozesse bei den Parteien ICT-gestützt aktiviert und
koordiniert. Smart Business Networks werden 2032 selbstlernend und weitestgehend automatisiert arbeiten. Einzelne Parteien beziehungsweise Geschäftspartner werden sich innerhalb
des Netzes durch Smart Agents vertreten lassen.
Nach dieser Vorschau auf Smart Business Networks gehen
wir noch mal einen Schritt zurück zu Anna. Stellen wir uns
vor, dass Anna nicht mit dem Wissen über IKEA a­ usgestattet
ist, ­
sondern über unsere persönlichen Vorlieben und u
­nser
­typisches ­Verhalten, wie es sich in der Nutzung des Internets
wider­
spiegelt. So wissen Google, Facebook, Apple, E
­-Bay
und Amazon z­ usammengenommen sehr viel über uns: w
­ elche
Informationen wir suchen, wie wir diese Informationen
­
selektieren, was für P
­
­rodukte wir kaufen, welche Produkte
wir im Netz anschauen oder welche Freunde wir haben. Zusätzlich werden in Z
­ ukunft noch weitere Informationen über
unser ­Verhalten zur ­Verfügung s­ tehen, insbesondere audiovisuelle Daten und Bewegungsinformationen, die über Lokalisierungstechnologien und Sensornetze erhoben werden. Zusammengenommen sind diese Daten erheblich reichhaltiger als die
Unternehmensinformationen, mit denen Anna heute arbeitet.
Ein Smart Agent könnte mit dem persönlichen Wissensschatz
ausgestattet also genauso gut Konsumenten vertreten, wie Anna
zurzeit ein Unternehmen vertritt.
Bis 2032 wird es umfassende regulatorische Rahmenbedingungen und Zertifizierungen geben, die die Privatsphäre schützen und damit den sicheren Umgang mit persönlichen Daten
garantieren. Gleichzeitig steigt die Anzahl der verfügbaren Informationen und damit auch der Entscheidungsalternativen
für den Konsumenten exponenziell. Konsumenten haben dann
nicht nur ein Informationsfindungs- und Selektionsproblem,
bei dem Suchmaschinen im Internet behilflich sein können. Es
wird vielmehr aufgrund der Vielzahl der Alternativen laufend ein
komplexes Entscheidungsproblem entstehen. Mit künstlicher
Intelligenz und persönlichen Daten ausgestattete Smart Agents
werden in Zukunft für uns Entscheidungen übernehmen und
auch autonom Transaktionen bis hin zur Bezahlung anstoßen.
Bedingung dafür ist, dass die Person, für die der Smart Agent
die Entscheidungen und auch Handlungen (Transaktionen)
übernimmt, dem Betreiber des Smart Agents vertraut – sowohl
hinsichtlich des sorgsamen Umgangs mit persönlichen Daten
als auch im Hinblick auf die Qualität, mit der Entscheidungen
gefällt werden. Welcher Anbieter am Ende diese Funktion übernehmen wird, lässt sich heute noch nicht sagen.
Firmen wie Google bereiten sich durch die systematische, immer mehr Lebensbereiche erfassende Datensammlung darauf
vor, dem evolutionären Pfad des Internets von Informationssuche – Selektion – Empfehlung – Entscheidung – Handlung zu
folgen, auch wenn zur Zeit im Wesentlichen nur die ersten drei
Stufen bedient werden.2 Aber gerade für Suchmaschinenbetreiber könnte aufgrund ihres werbefinanzierten Geschäftsmodells
aus Nutzersicht ein Interessenkonflikt entstehen. Nur wenn die
Qualität der Daten und die Entscheidungsalgorithmen anderen
unabhängigen Smart Agent-Anbietern so überlegen sind, dass
die Konsumenten mögliche Objektivitätseinbußen bei der Entscheidungsfindung in Kauf nehmen, können die gegenwärtigen
Geschäftsmodelle bestehen bleiben.
Sowohl die Smart Agents als auch die Smart Business Networks
zeigen, dass wir uns in den nächsten 20 Jahren weiter in ein Zeitalter datenzentrischer Geschäftsmodelle bewegen. So prognostiziert Hal Varian, ein angesehener Professor für Mikro­ökonomie
aus Berkely und mittlerweile Chefökonom von G
­ oogle, dass
sich der Beruf des Datenanalytikers in Zukunft zum „­sexiest
job around“ entwickle. Aber nicht nur Google, Facebook und
Amazon bereiten sich auf dieses neue datenzentrische Zeitalter
vor. Auch Firmen wie IBM, Oracle, Microsoft und SAP rüsten
seit einiger Zeit auf. Sie haben in den letzten Jahren für über
15 Milliarden Dollar Softwarefirmen gekauft, die auf Daten­
management und -analytik spezialisiert sind.
Globale Trends und ihre Bedeutung für das ICT Ecosystem
Warum eigentlich 2032? Kann man überhaupt so weit in die
Zukunft blicken? Wir denken, dass dies möglich ist, wenn man
sich auf langfristige globale Trends im ICT Eco-System stützt.
Einige dieser Trends beeinflussen nicht nur den ICT Sektor,
sondern sie werden gleichzeitig durch ICT selbst verstärkt. Wir
haben sechs solcher mit ICT verwobenen Megatrends identifiziert:
Das wirtschaftliche und damit das ICT Gravitationszentrum
driftet nach Osten: In den kommenden 20 Jahren werden
sich die Mehrheit der Weltbevölkerung und der Großteil der
Wirtschaftskraft im asiatischen Raum ballen. In Indien und
­China werden 2032 voraussichtlich jeweils über 1,5 Milliarden
­Menschen leben.3 Beide Staaten werden, gemessen an ihrem
2
Es ist daher sicherlich auch kein Zufall, dass Google Autos in den USA fahren
lässt. Hier werden Stufe 4 und 5, also autonome Entscheidung und Handlung,
durch künstliche Intelligenz bereits Realität. Nicht nur Autos sind generell
selbststeuerungsfähig. Viele finanzielle Transaktionen an Börsen werden schon
jetzt nach vorgegebenen Regeln durch entsprechende Computerprogramme
automatisch durchgeführt.
3 UN (2010): World Population Prospects.
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Detecon Management Report • 1 / 2011
Think ICT 2032!
Bruttosozialprodukt, zu den drei Top Wirtschaftsnationen zählen, wobei China dann deutlich vor den USA als zweitstärkste
Wirtschaftsnation der Welt stehen wird. Asien wird einen signifikanten Teil seiner volkswirtschaftlichen Wertschöpfung mit
Hilfe von ICT erbringen. Globale ICT Innovation wird deutlich stärker als jetzt aus dieser Region getrieben werden. Das
neue Silicon Valley werden wir 2032 in Asien finden.
Die Triade altert – ICT hilft, die Herausforderungen zu bewältigen: Global steigt die Lebenserwartung weiter. Damit steigen
auch die Ausgaben für Gesundheit drastisch. ICT Anwendungen, die die Qualität der medizinischen Diagnostik erhöhen
sowie Prävention und Therapie verbessern, werden eingesetzt,
um ­Kostensteigerungen entgegenzuwirken und deutliche Effizienzsteigerungen im Gesundheitssystem zu bewirken. Gleichzeitig entsteht insbesondere in der westlichen Hemisphäre mit
den dann ICT-affinen Senioren eine neue, sehr kaufkräftige
Zielgruppe. Anbieter werden ihren heutigen Fokus von der
jüngeren Zielgruppe zu Senioren verlagern und dieses Segment
mit der Fülle der informations- und telekommunikationstechnischen Möglichkeiten bedienen – von der digitalen Patientenakte über ­telemedizinische Leistungen bis zu hautimplantierten
Chips und intelligenten Pillen, die mit drahtloser Kommunikationstechnologie ausgestattet sind und Medikamente dosieren.
Mega-Cities nutzen ICT als Wettbewerbsfaktor: In 20 Jahren werden 60 Prozent aller Menschen in Städten leben. Zahlreiche
Mega-Cities mit mehr als zehn Millionen Einwohnern werden
sich als wirtschaftliche Schmelztiegel etablieren. Diese MegaCities können die Wirtschaftskraft von G7-Nationen erreichen.
Eine überlegene ICT Infrastruktur wird entscheidend dafür
sein, Talente in diese Ballungsräume zu locken. ICT wird quasi
die Lebensader für diese Mega-Cities bilden. In den führenden
Ballungszentren wird eine vernetzte Infrastruktur vorhanden
sein, die neben Internetanschlüssen mit Gigabit-Geschwindigkeit auch die klassische Energieversorgung, integrierte Verkehrssysteme und die Gebäudetechnik umfasst. Für ICT Anbieter
ergeben sich Chancen für neue Geschäftsmodelle, zum Beispiel
Infrastruktur als Dienstleistung und on-demand anzubieten
(Infrastructure-as-a-Service).
In der sich weiter beschleunigenden Globalisierung macht ICT
den Mittelstand mobil: Nicht zuletzt aufgrund der Zunahme
der Wirtschaftskraft Asiens werden die Handelsströme noch
­globaler. Das derzeitige Welthandelsvolumen von zirka 13 Billiarden US-Dollar wird in 20 Jahren auf 50 Billiarden ansteigen
und sich damit nahezu vervierfachen.4 Die Arbeitsteilung erhöht sich deutlich. Mit Hilfe von ICT flexibilisieren Unternehmen ihre Organisation, ihre Prozesse sowie die Interaktion mit
Partnern und Zulieferern weiter. Sie organisieren Forschung,
Produktion und Vertrieb noch globaler, um regionale Unterschiede in Kosten, Kompetenzen und Marktpotenzialen bestmöglich zu nutzen. Dies gilt nicht nur für große multinationale
Unternehmen, sondern wird durch die fortschreitende Digitalisierung von Gütern und Dienstleistungen, das Internet und
Cloud Computing in Zukunft wesentlich durch einen global
agierenden Mittelstand getrieben.
Das Zeitalter der Smart Business Networks steht bevor: Die Automatisierung von Geschäftsprozessen wird in Form von Smart
Business Networks eine nächste Stufe erreichen. Die Mitglieder
dieser intelligenten Industrienetzwerke schließen sich problembezogen in variierenden Konstellationen zu Produktions- und
Dienstleistungsketten zusammen. Sie können ad hoc Geschäftsbeziehungen aufbauen – und sie ebenso schnell wieder beenden. Gesteuert werden die Unternehmensnetze über Regeln
und Prozesse der Zusammenarbeit, die sich gemäß industriespezifischer Geschäftsbetriebssysteme definieren. Diese Systeme
werden selbstlernenden Charakter haben. Expertenschätzungen
zufolge können Smart Business Networks innerhalb der nächsten zwei Dekaden bis zu 30 Prozent der Geschäftsaktivitäten
übernehmen. Intelligente ICT Infrastruktur und Lösungen sind
hierbei Grundvoraussetzung und Erfolgsfaktor zugleich.
Smart Agents haben das Sagen im Internet der Dinge: Heute konzentriert sich das Internet im Wesentlichen auf die Suche, Bereitstellung und Selektion von Informationen und hat mit Web
2.0-Anwendungen einen zunehmend interaktiven Charakter
für die Nutzer bekommen. Im Internet der Zukunft wird nicht
mehr die Mensch-zu-Mensch-Kommunikation, sondern die
Maschine-zu-Maschine-Kommunikation im Zentrum ­stehen.
Viele Objekte, Gegenstände oder allgemein Dinge werden mit
einer IP-Adresse versehen sein und über Funk oder Kabel mit­
einander kommunizieren. Sind in diesem Internet der Dinge
Objekte mit künstlicher Intelligenz versehen, sind sie in der
Lage, nicht nur selbstständig Informationen zu suchen und
zu selektieren, sondern auch weitestgehend autonom zu entscheiden und zu handeln. Der intelligente Kühlschrank, der
feststellt, welche Lebensmittel fehlen, dann über das Internet
preisgünstig die benötigten Waren in der gewünschten Qualität
beschafft und gegebenenfalls auch noch eigenständig die Bezahlung auslöst, ist nur ein Beispiel. Künstliche Intelligenz beziehungsweise Smart Agents, die die Nutzer und Konsumenten
im Internet vertreten, werden sich in verschiedensten Formen
manifestieren: von „einfachen“ automatischen E-Mail-Beantwortungsmaschinen über Lingubots (wie Anna bei IKEA) und
Avatare bis hin zu autonom agierenden elektronischen Einkäufern und e-butlern im Netz.
4 WTO (2010): Time Series of International Trade.
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Strategy
Ausgehend von diesen Megatrends im ICT Eco-System lässt
sich folgern, dass ICT in Zukunft allgegenwärtig wird – im persönlichen wie im beruflichen Bereich. Zudem wird sich ICT
bis 2032 zum zentralen Produktions- und Differenzierungsfaktor in nahezu allen Branchen entwickeln. Diese „ICTsierung“
hat fundamentale Auswirkungen auf Geschäftsmodelle und
-prozesse in der ICT-Branche selbst, aber auch in allen anderen
Industrien. Dies lässt sich an ausgewählten Beispielen verdeutlichen.
Logistik: Die Logistikbranche kann in besonderem Maße von
der (drahtlosen) Vernetzung und der Datenverarbeitung profitieren. Mit dem Management von Logistikketten in Echtzeit,
vollautomatisierten Warenlagersystemen und der Telematik ist
ICT auf nahezu allen Wertschöpfungsstufen der modernen
Logistik effizienzsteigernd einsetzbar. Technologien, die hier
eine wichtige Rolle spielen, sind Nearfield Communication,
Sensor-Netze und Maschine-zu-Maschine-Kommunikation.
Computergestützte Planungssysteme und die Steuerung von
Warentransporten ermöglichen Just-in-Time-Produktion. Das
Ergebnis ist neben der höheren Flexibilität auch eine verbesserte
Effizienz durch die Planbarkeit und Steuerung der gesamten
Lieferkette.
Automotive: Dehnen wir den Blick auf die Automobilindustrie aus: Neben Motortechnologie und Design sind Automo-
bilhersteller zurzeit bestrebt, sich durch in-car electronic zur
Unterstützung der Fahrzeugsteuerung (APS, ESP, …) zu differenzieren. Die nächste Evolutionsstufe wird mobilitäts- und infotainmentbezogene Internetanwendungen im Auto umfassen.
Ist jeder Wagen mit einem Kommunikationsmodul ausgestattet, lässt sich nicht nur die aktuelle Position bestimmen (wie bei
GPS), sondern es können von Auto zu Auto Informationen gesendet werden, die der Verkehrssteuerung und Verkehrsflussoptimierung dienen. Damit aber nicht genug: Es lassen sich durch
diese Vernetzung bessere Sicherheitsanwendungen, neue Mobilitätskonzepte (innovatives Car-Sharing) bis hin zur Integration
von Geo-Informationen in sozialen Netzen realisieren. Für Automobilhersteller eröffnen sich nicht nur Differenzierungsmöglichkeiten in ihrem Kerngeschäft, sondern durch ein besseres
Verständnis des Mobilitätsverhaltens ihrer Kunden auch neue,
mobilitätsservicebezogene Geschäftsmodelle.
Energie: Die Zukunft der Energiewirtschaft wird maßgeblich
durch Smart Grids bestimmt werden. Smart Grids beziehungsweise durch ICT intelligent gemachte Stromnetze erlauben
durch den gezielten Austausch von Informationen über Verbrauch, Speicherkapazitäten sowie Stromproduktion eine Optimierung der Auslastung von Stromnetzen. Vorteile ergeben
sich insbesondere für Stromnetze, die durch viele dezentrale
Produktionskomponenten gespeist werden, wie zum Beispiel
kleine Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen und die zur Erzeugung
Abbildung 1: Die Zukunft am Beispiel Automotive & Energie
2010
Automobil & Verkehr
Internet im Auto
Demand Response Management
• Fahrt- und Kontextinfos integriert
mit Digital Home
• Fahrzeugferndiagnose
• MP3/Adressbuch Sychronisation,
personalisiertes digitales Radio
•
•
Intelligente Verkehrssteuerung
Virtuelle Kraftwerke
• ICT basierte Verkehrsführung über
Verkehrssteuerungszentrale
• Stauwarnungen, Routenoptimierung
• Zentralisierte, intelligente/ICT-basierte
Steuerung der Energieversorgung auf Basis
der Vernetzung von Einzelanlagen
• Integration erneuerbarer Energien
Auto-zu-Auto Vernetzung
Elektromobilität/Vehicle-to-grid
• Verbesserte Sicherheitsanwendungen
• Neue Mobilitätskonzepte wie z.B.
advanced car-sharing
• Geo-Informationen in sozialen Netzen
• Nutzung dezentraler Energiespeicher
wie z.B. Elektroautos
• Befüllung der Speicher bei hoher Energieerzeugung und bedarfsabhängiger Abruf
Quelle: Detecon
12
energie
Detecon Management Report • 1 / 2011
Automatisierte, preisabhängige Steuerung der
Energiezufuhr auf Basis von messbaren Lastund Verbrauchsprofilen
Verknüpfung mit anderen Digital Home
Anwendungen wie z.B. Sicherheit
Think ICT 2032!
von erneuerbarer Energie eingesetzten Wind-, Biogas- oder
Photovoltaikanlagen. In Smart Grids werden Stromproduktion
und -verbrauch durch die automatische Steuerung und Kontrolle von Verbrauchsanlagen optimiert. Smart Meter dienen
dabei der Verbrauchserfassung bei den Abnehmern. In Zukunft
könnten noch die Batterien von Elektroautos als Stromspeicher
benutzt werden. Die Batterien nehmen zu den Zeiten kostengünstig Strom auf, in denen mehr Energie verfügbar ist als unmittelbar abgenommen wird.
Triple Play: ICT, Energie und Automotive: Am Beispiel von Smart
Grids lässt sich zeigen, welchen disruptiven Charakter ICT-basierte Geschäftsmodelle für die Energie und Automobilindustrie
zukünftig haben könnten. Übertragen wir das aus der Telekommunikationsindustrie bekannte Modell der Subventionierung
von Handys auf das Elektroauto, in dem der Energielieferant
dem Autokäufer für einen Zweijahresvertrag subventioniert ein
Elektroauto zur Verfügung stellt. Nutzungsabhängige Tarife
oder sogar „Energie-Flatrates“ wären denkbar, wenn man die
aus der Telekommunikationsbranche bekannten Abrechnungssysteme anwendet. Für agile und progressive Anbieter in der Energiebranche lassen sich damit signifikante zusätzliche Marktpotenziale erschließen. Aus dem automobilzentrierten wird ein
energiezentriertes Geschäftsmodell.5
Wie dieses Beispiel zeigt, hat ICT das Potenzial, Branchengrenzen für neue Spieler zu öffnen. Aber was bedeutet das eigentlich
für die ICT Branche selbst? Welchen Veränderungen unterliegt
sie bis 2032?
ICT Industriedynamik
Wenn Informations- und Telekommunikationstechnologie zum
zentralen Produktionsfaktor – und in vielen Industrien auch
zum entscheidenden Differenzierungsfaktor – wird, verändert
sich die Rolle von ICT Anbietern im Markt. Im Wesentlichen
erfolgt diese Veränderung in drei Stoßrichtungen:
•
•
•
ICT Anbieter erobern neue Wertschöpfungsfelder
in anderen Industrien.
Infrastruktur- und serviceorientierte ICT Wertschöpfung
entkoppeln sich.
Bisher branchenfremde Unternehmen stoßen in die
lukrative ICT Domäne vor.
Dass ICT Unternehmen in der Lage sind, ihre Wertschöpfung
in andere Industrien zu verlängern, erkennt man im Markt für
(digitale) Musik und Bücher bereits jetzt. Apple hat ein auf Be-
nutzerfreundlichkeit, Design und Marke bauendes Eco-System
mit verschiedensten Endgeräten etabliert. Genauso gut kann
man sich Vorstöße von Telekommunikationsanbietern in einen
Smart Grid-Markt vorstellen. Der breite Zugang zu Haushalten
und Gebäuden sowie die Fähigkeit, Millionen von Kunden abrechnen zu können, sind wichtige Kernkompetenzen. Abrechnungsseitig haben sich schon jetzt in Ländern mit weniger gut
ausgeprägten Bankensystemen Mobile Payment-Lösungen etabliert, mit denen Telekommunikationsbetreiber Finanzdienstleistungsfunktionen übernehmen.
Neben der Expansion von ICT Unternehmen in andere Branchen wird es in Zukunft auch zu einer Öffnung der ICT Wertschöpfung kommen. Dabei wird die vertikale Desintegration in
den traditionellen Wertschöpfungsketten die horizontale Konvergenz des Produktangebotes über Industrien hinweg fördern.
Von der vertikalen Desintegration …
In der IT-Industrie ist es bereits in den 90er Jahren zu einer
vertikalen Desintegration durch die Trennung der Software
(Betriebssystem, Anwendungen) von der Hardware gekommen. Die vertikale Desintegration in der Telekommunikations­
industrie vollzieht sich gegenwärtig entlang der SalesCo-ServCo-NetCo-Strukturen. Der Vertrieb emanzipiert sich von der
Produkt- und Serviceentwicklung, die sich wiederum von der
Netzinfrastruktur unabhängig macht. Die Entkopplung von
Netz und Dienst wird dabei durch technologischen Fortschritt
wie all-IP und das Internet getrieben, die eine infrastruktur­
agnostische Entwicklung von Kommunikationsdiensten wie
zum Beispiel VoIP, ­Videotelefonie oder IPTV erlauben. Die vertikale Desintegration wird in Zukunft auch dadurch gefördert,
dass gesetzliche, regulatorische oder politische Rahmenbedingungen entfallen, die eine integrierte Wertschöpfung gefördert
oder geschützt haben.6 In Reinform kann die vertikale Desintegration dazu führen, dass sich Telekommunikationsbetreiber in
unabhängig voneinander agierende Geschäftseinheiten aufspalten (SalesCos, ServCos und NetCos) beziehungsweise sich mit
ihrer Geschäftstätigkeit auf einzelne dieser Wertschöpfungsebenen konzentrieren.
5 Siehe auch T- Systems Best Practice (3/2010),
Interview mit dem Züricher Zukunftsforscher Lars Thomsen.
6 In der Europäischen Union wurde erst kürzlich den Regulierungsbehörden mit
der zwangsweisen Netzseparierung ein machtvolles Instrument zur Verfügung
gestellt. Damit kann bei Wettbewerbsbehinderung eine vertikale Desintegration
und eine organisatorische Abtrennung des Zugangsnetzbetriebs eingefordert
werden.
13
Detecon Management Report • 1 / 2011
Strategy
… zur horizontalen Konvergenz
Heute liegt in der ICT Industrie der Fokus noch auf der Konvergenz von TK/IT, Inhalten/IP sowie Fixed und Mobile. In
einigen Jahren jedoch wird sich der Schwerpunkt auf die horizontale Integration von Industrien verschoben haben. Bald
werden die Grenzen zwischen der ICT Industrie und anderen
Branchen durchlässig, sodass sich der Wettbewerb um Anteile
an diesem wachsenden Marktpotenzial verschärft. Auf den desintegrierten Wertschöpfungsstufen können sich Unternehmen
mit Kostenvorteilen und Leistungsdifferenzierung profilieren.
Kostenvorteile lassen sich zum Beispiel durch industrieübergreifende Synergien erzielen. Synergien können daraus resultieren, dass Technologien oder Prozesse auf andere Industrien
übertragen werden, wie dies Apple mit iTunes praktiziert. Auf
die gleiche Art könnte ein Telekommunikationsbetreiber seine
CRM- und Abrechnungsfähigkeiten nutzen, um andere Infrastrukturleistungen wie Gas, Wasser oder Strom anzubieten. Das
Prinzip ist, Fixkosten, die bei der Leistungserstellung entstehen,
auf mehrere Produktarten oder Servicebereiche umzulegen.
Das gilt auch im Infrastrukturbereich. Zum Beispiel sind die
Kosten, die beim Bau einer Straße durch die gleichzeitige Verlegung von Glasfaser-Telekommunikationsinfrastruktur zusätzlich entstehen, weitaus geringer, als wenn ein Telekommunikationsunternehmen die Kabel extra verlegt. Wenn die Kosten der
Verlegung von Glasfaserkabeln bis zu drei Viertel der gesamten
Kapitalkosten der Netzinfrastruktur ausmachen, können Verkehrs- oder Abwasserinfrastrukturunternehmen die zusätzliche,
gleichzeitige Verlegung von Telekommunikationsinfrastruktur
kostengünstiger durchführen. Industriekonvergenz wird aber
auch dadurch gefördert, dass sich neue Umsatzpotenziale durch
konvergente Produkte und Lösungen erschließen lassen. Ein
Beispiel dafür sind die oben beschriebenen Smart Grids.
Mit der horizontalen Konvergenz entsteht eine bisher unbekannte Industriedynamik, die eine Vervielfachung des ICT
Marktvolumens von derzeit zirka 4,1 Billionen US-Dollar bedeutet. Gleichzeitig dynamisiert sich die Wettbewerbslandschaft
durch Öffnung der Branchengrenzen erheblich.
Wie sieht vor diesem Hintergrund die zukünftige Struktur der
ICT-Industrie aus? Welche Rolle spielen dabei Smart Business
Networks und ein durch Smart Agents geprägtes Internet der
Dinge?
ICT Marktstruktur 2032
Wir erwarten, dass sich bis 2032 weltweit drei Kernwertschöpfungsfelder im ICT Markt herauskristallisieren, die einerseits
der vertikalen Desintegration und andererseits der zunehmend
divergierenden Anforderungen im Consumer- und BusinessMarkt Rechnung tragen:
Business as a Service (BaaS): In diesem Wertschöpfungsfeld agieren Anbieter mit hoher Prozess-, IT- und Branchenkompetenz,
die in der Lage sind, B2B-Geschäftsmodelle auch über mehrere Industrien hinweg zu realisieren. BaaS-Anbieter ermöglichen konvergente Value Propositions (zum Beispiel Energie
und Verkehr) und wandeln starre Wertschöpfungsketten in
agile Wertschöpfungsnetze. Entscheidend ist unter anderem
die Fähigkeit, durch ICT den Aufbau und Betrieb dynamischer
Unternehmensnetze zu unterstützen, die Produktion, den Vertrieb und Service global zu organisieren und Geschäftspartner
ad hoc und aufgabenbezogen ein- und auszuphasen. In diesen Smart Business Networks erfolgt die Aktivierung der Geschäftspartner ebenso wie Auswahl und Exekution geeigneter
Geschäftsprozesse nach einer fest definierten Geschäftslogik,
einem vernetzten Geschäftsbetriebssystem. Dieses System regelt
beispielsweise die Auswahl der Partner, welche Partnergruppe
an einer spezifischen Aufgabe zusammenarbeitet, welche Qualitätsstandards erwartet werden und welche Kompensationen es
für die einzelnen Partner gibt.7 BaaS-Anbieter stellen die für den
reibungslosen Betrieb eines Smart Business Networks benötigte,
flexible ICT Architektur und Systemintegrationsleistungen zur
Verfügung und helfen bei der ­Konzeption und Ausgestaltung
der Geschäftsbetriebssysteme.
7
14
Detecon Management Report • 1 / 2011
Siehe auch Eric van Heck/Peter Vervest (2007): „Smart Business Networks:
How the Network Wins“, in Communications of the ACM, Vol 50; no.6
sowie Peter Verwest/Lars Theobaldt: „Den Geschäftshorizont im Visier“
(Seite 18 ff. in dieser Ausgabe).
Think ICT 2032!
Consumer ICT Mediation (CIM): Die Art und Weise, in der sich
Privatkunden im Internet der Dinge im Jahr 2032 informieren,
wie sie entscheiden und Transaktionen durchführen, wird sich
wesentlich verändert haben. Selbstlernende Smart Agents, die
mit Daten über persönliches Verhalten und Präferenzen „gefüttert“ sind, werden aufgrund ihrer künstlichen Intelligenz autonom Aufgaben für die Konsumenten übernehmen. Das betrifft
die Suche von Informationen, aber auch – in vordefinierten
Bereichen – die Kaufentscheidung und die kommerzielle Transaktion. Voraussetzung dafür sind rechtliche und regulatorische
Rahmenbedingungen, die den Schutz der persönlichen Daten
sicherstellen. Unternehmen, die diese Smart Agents im vorgegebenen regulatorischen und rechtlichen Rahmen betreiben, vertreten die Interessen der Konsumenten gegenüber den Anbietern von Waren und Dienstleistungen. ICT übernimmt dabei
die technische Mediationsfunktion: durch ein sicheres und nutzerfreundliches Eco-System aus Smart Agents, vernetzten Endgeräten, Robots und Objekten mit eingebetteten ICT-Kom-
ponenten. Erfolgskritisch im CIM-Markt sind neben einem
exzellenten, datengestützten Verständnis der Konsumentenpräferenzen vor allem das Vertrauen in die Unabhängigkeit und
Integrität der für die Konsumenten agierenden Unternehmen.
Infrastructure as a Service (IaaS): Die Anbieter in diesem Wertschöpfungsfeld stellen die konvergente ICT Infrastruktur und
gegebenenfalls auch noch weitere Infrastrukturkomponenten
bereit, auf denen die BaaS- und CIM-Geschäftsmodelle fußen.
IaaS ist im Wesentlichen ein Wholesalegeschäft. Es umfasst den
Betrieb klassischer Breitbandnetze, aber auch dedizierter Infrastruktur wie Roboterparks und Sensornetze bis hin zu speziellen
Managed Services, zum Beispiel zur Unterstützung des Verkehrs- und Mobilitätsmanagements. Zudem werden Rechenzentren, Cloud Computing-Kapazitäten und Endgeräte aller
Couleur vom Desk Top, Tablet, Smart Phone bis hin zu Wearables und ICT integrierten Objekten bereit gestellt und gesteuert. IaaS-Anbieter stehen aufgrund des enormen Kapitalbedarfs
Abbildung 2: ICT Marktstruktur 2032
4,1 Billionen $
xxx Billionen $
ICT Konvergenz 2010
Festnetz/
Mobilfunk
TK/IT
ICT-basierte Industriekonvergenzfelder 2032
Inhalte/
IP
Leben & Wohnen
Verkehr & Mobilität
Gesundheit & Umwelt
Energie
Branchenübergreifend
SalesCo
Business as a Services
Consumer ICT Mediation
ServCo
Wholesale
Infrastructure as a Service
NetCo
Treiber der vertikalen Desintegration
Treiber der horizontalen Konvergenz
• All-IP Technologie
• Regulierung
• Wettbewerbsdruck
•
•
•
•
Digitalisierung und Virtualisierung von Produkten und Services
ICT-basierte Automation von Geschäftsprozessen
Industrieübergreifende Skaleneffekte
Kostensynergien im Betrieb von Infrastrukturen
Quelle: Detecon
15
Detecon Management Report • 1 / 2011
Strategy
vollkonvergenter Infrastruktur vor großen Herausforderungen.
Economies of Scale und Effizienzvorteile sind entscheidend im
Wettbewerb, so dass davon auszugehen ist, dass sich bis 2032
pro Weltregion zwei bis drei regionale Champions für dieses
Wholesale-Geschäftsmodell herausbilden werden.
Die Kernfragen für die ICT 2032 Boardroom-Agenda
In Anbetracht dieser zukünftigen Marktstrukturierung stehen
ICT Anbieter schon heute vor einer Weichenstellung. Es ist
klar, dass wohl kaum ein Unternehmen in allen drei Wertschöpfungsfeldern gleichzeitig erfolgreich sein kann: Diese Märkte
erfordern unterschiedliche Kernkompetenzen und Unternehmenskulturen. Die Zukunft gehört den horizontal integrierten
ICT Unternehmen, die sich entweder auf markt- und serviceorientierte Geschäftsbereiche oder auf infrastrukturorientierte
Geschäftsbereiche konzentrieren werden. So wie Apple oder
Google derzeit schon in die Musik- oder Werbeindustrie vordringen, werden zukünftig die Grenzen zwischen der ICT Industrie und anderen Branchen aufweichen.
• BaaS, Consumer ICT Mediation und IaaS erfordern neue
und sehr spezifische Kernkompetenzen. Kein Unternehmen
wird in allen Wertschöpfungsfeldern gleichzeitig eine führende
Rolle einnehmen können. Auf welches Feld soll die Fokussierung erfolgen?
Um sich in dem neu entstehenden, ökonomisch attraktiven
Konvergenzmarkt erfolgreich zu positionieren, muss jedes ICT
Unternehmen für sich die folgenden Fragen beantworten:
• Anbieter im Consumer ICT Mediation-Markt befinden sich
in einem horizontalen Wettbewerb, der durch Innovation und
Agilität gekennzeichnet ist und flexible Organisationsstrukturen
erfordert. Smart Agent-Technologien, Zugang zu umfassenden
digitalen Daten über das Konsumentenverhalten sowie eine
starke, vertrauenswürdige Marke spielen eine entscheidende
Abbildung 3: ICT-basierte Industriekonvergenzfelder 2032
Leben & Wohnen
Mobilität
Gesundheit & Umwelt
Energie
B2B2C (ICT Business Mediation)
Business
as a
Service
Horizontale und vertikale
Smart Business Networks
Smart AgentFähigkeiten
Eingebettete Systeme
(M2M, cooperating objects...)
Eingebettete Endgeräte
(Smartphones, wearables/robots)
Infrastructure
as a
Service
Modulares ICT Portfolio
(Connectivity & storage, managed & enabling services)
Managed Infrastructure Services
TK Infrastruktur
Quelle: Detecon
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Detecon Management Report • 1 / 2011
IT Infrastruktur
Consumer
ICT
Mediation
Infrastructure
as a
Service
Think ICT 2032!
Rolle. Wie lassen sich bei diesen erfolgskritischen Faktoren
Wettbewerbsvorteile und eine überzeugende, wirtschaftlich
tragfähige Value Proposition für die jetzigen wie zukünftigen
Kunden aufbauen?
• In einer automatisierten und durch ICT geprägten Industrielandschaft übernehmen Smart Business Networks einen
­wesentlichen Teil der Wertschöpfung. Das Geschäftsbetriebs­
system dieser Business Networks wird strategisch relevant.
Welche Geschäftsbetriebssysteme werden sich in welchem
­
Markt und welcher Industrie etablieren? Wie positioniert man
sich am besten in den Smart Business Networks?
• Das IaaS-Geschäftsfeld bietet enorme Wertschöpfungspotenziale für große ICT Unternehmen, die in der Lage sind,
international Skalenvorteile zu realisieren und gleichzeitig B2C
und B2B Wholesale-Geschäftsmodelle zu managen. Mit welchem IaaS-Serviceportfolio gelangt man unter die Top 3 in dem
jeweiligen regionalen Markt? Welche Infrastrukturkomponenten sind erfolgskritisch, welche neuen Infrastrukturbereiche
sollten in Zukunft erschlossen werden?
Eine Strategie zur Positionierung für ICT 2032 sollte aus einer
objektiven Einschätzung der eigenen Kernkompetenzen hervorgehen. Wegen der Kraft und Disruptivität der zukünftigen
Entwicklungen empfehlen wir Unternehmen, sich schon jetzt
Gedanken über die zukünftige Positionierung und die erforder-
lichen strategischen und organisatorischen Transformationen zu
machen.
Unabhängig davon, wie und wann ein Unternehmen die
­Weichenstellungen für 2032 trifft, ist aber eines klar: 2032 wird
es die ICT Industrie in ihrer gegenwärtigen Form nicht mehr
geben. Die Marktstruktur wird sich fundamental verändert und
das ICT Gravitationszentrum wird sich nach Asien verlagert
­haben.
Dieser Artikel basiert auf dem Opinion Paper „ICT 2032 – Position for ICT everywhere“ von Dr. Karl-Michael Henneking, Lars
Theobaldt, Bernd Ettelbrück, Falk Wöhler-Moorhoff und Daniel
dos Reis. Download unter: http://www.detecon.com/de/studies/
think-ict-2032_2010_11_04_342
Dr. Karl-Michael Henneking leitet die Competence Practice Strategy & Marketing und ist Mitglied des Executive Boards der Detecon ­International. Schwerpunkte seiner Beratungstätigkeit liegen in der Entwicklung von Unternehmensund Innovationsstrategien sowie der Optimierung von ICT Unternehmen in
Europa, Asien und dem Nahen Osten.
[email protected]
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Detecon Management Report • 1 / 2011
Strategy
Peter Vervest, Lars Theobaldt
Den Geschäftshorizont
im Visier
Wie Sie sich für Business as a Service positionieren
Ein tief greifender Wandel wird sich darin vollziehen, wie ICT-Bedürfnisse
von Geschäftskunden erfüllt werden. In Zukunft agieren diese als Teilnehmer in einem Netz von Geschäftsprozessnetzwerken. Ihre Verbindungen
werden ständigen Veränderungen unterworfen sein. Diesen Kunden durch
den Einsatz von ICT zu smarten und erfolgreichen Positionen zu verhelfen,
wird eine Herausforderung sein.
18
Detecon Management Report • 1 / 2011
Den Geschäftshorizont im Visier
s ist zu befürchten, dass wohl nur wenige der ICT Anbieter
E
von heute im Jahr 2032 noch Geschäftskunden bedienen wer-
den! Wir haben zentrale wissenschaftliche Forschungsergebnisse
unseren aktuellen professionellen Erfahrung gegenübergestellt,
um Entscheidungsträgern aus der ICT Branche und den unmittelbar angrenzenden Industrien Orientierungshilfe zu geben.
Branchen- und Unternehmensgrenzen verwischen
“Serving Business Customers will NOT be as usual”. Vor 20
Jahren wurden wir Zeuge, wie sich Electronic Data Interchange
(EDI) und eMail sowie mobile Sprach- und Datendienste alle
in unterschiedlichen Silos etablierten. Seitdem sind Geschäftsbeziehungen zunehmend digitaler Art und in unsere Wirtschaft
eingebettet. Die Digitalisierung von Geschäftsprozessen innerhalb der einzelnen Branchen hat viel Wert generiert.
Doch wo lässt sich Potenzial für die ICT Wertschöpfung in den
kommenden 20 Jahren erkennen? Bereits heute beobachten wir
den Trend, dass Unternehmen immer mehr Verknüpfungen
zwischen Branchen herstellen und unterschiedliche Fähigkeiten
vieler verschiedener Parteien kombinieren müssen. Als Verbraucher erwarten wir von den Unternehmen, dass sie Kommunikation, Navigation, Informationen, Medien und Transaktionen
auf Geräten jeglicher Art zusammenführen, um unser Privat-,
Sozial- und Geschäftsleben auszuleben − egal wo!1 Mobiltelefone können eben nur so „smart“ sein, wie das modulare Geschäftsprozessnetzwerk, das sich hinter der Benutzerschnittstelle
verbirgt.
Zur Bereitstellung von ICT Services werden intelligente Verknüpfungen von Geschäftsfunktionen aus vielen verschiedenen
Branchen im Fokus stehen. Zuvor getrennt betrachtete Bran-
1 Seifert, Frank; Theobaldt, Lars et al., 2008. The Road to Full
Convergence. Thought Leadership Paper of the Fixed Mobile Convergence
Alliance (FMCA) in Zusammenarbeit mit Detecon.
chen werden konvergieren und neuen Kundennutzen schaffen:
Autos als intelligente Hubs in Netzwerken, clevere Stromnetze,
sich selbst organisierende Logistik − es gibt viele Beispiele für
diese sich abzeichnende weitreichende Entwicklung. Die Grenzen zwischen ICT und anderen Branchen verschwimmen. Das
führt zu steigendem Wettbewerb um die Anteile an diesem
immer größer werdenden Marktpotenzial. Ein steigendes Absatzpotenzial aufgrund konvergenter Produkte und Lösungen
bewirkt, dass die horizontale Integration über Branchengrenzen
hinweg geschoben wird und natürlich Akteure aus den anderen
Branchen anzieht, die auf Gelegenheiten lauern, um von der
‚Branchenkonvergenz‘ zu profitieren.2
Von statischen Lieferketten zu agilen Geschäftsnetzwerken
Die Entstehung von so genannten „Smart Business Networks“
(SBNs) ermöglicht eine dynamische und agile Beziehung
­zwischen Unternehmen. Als Teilnehmer von Netzwerken bringen Lieferanten, Kunden, Geschäftspartner und Wettbewerber
gemeinsam „smarte“ Ergebnisse hervor, die durch „smarte“
Technologien ermöglicht werden.
Geschäftsnetzwerke, nicht einzelne Unternehmen, bestimmen
mittlerweile den Wettbewerbsvorteil. Das einzelne Unternehmen wird fortan nicht automatisch an zentraler Stelle positioniert sein. Vielmehr muss es sich an vielen technologisch herausfordernden Geschäfts- und Sozialnetzwerken beteiligen. Statt in
fast statischen Wertschöpfungsketten aufzutreten, werden die
Netzwerkteilnehmer über dynamische Prozesspfade miteinander verbunden. Damit eine solche Beteiligung möglich wird,
müssen die Geschäftsprozesse aller Akteure innerhalb eines
Netzes kompatibel sein. Das ist eine enorme Herausforderung!
2
Durchschnittliche EBITDA-Margen von S&P im 5-Jahres-Verlauf: 21%,
drahtlose Telekommunikation: 36%, integrierte Telekommunikation:
29%, Software: 25%, Versorgungseinrichtungen: 23%, Halbleiter: 23%,
Büroausstattung: 18% , Konsumgüterindustrie (FMCG): 11%,
Computer-Hardware: 10%.
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Detecon Management Report • 1 / 2011
Strategy
Kreditkarten und Händlerterminals. Oft werden sie von einer
Handvoll großer Plattformen dominiert, wie beispielsweise
in der Kreditkartenbranche. Deren Geschäftsmetrik ist nicht
die gleiche wie in einer herkömmlichen Wertschöpfungskette,
in der sich der Wert von links nach rechts bewegt: links die
­Kosten, rechts die Einnahmen. In zweiseitigen Netzwerken sind
Kosten und Einnahmen sowohl links als auch rechts angeordnet. ­Dadurch wird Flexibilität in der Preisgestaltung und der
Subventionierung möglich.
Das Hauptmerkmal eines SBN ist die Fähigkeit, Geschäftsprozesse rasch auszuwählen, zu verbinden und auszuführen (Pick,
Plug and Play), um zügig ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Ein
SBN könnte als Netzwerk aus Teilnehmern betrachtet werden,
die gegenseitig bereit sind, ad hoc mit einander zu kollaborieren, indem sie rasch agieren (Pick) und kombinieren (Plug),
um die Anforderungen einer bestimmten Situation zu erfüllen
(Play). Anschließend „ruhen“ die Teilnehmer, während sie vielleicht in anderen Geschäftsnetzwerken oder eher traditionellen
Wertschöpfungsketten aktiv sind. Folglich bestehen die grundlegenden Organisationsfähigkeiten von SBNs darin, schnell
eine Verbindung zu einem Akteur herzustellen beziehungsweise
diese Verbindung genauso schnell wieder trennen zu können.
Bei diesem neuen Netzwerkansatz beobachten wir eine zunehmende Trennung der Geschäfts-, Transaktions- und Logistikebene. Die Teilnehmer machen sich gemeinsam den zum Erreichen der Ziele im Netz notwendigen Prozess zunutze (Shared
Business Logic).
In der Zwischenzeit bildet sich eine neue Generation von SBN
heraus: Amazon hat sein Geschäftsmodell erweitert und ist auf
dem besten Weg, nicht mehr nur als reiner E-Book-Händler,
sondern als weltweit führender ‚E-Tailer‘ aufzutreten. Jeden
Monat registrieren sich Tausende E-Book-Händler als AmazonHändler, um von Produktpräsentationen, Regelkonformität,
Risikomanagement, Mediation bei Konflikten, sicheren Transaktionen sowie Logistikdiensten zu profitieren. Diese Business
Serviceleistungen werden von Amazon streng reguliert; die Regelungen reichen von der Einrichtung technischer Schnittstellen bis hin zu Geschäftsvorschriften und -praktiken3. Weitere
Beispiele für eine neuere Generation von erfolgreichen SBNs
sind e-Gatematrix, Multiasistencia und Li & Fung (siehe Ta-
Eine erste Generation von SBN findet sich vor allem in den
Sektoren Bankwesen, Software und Medien. Diese meist „zweiseitigen Netzwerke“ verbinden verschiedene Seiten ihres Kundennetzwerks – Zuschauer und Werbungbetreibende oder
Abbildung: Der neue Geschäftsnetzwerk-Ansatz
Geschäftsbetriebsebene
Vernetztes Geschäftsbetriebssystem (nBOS)
Standards
EPC
Global
Produzent
Vermittler
Transaktionebene
Agent
Versicherer
Bank
RFID Daten
Inlandsverschiffung
Quelle: Detecon
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Detecon Management Report • 1 / 2011
Transport
Endkonsumenten
Scanning
RFID Daten
Produzent
Logistikebene
Handel
Scanning Daten
Schiff
Distribution
Terminal
Den Geschäftshorizont im Visier
belle). Allen ist gemeinsam, dass sie ein vernetztes Geschäftsbetriebssystem (‚networked Business Operating System, nBOS‘)
eingeführt haben.
nehmen und Personen neue Wertschöpfung bewirken. BaaSAnbieter können dabei eine Schlüsselrolle spielen. Wir sehen
drei strategische Optionen3:
BaaS-Strategien, die Geschäftsnetzwerke „smart“ machen
Plattformbereitstellung: Die Anbieter digitaler Plattformen wie
Amazon, Bol, Skype, eBay und Google richten ihr Augenmerk
auf die Schaffung proprietärer Netzplattformen, die allgemein
als Möglichkeit des telekommunikationsbasierten Zugriffs auf
eine EDV-Umgebung definiert werden, so dass der Benutzer
vorher festgelegte plattformkontrollierte und -unterstützte Geschäftsaufgaben ausführen kann.
Diese vernetzten Geschäftsbetriebssysteme werden in Zukunft
verstärkt als Dienst­leistung („as a service“) angeboten. BaaS-Anbieter betreiben webbasierte Business-Anwendungen über das
Internet oder Web Services, die mittels moderner Sicherheits-,
Management- und Identitätsstandards entworfen werden. BaaS
ist nicht als ICT Dienst zu betrachten – diese sind von den
Business Services abgeschirmt. Änderungen, Störungen oder
sonstige Vorkommnisse im ICT Service sollten allerdings nicht
deren Geschäfts­tätigkeiten beeinträchtigen. ICT Infrastruktur
und -software können ebenfalls als Service bereitgestellt werden
(Internet ­
­
Services Provisioning, Application Service Provisioning, Software as a Service), während sich BaaS auf der Geschäftsebene der Kunden abspielt.
Hinter SBN steht der zentrale Gedanke, dass Unternehmen
durch eine intelligente Positionierung ihrer Fähigkeiten in
weltweiten Netzwerken aus miteinander verbundenen Unter-
Eine vernetzte Plattform hat einige unbestechliche Vorteile: Benutzer können auf eine mehr oder weniger komplette Suite von
Geschäftsprozessen zugreifen, einschließlich Suche und Auswahl, Bestellung, Lieferung, Zahlung und Verwaltung. Da der
Plattforminhaber kontrolliert, welchen Personen der Zugang
gestattet wird und ferner die Zugangsrechte dieser Personen
3
Vervest, P. H. M., van Liere, D.Q., Dunn, A., 2010. The Network Factor –
How to Remain Competitive. In P. H. M. Vervest, D. van Liere, L. Zheng
(Hrsg.). 2010. The Network Experience. Berlin – Heidelberg,
Deutschland: Springer Verlag.
Tabelle: Beispiele von SBNs
Multiasistencia koordiniert Hausversicherungsansprüche und Reparaturen in
Spanien, Frankreich und Portugal. Das Unternehmen, gegründet 1983, verwaltet 11.000
Kleingewerbetreibende/Reparaturen und über
100 Großunternehmen wie Versicherungsgesellschaften, Banken, Kaufhäuser und ihre
jeweiligen Kunden. Nach einem Turnaround
im Jahr 2000 automatisierten sie die Netzwerk­
koordination in starkem Maß, einschließlich
Call-Center-, Internet- und Web-Diensten sowie mobiler Systeme, von einem Kontrollzentrum in Madrid aus. Bei Reparaturaufträgen
muss niemand einschreiten, es sei denn, ein
Ausnahmefall tritt ein. Dank dieser automatisierten Koordination erhöhte sich die Produktivität um 49,6%, und die Zahl der Fehler nahm
drastisch ab. Neben den Produktivitätssteigerungen hat dieses Smart Business Network auch
eine Standardisierung der äußerst fragmentierten Haushaltsreparaturen bewirkt. Angesichts der SLA-Transparenz und standardisierter
Prozesse erwies es sich als wichtig, das Vertrauen
zu den Werkstätten zu erzielen. Multiasistencia
hat auch die Software-Innovation gefördert.
80% der ­neuen Software wird gemeinsam mit
den Multiasistencia-Unternehmenskunden entwickelt.
Li & Fung Limited ist eine seit 100
Jahren bestehende Handelsgesellschaft mit
Sitz in Hongkong, die ein weltweites BusinessNetzwerk für die Mode- und Bekleidungsbranche in den USA und Europa eingeführt hat,
und sich Möglichkeiten einer kostengünstigen
Fertigung in Asien und zunehmend auch im
Mittelmeerraum, Ost- und Mitteleuropa zunutze machen möchte. Statt Fertigungseinrichtungen in seinem Eigentum zu haben,
verwaltet Li & Fung knapp 12.000 unabhängige Hersteller mit über 80 Niederlassungen
in über 40 Volkswirtschaften der Welt. Neben
den „zweiseitigen” Geschäftsmodellen bieten
sie auch Produktdesign und -entwicklung an,
Rohstoffbeschaffung und Factory Sourcing,
Produktionsplanung und -management, Qualitätssicherung und Exportdokumentation sowie integrierte Logistikleistungen. Li & Fung
unterstützt Kunden beim Managen von globalen Wertschöfungsketten, indem sie über die
Unternehmensgrenzen hinweg entsprechende
Funk­tionen übernimmt.
e-gatematrix wurde von seiner
Schweizer Muttergesellschaft GateGourmet als
ein „Business Operating System” positioniert,
in dem die Wertschöpfungsketten von Käufern und Verkäufern von „On-Board-Services“
orchestriert werden können. Lebensmittelhersteller, große Cateringbetriebe, Logistikdienstleister und Fluggesellschaften können ihre
Informationen, Waren und Transaktionsflüsse
hier steuern. Durch die zunehmende Nutzung
lernender IT-Systeme werden Flüsse „intelligenter“ und so erweitert, dass sie noch andere
Branchensegmente abdecken können.
21
Detecon Management Report • 1 / 2011
Strategy
überwacht, sind die Verknüpfung der Geschäftspartner und
das End-to-End-Management von Geschäftsprozessen keine
aufwendige Angelegenheit. Der Benutzer wird dadurch jedoch
sehr stark von der Netzwerkplattform abhängig. Wenn Sie beispielsweise auf Amazon sind, können Sie nicht auf Bol zugreifen. Skype gewährt seinen Konkurrenten keinen Zugriff. Diese
herkömmliche Anbieterbindung ähnelt den Inseln computerbasierter Systeme zur Nachrichtenübermittlung Anfang der 70er
Jahre des 20. Jahrhunderts. Solange der Preis und die Qualität
annehmbar sind und die Benutzer nicht ausgenutzt werden,
stellen diese Nachteile kein Problem dar. Allerdings haben
Netzwerke eine interessante Auswirkung auf die Kostenhöhe:
Die Grenzkosten für die Bedienung jedes weiteren Benutzers
sinken unverhältnismäßig. Das heißt: Zu einem bestimmten
Zeitpunkt liegen die für den Marktführer entstehenden Gesamtkosten dafür, dass er den nächsten Benutzer bedient, unter
den Grenzkosten für schlechter positionierte Konkurrenten. In
diesem Fall bilden sich natürliche Monopole – und der Sieger
gewinnt alles. Unter solchen Gegebenheiten laufen Märkte sehr
oft aus dem Ruder und Regulierer greifen ein.
bestimmten Aufgabe, sondern auch die mit der Aufgabe verbundene Logik. Die Aufgaben werden in Prozessen zusammengeführt und die Prozesse miteinander verbunden, um die erforderliche Kundenleistung zu erbringen: Falls die Kette bricht,
müssen Sie dies wissen. Genau genommen müssen Sie dies wissen, bevor sie bricht. Sie benötigen sofort verfügbare Alternativen. Sie müssen in der Lage sein, in der Wertschöpfungskette
Umstellungen vorzunehmen, eine Alternativverbindung zu anderen Ressourcen herzustellen, um die Schwachstelle zu kompensieren. Aber Sie können dies nicht. Das auslagernde Unternehmen hat die Logik eingebüßt, das detaillierte Verständnis
der Handhabung und Kontrolle spezieller Aufgaben sowie die
Fähigkeit zur Handhabung der Prozessintegration einzelner
Aufgaben.
Capability Hubs: Ein Unternehmen kann unter Nutzung der
modernen Telekommunikationsfunktionen bestimmte Aufgaben an andere Unternehmen in entfernten Teilen ihrer zuvor
eingegrenzten Welt auslagern. Dies ist zu niedrigsten Transaktionskosten leicht und schnell durchführbar. Friedman4 hat vor
Augen geführt, wie die Macht des Internets bewirkt, dass die
Welt „flach“ ist. Der Gedanke dahinter ist einfach: Jeder (Teil
in einem) Produktionsprozess kann ausgeführt werden, indem
die richtigen – billigen – Partner an irgendeinem Ort der Welt
ausgewählt und zum Zweck der Ausführung dieser Aufgaben
unter Vertrag genommen werden. Dadurch reduzieren sich die
Gesamtkosten, während sich der Markt letztlich weiter kontrollieren lässt. Daher lagern Großunternehmen IT-Systeme nach
Indien und die Fertigung nach China aus und rechnen damit,
dass sie weiterhin kontrollieren können, wer die Gewinne durch
Geschäfte mit den Kunden erwirtschaften wird. Komplizierte
Outsourcing-Netze haben sich bereits gebildet.
Der Übergang von der herkömmlichen Auslagerung gesamter
Funktionen zur Auslagerung modularer Geschäftsprozesse ermöglicht dem jeweiligen Unternehmen, eine Capability HubStrategie zu verfolgen und sämtliche erfolgskritischen Fähigkeiten zu erhalten.
Wer schon einmal Outsourcing-Aufgaben übertragen hat, weiß,
welche Schmerzen dies bereiten kann. Bei einem Outsourcing
überträgt das Unternehmen nicht nur die Ausführung einer
Diese drei Positionierungsstrategien können durch eine geographische Fokussierung unterstützt werden. Smart City Networks
werden im Rahmen der Urbanisierung der Welt einen immer
4 Friedman, T. L. 2005. The World Is Flat. New York, NY: Farrar, Straus
and Giroux.
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Detecon Management Report • 1 / 2011
Kontrolliert der Outsourcer die Geschäftslogik nicht, kontrolliert er folglich nicht beziehungsweise versteht nicht einmal
mehr, wie seine grundlegenden Geschäftsprozesse ausgeführt
werden. Außerdem beherrscht er nicht mehr die Suche nach
und Auswahl von vertrauenswürdigen Geschäftspartnern.
Netzwerkorchestrierung: ‚Orchestratoren’ steuern Akteure im
Geschäftsnetzwerk, sie koordinieren und überwachen die Zusammenführung verschiedener Funktionen mit Blick auf bestimmte Ergebnisse, die auf den Kunden abzielen. Beispiele wie
Li&Fung oder Multiassistencia wurden oben bereits beschrieben. Als weiteres Beispiel lässt sich „thebigword“ anführen, ein
Unternehmen, das ein aus Tausenden Linguisten bestehendes,
weltweites Netzwerk für Sofortübersetzungen verwaltet. In all
diesen Beispielen werden hochentwickelte GeschäftsprozessTools zum Koordinieren und Optimieren der Geschäftsprozesse
zwischen vielen verschiedenen Akteuren eingesetzt.
Den Geschäftshorizont im Visier
höheren Stellenwert haben. Vor allem asiatische Konzepte wie
die zehn südkoreanischen U-Citys mit zentralen ‚City-Betriebssystemen’ scheinen erfolgversprechend zu sein.5
Netzwerkbasiertes Prozessmanagement und Community Sourcing sind als Voraussetzung für das Funktionieren der Strategien
anzusehen. Manager müssen verstehen, von welch entscheidender Bedeutung Netzwerkressourcen und Prozessmanagement für ihr Unternehmen sind. Dies erfordert:
1.Ein Verstehen der wesentlichen Eigenschaften von ‚Fähigkeiten‘ aus der Sicht eines Netzwerks;
2.Prozesskontrolle, also das Beherrschen der Verknüpfung von
Fähigkeiten in einem Netzwerk mit verschiedenen Akteuren
und damit das Verständnis, wie diskrete End-to-End-Prozesse,
die in einem Geschäftspartner-Netzwerk verteilt sind, zu verwalten sind.
Eine Fähigkeit meint in diesem Zusammenhang, dass Unternehmen in der Lage sind, Ressourcen – meist gemeinsam mit
Organisationsprozessen – so einzusetzen, dass ein gewünschtes
Ziel erreicht wird. Im Jahr 1990 beschrieben Prahalad und Hamel die Kernkompetenz eines Unternehmens als „Konsolidieren
unternehmensweiter Technologien und Fähigkeiten in Kompetenzen, die einzelne Unternehmen zu einer raschen Anpassung
an sich wandelnde Chancen befähigen“.
Prozesskontrolle ist zu einer zentralen Herausforderung, wenn
nicht gar zu einem Stolperstein bei der Akzeptanz von BaaS
geworden. Wir plädieren für die vernetze Geschäftsbetriebsplattform als verbindendes Element zwischen verschiedenen
Organisationsinformationssystemen. Es erfolgt eine ­schrittweise
Verschiebung von hardwareorientierter Architektur hin zu softwareorientierter Architektur. Die eigentliche Herausforderung
steht noch aus: Prozessmanagement, das einer businessorientierten Architektur folgt und damit vollständige Flexibilität
beim Konzipieren und Ausführen von Geschäftsprozessen unabhängig von der Betriebsumgebung ermöglicht.
Smart Business in 2032
Unsere durchaus realistische Vision für 2032 ist, dass BaaSAnbieter nBOS für Unternehmen bereitstellen werden, die in
Smart Business Networks operieren. Dabei wird es möglich sein,
Geschäfte über ein rasch gebildetes Netzwerk abzu­wickeln – mit
beliebigen Personen, an beliebigen Orten, zu beliebigen Zeiten
und ohne Rücksicht auf die Verschiedenartigkeit von Computersystemen und Geschäftsprozessen. Die Akteure in diesem
Bereich benötigen ein tiefgehendes Branchen- und ProzessKnow-how sowie ausgeprägte Systemintegrationsfähigkeiten.
ICT wird branchenübergreifende Wertangebote ermöglichen
und starre Wertschöpfungsketten in agile Wertschöpfungsnetze
umwandeln. Dabei werden die Grenzen zwischen den intraund den extramuros angesiedelten Unternehmensdomänen
verwischt; die Kollaboration wird in den Grundfesten des Unternehmertums verwurzelt.
Lauern auf die nächste Welle von „Smartheit”
„Smartheit” als relativer Begriff bedeutet, dass ein aus zusammenarbeitenden Unternehmen bestehendes Netzwerk bessere
Ergebnisse herbeiführen kann als sonstige Netzwerke. Er könnte
auch bezogen werden auf die Fähigkeit, die Informationsflüsse
in sowie an der topologischen Struktur des Geschäftsnetzwerks
zu gliedern und zu beeinflussen. Die nächste Welle von „Smartheit” wird von Systemen zur Unterstützung von Entscheidungen ausgehen, welche sich künstlich intelligente Softwareagenten zunutze machen.
Schon heute ist Business Intelligence-Software zum Web Crawling, Data Mining und Generieren von Berichten fähig. Die
derzeitige Ausrichtung auf Hypertext-Dokumente wird sich
weiterentwickeln und in Zukunft eine Infrastruktur von computerlesbaren, semantischen Beschreibungen umfassen, die intelligente Agenten verstehen, so dass diese entsprechend agieren
können. In den letzten sieben Jahren wurden erhebliche Fortschritte auf dem Weg hin zur Vision eines semantischen Webs
erzielt.
5 Theobaldt, Lars: Living Cities: new convergent business models in urban
markets 2008 Detecon Executive Briefing
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Detecon Management Report • 1 / 2011
Strategy
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Detecon Management Report • 1 / 2011
Den Geschäftshorizont im Visier
Entscheidungsunterstützungssysteme
(Decision
Support
­Systems, DSS) und autonome Softwareagenten tragen zunehmend zum Ausgleich der menschlichen kognitiven Einschränkungen bei, etwa bei der „Tyrannei der Wahl“ in komplexen
vernetzten Geschäftsumgebungen. Ein in einem SBN bereitgestelltes DSS muss sich mit der Unterstützung menschlicher Entscheidungen in von äußerster Agilität geprägten Geschäftslagen
befassen. Dementsprechend besteht ein Bedarf an Evaluator
Services Networks, die beurteilen, wo Netzwerkverbindungen
herzustellen sind und wie Netzwerkpositionierungen erfolgen sollen. Diese Beurteilungsdienste können zu DatenflussNetzwerken zusammengestellt werden, um beliebige Aufgaben
im Zusammenhang mit der Überwachung, Analyse und Entscheidungsunterstützung auszuführen, welche von einfachem
Datenmonitoring bis hin zu vollständig autonomen intelli­
genten Agenten reichen.6
einer hohen Leistung entspricht. Ein Schlüsselfaktor ist die Verteilung des Netzwerkhorizonts über die verschiedenen Unternehmen. Diese Ergebnisse können als Erklärung dafür dienen,
weshalb Netzwerkorchestratoren in vielen verschiedenen Branchen so erfolgreich sind. Li & Fung und Multiassistencia waren
unter den ersten, die sich als Bestandteil größerer Geschäftsnetzwerke gesehen haben. In einem homogenen Netzwerk mit
einem niedrigen Horizont verschaffte ihnen ihr weitreichender
Netzwerkhorizont die Möglichkeit zum Erlangen ihrer Schlüsselpositionen. NaturaHerstel vom Allianz-Konzern ist ein gutes
Beispiel dafür, wie sich ein Netzwerkhorizont erweitern lässt.
Dieses Hausratsversicherungsprodukt regelt den Schadensfall
nicht finanziell, sondern „in Natura“, der Gegenstand wird ersetzt und geliefert. Mit der Realisierung von Skaleneffekte beim
Einkauf erschließt sich die Allianz neue Erlösmöglichkeiten mit
neuem Horizont.
Horizonte zwischen eigenem Unternehmen und wachsenden
Netzwerken sichten
Die drei wesentlichen Herausforderungen der Zukunft werden
sein, eine Geschäftslogik aufzugreifen, die potenziellen Funk­
tionalitäten des nBOS zu definieren und die Geschäftsbetriebs­
ebene aufzubauen. Unternehmen müssen sich in rasch wandelnden und expandierenden Netzwerken, die von ubiquitären
Kommunikationstechnologien ermöglicht werden, weiterentwickeln und „smart” handeln. CIOs müssen die Grenzen zwischen
ihrem eigenen Unternehmen und den wachsenden Netzwerken,
in denen sie tätig sind, verbinden. Die Entscheidungsfindung
in sehr großen Netzwerken unterscheidet sich grundlegend von
dem, woran wir heute gewöhnt sind.
Entscheidungsträger sollten ihr Unternehmen als Knoten innerhalb von großen und umfassenden Netzwerken sehen, die aus
voneinander abhängigen Unternehmen bestehen und sich ständig verändern. Die Zahl der Knoten, die ein Akteur nicht nur
unter seinen Kunden und Lieferanten, sondern auch unter den
Kontakten der Kontakte „sehen“ kann, wird als Netzwerkhorizont bezeichnet. Die Größe des Netzwerkhorizonts eines Unternehmens dient als wesentlicher Faktor zur Bestimmung der
Fähigkeit eines Unternehmens, sich agil im Netz zu bewegen
und gegebenenfalls andere Teilnehmer zu „überbrücken“. Die
Ausweitung des Netzwerkhorizonts über diesen Punkt hinaus
bewirkt jedoch, dass die Ergebniseffekte rasch abnehmen.7
Eine Reihe von Experimenten mit Führungskräften in der Versicherungsbranche hat gezeigt, dass ein hoher Netzwerkhorizont
6 Ketter, W., Collins, J. Gini, M: Flexible Decision Support in a Dynamic Business
Network. In: In P. H. M. Vervest, D. van Liere, L. Zheng (Hrsg.). 2010.
The Network Ex-perience. Berlin - Heidelberg, Deutschland: Springer Verlag.
7
van Liere, D. W., Koppius, O. R., und Vervest, P. H. M. 2008. Network
Horizon: An Information-Based View on the Dynamics of Bridging Positions.
In J. A. C. Baum & T. J. Rowley (Eds.), Network Strategy, Bd. 25:
Emerald Group Publishing Ltd.
8Smart-Business-Network-Initiative
http://www.erim.eur.nl/ERIM/Research/Centres/SBNi/
Wir empfehlen, den Anschluss an branchenübergreifende
Zusammenarbeit und den Austausch wissenschaftlicher Er­
kenntnisse zu suchen8, während Sie die Positionierung Ihres
künftigen „BaaS“-Angebot weiter ausfeilen. Es scheint in jedem
Fall schon heute geboten, Ihren Geschäftshorizont ins Visier zu
nehmen.
Peter Vervest ist Professor für Business Telecommunications an der Erasmus
Universität in Rotterdam und Managing Partner der internationalen ICT
Investmentgesellschaft D-Age. Zuvor war er Gründungsmitglied und Ge­
sellschafter des Beratungshauses Multimedia Skills. Seine Industrieerfahrung
sammelte er bei Philips, zuerst als Projektmanager, dann als Bereichsleiter bei
Philips Electronics (UK).
Lars Theobaldt ist Managing Partner in der Practice Strategie & Marketing.
Die Beratungspraxis seiner globalen Kompetenzgruppe konzentriert sich auf
Sales & Marketing, Konvergenz sowie modulares Produktportfoliodesign. Er
war langjähriger Berater der globalen FMCA-Carrier Allianz, ist Mitglied des
Forschungsausschusses des Münchner Kreis und Co-Autor der Detecon-Studie
„Think ICT 2032“.
[email protected]
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Detecon Management Report • 1 / 2011
Strategy
InCar
Kommunikation
der Zukunft
Herausforderungen und Ansätze zur Umsetzung
nachhaltiger ICT Lösungen für die Automobilindustrie
Das Auto als Informations- und Kommunikationszentrale mit
­Anbindung an das Internet – der Traum von morgen stellt Automobil­
hersteller schon heute vor die Aufgabe, ein industrieübergreifendes
­Projekt zu initiieren.
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Detecon Management Report • 1 / 2011
Dr. Mike Radmacher
Dr. Volker Rieger
Ralf Upmeyer
Alexander Wellmann
InCar Kommunikation der Zukunft
2032 wird sich unsere Mobilität grundlegend verIändertm Jahr
haben: Aufgrund der vorangeschrittenen Urbanisierung
nutzen wir das Auto vorrangig als Fortbewegungsmittel innerhalb von Megastädten und Ballungszentren. Bei dieser urbanen
Mobilität spielt die Vernetzung des Autos eine entscheidende
Rolle. Den Netzzugang des Autos nutzen aber nicht nur die
Insassen, sondern auch das Fahrzeug selbst. Drei Arten der Vernetzung gibt es: Fahrzeuge kommunizieren untereinander, die
Insassen vernetzen sich über mobile Endgeräte mit dem Auto,
Autos vernetzen sich mit anderen Systemen, zum Beispiel Verkehrsmanagementsystemen.
Ein Blick in das Jahr 2032: Grenzenlose Mobilität
Da das Auto der Zukunft mit allen anderen Autos vernetzt
ist, gehören Staus weitestgehend der Vergangenheit an. Durch
exakte ­
­
Bewegungsdaten aller Verkehrsteilnehmer wird automatisch die optimale Route gewählt und alle ­reiserelevanten
Informationen wie Verkehrsaufkommen, Zustand der Straßen
und kurzfristige Warnungen vor Abfahrt analysiert. I­ ntelligente
Verkehrsleitsysteme analysieren und bewerten die Informationen aller Fahrzeuge live, um so für mehr Sicherheit und einen
optimalen Verkehrsfluss auf unseren S­traßen zu sorgen. Die
Systeme im Auto schlagen entsprechend der vorliegenden Echtzeitdaten automatisch dem Fahrer Routenoptimierungen vor
und für den Fall, dass es doch zu einem Unfall oder sonstigen
Notfall kommen sollte, nimmt das Auto automatisch Kontakt
mit den entsprechenden Notfalldiensten auf, um so binnen
Sekunden Unterstützung anzufordern. Techniker analysieren
Fehler am Fahrzeug bereits beim Auftreten von der Ferne aus
und beheben diese gegebenenfalls sogar direkt per Fernwartung.
Viele Sensoren innerhalb der Autos sammeln alle erdenklichen
Daten, die von den Automobilherstellern verdichtet sowie analysiert werden, um zur Verbesserung der Verlässlichkeit und Sicherheit der Fortbewegungsmittel beizutragen.
Im Jahr 2032 wird eine zweite große Veränderung das Zukunftsauto vom heutigen Auto unterscheiden – es wird eine
Informations- und Kommunikationszentrale mit ständiger Anbindung an das Internet werden. Persönliche Daten wie auch
digitale Unterhaltungsmedien, zugeschnitten auf die Insassen,
sind immer und überall in höchster Qualität abrufbar. Fortgeschrittene Funktechnologien bilden hierbei das Rückgrat aller
Dienste im Auto. Mit Übertragungsgeschwindigkeiten jenseits
der Gigabit-Grenze ist nicht mehr Bandbreite der begrenzende
Faktor, sondern der Erfindungsreichtum der Diensteanbieter. Videokonferenzen und Online-3D-Spiele sind für Beifahrer technisch genauso möglich wie Live-Übertragungen von
Sportevents in HD.
Bisher steckt der Markt um das intelligente, vernetzte Auto
noch in den Kinderschuhen. Automobilhersteller auf allen
Kontinenten führen zwar erste Gehversuche durch, bis zur
­Realisierung der beschriebenen Vision ist es jedoch noch ein
langer Weg, auf dem Automobil­konzerne viele Stolpersteine
überwinden müssen.
Auf den ersten Blick erscheint die Lösung einfach – man statte
das Auto mit den neuesten Funkmodulen aus und schon ist es
internetfähig. Die Vernetzung des Autos birgt jedoch diverse zusätzliche, oft nicht offensichtliche Herausforderungen, die es zu
meistern gilt, um das vernetzte Auto zum nachhaltigen Erfolg
zu führen. Eine komplizierte Wertschöpfungskette mit einer
Vielzahl von Akteuren, der deutlich geringere Absatz im Vergleich zur Telekommunikationsbranche, ein nicht vorhandenes
Ökosystem, mangelnde Erfahrung im Betrieb solcher Systeme
und die Sicherheitsaspekte beim Fahren sind einige der vielen
Herausforderungen, die auf die Automobilhersteller und die
Zuliefererindustrie warten.
Vor allem darf die Komplexität des Themas und der Bedarf nach
einer nachhaltigen, langfristig zeitgemäßen Lösung, die sowohl
Nutzer wie auch Anbieter zufriedenstellt, nicht unterschätzt
werden. Die mit der Vernetzung verbundenen Herausforderungen sind zu skizzieren und erläutern, um Kardinalsfehler bei
der Umsetzung der nächsten Generation von InCar-Systemen
schon frühzeitig zu eliminieren.
Herausforderungen an eine nachhaltige InCar ICT Lösung
Zurück in der Gegenwart muss sich die Umsetzung der zuvor
beschriebenen Zukunftsvision an den Herausforderungen des
aktuellen Marktes, der Gegebenheiten der Automobilbranche
und der technologischen Entwicklungen messen. Die enorme
Bandbreite des Themas bedingt, dass nur ein ganzheitlicher
Ansatz unter Berücksichtigung unterschiedlicher Perspektiven
langfristig für die Automobilindustrie erfolgversprechend ist.
Dazu gehören die Sicht auf den Markt und die Kunden, eine
eindeutige Value Proposition, ein adäquates Portfolio, ein erfolgreiches Geschäftsmodell, zukunftssichere State-of-the-Art
Technologien und die Beherrschung der zur Umsetzung notwendigen operativen Tätigkeiten.
Dabei gilt es zu beachten, dass die Entwicklung und Umsetzung von InCar ICT Lösungen den bisherigen Automobilfertigungszyklus vor neue Herausforderungen stellt, da die Innovationszyklen in der ICT Industrie um ein Vielfaches kürzer sind
und Hersteller ansonsten Gefahr laufen, den Kunden veraltete
­Lösungen anzubieten.
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Detecon Management Report • 1 / 2011
Strategy
Eine vertrauensvolle und persönliche Beziehung zum Kunden
durch effiziente Automobile mit raffinierten InCar ICT Lösungen ist nur ein Teil des Wegs zum Erfolg. Automobilhersteller müssen sich den Anforderungen der Kunden nach effizienten Automobilen (verbrauchsarm, hybride Antriebe) stellen.
InCar ICT Lösungen, zum Beispiel ein personalisiertes Customer Relationship Management, können hierbei die Pre- und
After-Salesaktivitäten durch eine direkte und interaktive Kommunikation mit dem Kunden unterstützen. H
­ erausstechende
InCar Entertainment Systeme werden in Zukunft verkaufs­
entscheidend sein, ebenso wie die Entwicklung neuer Erlösmodelle, zum Beispiel „nutzungsabhängige Servicegebühren“
am Beispiel der Nutzung der Sitzheizung im Fahrzeug für 0,50
Euro am Tag.
Aufgrund der Vielfalt und Vielschichtigkeit von Kundenanforderungen steht nicht mehr eine einzelne Anwendung im
Vordergrund. Die Notwendigkeit der Individualisierung und
die Aggregation von Anwendungen werden die Value Proposition bestimmen. Dabei wird ein Mix von nutzerbezogenen
(M-Commerce, Infotainment), fahrzeugbezogenen (Telemetrie,
Tracking), fahrerorientierten (Navigation, Verkehrmeldungen)
und transportbezogenen Anwendungen (Dispachting, Tour
Planer) entstehen. Den Aufbau der eigenen Value Proposition
gilt es, gemeinsam mit dem Kunden zu erarbeiten.
Der dadurch entstehende Anwendungsmix lässt sich jedoch
nicht mehr alleine realisieren. Eine sorgfältige Auswahl von
­Kooperationspartnern ist bei der Entwicklung entscheidend.
Netzbetreiber (Vodafone, T-Mobile, AT&T), Endgerätehersteller (Apple, RIM, Microsoft), Informationsanbieter (CNN,
Yahoo, Tencent), soziale Netzwerke (Facebook, Xing, mixi),
Entertainment Intermediäre (YouTube, hulu, last.fm) oder
Location-based Services (Qype, foursquare, yelp) müssen wohl
überlegt kombiniert und in die Wertschöpfungskette integriert
werden.
Die erfolgreiche Gewinnung von Kooperationspartnern steht
nach vorangegangener Identifizierung im direkten Zusammenhang mit dem hinter der InCar ICT Lösung stehenden
Geschäftsmodell. Komplexe InCar ICT Lösungen setzen das
Zusammenspiel unterschiedlicher Parteien voraus, die ihren
Umsatz maximieren wollen. Die Schaffung von Win-Win-­
Situationen auf unterschiedlichen Ebenen der Leistungserbringung ist eine der großen Hürden, die es zu nehmen gilt.
Neben der Identifizierung einer InCar ICT Lösung, der
Entwicklung eines Geschäftsmodells und der Auswahl der
­Kooperationspartner zur Umsetzung ist die Auswahl der darunterliegenden Technologien von besonderer Bedeutung, die
verschiedenste Entscheidungen erfordert. Einige der zu berücksichtigenden Fragestellungen sind dabei:
• Orientiert sich die Umsetzung an bereits etablierten Standards (Endgeräte oder Betriebssystemplattformen, Netzwerkstandard, Medienformate)?
• Auf welchen bekannten Architekturen wird ­aufgebaut
(Systemarchitekturen, Multinetzwerk-Architekturen, End­
geräte­­architekturen)?
• Ist das Thema Sicherheit ausreichend adressiert (Fahrzeugsicherheit, Systemsicherheit, Fahrersicherheit, Anwendungs­
sicherheit, Daten-/Privatsphärenschutz, I­ dentitätsmanagement)?
Abbildung: Sechs Perspektiven zur Umsetzung nachhaltiger ICT InCar Lösungen
Value Proposition
Portfolio
Geschäftsmodel
Technologie
Betrieb
Märkte und Kunden
•Erhöhte Mobilität
•Entertainment
•CRM
•VRM/VLM
•Services
•Applikationen
•Endgeräte
•Partner
•Value Architecture
•Umsätze
•Kosten
•Standard
•E2E Architektur
•Sicherheit
•Innovation
•App Store
•Kundenservice
•E2E Services
•Updates
•Rechnungswesen
•Bedürfnisse
•Segmentierung
•Regulierung
Quelle: Detecon
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Detecon Management Report • 1 / 2011
InCar Kommunikation der Zukunft
• Sind zukünftige Entwicklungen und Innovativen (Roadmap-Themen) berücksichtigt (Technologiestrategien, Trend-­
Scouting, Innovation Management)?
Nachdem strategische wie auch taktische Entscheidungen
­getroffen wurden, ist deren Umsetzung durch operative Tätigkeiten zu garantieren. Operative Tätigkeiten, beginnend mit
Sales-Aktivitäten (Sales-Trainings, Demonstratoren), Dienstbereitreitstellung (Inbetriebnahmesupport), Diensterbringung
(Rechenzentrum, Netzwerk Operations), Qualitätssicherung
(Incident und Problem Management) und Abrechung, erfordern eine bedarfsgerechte Allokation „24/7“ von Ressourcen
sowie zugeschnittene Produktionsprozesse und Workflows.
Zudem erfordert die Erbringung von ICT InCar Lösungen als
Bestandteil des Portfolios neue Fähigkeiten eines Automobilherstellers, die selbst aufgebaut oder durch Kooperationspartner
erbracht werden können.
der Bedienbarkeit von InCar Systemen. ­Weiterführende Fragestellungen in diesem Zusammenhang werden durch eine Vielzahl von Methoden adressiert, die abhängig vom Unternehmen
und der Zielgruppe durch Experten ausgewählt werden.
Ein Framework sowie die Verwendung richtiger Methoden
dienen allerdings lediglich als roter Faden bei der Entwicklung
­neuer Systeme. Es ist unerlässlich, alle relevanten Kompetenzen
an einen Tisch zu bringen, um das Framework und die Methoden mit ihrem Wissen zu füllen. Sowohl Experten der ICT
Branche, Marktforschungs- und Kundenverhaltensexperten als
auch Automobilexperten müssen ihr Know-how einbringen,
um sicherzustellen, dass das industrieübergreifende Projekt
­InCar ICT nicht in einem Fehlversuch endet, der unter Umständen einen kostspieligen, langfristigen Imageschaden zur
Folge hat. Die Bündelung des Wissens aus mehreren Welten ist,
wie so oft, auch hier der Schlüssel zum Erfolg.
Der Weg in die Zukunft
Die Entwicklung einer nachhaltigen InCar ICT Lösung ist ein
komplexes Unterfangen, bei dem unterschiedliche Kompetenzen aus den Bereichen ICT und Automotive gebündelt sowie
eine Vielzahl von Stakeholder berücksichtigt werden müssen.
Hierbei dient die Nutzung eines methodischen Frameworks als
Unterstützung.
Ausgewählte Methoden unterstützen bei der Analyse verschiedener Perspektiven mit dem Ziel, alle relevanten Aspekte zu
berücksichtigen. Sie finden unter anderem Anwendung in
der Analyse und Bewertung der Kunden- und Marktanforderungen sowie in der Entwicklung eines bedarfsgerechten Angebotes. Zu ihnen gehört zum Beispiel die „Market Scenario
Development“-Methode, deren Nutzung sich bereits in unterschiedlichen Industrien bewährt hat. Sie erlaubt auf Basis im
Detail beschriebener Szenarien eine Empfehlung für die strategische Gesamtausrichtung sowie mögliche Entwicklungsmaßnahmen, um das vielversprechendste Szenario zu identifizieren
und realisieren.
Auch bei der Entwicklung eines wohldurchdachten Portfolios
bieten sich eine Vielzahl von Methoden an, die zusammen mit
Entscheidern und Experten hinsichtlich ihrer Anwendbarkeit
zu beleuchten sind. Einen guten Einstieg bietet oftmals die
­Methode „Product Portfolio Development“, mit der potenzielle
Anwendungen und Kooperationspartner auf ihren Mehrwert
für das Gesamtportfolio eines Produktes analysiert und bewertet werden. Neben der sorgfältigen Auswahl eines Anwendungsportfolios richtet sich ein besonderes Augenmerk auf die ­Qualität
Dr. Mike Radmacher ist als Consultant im Bereich Strategy & Marketing mit
dem Schwerpunkt Product Innovation tätig. Durch eine Vielzahl von Projekten
sammelte er Erfahrungen in der Entwicklung innovativer Ideen, Konzepte und
Produkte im ICT Umfeld. Dazu gehören neben der strategischen Portfolioentwicklung, auch konkreten Themen wie das Thema InCar Kommunikation.
Nicht nur die reine Entwicklung der Konzepte, sondern ebenso die Begleitung
bei deren Umsetzung steht dabei im Vordergrund.
[email protected]
Dr. Volker Rieger ist Partner und leitet das internationale Competence Team
Technology Portfolio Strategies. Er verfügt über langjährige Berufserfahrung
sowohl in der Automobilindustrie als auch in der ICT-Branche. In zahlreichen
Projekten hat er für Endgerätehersteller, Automobilhersteller, Serviceprovider
und Telekommunikations-unternehmen, Geschäfts- und Technologiestrategien
im Bereich InCar ICT entwickelt. Sein Hauptaugenmerk liegt darauf, das technologisch Machbare mit dem geschäftlich Sinnvollen zu verbinden.
[email protected]
Ralf Upmeyer ist im Bereich Strategy & Marketing mit dem Schwerpunkt
Strategie, Product Innovation und Projektmanagement tätig. Durch eine
­
­Vielzahl von mittleren und großen Projekten sammelte er Erfahrungen in
der Entwicklung innovativer Ideen, Konzepte und Produkte im ICT Umfeld.
Dazu gehören auch konkreten Themen wie das Thema InCar Kommunikation.
­Neben der Konzeption der Strategien und Produkte steht die Begleitung bei
deren Umsetzung im Vordergrund.
[email protected]
Alexander Wellmann ist Business Analyst im Bereich Strategy & Marketing.
Seit über fünf Jahren in der ICT Industrie tätig, befasst er sich im Bereich ICT
Product Innovation neben der Strategieentwicklung mit der Gestaltung von Geschäftsmodellen und Produktkonzepten. Herr Wellmann berät internationale
Telekommunikationsunternehmen sowie auch Automobilhersteller zu ICTnahen Fragestellungen.
[email protected]
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Detecon Management Report • 1 / 2011
Strategy
Tanja Misiak
Social Innovation
Eine Unternehmensperspektive auf die
Mitgestaltung einer nachhaltigeren Gesellschaft
Im Rahmen der Umsetzung eines nachhaltigeren Lebensstils
können und müssen Unternehmen eine tragende Rolle übernehmen.
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Detecon Management Report • 1 / 2011
Social Innovation
I n unserer globalen Gesellschaft sind wir zunehmend sozialem
und ökologischem Stress ausgesetzt. Klimawandel, Umweltverschmutzung, Armut, Terrorismus, Gesundheitsprobleme und
grundlegende Mängel in den Bildungssystemen sind nur einige
der akuten Probleme, die wir bislang nicht effektiv in Angriff
genommen haben. Wenn sich dies nicht ändert, scheint es zeitlich absehbar, dass sowohl der private als auch der öffentliche
Sektor in Kosten und Herausforderungen versinken. Wir selbst
haben diese akuten Probleme im Wesentlichen mit verursacht.
Offensichtlich sind viele organisatorische und soziale Formen
wie auch das individuelle Bewusstsein vielfach nicht auf eine
gesellschaftliche Erneuerung ausgerichtet. „Social Innovations“
forcieren dagegen neue soziale und organisatorische Formen
und adressieren die Herausforderungen, mit denen wir gegenwärtig konfrontiert sind.
Im Unternehmenskontext sehen wir viele Möglichkeiten, uns an
der Entwicklung einer nachhaltigeren Gesellschaft zu beteiligen
und gleichzeitig den Wert eines Unternehmens zu steigern. Dies
ermöglicht es, den Grundstein für eine organische Entwicklung
unserer individuellen, organisatorischen und gesellschaftlichen
Systeme zu legen.
Die gesellschaftliche Herausforderung
Wir leben in einer Zeit des Umbruchs. Europas ökologischer
Fußabdruck beträgt gegenwärtig -2,4, das heißt, dass Europa
die Fläche von 2,4 Planeten nutzt, um den aktuellen Lebensstil aufrechtzuerhalten.1 Der ökologische Fußabdruck der USA
ist noch weitaus bedenklicher. Es ist offensichtlich, dass die
Menschheit ihren jetzigen Lebensstil nicht weiterführen kann.
Naturkatastrophen ebenso wie durch Menschen verursachte Katastrophen, die auf Ressourcenprobleme und gesellschaftliche
Unausgewogenheiten wie Kriege oder Terrorismus zurückzuführen sind, werden eher zunehmen. Wir müssen Wege finden,
die richtungsweisend für einen nachhaltigeren Lebensstil sind
– auf der individuellen, der organisatorischen und der gesellschaftlichen Ebene. Dabei spielt die Wirtschaft eine besondere
Bedeutung.
Unser modernes wirtschaftliches Paradigma erweist sich als
nicht nachhaltig, weder aus sozialer noch aus ökologischer
Sicht. Zwischen der Unfähigkeit eines Unternehmens zu nachhaltigem Handeln und dem Überwiegen kurzfristiger Finanzziele besteht offensichtlich ein Zusammenhang. Langfristig
ist davon auszugehen, dass die Unternehmen, die weiter dem
vorherrschenden Paradigma folgen, aufgrund der sozialen und
ökologischen Unausgewogenheiten mit hohen Kosten konfrontiert werden – seien es vorhersehbare Strafgelder oder Steuern
für CO2-Emissionen, erhöhte Energiepreise, Kosten aufgrund
von Ausfällen in Infrastrukturen oder auch Kosten, die durch
erhöhten sozialen und ökologischen Stress verursacht wurden,
zum Beispiel Burn-out oder andere gesundheitliche Probleme
der Menschen im 21. Jahrhundert. Unternehmen, die entsprechend langfristig denken und sich bereits heute nachhaltig aufstellen, sind für die Zukunft besser gerüstet. Unternehmen müssen daher zunehmend Faktoren in ihre Aktivitäten einbeziehen,
die bisher ausgeschlossen waren.
Das Dilemma der Unternehmen
Im Rahmen unserer Arbeit in verschiedenen Unternehmen haben wir ein sehr interessantes Phänomen entdeckt: Es klafft eine
Lücke zwischen individuellem Denken, individuellen Werten
und dem, was sich real in der Unternehmenswelt auf der institutionellen Ebene abspielt. Ein Beispiel: Viele Menschen nutzen
Solaranlagen für ihren Privathaushalt, achten auf gesunde Ernährung und zahlen auch gerne mehr Geld für nachweisbar fair
gehandelte Ware. Innerhalb ihres Unternehmens jedoch sind sie
getrieben von engen, profitorientierten Zielen und ignorieren
die Werte, die sie außerhalb des Büros gerne vertreten. Das ist
nicht die „Schuld“ der Mitarbeiter – das System ist zurzeit so gestaltet, dass zumindest im „business-as-usual“ kaum alternative
Handlungsspielräume zu finden sind.
Wir prognostizieren eine Änderung dieses Sachverhalts, wenn
Unternehmen künftige Marktchancen für ihre Investitionen
in „Social Innovations“ sehen könnten. Einige Unternehmen
­haben es geschafft, ihr geschäftliches Handeln auf innovative
Weise mit sozialen und ökologischen Lösungen zu verknüpfen
und ein gewisses Maß an Relevanz für die Gesellschaft und damit für künftige Märkte zu schaffen. Wir finden viele Beispiele
von großen Unternehmen, die in erneuerbare Energien investiert haben, beispielsweise durch das Aufbauen eigener Windenergieparks. Diese Beispiele zeigen, dass es darauf ankommt,
was wir in unsere Business Cases integrieren, damit wir unsere
Entscheidungen treffen können. In einer zunehmend vernetzten
Welt müssen diese Pläne angepasst und in einen breiteren Kontext integriert werden.
Es ist kein Geheimnis, dass wir auf globaler Ebene langfristig
auf eine Katastrophe zusteuern, wenn wir unser Verhalten nicht
ändern. Allerdings sehen wir viele ungeklärte Fragen in Bezug
1 Marc Luyckx Ghisi, The Knowledge Society – A Breakthrough toward
genuine Sustainability, 2008.
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Detecon Management Report • 1 / 2011
Strategy
darauf, was wir tun können, um die Arbeitswelt nachhaltiger
zu gestalten, und wie wir diesen notwendigen Wandel in Angriff nehmen können. Der wesentliche Grund für bestehende
Zweifel sind die gegenwärtigen Rahmenbedingungen, die nur
mäßigen Spielraum für Nachhaltigkeit lassen.
Was verstehen wir unter “Social Innovation“?
Der Begriff “Social Innovation“ („gesellschaftliche Innovation“)
balanciert den rein technologisch betrachteten Innovations­
begriff aus beziehungsweise integriert und erweitert diesen. Im
Feld der ICT gehen wir beispielsweise bewusst über die technischen Features einer Applikation hinaus und platzieren die
Anwendung im gesellschaftlichen Kontext. Hier steht im Fokus,
wie sehr die ICT unser gesellschaftliches Leben bereits verändert
hat und auch weiterhin verändern wird.
Die Überlegungen zu gesellschaftlichen Innovationen weiten
den Blick für neue gesellschaftliche Formen, die technologische
Innovationen durchaus nutzen, sie aber nur als Mittel und nicht
als Zweck gebrauchen. Gesellschaftliche Innovationen haben
immer den gesellschaftlichen Wohlstand beziehungsweise die
Erhöhung von Lebensqualität zum Ziel. Die Ausrichtung im
Innovationsprozess ist entscheidend. In der heutigen Zeit mangelt es weniger an technischen Machbarkeiten („technisch ist
fast alles möglich“) als an den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Und diese sind von uns selbst geschaffen – können aber
auch von uns wieder geändert werden. Ein wenig komplexes
und greifbareres Beispiel aus der Mikroebene ist die Einführung
von neuen Medien im Unternehmen: Wenn die Technologie
eingeführt ist, die sozialen Prozesse im Unternehmen aber die
gleichen bleiben, dann entfalten die neuen Technologien nicht
ihr Potenzial für Veränderung, Kreativität, Vernetzung, Querdenken, Kollaboration und letztendlich für eine neue Organisationsform. „Social Innovation“ zielen zusammenfassend auf
neue soziale Formen ab, die den aktuellen Bedürfnissen der
betroffenen Menschen besser entgegen kommen als die Vorgängerformen.
Das erfordert jedoch ein Umdenken beziehungsweise ein Denken über traditionelle Grenzen hinaus. Verfolgt man bisherige
Umsetzungen von Social Innovations, kommt man zu dem
Ergebnis, dass oft kleine Start-ups sowie Einzelpersonen oder
Haushalte eine zentrale Rolle gespielt haben. Beispiele aus der
heutigen Zeit für neue Organisationsformen sind Facebook
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Detecon Management Report • 1 / 2011
oder Wikipedia beziehungsweise viele andere ICT-basierte Anwendungen. In den meisten Fällen ist das am Anfang stehende
Motiv für Social Innovation nicht die Profitmaximierung. Oft
werden erst im Nachhinein wirtschaftlich erfolgreiche Modelle
abgeleitet. In erster Linie steht der soziale Wandel auf der Mikro- oder Makroebene.
In der klassischen Welt der Ökonomie finden bislang diese Art
von Social Innovations wenig Platz. Oftmals ist es ein „schöner Nebeneffekt, der für die Marketingstory gut ist“. Doch im
vorherrschenden wirtschaftlichen Paradigma resultiert das Handeln nicht aus dem Motiv heraus, die Gesellschaft zu verändern.
In Zukunft werden die Grenzen zwischen gesellschaftlichen und
technologischen Innovationen weiter verschwimmen. Einige
Unternehmen beginnen, diese Entwicklung aufzugreifen und
für sich zu nutzen.
Konzeptioneller Rahmen für
Corporate Social Innovation (CSI)
Unserem Unternehmensumfeld liegen ökonomische Prinzipien
zugrunde. Ziel eines wirtschaftlichen Unternehmens ist der
Gewinn, und Unternehmen werden nach ihrer Eigenschaft zur
Erzielung von Gewinn bewertet. Der ökologische und soziale
Einfluss ist – wenn überhaupt – bislang nur sekundär. Es besteht kein Zweifel, dass dies langfristig nicht nachhaltig sein
kann. Interessanterweise gibt es ein anderes System, das bereits
teilweise in einer Art Parallelwelt existiert und strukturell anders
organisiert ist. Dieses System ist die postindustrielle Gesellschaft
– für die es bereits viele Namen gibt, je nachdem aus welcher
Perspektive sie gesehen wird. Die neue gesellschaftliche Form
wird geprägt von Menschen und Netzwerken, die auf anderen,
sogenannten postmodernen Werten basierend leben, denken
und arbeiten. Aus unserer gegenwärtigen Perspektive integriert
dieses neue Paradigma zwei Erfordernisse des zukünftigen Überlebens: die nachhaltige Entwicklung zum einen und die Organisation im Einklang mit den Netzwerkprinzipien zum anderen.
Wenn wir über eine bewusste Mitgestaltung einer neuen Gesellschaft reden, dann besteht die Hauptforderung darin, gesellschaftliche und ökologische Nachhaltigkeit in die Gedanken
und Konzepte zu integrieren. Nachhaltigkeit ist der qualitative
Aspekt eines neuen Paradigmas und schafft einen Wertbeitrag
sowie eine klare Ausrichtung für die Gesellschaft als Ganzes.
Social Innovation
Wir glauben, dass Unternehmen sich so wandeln können, dass
sie in dem neuen Paradigma eine Funktion haben. Um die realistischen Schritte besser in Angriff nehmen zu können und die
organische Umwandlung, auf die wir abzielen, stärker zu betonen, ziehen wir es vor, über „nachhaltige Entwicklung“ als Prozess und nicht über das „nachhaltige Unternehmen“ als Zustand
zu sprechen. Wir haben bereits damit begonnen, praktische
Beispiele als „Samen“ zu konstruieren, wobei jeder Samen ein
neues nachhaltiges Ökosystem hervorbringt, welches in dem,
aus dem und für das Unternehmensumfeld sowie gesellschaftliche Umfeld arbeitet. Die folgenden Handlungsfelder können
als Beispiele betrachtet werden:
• Bildung: Bereitstellung von Bildungsplattformen, das heißt
jedem die Teilhabe an Bildung durch Bildungsdienstleistungen
zu ermöglichen.
• Demografische Entwicklung: Bereitstellung von Plattformen,
die sich an den Bedürfnissen der steigenden Anzahl älterer Menschen (Deutschland) orientieren.
• Gesundheit: Entwicklung von Märkten, die einen gesunden
Lebensstil fördern und einen gleichberechtigten Zugang zur gesundheitlichen Versorgung ermöglichen.
• Klimawandel: Entwicklung von Märkten, die die Umwelt
schützen und verbessern.
• Digitale Kluft: Entwicklung von integrierten Technologien,
die es allen Gesellschaftsschichten ermöglichen, jede dieser
Kluften effektiver zu überbrücken.
• Finanzwesen – Verteilung der Ressourcen: Den Mittellosen dazu
verhelfen, bankfähig, versicherungsfähig und unter­nehmerisch
zu werden.
• Bewusstseinsentwicklung: Entwicklung eines planetarischen
Bewusstseins, das stärker auf einen verantwortlichen Lebensstil
abstellt, weil der Mensch sich nicht nur mit seiner eigenen Kultur, sondern mit der Weltgesellschaft identifiziert.
Darüber hinaus sollten wir den „Wert“ der Nachhaltigkeit und
das stärker technisch und organisatorisch interpretierte Netzwerk und Wissen als zwei Seiten einer Medaille sehen. Das
Internet im Allgemeinen sowie das Web 2.0 und die sozialen
Medien im Besonderen ändern die Art und Weise, wie wir leben, arbeiten und uns selbst organisieren. Wir sehen, wie die
diversen sozialen Netzwerke für den privaten, geschäftlichen
und öffentlichen Sektor zunehmend an Macht und Bedeutung
Abbildung: Corporate Social Innovation: Übergang zwischen zwei Paradigmen
Einfluss
Moderne Industriegesellschaft
Corporate
Social
Innovation
Neue Wege des geschäftlichen Handelns in der
Gesellschaft, nachhaltige
Entwicklung
Postmoderne
Postindustrielle Gesellschaft
„Business as usual“ führt zu
einem negativen Fußabdruck
Agrargesellschaft
Zeit
Heute
Quelle: Inspiriert von Marc Luyckx Ghisi
33
Detecon Management Report • 1 / 2011
Strategy
gewinnen. Die Netzwerkgesellschaft basiert auf Beziehungen.
Immaterielle Vermögenswerte, zum Beispiel Beziehungen zu
Kunden und Lieferanten, nehmen stark an Bedeutung zu.
Ein wesentlicher Faktor für die Gestaltung von Beziehungen
und damit für die Erhöhung der immateriellen Vermögenswerte
ist die Kreativität und die Fähigkeit der Menschen, sich um der
Sachen willen zu verbinden und vernetzen, und damit ein Teil
eines größeren Mitgestaltungsprozesses zu sein. Der Austausch
von Wissen und Ideen leistet den wichtigsten Beitrag. Dies ist
eine echte Herausforderung für das alte Denken, das aus dem
Management knapper Ressourcen resultiert. Knappe Ressourcen werden durch den Austausch noch knapper. Wissen und
Ideen vermehren sich durch den Austausch. Manager müssen
ihre Rolle überdenken. Eine wertvolle Inspiration liefert das
„Management“ von Wikis. Hier gibt es einen Wiki-Gärtner, der
Inhalte und Ideen sät, jätet, umpflanzt, auslöst und befruchtet.
Manager müssen sich als Wegbereiter für selbstorganisierende
Wissensbildungsprozesse verstehen. Der Manager ist eher ein
Förderer und Unterstützer als jemand, der plant und kontrolliert. Wettbewerb erlangt somit eine andere Bedeutung. Diejenigen mit den besten Beziehungen und dem optimalen Weg,
Ideen und Wissen auszutauschen, sind diejenigen, die am besten
mit der Gesellschaft interagieren und innerhalb der Gesellschaft
eine klar definierte Rolle einnehmen. Interdisziplinäres Denken
und Handeln sind hierfür unumgänglich. CSI erforscht, wie
man von einem veralteten Paradigma zu einem neuen und angemesseneren gelangt.
Wir haben innerhalb unseres Unternehmens sowie bei Kunden Initiativen ausgelöst, die die gesellschaftliche Innovation
in den Vordergrund stellen. Die hervorgebrachten Ideen bauen
auf unseren und den Kernkompetenzen der Kunden auf, sind
­finanziell nachhaltig, zielen aber nicht primär auf die Erzielung
von Gewinn ab, sondern auf gesellschaftliche oder ökologische
Beiträge. Von Beginn an haben Kollegen und Kolleginnen aus
den unterschiedlichsten Bereichen die Initiativen aus eigener
Motivation vorangetrieben und nicht aufgrund materieller Anreize.
34
Detecon Management Report • 1 / 2011
Diese Initiativen mitsamt ihren Ergebnissen wären nie zustande gekommen, wenn wir nach dem Prinzip „business as usual“
und in den bestehenden formalen Strukturen gearbeitet hätten.
Diese Form der Selbstorganisation bringt die versteckten Energien zum Vorschein, die mit dem Prinzip des „business as usual“ nicht freigesetzt werden konnten. Wir sind jetzt an einem
Punkt angelangt, an dem wir das „unusual business“ in unsere
bestehenden Strukturen und die neuen oder bislang versteckten
Energien in einen organisatorischen Kontext integrieren.
CSI-Lab: Ideen- und Umsetzungsschmiede
Um für soziale Innovation einen geschützten Raum in Unternehmen verfügbar zu machen, schlagen wir vor, Raum für interne „Social Intrapreneurs“ zu schaffen. Dies ist ein Raum für
den Wandel, für eine organische Transformation in ein Unternehmen, das die nachhaltige Entwicklung unserer Gesellschaft
bewusst mitgestaltet. Dies ist ein Raum zum Experimentieren:
Was würde denn passieren, wenn Teile des Unternehmens sich
bewusst für ökologische und soziale Ziele einsetzen und nicht
primär auf Gewinn ausgerichtet wären?
Im „CSI-Lab“ werden projektbasierte Business Cases entwickelt, die eigenständig ablaufen, also in der Lage sind,
die Gewinnschwelle zu erreichen („schwarze Null“, die
­Investitionsausgaben sind abgedeckt). Gleichzeitig ist der soziale und ökologische Einfluss positiv. Denn die „schwarze Null“
kann auf unterschiedliche Weise erreicht werden: Aufgrund geringer Kom­plexität und keines zusätzlichen Bedarfs an Ressourcen und/oder der kostenfreien Verwendung bestehender Plattformen fallen für diese Cases keine zusätzlichen Ausgaben an.
Andere Cases hingegen erfordern Investitionen, können aber
die ­Investitionsbeträge selbst beisteuern, und zwar durch Umsatzgenerierung, zusätzliche Kosteneinsparungen oder durch
die Ersetzung anderer Maßnahmen eines ähnlichen Bereichs
Social Innovation
mit einem größeren Einfluss. Die Beteiligungen der Anteilseigner werden durch die ersten Schritte nicht beeinträchtigt. Doch
während der weiteren Schritte muss zumindest ein Anstieg des
immateriellen Werts nachgewiesen werden.
Der Raum zum Experimentieren kann sich ausweiten, wenn
die immateriellen Vermögenswerte weiter an Bedeutung zunehmen und wenn die Anteilseigner und der Markt sowie die
Gesellschaft die Bedeutung der CSI-Cases bestätigen. Wir gehen davon aus, dass hierdurch die Beziehungen zu den Kunden verbessert werden können, was letztlich eine Änderung der
Wahrnehmung seitens der Anteilseigner hervorruft. Darüber
hinaus kann beispielsweise die Innovationskraft eines Unternehmens steigen, da „um andere Ecken gedacht“ wurde und
Ideen auch im „business-as-usual“ verwertet werden können.
Ebenfalls haben wir die Erfahrung gemacht, dass Mitarbeiter
durch dieses Thema ihren Job aus der Sinn-Perspektive neu
definieren, was auf die Mitarbeitergewinnung und Mitarbeiterbindung positive Auswirkungen hat. Und nicht zuletzt besteht
ein Zusammenhang zwischen zufriedenen Mitarbeitern und der
Kundenzufriedenheit.
Unser Konzept für Social Innovation geht weit über den gegenwärtig vorherrschenden CSR-Ansatz der Unternehmen hinaus.
Trotz der Inspiration durch Muhammad Yunus‘ Ansatz des Social Business unterscheidet sich dieses Konzept erheblich von
der eher engen Definition des „Social Business“, da der Unternehmer innerhalb des Unternehmens verbleibt. Wir schlagen
vor, das Veränderungspotenzial kreativer Geschäftsmodelle für
den Wandel der Unternehmen und ihrer kreativen Position in
der Gesellschaft zu nutzen.
­ iteratur
„Integral Enterprise“.2 Allerdings gibt es bislang wenig L
oder Erfahrungen, die den Weg vom alten zum neuen Paradigma beschreiben. Ziel des CSI-Labs ist die Entwicklung neuer
Management-Methoden, -Tools und -Begriffe, die das gegenwärtige Management-Dilemma besser adressieren und bewusst
über das Prinzip „business as usual“ hinausgehen. D
­ iese Entwicklungen bilden den Katalysator für neue Geschäfts­modelle,
die nach dem ­neuen Denkmuster einer nachhaltigen Wissensgesellschaft arbeiten.
Viel Raum für Neues
Wie könnte eine Zukunftsgesellschaft aussehen? Und woraus
würde der Beitrag der Geschäftswelt bestehen? Was wäre der
Beitrag des zukünftigen Beraters?
Es gibt viele offene Fragen und wir behaupten nicht, dass wir
für alle Fragen die erforderlichen Kenntnisse und Antworten
haben. Wir bewegen uns in Richtung eines neuen Paradigmas,
das die Rolle der Unternehmen innerhalb der Gesellschaft neu
definiert („Business-in-Society“). Hierzu erstellen wir eine Studie, die gemeinsam mit und für die Geschäftswelt und Gesellschaft verfasst wird. Wir möchten Mitgestalter eines Dialogs
darüber sein, wie unsere Zukunft aussehen könnte und was
die Geschäftswelt zu einer nachhaltigen Entwicklung beitragen
könnte. Wir wollen einen neuen Weg des geschäftlichen Handelns eröffnen, der auf gesellschaftliche Innovationen abzielt
und den Herausforderungen standhält, mit denen wir im 21.
Jahrhundert konfrontiert sind. Sollten Sie interessiert sein, sich
an diesem sozialen Innovationsprozess zu beteiligen, freuen wir
uns auf das Gespräch mit Ihnen.
Neuer Wissensfundus für “Social Innovation“
Das CSI-Lab sollte sich allerdings nicht nur der Entwicklung
neuer Cases widmen, die alternative Ergebnisse hervorbringen
und uns allmählich in Richtung Nachhaltigkeit führen, sondern
ganz bewußt die Schaffung eines neuen Wissensfundus zum
Ziel haben. Eine konstante Spirale, die sich von der Aktion zur
Reflektion und zurück bewegt, kann neues Wissen generieren,
das für Unternehmen einen großen Wettbewerbsvorteil darstellen wird.
2 Trans4m Institute for Social Innovation, Genf.
Diese neue Ausrichtung ermöglicht das Ausbalancieren des
geschäftlichen und technologischen mit den sozialen, ökologischen und kulturellen Beiträgen. Es gibt bereits viele
­Beschreibungen oder Vorstellungen von Unternehmen, die nach
dem neuen Denkmuster arbeiten – zum Beispiel das Konzept
[email protected]
Tanja Misiak ist Senior Consultant im Center of Excellence for Corporate
Responsibility. Sie arbeitet seit 2005 für Detecon und hat die Schwerpunkte
Projektkommunikation und Corporate Responsibility. Parallel ist sie Research
Associate am Trans4m Institute for Social Innovation mit Sitz in Genf. Sie hat
Betriebswirtschaft mit Schwerpunkt Unternehmensführung und Marketing
studiert und zuvor bei der Deutschen Telekom eine Ausbildung zur Industriekauffrau absolviert sowie als Marketing-Referentin gearbeitet.
Die Autorin bedankt sich herzlich bei Renata Zmrzla, Reza Moussavian und
Philipp Weiser für die konstruktive Unterstützung bei der Erarbeitung dieser
Publikation.
35
Detecon Management Report • 1 / 2011
Strategy
Falk Wöhler-Moorhoff, Dr. Britta Cornelius
Connected Energy
Innovationstreiber ICT – eine Branche vor dem Umbruch
Die Neuausrichtung auf regenerative Energien und die steigende
­Abhängigkeit der Energiewirtschaft von ­informations- und kommunikationstechnologischen ­Lösungen stellen Energieversorger und ­ICT
Unter­nehmen gleichermaßen vor akuten Handlungsbedarf.
36
Detecon Management Report • 1 / 2011
Connected Energy
o wie Larry Hagman alias J.R. Ewing vom prominenten
S
Fiesling der Fernsehserie ‚Dallas’ und Gesicht der amerika­
nischen Ölindustrie zum Besitzer der angeblich größten privaten Solaranlage der USA geworden ist, werden immer mehr
Menschen auf der ganzen Welt zu Erzeugern von regenerativer
Energie. Statt also Öldollar auf die Bank zu bringen, könnte
Hagman vielleicht in Zukunft den über den eigenen Bedarf
hinaus erzeugten Strom auf sein Energiekonto legen. Seine
­
Energiebank würde ähnlich dem Prinzip einer herkömmlichen
Bank kleine Energiemengen von privaten Erzeugern einsammeln und zum Beispiel den Verkauf an einer Strombörse übernehmen oder Transaktionsgeschäfte mit Finanzderivaten betreiben. Hagman könnte dann an den Gewinnen der Bank beteiligt
werden, was in etwa der Zinszahlung bei klassischen Geschäftsbanken entspricht.
Das Konto fungiert gleichzeitig als Verwahrungsort für den bedarfsweisen Abruf, ähnlich einem klassischen Girokonto. Hagman könnte beispielsweise sein Elektroauto betanken, wenn
die Sonne bei ihm nicht scheint. Das Auto wiederum bezieht
er von einem Energieunternehmen auf Basis eines zeitlich be­
fristeten Vertrages und einer monatlichen Mobilitätsrate, die
pauschal alle Leistungen wie Stromverbrauch, Instandhaltung
und Versicherung beinhaltet. Die Parallele zu Tarifmodellen aus
der Telco-Branche drängt sich hier auf. Und das ist nicht das
einzige Szenario aus dieser Welt, das in die Energiewirtschaft
Einzug halten könnte. Denn Informations- und Telekommunikationstechnologien (ICT) sind ein Schlüssel zur Beantwortung
einer der dringlichsten und am meisten diskutierten Fragen unserer Zeit: Wie versorgen wir uns in der Zukunft mit Energie?
Branchentransformation in der Energiewirtschaft
ist unumkehrbar
Der aktuelle World Energy Outlook der International Energy
Agency macht die gewaltige Herausforderung der zukünftigen
Energieversorgung deutlich: Geht man von plausiblen Annahmen über die wirtschaftliche Entwicklung aus, so wird der
­Primärenergieverbrauch weltweit bis zum Jahr 2030 um 45 Prozent zunehmen. In Asien und dem Mittleren Osten wird sogar
eine Verdopplung des Primärenergieverbrauchs erwartet (IEA
2008).
Mit stetiger Verknappung der fossilen Brennstoffe, die heute
noch über 80 Prozent des Energiebedarfs decken, steigen die
Kosten für deren Erschließung, Transport und Umwandlung
der Reserven – und damit auch die Endenergiepreise.
Zusätzlich wird es immer wahrscheinlicher, dass der größte Teil
des beobachteten Temperaturanstiegs auf der Erde durch die
erhöhte Konzentration von Treibhausgasen in der Atmos­phäre
zurückzuführen ist. Maßgeblich dafür verantwortlich ist die
Verwendung von fossilen Brennstoffen. Behalten sie ihre dominante Stellung in unserem Energiemix, gelten eine Temperatur­
erhöhung von 2-4°C und eine Erhöhung des Meeresspiegels um
20-60 cm bis zum Jahr 2100 als wahrscheinlich (IPCC 2007).
Damit drohen dramatische Folgen, die von der ­Verschlechterung
der Luft- und Wasserqualität, zerstörten Ernten, Insektenplagen
und Zunahme von Infektionskrankheiten über das Aussterben
unzähliger Tierarten bis hin zu sozialen Unruhen im Kampf um
knappe Ressourcen reichen.
Als eine Alternative zu fossilen Brennstoffen wird oft die
Nutzung von Nuklearenergie gesehen. Doch wären die in
­
den ­nächsten Jahrzehnten entstehenden Kosten der nuklearen
­Energieerzeugung, zum Beispiel für die Aufbereitung, Lagerung oder eventuell Wiederverwertung von Atommüll oder
den Rückbau von Atomkraftwerken, im heutigen Energiepreis
enthalten, wäre diese Energiequelle wahrscheinlich nicht konkurrenzfähig.
Insgesamt sind damit über 85 Prozent der im Moment genutzten Energiequellen als problematisch einzuschätzen. Künftig werden deshalb erneuerbare Energien, beispielsweise aus
Wind-, Solar- oder ­Wasserkraft, den Hauptanteil im Energiemix übernehmen müssen. Struktur und Mechanismen unserer
Energieversorgung werden sich dadurch drastisch verändern:
Sie wird volatiler und dezentraler. Zum einen ist nicht sicher
prognostizierbar, wann der Wind weht oder die Sonne scheint.
Zum anderen sind Anlagen zur Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien im Vergleich zu den heute zentral betriebenen
Großkraftwerken entweder kleiner und örtlich verteilt oder
weit von den Verbrauchszentren entfernt, wie etwa OffshoreWind­energieanlagen oder auch solarthermische Kraftwerke in
sonnenreichen Gegenden. Außerdem steht die Energie weniger gleichmäßig zur Verfügung. Dies führt zu einer wesentlich
­höheren Komplexität im Bereich der Lastregelung und Aufrechterhaltung der Netzstabilität.
Nötig wird ein Stromnetz, das flächendeckend mit Informations- und Kommunikationstechnik ausgestattet ist, um damit
Angebot und Nachfrage von Energie wirtschaftlich, zuverlässig
und nach ökologischen Gesichtspunkten steuern zu können.
Die Digitalisierung von Informationen und damit das Internet
als Übertragungsprotokoll zur Verbreitung und Verarbeitung
37
Detecon Management Report • 1 / 2011
Strategy
dieser Informationen werden mittelfristig zu einem wesentlichen Teil der Wertschöpfung von Energieunternehmen. In
zehn Jahren wird dieser Prozess der digitalen Vernetzung der
Energieversorgung in den meisten Industrienationen weit fortgeschritten sein – „Connected Energy“ ist dann Realität.
Innovationsdilemma der Energiewirtschaft und
Wachstumsoption für die ICT Branche
Damit steht die Energiewirtschaft vor einem Innovationsschub.
Innovation bedeutet Veränderung: Sie bietet Raum für Neugeschäft, kann aber auch eine Bedrohung darstellen. Insbesondere disruptive Innovationen, und dazu zählen Digitalisierung
und Internet, können weitreichende Folgen haben. Denn sie
führen nicht zu einer inkrementellen Verbesserung und damit
berechenbarem Status Quo, sondern substituieren es typischer
Weise durch Neues. Die Digitalisierung der Energiebranche ist
deshalb als disruptiv anzusehen, weil sie zu einer Erodierung
beziehungsweise Verlagerung bestehender Wertschöpfungsstrukturen führt: Weg von der linearen und zentral orientierten
Transportleistung hin zur flexiblen, dezentralen organisierten
Steuerung von Energieangebot und -nachfrage. Das Tückische
dabei: Solche Innova­tionen kündigen sich lange an, entfalten
ihre Wirkung aber oft schlagartig und unvorhergesehen. Aus
Sicht etablierter Energieunternehmen kann das einem Schwelbrand ähneln: Über lange Zeit ist nur leichter Rauch erkennbar,
aber wenn das Feuer sichtbar hervortritt, ist es zu spät und der
Brand ist nicht mehr zu löschen. Mit anderen Worten: Kommt
die Branchentransformation etwa durch einen externen Impuls plötzlich in Fahrt (zum Beispiel Änderung der Gesetzes­
lage), bleibt nicht mehr ausreichend Zeit, um sich an die neuen
Marktbedingungen anzupassen.
Die Liste der Firmen, die Opfer einer falschen Einschätzung von
Innovationen geworden sind, ist lang. Darunter befinden sich
prominente Beispiele wie die tradierte Enzyklopädie ­Britannica,
die nach über 200 Jahren erfolgreicher Firmengeschichte die
Auswirkungen der Digitalisierung unterschätzt hat und nur im
letzten Moment durch einen privaten Investor gerettet wurde.
Heute hat Britannica viele Prinzipien der Internet-Enzyklopädie Wikipedia übernommen, womit aus dem Marktführer ein
Marktfolger geworden ist.
Natürlich möchten Energieunternehmen einem solchen Schicksal entgehen. Hinweise darauf, welche Herausforderungen auf
die Energiebranche zukommen, liefert die ICT Industrie selbst.
Denn sie durchläuft bereits seit mehreren Jahren einen Transfor-
38
Detecon Management Report • 1 / 2011
mationsprozess wie er vom Grundprinzip auch in der Energie­
branche erwartet werden kann. Ausgangspunkt hierbei sind die
vielen Gemeinsamkeiten der ICT- und der Energiebranche, die
einen Branchenvergleich rechtfertigen:
• Traditionell herrschen in beiden Branchen investitions­
intensive Infrastrukturunternehmen mit regionaler beziehungsweise nationaler Prägung vor.
• Die Liberalisierung des Marktes führt zu steigender Wettbewerbsintensität; aus Anbieter-dominierten Märkten werden
Käufermärkte.
• Das Prinzip der Virtualisierung setzt sich durch, das heißt
die Abstraktion von Netz und Dienst als Folge von Digitalisierung, Deregulierung und Standardisierung (Internet als offener
Industriestandard).
• Dezentralisierung beziehungsweise ‚Demokratisierung’
kennzeichnen die Märkte; der Prosumer entsteht, das heißt
Konsumenten werden gleichzeitig zu Produzenten von Energie (zum Beispiel eigene Solarzellen) oder von Medieninhalten
(zum Beispiel Videos auf Youtube).
Es waren im Wesentlichen diese Faktoren, die das Gesicht der
ICT Branche grundlegend verändert haben und noch weiter
verändern werden. Telko-Unternehmen werden aus ihrem ureigenstem Kerngeschäft, der Kommunikation, mehr und mehr
von Internetfirmen verdrängt. Die Kommunikation verlagert
sich immer mehr auf Internet-basierte soziale Netzwerke. An
diesem Geschäft sind die Telekommunikationsunternehmen
nur noch indirekt beteiligt, indem sie die Internetanschlüsse
verkaufen.
Auf der anderen Seite hat das Internet der ICT Branche zu
neuen Marktchancen verholfen, wie das Beispiel Unterhal­
tungsmedien zeigt: Alle führenden Telko-Unternehmen nutzen
heute die internetbasierte Netz- und Übertragungstechnologie,
um als TV-Plattformanbieter zu agieren. Damit konkurrieren
sie mit Kabelnetz- und Satellitenbetreibern, also den bisherigen
Größen der Medienindustrie.
Diese Beispiele machen drei wesentliche Punkte deutlich:
(1) Die klassischen Branchengrenzen verschwimmen. ­Dadurch
werden Wettbewerbspositionen undeutlicher. Sogenannte ­Co-opetition-Modelle bilden sich heraus, bei denen zwei
Connected Energy
Marktteilnehmer in bestimmten Bereichen konkurrieren,
während sie in anderen partnerschaftlich zusammenarbeiten.
Im Fall der ICT- und Energiebranche haben Vertreter beider
Gruppen die Möglichkeit, in Geschäftsbereiche des jeweils anderen einzudringen. Bereits heute bieten Energieunternehmen
Smart Home-Lösungen an, die im originären Marktumfeld der
Telekommunikationsunternehmen liegen. Umgekehrt lancieren Telekommunikationsunternehmen eigene Smart MeteringAngebote, die je nach Leistungsumfang in die Wertschöpfung
der Energiebranche hineinreichen können.
(2) Die Markteintrittsbarrieren sinken. Branchenfremde Wettbewerber erhalten plötzlich einen Marktzugang und greifen
mit Alternativangeboten, die relativ zur Leistung kostengünstiger sind, das Geschäft der etablierten Firmen an. Internet­
firmen könnten beispielsweise versuchen, ihre erfolgreichen Geschäftsmodelle auf die Energiebranche zu übertragen. Google
ist mit dem ‚Power Meter’, einer Art Portallösung für Energieverbrauchsdaten, bereits am Markt aktiv. Das ist zurzeit noch
harmlos. Doch sollte Google eines Tages auf die Idee kommen,
durch Werbung quersubventionierte Energieprodukte über
den Vertriebsweg Internet selbst zu vermarkten, entsteht eine
direkte Konkurrenz zu den etablierten Energieversorgern. Ein
solches Szenario scheint heute vielleicht unwahrscheinlich. Aber
Google würde nicht zum ersten Mal die Strategien führender
Unternehmen auf spektakuläre Weise demontieren. So musste
beispielsweise Nokia eine milliardenschwere Investition in digitales Kartenmaterial abschreiben, als Google einen eigenen
Geodatendienst kostenlos, weil werbefinanziert, zur Verfügung
stellte. Nokia’s klassisches Bezahlgeschäftsmodell wurde damit
nur Monate nach der Investition schlagartig ausgehebelt.
(3) In der künftigen Connected Energy-Wertschöpfungskette
wird sich die Aggregationsfunktion als feste Größe etablieren.
Was das bedeutet, zeigt wiederum ein Vergleich mit der ICT
Branche. Der phänomenale Erfolg selbstproduzierter Videos
wäre nicht ohne internetbasierte Aggregationsplattformen wie
Youtube möglich gewesen. Auch Facebook übernimmt dem
Prinzip nach eine Aggregationsfunktion – nur dass sie nicht
­Medieninhalte, sondern Einzelbeiträge der sozialen Interaktion
an zentraler Stelle bündelt. Übertragen auf die Energiewirtschaft
sind Gegenstand der Aggregation kleinteilige Energiemengen,
die nur dann einem weiteren Verwendungszweck sinnvoll zugeführt werden können, wenn sie ein bestimmtes Volumen erreichen. Im Zuge der Dezentralisierung der Energiewirtschaft wird
es an verschiedenen Stellen zu diesen verteilten Energiemengen
kommen: Bei der Eigenenergieerzeugung privater Haushalte
oder im Rahmen der aufkommenden Elektromobilität, wenn
zukünftig mittels ICT die Energie in A
­ utobatterien zu einem
großen Stromspeicher virtuell verknüpft werden; die eingangs
erwähnte Energiebank verfolgt natürlich ebenfalls das Prinzip
der Aggregation, indem sie die Energieguthaben ­privater ‚Anleger’ akkumuliert.
Angesichts der beschriebenen Szenarien stehen Unternehmen
beider Branchen vor wichtigen strategischen Fragestellungen.
Für die Energiebranche ist die Vorstellung über Ausmaß und
Reichweite der Wirkung von Digitalisierung und Internet oft
noch schwer greifbar. Dabei verleitet der bislang eher mäßige
Erfolg von Konzepten wie Smart Metering zu der Annahme,
dass man die Marktentwicklung zwar im Auge behalten muss,
unmittelbarer Handlungsbedarf jedoch nicht besteht. Zusätzlich sind insbesondere bei den kleineren Energieversorgern
die Ressourcen für eine intensivere Beschäftigung mit der innovativen Thematik oft nicht ausreichend vorhanden. Es besteht also die Gefahr, dass strategische Weichenstellungen
nicht früh genug erfolgen. Insofern ist es zunächst wichtig, die
­Veränderungsdynamik und die damit einhergehende Marktreife
besser zu verstehen.
Für ICT Unternehmen geht es weniger um existentielle
­Herausforderungen. Im Vordergrund steht die Frage, inwieweit
die Konvergenz von ICT- und Energiebranche neue Wachstumschancen bietet. Beispielsweise ist heute noch gänzlich
unklar, wer sich in den neu entstehenden Märkten der oben
beschriebenen Aggregationsfunktion durchsetzen wird. Für Telko-Unternehmen wäre diese Rolle naheliegend, da sie beispielsweise als IPTV-Anbieter schon als Aggregator fungieren. Auch
Internetfirmen werden sich berufen fühlen. Amazon hat zum
Beispiel neben seinem Online Shopping Portal ein lukratives
Zweitgeschäft im Bereich des Cloud Computing aufgebaut, indem sie die Nachfrage nach Rechenleistung bündeln und die eigene unausgelastete Rechenzentrumsleistung über das Internet
zur Verfügung stellen. Das dabei erworbene Know-how ähnelt
den Kompetenzen, die für das Geschäftsmodell einer Energiebank erforderlich wären.
Einschätzung der Marktdynamik wird zum Erfolgsfaktor
Die Notwendigkeit zur Neuausrichtung auf regenerative Energien und die steigende Abhängigkeit der Energiewirtschaft von
ICT Lösungen sind ein Faktum. Für Energieversorgungs- und
ICT Unternehmen gleichermaßen stellt sich daher nicht die
Frage, ob Handlungsbedarf besteht, sondern wann der rich-
39
Detecon Management Report • 1 / 2011
Strategy
tige Zeitpunkt zum Handeln ist. Aufgrund der regional zum
Teil sehr unterschiedlichen Rahmenbedingungen lässt sich
eine solche Einschätzung allerdings nicht pauschalisieren. Eine
­Betrachtung der relevanten Einflussgrößen hilft aber bei der Beurteilung.
Zu den regional abhängigen Parametern zählen vor allem der
regulatorische Rahmen, die Gesetzeslage und damit zusammenhängend die vorherrschende Marktstruktur. In nicht liberalisierten Märkten kann die Marktentwicklung unter Umständen
beschleunigt werden, da Maßnahmen ‚von oben’ angeordnet
werden können. Die flächendeckende Einführung von Smart
Metering in Italien ist ein solches Beispiel. Andererseits
­beflügeln die Marktkräfte Innovationen überall dort, wo Wettbewerb herrscht. Nur die auf Dauer kommerziell tragfähigen
Lösungen setzen sich durch. Smart Metering beispielsweise hat
sich bislang schwer getan, diesen Nachweis zu liefern. Hauptgrund sind die vergleichsweise geringen Kosteneinsparungen,
die ungenügend Anreiz für die Mehrinvestition in digitale
Zähler bieten. Der Business Case wird sich jedoch dann positiv
verändern, wenn die Energiekosten steigen, und dadurch das
Einsparpotenzial stärker ins Gewicht fällt. Dieser Trend ist in
vielen Ländern deutlich erkennbar, denn auch indirekte Energiekosten, die zum Beispiel durch die Umlage von Kosten einer
energieeffiziente Gebäudesanierung oder der Erhöhung des Anteils erneuerbarer Energien entstehen, rücken immer stärker ins
Blickfeld.
Weiterhin erkennen immer mehr Länder, dass Energiesparen
nicht nur aus Gründen des Umweltschutzes notwendig ist,
sondern auch wirtschaftliches Potenzial birgt. Zum Beispiel
hat Russland gesetzlich festgeschrieben, den Energieverbrauch
bis 2020 um 40 Prozent gegenüber dem Jahr 2007 zu senken.
Denn trotz der reichlich verfügbaren Rohstoffe im eigenen
Land steht eingesparte Energie als kommerziell vermarktbares
Exportgut zur Verfügung.
So ist davon auszugehen, dass der politische Wille zur Erhöhung der Energieeffizienz zu gesetzlichen Anordnungen und zu
mehr Marktanreizen zwecks Schaffung kommerziell trag­fähiger
­Lösungen führt. Bei Letzterem kommt es vor allem auf die Wirksamkeit dieser Regelungen an, die zum Beispiel in Deutschland
noch verbesserungswürdig sind, um Voraus­setzungen für eine
beschleunigte Marktentwicklung im Sinne der ambitionierten
Klimaschutzziele zu schaffen.
40
Detecon Management Report • 1 / 2011
Neben den aufgezeigten inkrementellen Entwicklungen kann es
auch zu kaum vorhersehbaren Einzelereignissen kommen, die
zur Beschleunigung der Marktentwicklung führen. Als Beispiel
aus der ICT Branche sei das iPhone genannt, welches den Markt
für Mobiltelefone und insbesondere für das mobile I­nternet
revolutioniert hat. Ein weiteres Beispiel aus dem Bereich der
Medien sind dreidimensionale Bewegtbildformate. Obwohl als
Technologie seit Jahren bekannt, hatte 3D erst durch den Kinohit ‚Avatar’ seinen Durchbruch. Auch Voice-over-IP (Internet­
telefonie) war als Technologie Jahre zuvor bekannt, bevor es eine
nennenswerte Verbreitung im Markt erfuhr.
Diese Beispiele zeigen, dass die Adaption einer Innovation nicht
nur vom jeweiligen Kundennutzen abhängt, sondern auch
von den Kontextfaktoren. Internettelefonie setzt beispiels­weise
­voraus, dass eine ausreichende Anzahl von Anwendern über
­einen Internetanschluss verfügt, was wiederum von den ­Kosten
für Internetanschlüsse abhängt. Wenn dann eine kritische
­Masse erreicht ist, kann ein sich selbst verstärkender Prozess in
Gang kommen, der die Geschwindigkeit der Marktentwicklung ­exponentiell erhöht. Derartige Verläufe sind auch in der
Energie­branche in der Zukunft wahrscheinlich, berücksichtigt
man die Parallelen der beiden Industrien.
Maßgebliche Einflussfaktoren sind außerdem das Kundenverhalten und die Technologieentwicklung. Sie wirken ­prinzipiell
additiv zu den übrigen Faktoren. Entscheidend ist an dieser
Stelle: Die eigentliche Innovation, Digitalisierung gepaart mit
dem Internetprotokoll, ist bereits da. Wie schnell sie sich durchsetzt, hängt von vielen Faktoren ab. Bei günstigen Bedingungen
kann es sehr schnell gehen.
Nichtstun ist keine Option
Vorbereitung ist also das Gebot der Stunde. Nichts zu tun,
wäre fahrlässig, besonders aus Sicht der Energieunternehmen,
bei denen es langfristig um nicht weniger als die Sicherung des
Kerngeschäfts geht. Andererseits sollte blinder Aktionismus
vermieden werden, der zu kostspieligen Fehlinvestitionen führen kann. Ratsam ist stattdessen eine ausreichend tiefe Analyse
des Marktes, die eine Prognose wahrscheinlicher Marktszenarien und deren Auswirkungen auf das Unternehmen zulässt.
Zur laufenden Beobachtung der Marktentwicklung können
erprobte Verfahren wie Innovationsradare eingesetzt werden,
die neue Markt-, Produkt- oder Technologieentwicklungen
Connected Energy
41
Detecon Management Report • 1 / 2011
Strategy
Die Stadtwerke Münster mit smartOPTIMO sind ein Best Practice-Beispiel. Die Relevanz des Themas
wurde frühzeitig erkannt und zog die Gründung von smartOPTIMO nach sich. Hierdurch steht ein
­flexibles Unternehmenskonstrukt zur Verfügung, das Innovation im Zusammenhang mit Smart Energy
auf Basis einer gewissen Eigenständigkeit (GmbH & Co. KG) weiterentwickelt und neue Geschäftsbereiche erschließt.
Die Energiewelt wird sich im Verlauf der kommenden zehn Jahre zu ­einer neuen Energiewelt, genannt
Smart Energy, wandeln. Smart ­Meter, ein Teil dieser Energiewelt, sollen den Energieverbrauch ­bewusst
machen und gleichzeitig die Möglichkeit schaffen, diesen zu beeinflussen. Während ein Smart M
­ eter
Basis unter anderem bei Neuanschlüssen gemäß § 21b EnWG einzubauen ist, setzen Smart Meter
Mehrwertprodukte auf den Funktionen eines Basiszählers auf: Detaillierte Visualisierungen oder weitere
Mehrwertdienstleistungen für Web-Portal, iPhone oder Fernseher auch für eigenerzeugte Energie.
Neben der Einbauverpflichtung für Smart Meter müssen Energieversorger seit 2010 Tarife anbieten,
die Anreiz zum Energiesparen oder zur Energieverbrauchsverlagerung geben (§ 40 EnWG). Im ersten
Schritt kommen zeitvariable Tarife zur Anwendung. Mit dem Ausbau einer bidirektionalen Fernanbindung sind auch lastvariable Tarife denkbar. Frühzeitig und erfolgreich vermarkten die Stadtwerke
­Münster bereits seit dem 2009 ein Mehrwertprodukt „Münster: transparent“. Der Kunde hat die Möglichkeit, in einem Web-Portal detailliert seine Energieverbräuche zu analysieren, er hat mehrere Tarifzeiten, die einen intelligenten Einsatz der Hausgeräte attraktiv machen sowie weitere ­Zusatzfunktionen.
Partner der Stadtwerke Münster ist das Unternehmen smartOPTIMO, welches im Jahr 2009 zusammen mit den Stadtwerken Osnabrück mit rund 70 Mitarbeitern gegründet wurde. Diverse weitere Versorgungsunternehmen aus mehreren Bundesländern sind inzwischen Gesellschafter beziehungsweise
Kunden geworden. Die Vernetzung mehrerer partizipierender Stadtwerke bietet deutliche Wettbewerbsvorteile, die allein nur schwer erzielt werden könnten. Die Idee von smartOPTIMO ist das Angebot
zukunftsfähiger, individueller Lösungen und Geschäftsmodelle für die Anforderungen des Zähl- und
Messwesens unter Einsatz effizienter Kompetenz- und Technologieplattformen in einem Netzwerk kommunaler Partner der Energiewirtschaft. So arbeitet smartOPTIMO durch die enge operative und strategische unternehmensweite Abstimmung mit den Vertrieben und Netzen praxisnah in der Entwicklung
und Umsetzung von Geschäftsmodellen und Konzepten rund ums klassische und smarte Messwesen.
Aus Sicht des Gesamtunternehmens erlaubt Smart Metering ­Effizienzsteigerungen und bietet – richtig
verstanden und eingesetzt – die Chance, die Kundenbindung zu erhöhen und die eigene Wettbewerbsposition zu verbessern. Mit einem starken Partner wie smartOPTIMIO reduzieren sich die Risiken wie
zum Beispiel hohe erforderliche Einmalinvestitionen für IT, Datenübertragung und Vertriebskonzepte.
Gleichzeitig können Erfahrungen bezüglich des neuen Mediums, Schnittstellen, Prozessen und Erfolgsfaktoren – gerade auch an der Schnittstelle zum Kunden – ausgetauscht werden. Es ist zu erwarten, dass
das „Smart Energy“ die Energiewelt ähnlich stark beeinflussen wird, wie das Internet die Informations-,
Geschäfts- und Freizeitwelt. Es ist daher wichtig, sich mit dem Thema Smart Metering frühzeitig zu
befassen, um nicht den Entwicklungen hinterher zu laufen. So wird zum Beispiel mit dem 3. EUEnergiemaßnahmenpaket ein Anteil an intelligenten Messsystemen (Strom) in Höhe von 80 Prozent bis
zum Jahr 2020 angestrebt.
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Detecon Management Report • 1 / 2011
Connected Energy
systematisch zeitlich erfassen und nach definierten Kriterien
strukturieren. Auf die antizipierte Marktentwicklung kann sich
das Unternehmen dann durch geeignete Maßnahmen vorbereiten. Zum Beispiel können eigenständige Geschäftseinheiten
gegründet werden, die weitgehend losgelöst von den bestehenden Unternehmensprozessen flexibel agieren können, um innovative Geschäftsansätze ohne Beeinträchtigung des Stammgeschäfts weiterzuentwickeln. Da das Neugeschäft typisches ICT
Know-how wie Software-Entwicklung oder Datenverarbeitung
erfordert, was außerhalb der Kernkompetenzen der Energieunternehmen liegt, wird das Partnering künftig einen größeren
Stellenwert einnehmen. Dabei sollte es in der Zusammenarbeit
auch mit branchenfremden Unternehmen keine Berührungsängste geben.
Insbesondere Energieunternehmen sollten Vorbereitungen für
den Umgang mit Nutzer- und Nutzungsinformationen treffen. Das betrifft die technischen und organisatorischen Anforderungen, die aus der Verarbeitung der stetig wachsenden
Datenmengen resultieren. Das betrifft aber vor allem auch die
kommerzielle Verwertung des neuen Rohstoffs ‚Information’.
Die Aufmerksamkeit sollte sich zum einen auf die Evaluierung
neuer Geschäftsmodelle richten. Dabei sollten vor allem werbefinanzierte Ansätze geprüft werden. Denn neben der Werbung
hatte bislang kaum eine andere Form der Monetarisierung im
Internet nachhaltig Erfolg. Zum anderen lassen Nutzungsdaten interessante Rückschlüsse auf das Kundenverhalten zu.
Energieunternehmen wissen heute in der Regel kaum etwas
über ihre Kunden. Doch dieses Wissen ist Gold wert. Wenn
es ­systematisch generiert und genutzt wird, können differenzierte Kundensegmente bedarfsorientiert angesprochen werden.
In diesem Zusammenhang sind aktives Customer Relationship
Management (CRM), Innovations- und Produktmanagement
sowie Marktsegmentierung Themen, mit denen sich Energieunternehmen in der Zukunft intensiv auseinandersetzen müssen.
gelingt, den ICT Energiekonvergenzmarkt als Partner der Energiewirtschaft zu bedienen, beispielsweise in der Rolle des
Enablers mit Angeboten in den Bereichen Datenmanagement
und -kommunikation, möglicherweise auch Abrechnung und
Inkasso. Kooperationsmodelle sind im Bereich Smart Home
denkbar: Telekommunikationsunternehmen könnten beispielsweise neben den eigenen Endkundenangeboten auch Energie­
unternehmen gegen Entgelt eine Plattform für deren Angebote
zur Verfügung stellen. Inwieweit es für Telekommunikationsunternehmen sinnvoll ist, tiefer in die originäre Wertschöpfung
des Energiesektors zu integrieren, muss vor dem Hintergrund
der eigenen Unternehmensstrategie und einer dynamischen
Prognose über die Anzahl der Larry Hagmans dieser Welt beurteilt werden.
Falk Wöhler-Moorhoff ist als Managing Consultant im Bereich Strategy
& ­
Marketing mit den Schwerpunkten Geschäftsinnovation und Industrie­
konvergenz tätig. Bevor er 2001 zu Detecon kam, arbeitete er drei Jahre für ein
­deutsches Unternehmen in Singapur und zwei Jahre für ein Internet Start-Up.
Herr Wöhler-Moorhoff hält einen MBA.
[email protected]
Dr. Britta Cornelius ist Consultant im Bereich Strategy & Marketing. Ihre
­Beratungsschwerpunkte umfassen die Bereiche Business Innovation, Marketingstrategie und quantitative Marktforschung. Vor ihrer Tätigkeit bei der D
­ etecon
studierte sie Betriebswirtschaftslehre und promovierte an der Johann-Wolfgang-Goethe Universität in Frankfurt im Bereich Marketing zu den Themen
­Wett­bewerbspositionierung und kundenorientierte Neuproduktentwicklung.
[email protected]
Wir danken Herrn Dr. Fritz Wengeler, Geschäftsführer der smartOPTMO
GmbH & Co. KG, für die Unterstützung bei diesem Beitrag.
ICT Unternehmen haben den Vorteil, dass sie bereits auf Erfahrungen mit der Digitalisierung und der damit verbundenen
Branchentransformation zurückgreifen können. Diesen Vorteil
gilt es zu erkennen und konsequent zu nutzen. Ihr Geschäftserfolg wird maßgeblich davon abhängen, inwieweit es ihnen
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Detecon Management Report • 1 / 2011
Organization
Chin-Gi Hong, Rajat Mukherjee
Im Auge des Betrachters
Zukunftsszenarien für unser Leben in Augmented Realities
Die futuristischen Visionen, die vor Jahrzehnten von Science-Fiction-­Autoren
entworfen wurden, sind kurz davor, Realität zu werden. Auch wenn das Konzept der Augmented Reality zur Zeit noch in den Kinderschuhen steckt, schreitet die Entwicklung in großen Schritten voran und hat bei Software-, Content-,
Hightech- und Telco-Playern begeisterten ­
Anklang gefunden. Augmented
­Reality verspricht, die Welt, wie wir sie kennen, neu zu formen und die Art,
wie wir in dieser Welt sehen, handeln und leben, auf Dauer radikal zu ändern.
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Detecon Management Report • 1 / 2011
Rationale Partnerwahl
ir befinden uns in Los Angeles und schreiben das Jahr
W
1995. Zuckende Blitze schlagen zwischen zwei auf einem dun-
klen Parkplatz stehenden LKW-Anhängern ein. Eine Art zirkulierender Energiestrahl schießt in die Luft und entlädt sich
in Donnerschlägen. Die elektrische Energie verpufft und wir
sehen einen muskulösen Mann, der nackt auf der Erde kniet.
Er wurde offensichtlich durch ein Energie-Tor in unsere Welt
teleportiert. Als der Mann sich aufrichtet und emotionslos seine
Umgebung sichtet, merken wir, dass unser Blick nicht auf ein
menschliches Wesen, sondern auf einen Cyborg gerichtet ist:
der T-800 oder besser bekannt als Terminator.
Der Terminator startet seinen <acquire transport>-Modus und
läuft in Richtung Trucker-Bar. Vor der Bar entdeckt er Motor­
räder und die Applikation liefert ihm die gewünschte Information über die Modelle und sonstige technische Spezifikationen.
Beim Betreten der Bar schaltet der Terminator in den Betriebsmodus <size assessment> und scannt die an ihm vorbeigehenden Personen. Schließlich entdeckt er einen kantigen Biker
mit denselben Körpermaßen und die Applikation liefert ihm
das gewünschte Ergebnis: <initial match suitable: match probability 99>. Er richtet sich in voller Größe vor dem Typen auf
und bringt seine Forderung hervor: „Gib mir deine Klamotten,
deine Stiefel und dein Motorrad“.
Hasta la Vista, Baby – Wenn aus Science Fiction
(augmentierte) Realität wird
Weltweit werden sich die Zuschauer an diese berühmte Szene
aus dem aktionsgeladenen Hollywood-Blockbuster „Terminator 2: Tag der Abrechnung“ erinnern. Im Nachhinein fragt sich
vielleicht manch einer verwundert, ob die Drehbuchautoren
William Wisher Jr. und James Cameron jemals im Traum daran
gedacht haben, dass ihre fiktionale Vision davon, wie der Terminator seine Umgebung wahrnimmt und interpretiert, eines
Tages tatsächlich Realität werden könnte. Und die beginnt in
der Tat jetzt.
Als ein zentraler Fokus innerhalb der ICT und benachbarter
Branchen ist das Konzept der Augmented Reality (AR) – der
offizielle Begriff des zuvor beschriebenen Konzepts – kurz davor, allgegenwärtige Marktrealität zu werden und bewegt sich
in großen Schritten auf den etablierten Bereich kommerzieller
Anwendungen zu. Das häufig verwendete Disney-Zitat „Wenn
du es dir vorstellen kannst, kannst du es auch machen“ scheint
sich einmal mehr zu bewahrheiten – und überraschend für
die meisten, wenn nicht für alle, ist die Tatsache, wie weit die
Menschheit in dieser zunehmend vernetzten und digitalisierten
Welt vorangekommen ist.
Die möglichen Anwendungsfälle und Anwendungen, die auf
AR basieren, sind potenziell endlos und das zugrunde liegende
Markt- und Geschäftspotenzial ist dementsprechend vielversprechend. Laut Gartner werden bis 2014 mehr als 30 Prozent
der „Mobile Worker“ AR-Anwendungen nutzen. Für dasselbe
Jahr schätzen die Analysten von ABI Research, dass AR einen
Umsatz von fast 350 Millionen US-Dollar generieren wird. Ein
Blick auf diese Zahlen zeigt, dass es sich bei AR nicht nur um
ein Modethema, sondern um eine disruptive Technologie handelt, bei der davon auszugehen ist, dass sie den kommerziellen
Markt stark durchdringen und grundlegende Änderungen innerhalb unserer Informationsgesellschaft bewirken wird.
Abbildung 1: Auswahl von Internet-Videos über Augmented Reality-Technologien und -Anwendungen
Wer
Was
Video-Titel auf YouTube
Layar
AR-Browser
Layar, worlds first mobile Augmented Reality browser
World Lens
AR-Übersetzung
Introducing Word Lens
BMW
AR-Mechanismus
BMW augmented reality
Fujikawa
AR-Brillen
AWESOME Augmented reality Glasses „StarkHUD 2020“ from
FUJIKAWA
GM
AR-Windschutzscheibe
GM previews augmented-reality windshield
Touch
AR-basiertes POS-Marketing
Tissot Augmented Reality
IKEA
AR-basierter Produktkatalog
IKEA augmented reality demo
TUM
Medizinische AR
MAR: Volume Rendering in High Quality Visualization
Keine Angabe
AR-Gaming
Augmented Reality Game Example – Future of Augmented Reality
Gaming
Keine Angabe
AR-Mode
Life Size Augmented Reality Fashion Show
Quelle: Detecon
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Detecon Management Report • 1 / 2011
Organization
„Context is King“ lautet das neue Mantra
Der Begriff „Augmented Reality“ wurde 1990 von Thomas
Caudell geprägt, der zu diesem Zeitpunkt bei Boeing beschäftigt war. Im Gegensatz zu dem Konzept der virtuellen Realität,
die per definitionem als vollständig künstlich bezeichnet wird,
kombiniert AR die virtuelle Welt mit der realen Welt durch
semantische Überlagerungen computergenerierter Informa­
­
tionen und Inhalte in Echtzeit, und zwar in Form von Texten,
Grafiken, Bildern, Audio und Video. Mit AR wird die physische
Umgebung digital angereichert beziehungsweise manipuliert.
Durch die Überlagerung einer digitalen Schnittstelle und die
Bereitstellung interaktiver Mittel werden virtuelle Elemente in
einen Kontext zur Realität gesetzt.
Die von AR derzeit ausgehende Dynamik ist größtenteils auf
technologische Fortschritte zurückzuführen, zum Beispiel das
verstärkte Aufkommen einer neuen Generation leistungsstarker
Mobilgeräte mit höheren Rechenleistungen, hochentwickelten
Displays, Sensor- und Kamera-Technologien sowie verbesserten
Netzwerkfähigkeiten in puncto Bandbreite aufgrund neuer
Standards und Protokolle. Obwohl Konzept der AR und erforderliche Technologien schon eine Weile existieren, hat sich
die kommerzielle Umsetzung bislang als schwierig erwiesen.
Das liegt in erster Linie daran, dass die mobilen Grafikprozessoren (GPUs) bislang nicht leistungsstark genug waren, um die
Bildverarbeitung durchzuführen (zum Beispiel Rand- und Kan-
tendetektion), die für die Entwicklung immersiver AR-Anwendungen erforderlich ist. Hinzu kommt, dass AR-Anwendungen
Standort- und Orientierungsdaten benötigen und dass die Sensoren, die ­diese Daten liefern, nämlich GPS-Empfänger, digitale
Kompasse, Accelerometer, erst seit Kurzem zur Standardausrüstung der Smartphones gehören. Erst jetzt werden diese Engpässe allmählich beseitigt.
Mit AR bewegen wir uns unweigerlich in Richtung einer digitalisierten Welt. Die ständig steigende Vernetzung persönlicher,
beruflicher und öffentlicher Räume wird sich in den nächsten
20 Jahren gravierend auf unser Leben auswirken, wobei die
Wegbereitung für als auch das Schaffen von Vertrauen und
Möglichkeiten in einer digitalen Gesellschaft 2032 durch die
richtigen regulatorischen Rahmenbedingungen ermöglicht und
gefördert werden müssen.
Das AR-Ecosystem und die zugrunde liegenden Technologien
Das AR-Ecosystem ist gegenwärtig stark fragmentiert und besteht aus vielen relativ kleinen und unabhängigen Playern,
deren Aktivitäten sich auf Nischenbereiche konzentrieren. Generell lässt sich das Ecosystem in vier Kategorien unterteilen:
AR-Hardware-Anbieter, AR-Toolkit-Anbieter, AR-Anwendungsentwickler und AR-Publisher/Content Provider (siehe
Abbildung 2).
Abbildung 2: Ecosystem Map der Player, die eine Vorreiterrolle in AR einnehmen
Hardware-Anbieter
Content Provider und Publisher
Quelle: Detecon
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Detecon Management Report • 1 / 2011
Toolkit-Anbieter
Augmented
Reality
Ecosystem
Entwickler
Rationale Partnerwahl
Die Anbieter-Kategorie „AR-Hardware“ besteht aus solchen
Playern, die sich auf unterschiedliche Typen und Aspekte der
AR-Display-Technologie und -Hardware spezialisiert haben.
Zu diesen gehören Display-Komponentenanbieter als auch
Display-Lösungsanbieter. Der Markt wird zur Zeit von drei
zentralen AR-Display-Technologien beherrscht. Bei der ersten
Variante handelt es sich um das Head-Mounted Display (oder
HMD), das mit verbesserten Displays ausgestattet ist, die als
Teil eines Helms auf dem Kopf getragen werden. Zur zweiten
Variante zählen die Verbraucher-Displays, die bei Smartphones
oder Tablets gängig sind. All diese portablen Geräte oder Handhelds sind mit videobasierten Technologien – dem sogenannten
Video-See-Through – ausgestattet, bei denen man durch eine
Kamera schaut, um die reale, physische Welt mit Informationen zu überlagern. Und künftig kann es durchaus möglich sein,
dass die AR über die Handhelds oder Head-Mounted Displays
hinausgeht. Es ist durchaus vorstellbar, dass große Glasoberflächen wie große Fenster oder Windschutzscheiben künftig
entweder mit Optical-/Video-See-Through oder modernen visuellen Projektionssystemen ausgestattet sind, um unsere reale
Umgebung mit Informationen zu überlagern. General Motors
arbeitet zur Zeit an der Idee einer mit HUD (Head-Up-Display) kombinierten AR-Windschutzscheibe.
Die zweite Player-Kategorie bilden die AR-Toolkit-Anbieter,
deren Software-Entwicklungs-Kits eine hochqualitative Entwicklung von AR-Anwendungen ermöglichen, ohne dass der
Entwickler selbst über Fachkenntnisse der AR-Technologie
verfügen muss. Dadurch, dass diese Toolkits typischerweise
Bildverarbeitung und Vision-Algorithmen kombinieren, überlagern sie die reale Welt mit virtuellen Elementen. Das zur Zeit
bekannteste Toolkit ist das ursprünglich in 1999 entwickelte
ARToolKit. Es gibt viele kommerzielle Implementierungen des
ARToolKit einschließlich FLARToolKit (bei dem es sich um einen Port des ARToolKit für Flash 9+ handelt), SLARToolKit
(ein Silverlight Port) und AndAR (nativer Port des ARToolKit
für das Android-Mobilbetriebssystem). Ein weiterer führender AR-Toolkit-Anbieter ist Total Immersion, dessen Software
D‘Fusion Studio AR-Design-Lösung in Kombination mit verschiedenen Einsatzlösungen, beispielsweise für Flash oder mobil, unter anderem von Verizon, McDonald’s, Intel und BMW
für diverse Digital-Marketing-Anwendungen genutzt wird.
Die dritte Kategorie besteht aus Entwicklern, die die Implementierungen von AR vorantreiben (AR-Anwendungsentwickler).
Diese Liste ist äußerst vielfältig und enthält anerkannte führende Unternehmen wie Layar, ein niederländisches Unternehmen, das den Mobilbrowser Layar entwickelte, Mobilizy, das
österreichische Unternehmen, das den Wikitude Mobilbrowser
entwickelte, und Ogmento, ein amerikanischer Entwickler und
Publisher von AR-Games, bis hin zu kleineren Software-Entwicklern spezieller Anwendungen wie Quest Visual, Entwickler
von Word Lens (eine Instant-AR-Offline-Übersetzungs-App).
Die letzte Kategorie besteht aus den Content Providern und Publishern, die AR zur Generierung von Mehrwert für ihre bestehenden Services nutzen. Content Provider nutzen AR vorrangig
zur Verbesserung ihres bestehenden Contents und profitieren
von den durch AR bereitgestellten Möglichkeiten. Dazu zählen
unter anderem Anbieter von Karten, zum Beispiel UrbanMapping, Wetterdiensten wie Foreca und Auskunftsdiensten wie
Yell.com. Publisher wie Yelp und die Werbeagentur AKQA hingegen nutzen AR in erster Linie, um neue Vertriebskanäle für
ihre Dienste zu erschließen.
Beispiele von gegenwärtigen und
Near-Future Hauptanwendungsbereichen
Die Hauptanwendungsbereiche, in die AR bereits Eingang gefunden hat oder bei denen das während der nächsten zwei oder
drei Jahre der Fall sein wird, beinhalten die Bereiche G
­ aming,
Marketing, Militär, Information-on-the-Go, Schulung und
Social Networking. Es wird zum Beispiel davon ausgegangen,
dass AR in unmittelbarer Zukunft für Werbung – Schau­
fensterbummel – und Online Shopping genutzt werden wird,
um das herkömmliche Einkaufserlebnis zu steigern. Das Londoner Kaufhaus Selfridges ist mit einem neuen AR-Schaufenster
ausgestattet, das den Kunden ermöglicht, die gesamte Armbanduhrenkollektion von Tissot an ihren Handgelenken auszuprobieren, ohne dafür das Geschäft betreten zu müssen.
Gaming ist eine andere populäre AR-Anwendung, die zunehmend Anklang findet. Sony hat das erste AR-Game – Eye of
Judgment – auf seiner PS3-Plattform herausgebracht. Es nutzt
das Peripheriegerät PlayStation Eye-Camera als Teil eines größeren Card-Battle-Spiels.
Eine unmittelbare und praktische Anwendung ist die für Schulungen. AR (oder häufiger Virtuelle Realität) wird schon seit
Langem für Militärflugsimulatoren und Cockpits verwendet.
Jedoch könnten AR-Brillen oder HUDs für kommerzielle
Schulungsanwendungen schon bald zum Standard werden.
Ein gelungenes Beispiel in diesem Kontext ist eine Demo von
BMW, in der ein Mechaniker mit einer AR-Brille zu sehen ist,
der gerade lernt, wie man einen Motor repariert.
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Detecon Management Report • 1 / 2011
Organization
Der Blick in die Kristallkugel – AR und die Entstehung des
Outernets
Die Beispiele bereits verfügbarer oder bald verfügbarer Anwendungen zeigen deutlich auf, dass AR ein universell anwendbares
Konzept ist. Aber wie weit wird oder kann es gehen? Mit Blick
auf die aktuellen Diskussionen und wissenschaftlichen Aktivitäten lässt sich mit Gewissheit feststellen, dass das Ziel der Reise
noch nicht sobald erreicht sein wird, sondern eher noch in den
Anfängen steckt.
Wenn es darum geht, was AR uns für die Zukunft bringen wird,
dann ist die Antwort darauf unmittelbar mit der Entstehung des
Outernets verknüpft – dass das Internet aus dem traditionellen
Bereich computerbasierter Netze in die reale Welt führt. Dies
hat zur Folge, dass sich unsere Beziehung und Interaktion zu
den Objekten der realen Welt grundlegend ändern wird. Das
Outernet als Konzept ist keine singuläre Technologie, sondern
basiert auf einer Kombination aus verschiedenen technologischen Entwicklungen. Auch wenn sich die Mehrzahl dieser
Technologien noch in den frühesten Entwicklungsphasen befinden und äußerst kostenintensiv sind, ist davon auszugehen,
dass sie bis 2032 die Marktreife erlangt haben werden. Nach
diesen Vorhersagen geben wir nachstehend einen Ausblick über
die wichtigsten Technologien, die AR auf die nächste Evolutionsstufe bringen.
AR Tech-Prognose #1: Ultra High-Speed Breitbandnetze: Die Entwicklung von neuen Ulta High-Speed Kommunikationsstandards läutet das Ende der Trennung zwischen offline und online
ein. Bis zirka 2032 wird sich die Always-On-Konnektivität zu
einem unverzichtbaren Grundbedürfnis entwickelt haben –
egal ob für Zuhause, unterwegs oder am Arbeitsplatz und ohne
Überlegungen im Hinblick auf die Art der Bandbreite oder
Nutzung von Zeit oder Volumen. Diese Entwicklung bildet die
ultimative Grundlage, die den Weg zu der Ära einer vollständig
digitalisierten Welt bereitet.
AR Tech-Prognose #2: Erweiterte M2M-Kommunikation und semantische Intelligenz. Die Ausweitung der Machine-to-MachineKommunikation (M2M) geht einher mit der durch Cyberspace
voranschreitenden Eroberung der realen Welt, in der physische
Objekte zunehmend miteinander verbunden sind und als partizipative Hubs des Outernets miteinander Daten austauschen.
Maschinen werden zunehmend intelligenter und helfen uns, die
Überfülle an Informationen in den Griff zu bekommen. Basierend auf Verhaltens- und Nutzungsmustern werden Maschinen
in der Lage sein, intelligente Annahmen und Prognosen auf
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Detecon Management Report • 1 / 2011
der Grundlage von Profiling-Mechanismen zu treffen und uns
ausschließlich personalisierte Informationspakete zu liefern, die
unseren Bedürfnissen und Interessen entsprechen.
AR Tech-Prognose #3: Hochentwickelte Displays und Mensch-Maschine-Interaktion. Hochentwickelte Display-Technologien und
intuitive Mittel zur Mensch-Maschine-Interaktion befinden sich
bereits in der Entwicklung. Holografische Schnittstellen, Formen oder Objekte, die auf realen Flächen – generisch, gruppenspezifisch oder personalisiert – erscheinen, werden alles Analoge
beziehungsweise Materielle wie Plakatflächen, Verkehrsschilder
oder Schaufensterdekorationen ersetzen. Desweiteren wird es
Kontaktlinsen geben, die uns personalisierte 360°-Screens zur
Interaktion mit unserer unmittelbaren Umgebung. Im Hinblick
auf Maschine-Interaktions- und Usability-Konzepte werden
künftige Technologien sprach-, augen-, gesten- und sogar gedankenbasierte Methoden zur Nutzersteuerung beinhalten.
AR Tech-Prognose #4: Moderne Lokalisierungs- und Erkennungstechnologien. Um die vielversprechenden AR-Potenziale voll ausschöpfen zu können, müssen Objekte der realen Welt erkannt
werden, damit sie Interaktionen mit der virtuellen Welt auslösen können, und daher sind die modernen automatisierten Lokalisierungs- und Erkennungstechnologien der Schlüssel zu AR.
Einige leistungsstarke Systeme haben sich bereits etabliert, zum
Beispiel GPS oder GSM zur Lokalisierung und Tag-basierte
RFID- oder NFC-Technologien zur Erkennung. Bis zum Jahr
2032 werden objekt- oder gesichtsbasierte Technologien an Präzision gewonnen haben, technologisch ausgereift sein und die
vollständige Marktdurchdringung erreicht haben.
Weiterhin wird AR die Art und Weise, wie wir mit der Welt
und miteinander interagieren, grundsätzlich ändern. In den
folgenden Absätzen stellen wir einige mutige Prognosen dahingehend auf, wie der AR-Markt und die Welt in 2032 aussehen
könnten.
AR Markt-Prognose #1: Pre-Authored Introductions. Die Verbindung von pervasiven sozialen Netzwerken mit AR-Sonnenbrillen, AR-Kontaktlinsen oder AR-Smartphones bewirkt, dass Personen etwas über andere Personen in ihrem Umkreis erfahren,
ohne dass es einleitender Worte bedarf. AR-Sonnenbrillen, die
mit Kameras ausgestattet sind und eine Gesichtserkennung der
Person durchführen, die Sie gerade anschauen, diese mit den
öffentlich zugänglichen Informationen der besagten Person auf
den Websites der sozialen Netzwerke wie Facebook oder LinkedIn abgleichen und diese öffentlich zugänglichen Daten, zum
Beispiel Name, Interessen, dann mit ihrer Ansicht von dieser
Rationale Partnerwahl
Person überlagern, könnten sich künftig durchsetzen und eventuell großer Beliebtheit erfreuen.
AR Markt-Prognose #2: „Dumb“ AR-Endverbrauchergeräte. ARGeräte werden unter die Kategorie „dumb“ (unintelligent) fallen; sie werden aus vernetzten Displays und Kameras bestehen
und für die Bildverarbeitung auf eine Cloud-basierte Plattform
zugreifen; und AR-Rendering – ähnlich wie Laptops/Tablets –
wird lediglich ein Display und eine Netzanbindung beinhalten
und für die Mehrzahl der Dienste auf die Web-Cloud zugreifen.
Diese AR-Geräte lassen sich an eine Cloud-basierte Plattform
anschließen, sofern sie nicht über ein geeignetes, lokal zwischengespeichertes AR-Visual-Set für das Rendering oder über
eine Netzwerkverbindung verfügen und auf den „Offline-Modus“ zurückgreifen müssen.
AR Markt-Prognose #3: Entstehung eines dominanten AR-Plattform-Players. Ähnlich wie Google mit seiner Suchtechnologie
und Facebook mit seinem sozialen Netzwerk-Ecosystem Berühmtheit erlangt haben, gehen wir davon aus, dass irgendwo
am Horizont ein AR-Gigant lauert, der das AR-Ecosystem
dominieren wird. Dieser Gigant wird in der Lage sein, visuellen und Positionierungs-Input, beispielsweise von HUDs,
vernetzten Kameras, GPS und Sensoren, über das Web weltweit aufzunehmen, diesen Input kontextgemäß in der Cloud
zu verarbeiten und in geeigneter AR-Ansicht, das heißt mit der
richtigen Information und im richtigen Ansichts-Verhältnis für
den entsprechenden Display-Typ, über pervasive, superschnelle
Breitbandnetze in Echtzeit wiederzugeben. Der zentrale Wettbewerbsvorteil eines solchen Players besteht aus seiner leistungsstarken Cloud-basierten Plattform, die es ihm ermöglicht, seine
proprietäre kontextuelle Bildverarbeitungstechnologie auf einen
riesigen Bilddatensatz anzuwenden, mittels der er diese Funk­
tionen besser als jeder andere auszuführen kann.
Der „Business Imperativ“ – auf das Unvorhergesehene vorbereitet sein
Aus geschäftlicher Sicht müssen Unternehmen sich künftig das
Credo „auf das Unvorhergesehene vorbereitet sein“ zu eigen machen. Wichtig ist für Unternehmen, dass sie ihre strategischen
Planungs- und Innovationszyklen erhöhen, ihre Makroumwelt
kontinuierlich scannen und die Aktivitäten der Wettbewerber
und die in diesem Bereich aufstrebenden Technologien akribisch beobachten. Nachstehend zeigen wir einige Beispiele, wie
AR die Art und Weise, in der Unternehmen ihre Geschäfte betreiben, verändern wird:
AR Geschäftsprognose #1: Omnipräsenz der Marke. AR ist ein
brandneuer Vertriebskanal, der ihre Kunden adressiert, die immer die Möglichkeit haben, mehr über ihr Unternehmen, ihre
Standorte und Produkte und Services zu erfahren.
AR Geschäftsprognose #2: Virtualisierte Präsenz und Kooperation.
AR ist ein weiterer Faktor, der die Virtualisierung der Büroumgebung ermöglicht, so dass die Mitarbeiter oder Partner an
jedem Ort arbeitsmäßig kooperieren und Meinungen austauschen können.
AR Geschäftsprognose #3: Personifizierte Dienste. AR ermöglicht
es Unternehmen, ihre Dienste gegenüber Kunden, Partnern
und Mitarbeitern zu personifizieren, indem sie der Stimme ein
Gesicht verleihen, das Schulungen oder Kundendienst anbietet
und den Nutzer über ein die Sinne stimulierendes Erlebnis unmittelbar miteinbezieht.
Die Unternehmen aller Branchen sind daher gefordert, Strategien für ein digitales Marken- und Produktmanagement zu
entwickeln und zu etablieren.
Chin-Gi Hong ist als Management-Berater in der Process & Product Life­cycle
Management Group tätig und Mitglied des Detecon Center of Excellence „New
Media“. Als eTOM-zertifzierter Prozessexperte liegt sein fachlicher Schwerpunkt hauptsächlich in den Themen Telco-Prozessdesign, Enterprise Effectiveness ­Management sowie Product Lifecyle Management und Innovationsmanagement – insbesondere in Bezug auf die Entwicklung neuer konvergenter
Produkt- und Servicekonzepte. Er ist Co-Autor zahlreicher P
­ ublikationen und
hat ein Diplom in Medienwirtschaft sowie einen Master of Science (MSc) in
Information and Communication Sciences. Er hat erfolgreiche Projekte in
­Europa, Asien, den USA und in der MENA-Region durchgeführt.
[email protected]
Rajat Mukherjee arbeitet bei Detecon, USA, in der Strategy & Innovation
Group. Er ist Mitglied des Mobile Internet Center of Excellence. Der Schwerpunkt seiner Tätigkeit liegt gegenwärtig auf Best Practices im Hinblick auf
Produkte und Services Launch Management sowie auf Innovationsstrategien
für zukünftige Telekommunikationsnetze. In seiner vorherigen Tätigkeit in der
ICT Branche war er schwerpunktmäßig mit NGA- und Konvergenztechnologien befasst. Er ist Co-Autor zahlreicher, vor dem US-Patent- und Markenamt
schwebender Patente über verschiedene Aspekte der ICT Technologie. Er hat
einen Bachelor-Abschluss in Elektrotechnik (mit Auszeichnung) von der McGill
University in Montreal, Kanada, und einen Master-Abschluss in Wirtschaftsingenieurwesen (Management Science and Engineering) von der Stanford University in Palo Alto, USA.
[email protected]
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Detecon Management Report • 1 / 2011
Organization
Nicole Panchyrs, Dr. Philip Hucke, Dr. Stefan Wygoda
Auf zu neuen Ufern
Foto: Objekt, Amely Spoetzl
Warum die Suche nach der perfekten
Organisationsstruktur niemals endet
Organisationsstrukturen müssen die Lösung komplexer Probleme in immer
kürzerer Zeit ­unterstützen. Noch nicht ausgeschöpftes ­Potenzial bietet hier
der Netzwerkgedanke.
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Detecon Management Report • 1 / 2011
Auf zu neuen Ufern
ie Telekommunikationsbranche hat eine eindrucksvolle
D
Entwicklung hinter sich. Ein Beispiel: Wer vor 20 Jahren er-
reichbar sein wollte, der benötigte ein Endgerät von der ­Größe
eines Benzinkanisters und dem Gewicht eines vollen Bierkastens. Dieses Endgerät war der erste Schritt in Richtung
„Mobil“-funk. 20 Jahre später besitzen Mobiltelefone die Größe
einer Zigarettenschachtel, wiegen 150 Gramm, bieten uneingeschränkte Erreichbarkeit und die Fähigkeit zum Telefonieren unabhängig vom Aufenthaltsort stellt seit Langem einen
Hygienefaktor dar. Immer neue Konsumentenwünsche stellen
hohe Anforderungen an Netzbetreiber und Entwickler. Dieser
einfache Beleg für die digitale Revolution lässt erahnen, welche
technologischen Quantensprünge in den nächsten 20 Jahren
bevorstehen und welche hohen Erwartungen Kunden in Zukunft an ihre Provider richten werden. Netze einer noch unbekannten ­Generation, weitestgehende Konvergenz und Connected Live & Work sind sicher nur einige Themen, die uns in
der fernen Zukunft begleiten werden. Alle Entscheider sind natürlich brennend daran i­nteressiert zu wissen, welche konkreten
Entwicklungen kommen werden. Wer dahingehend motiviert
diesen Artikel liest, kann die Lektüre nun beenden. Wer wissen
möchte wie er sich nichtsdestotrotz optimal organisatorisch vorbereiten kann, sollte dagegen weiter lesen.
Denn es gibt sehr wohl Möglichkeiten, sich zu wappnen. Man
muss nur wissen, wie. Experten wie Mike Kelly vom TM Forum
halten es zu Recht für fraglich, inwieweit die traditionellen Geschäftsmodelle von Telekommunikationsunternehmen in Zukunft noch Bestand haben werden*. Angesichts der Tatsache,
dass vermutlich kein Entscheidungsträger auch nur annährend
prognostizieren kann, wie sich Märkte, Kundenbedürfnisse oder
sogar Geschäftsmodelle in den nächsten Jahrzehnten entwickeln
werden (die Anzahl plausibler Szenarien wäre schlicht zu groß),
gewinnen Organisationsstrukturen eine völlig neue Bedeutung.
In den Mittelpunkt rücken dann Organisationsmodelle, die
nicht unbedingt gewährleisten, ein bestimmtes Geschäftsmodell optimal zu unterstützen, sondern solche Strukturmodelle,
mit denen aus der Zukunftsunsicherheit Kapital geschlagen
werden kann. Hierfür muss jedoch mit tradierten Denkweisen
­gebrochen werden.
Stillstand ist der Tod
Eine der wenigen belastbaren und konsensfähigen Aussagen
über die ferne Zukunft dürfte diese sein: Das Ausmaß an umweltinduzierten Veränderungen wird in qualitativer, quantitativer, räumlicher und zeitlicher Dimension zunehmen. Ein
wesentlicher Grund hierfür könnte die Entgrenzung zwischen
einzelnen Branchen sein. Die Telkobranche könnte in Zukunft
in bisher unbekanntem Ausmaß mit anderen Branchen wie zum
Beispiel Medizin, Automotive oder Bildung verwoben sein.
Zauberworte, welche bereits in diese Richtung gehen, lauten
zum Beispiel Konnektivität oder Virtualität. Aus diesem Grund
sind zukünftig vielfältige Geschäftschancen zu erwarten, die jedoch von ICT Unternehmen identifiziert und genutzt werden
müssen. Die zentrale Schwierigkeit dürfte in Zukunft nicht darin bestehen, dass die Aufgaben noch komplexer werden oder
dass Dinge einfach nur noch schneller erledigt werden müssen.
Vielmehr wird es darauf ankommen, Lösungen zu finden, wenn
für immer komplexere Aufgaben immer weniger Zeit zur Verfügung steht.
Das ist beileibe nichts Neues, seit Jahrzehnten diskutiert die
Wissenschaft die zunehmende Dynamik sowie daraus resultierende Konsequenzen für Unternehmen und ihre Art zu
wirtschaften. Um mit diesen Entwicklungen Schritt halten zu
können, muss es Unternehmen gelingen, die anstehende Komplexitätsflut zu bändigen und gewinnbringend zu nutzen. In
den nächsten 20 Jahren werden organisatorische Strukturen
erforderlich, die trotz aller technologischen Entwicklungen die
zuverlässige Befriedigung von Kundenbedürfnissen garantieren.
In den Mittelpunkt rücken dann Organisationskonzepte, die
vor allem ein Ziel haben: Die Sicherstellung eines adäquaten
Problemlösungspotenzials. Nichtsdestotrotz: Ein Blick in die
* Siehe Interview mit Mike Kelly Interview in dieser DMR-Ausgabe, Seite 56 ff.
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Detecon Management Report • 1 / 2011
Organization
Realität zeigt, dass sich erschütternd wenig verändert hat. Wo
ist eigentlich das grenzenlose Unternehmen (Picot 2003), wo
die Netzwerkorganisation (Williamson 1975) oder die lernende
Organisation (Senge 1990)?
Tatsächlich neue Arten der Organisation entstehen anscheinend
nur durch zufällige Mutationen in Form von erfolgreichen Start
Ups. Aber auch diese ähneln, sobald sich ihr Erfolg in ihrer Unternehmensgröße widerspiegelt, oft sehr stark dem klassischen
hierarchisch organisierten Großkonzern mit den damit einhergehenden Ineffizienzen. Treiber für diese Ineffizienz ist der klassische Unternehmensbegriff: Gemeinhin wird ein Unternehmen
als Zusammenschluss von arbeitsteilig organisierten Menschen
betrachtet, um einen bestimmten Zweck zu verfolgen, den Geschäftszweck. Dieses Verständnis führt dann aber nicht mehr
weiter, wenn nicht mehr sicher ist, ob dieser Geschäftszweck
auch in Zukunft noch tragfähig ist.
In Zukunft wäre deshalb zu erwarten, dass Unternehmen
grundsätzliche Problemlösungskompetenzen und Ressourcenpools aufbauen und diese situationsadäquat nutzen müssen.
Starres Festhalten am historischen Geschäftszweck führt schnell
zur Frühverrentung. Nur der ständige Abgleich von eigenen
Kompetenzen („Lösungen“) mit Kundenbedürfnissen („Problemen“) sichert langfristig das erfolgreiche Überleben. Einen
ersten Schritt in diese Richtung geht auch die Idee der „produktunspezifischen Kernkompetenzen“ von Hamel und Prahalad. Unter „Kern“ wird ein abstrakt gewählter, unspezifischer
gemeinsamer Nenner verstanden, von dem aus unterschiedliche
Probleme gelöst werden können. Die Einsicht, dass die Problem/Ressourcen-Perspektive das traditionelle Zweck/MittelDenken ersetzen wird, dürfte einer der ersten Schritte in die
richtige Richtung sein.
Zusammen sind wir stark
Diesen neuen Herausforderungen kann auf verschiedene ­Weisen
begegnet werden. Entweder dem Unternehmen – oder eines
Teils davon – gelingt es, die Herausforderungen (Aufbau eines
angemessenen Ressourcenpools) aus eigener Kraft zu stemmen.
Denkbar wäre auch der Kauf von anderen Unternehmen, um
so die eigene Ressourcenbasis zu erweitern. In diesem Fall wird
eine dauerhafte Bindung eingegangen. Problematisch bei diesem Vorgehen erscheint, dass eben diese Dauerhaftigkeit zu
riskanten Festlegungen führen kann. Machen langfristige Bin-
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Detecon Management Report • 1 / 2011
dungen in einer kurzlebigen Umwelt Sinn? Außerdem ist dieser
Prozess zur vollständigen Integration oft langwierig und problembehaftet. Ein anderer Weg zum Aufbau der erforderlichen
Ressourcenbasis wäre organisches Wachstum. Auch hierbei wird
aber die Schwierigkeit offenbar, dass der interne Aufbau von
Knowhow einen langfristigen Prozess darstellt.
Systemisch gesprochen bedeutet steigende Komplexität, dass
einer Zunahme der Elemente ein geometrisch progressiver Anstieg der Beziehungen folgt. Formal lässt sich die Komplexität
(K) vereinfacht darstellen als K = (N² - N)/2, wobei N die Anzahl der Elemente bezeichnet. Die Zeitknappheit potenziert die
Schwierigkeit der Komplexitätshandhabung, denn nur wenn
unendlich viel Zeit zur Verfügung steht, kann alles mit allem
abgestimmt werden. Es ist damit quasi ausgeschlossen, dass
äußerst komplexe Probleme allein gelöst werden können. Erforderlich wird daher ein Umdenken in Richtung Kooperation
und organisatorischer Vernetzung. Entsprechende kooperative
Verhaltensweisen zwischen Unternehmen zeichnen sich bereits
in der Bildung von strategischen Allianzen oder in implizit abgestimmtem Entscheidungsverhalten ab.
Passt, sitzt und hat Luft
Organisationsstrukturen müssen dazu beitragen, dass in kurzer
Zeit komplexe Probleme gelöst werden können. Diese Forderung kann nur eingelöst werden, wenn es gelingt, zur rechten
Zeit alle für die Problemlösung erforderlichen Ressourcen bereitzustellen und einzubinden.
Es deutet sich ein Organisationskonzept an, dass zwar schon seit
langem bekannt ist, dessen Potenzial aber bei weitem noch nicht
voll ausgeschöpft wurde: Die Netzwerkorganisation. Im vorliegenden Kontext kann der Netzwerkgedanke zum einen auf das
eigene Unternehmen bezogen werden. Gemeint ist dann der
Übergang hin von konventionellen (Ein)Linienorganisa­tionen
(Pyramide) hin zu einer Struktur, die über eine Vielzahl an
Schnittstellen zwischen einzelnen Bereichen verfügt. Oder aber
es wird von Netzwerken zwischen Unternehmen gesprochen. In
diesem Fall ist das eigene Unternehmen in ein System von Unternehmen eingebunden, die in wechselseitigen Beziehungen
zueinander stehen. Das Leistungspotenzial der Netzwerkorganisation speist sich (analog zum menschlichen Gehirn) aus der
Fülle der Beziehungen zwischen den Netzwerkteilnehmern. Das
System ist eben mehr als die Summe seiner Teile.
Auf zu neuen Ufern
Bei organisatorischen Netzen erfolgt eine „Verwebung“ bislang
getrennter Unternehmensteile, indem gemeinsame Problemformulierungs- und Problemlösungsbereiche entstehen. Das
Modell geht über solche Ansätze hinaus, bei denen Unternehmensbereiche lediglich kommunikativ oder logistisch verbunden werden, da mit Verwebung vielmehr eine weitgehende
­Integration gemeint ist. In Anlehnung an ähnliche Erscheinungsformen in der Gesellschaft, zum Beispiel soziale Netzwerke, geht es bei diesem Organisationskonzept darum, dass
sich die Netzwerkteilnehmer gegenseitig bei der Versorgung mit
den lebensnotwendigen Ressourcen unterstützen. Damit unterscheiden sich so verstandene Netzwerke auch von strategischen
Allianzen, bei denen weniger die gemeinschaftliche Mittelversorgung als die Erreichung eines gemeinsamen Zwecks (Marktführerschaft etc.) sichergestellt werden soll. Die weitergehende
Netzwerksicht ist eher auf den Erhalt der Teilsysteme und damit
des Gesamtsystems (Überlebensgemeinschaft) angelegt.
Im Kontext der Netzwerkorganisation spielt der Gedanke der
Modularisierung eine entscheidende Rolle. Module können
hierbei als relativ autonome Subsysteme begriffen werden. Im
Unterschied zu „Ab-teilungen“ sind Module nicht Teile eines
vorgegebenen Ganzen und aus bestimmten Zwecken abgeleitet
sondern verkörpern grundsätzliche Leistungen wie zum Beispiel
Forschung oder Datenverarbeitung. Derartige Module können
dann als Mittel in immer neuen Funktionszusammenhängen
und für wechselnde Zwecke verwendet werden. Ihre Autonomie
liegt darin begründet, dass sie eine aktive und selbstbestimmte
Rolle bei der Entstehung von Systemen übernehmen können. Von zentraler Bedeutung für die Systembildung ist ­dabei
die Schaffung der Schnittstellenkompatibilität zwischen den
­Modulen (z. B. technisch oder kommunikativ). Der Vorteil der
modularen Organisation kann insbesondere an der ­effizienten
Anpassbarkeit an neue Umweltbedingungen gesehen, da in Abhängigkeit der Problemlage eine angemessene Unternehmensstruktur gebildet werden kann.
Insbesondere im Rahmen unternehmensübergreifender Zusammenarbeit liefert das Konzept der virtuellen Organisation
weitere Anknüpfungspunkte zur Operationalisierung des Netzwerkgedankens. Hierbei schließen sich rechtlich unabhängige
Unternehmungen virtuell für die Dauer zur Lösung eines gemeinsamen Problems zusammen. Jedes Unternehmen verfügt
dabei über bestimmte Kompetenzen, die isoliert betracht jedoch
nicht das Problem zu lösen vermögen. Erst über den Zusammenschluss erfolgt die erforderliche Zusammenführung aller
notwendigen Ressourcen zur Problemlösung beziehungsweise
Leistungserbringung.
Von der Fremd- zur Selbstorganisation
Der Erfolg einer Netzwerkorganisation oder modularen Organisation wird entscheidend davon abhängen, inwiefern es den
Mitarbeitern der Zukunft gelingt, mit derartigen Strukturen
Abbildung: Gegenüberstellung Linienorganisation und Netzwerk
Statische Zweckorientierung „Zweck/Mittel-Pyramide“
Dynamische Problemorientierung „Ressourcengemeinschaft“
Quelle: Detecon
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Detecon Management Report • 1 / 2011
Organization
umzugehen. Da ex ante keine feste Struktur mehr vorgegeben
werden können (Fremdorganisation), wird es daher in Zukunft
verstärkt auf die Fähigkeiten zur Selbstorganisation ankommen
Mit Selbstorganisation wird eine Organisationsweise bezeichnet, bei welcher die Mitarbeiter ihre Rollen und damit die Organisationsstruktur mehr oder weniger selbst erschaffen, indem
zum Beispiel Probleme identifiziert, Ansprechpartner gesucht
und gemeinsam Lösungen generiert werden.
Bedingung für die effektive Selbstorganisation der Mitarbeiter
ist deren Emanzipation, das heißt die Aufhebung der Einbettung
in klassische Befehl-Ausführung-Strukturen. Die Führungskraft
allein wird nicht mehr in der Lage sein alle Umweltinforma­
tionen aufzunehmen und zu Lösungen zu verarbeiten. Es wird
notwendig sein Teile dieser intellektuellen Arbeit den operativen
Mitarbeitern anzuvertrauen. Die Führungskraft hat hier weniger
die Rolle des Befehlenden als vielmehr des Coaches. Es liegt in
seiner Verantwortung, den Mitarbeiter kompetent in Methoden
zu machen, die diese strategische Arbeit erfordert. Während es
zum Beispiel in klassischen Unternehmensorganisationen eine
zentrale Strategieabteilung gibt, hat die Netzwerk­organisation
viele dezentrale Strategiezellen. Aufgabe des ­Managements ist
es hierbei, den dezentralen Bereichen vorzugeben, wie weit­
reichend ihr Gestaltungsspielraum sein soll, und kontinuierlich
auf neue Synergien und Innovationspotenziale zwischen verschiedenen Unternehmensbereichen hin zu prüfen.
Veränderung braucht Mut
Bleibt noch die Frage zu klären, warum bereits seit Jahrzehnten
in Wissenschaft und Praxis bekannte Konzepte nicht wirklich
umgesetzt werden. Eine erste Antwort wäre, dass der Mensch
Veränderung per se scheut. Oftmals muss der Leidensdruck erst
so stark werden, dass es keine andere Möglichkeit gibt. Darüber
hinaus ist aber zu bedenken, dass gerade die Dezentralisierung
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Detecon Management Report • 1 / 2011
von Verantwortung Angst vor der Abgabe von Macht und Einfluss bedeutet. Jeder Entscheider, der sich mit dieser Angst konfrontiert sieht, sollte sich aber vor Augen führen, dass er weitaus
wichtigere Arbeit leistet, indem er seinen Mitarbeiter die generelle Richtung und Methoden zur Hand gibt. Je mehr Spielraum
er den Mitarbeitern gewährt, die operative Arbeit zu ­leisten,
­desto mehr Freiraum hat er, die Qualität der flankierenden
Strukturen und Prozesse zu steigern. Organisa­tionsentwicklung
im Sinne von Methodenkompetenz und K
­ onzeptkenntnis wird
damit in Zukunft vielleicht zu der zentralen Schlüsselkompetenz einer jeden Führungskraft.
Nicole Panchyrs ist Expertin für Organisation. Sie berät Unternehmen ins­
besondere zu Themen der Restrukturierung/Turnaround und strategischer
Organisationsentwicklung. Vor ihrer Tätigkeit bei Detecon war sie am
­
Fraunhofer IPK im Bereich Unternehmensmanagement beschäftigt.
Nicole.Panchyrs @detecon.com
Dr. Stephan Wygoda ist Experte für Organisation. Seine Beratungsschwerpunkte liegen in der Organisationsanalyse, Organisationsdesign, Prozessorganisation, Prozessanalyse und Design. Zuvor war er als wissenschaftlicher Assistent
am Lehrstuhl für Organisation und Management der Universität Bayreuth tätig.
[email protected]
Dr. Philip Hucke ist Experte für Organisation. Er berät Unternehmen insbesondere zu Themen der Restrukturierung und strategischer Organisationsentwicklung. Zuvor war er als wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für
­Organisation und Management der Universität Bayreuth tätig.
[email protected]
Knowledge@Detecon
Mission Zukunft:
ICT 2032
45 Thesen für den Weg ins Morgen
In 22 Jahren wird es die IT in klassischer Form nicht
mehr geben. Doch welche Konsequenzen leiten sich
daraus ab? Wie wirken sich die ICT-Entwick­lungen
auf die Gesellschaft, Individuen und ­Unternehmen
aus? Wie beeinflussen nichttechnologische F­ aktoren
die ICT-Landschaft 2032? Welche Nutzen bieten
diese technologischen und nichttechnologischen
­
Veränderungen? Und wo l­iegen die Chancen und
Risiken?
45 Thesen umreißen – mal provokant, mal
über­­­­­­raschend – wie die Informations- und
­Kom­­­mu­­ni­­ka­tions­technologie Leben, ­Gesellschaft
und Wirtschaft im Jahre 2032 beeinflussen
wird. ­
Anwendungsbereiche wie Automotive,
­Energie­wirtschaft, Finanzdienstleistungen, ­Leben
und ­
Wohnen sowie Gesundheit ­
werden sich
­unter dem Einfluss von ICT radikal verändern und
­weiterentwickeln. ICT für jeden und überall, in ­nahezu
jedem Gegenstand, das ist das c­harakteris­
tische
Merkmal der Welt von Morgen.
Online-Bestellung:
Die Publikation erscheint im April 2011.
Sie können bereits jetzt schon ein Buch-Exemplar
kostenfrei unter folgender Adresse bestellen:
[email protected]
Organization
Interview mit Mike Kelly, Senior Technical Manager des TM Forums
Wird es in der Zukunft
überhaupt so etwas wie
ein Telekommunikationsunternehmen geben?
Mike Kelly ist seit den frühen Gründungstagen für das TM Forum tätig und gehört seit
acht Jahren zum Mitarbeiterstamm. Schwerpunkte seiner Tätigkeit sind das technische
Kollaborationsprogramm und das Business Process Framework (bekannt als eTOM),
an dem er während der gesamten Entwicklung beteiligt war. Er ist seit mehr als dreißig
Jahren in der Telekommunikationsbranche tätig und hat sich unter anderem auf die Bereiche Software- und Systementwicklung sowie Marketing- und Produktmanagement
spezialisiert. Darüber hinaus arbeitete Mike Kelly zwei Jahre als Berater für den wissenschaftlichen Leiter des Cabinet Office für Telekommunikations- und IT-Richtlinien
der britischen Regierung. Er bietet unabhängige Schulungen und Beratungen für Organisationen an, in denen die Arbeit des TM Forums und den damit verbundenen Gremien
praktische Anwendung findet, und wird häufig als Sprecher zu Konferenzen und Events
eingeladen, um über seine Arbeit zu berichten.
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Detecon Management Report • 1 / 2011
Interview mit Mike Kelly, eTOM
In diesem Interview äußert Mike Kelly seine persönliche
Ansichten über die Vision eines zukünftigen Telko-Unter­
nehmens, die Rolle der Governance, Standards und Business
Process Management. Darüber hinaus skizziert er die Herausforderungen, die mit der Implementierung einer künftigen Unternehmensstruktur einhergehen. Die von Mike Kelly in diesem
Interview geäußerten Ansichten sind nicht als Darstellung der
Leitlinien des TM Forums aufzufassen.
DMR: Können Sie Ihre Vision eines zukünftigen Telekommunikationsunternehmens im Hinblick auf Produkte, Struktur, Prozesse
und IT beschreiben?
M. Kelly: Die Frage müsste eher lauten „Wird es in der Zukunft
überhaupt noch so etwas wie ein Telekommunikationsunternehmen geben?“ Bestehende Unternehmen werden an so vielen
Fronten herausgefordert. In der aktuell schwierigen wirtschaft­
lichen Situation müssen sie neue Technologien und Services einführen. Gleichzeitig sind sie gefordert neue Geschäftsmodelle zu
erkunden und zu erproben, um wirtschaftlich über­lebensfähig
zu bleiben, denn die traditionelle Festnetztelefonie als Umsatzbringer wird verschwinden. Die Wertschöpfungskette – oder
jetzt das Wertschöpfungsnetzwerk – wird ständig komplexer und viele Unternehmen übernehmen N
­ ischenpositionen
oder unterstützen singuläre Aktivitäten durch lückenfüllendes
Outsourcing, Insourcing und Partnerschaften. Unternehmen
­positionieren sich in ungewöhnlichen Bereichen. So bietet zum
Beispiel BT (British Telecom) im Vereinigten Königreich jetzt
Fuhrparkmanagement-Services für Automobilklubs an, nur
weil BT in der Vergangenheit Fähigkeiten in diesem Bereich
für seine eigenen Kraftfahrzeuge entwickelt hat. Das ist kein
„Telekommunikationsunternehmen“, wie wir es bisher gekannt
haben.
Ich glaube, dass die Entwicklung der Wertschöpfungskette
­diese zentralen Veränderungen bewirkt. Die taktische und strategische Ausrichtung der Unternehmen wird zunehmend ­enger.
Sie sind gezwungen, schneller auf die geschäftlichen und sich am
Markt vollziehenden Änderungen zu reagieren. Auf den ersten
Blick wirken sie in ihren Aktivitäten formlos oder gar opportunistisch. Aber eine Grenzlinie um diese Unternehmen oder gar
die gesamte Branche zu ziehen, wird zunehmend schwieriger.
Möglicherweise werden in der Zukunft Telekommunikationsunternehmen sogar in mehreren Branchen aktiv sein, und nur
ein Teil des Unternehmens beschäftigt sich noch mit Telekommunikationsservices.
Innerhalb des TM Forums beobachten wir diese Änderungen
in Bezug auf unsere Mitgliedschaft und den sich ausweitenden
und entwickelnden Schwerpunkt. Wir befassen uns mit vielen
Bereichen, die zuvor „nicht im Fokus waren“.
DMR: Wie würden Sie die Rolle der Governance innerhalb künftiger Telko-Unternehmen beschreiben?
M. Kelly: Anknüpfend an meine Antwort zu der vorhergehenden Frage ist es überlebenswichtig, den Mitarbeitern und
dem Unternehmen in diesem sehr volatilem Geschäftsumfeld
eine Richtung zugeben. Seitens des Top-Managements muss
es klare Vorgaben geben, die den Scope festlegen, der Strategie eine Richtung geben und über klare Steuerungsvorgaben
in diesem Kontext von den operativen Bereichen Profitabilität
fordern. In Bezug auf die Wertschöpfungskette bekräftigt dies
die Bedeutung eines internen und natürlich auch externen
Handlungsrahmens mit deutlichem Fokus auf Lieferabkommen, Zusagen und Qualitätsmetriken etc. Für die Erstellung
des Handlungsrahmens empfehle ich eine Iteration aus TopDown und Bottom-Up-Ansatz und die frühzeitige Einbindung
der Betroffenen. Ich habe bei meinen eigenen Tätigkeiten in der
Prozessmodellierung beobachtet, dass Prozessverbesserungen in
den Unternehmen am besten umgesetzt werden, wenn es auf
der einen Seite Top-Down-Leadership gibt und auf der anderen
Seite bereitwillige und begeisterte Unterstützung durch die operativen Bereiche.
DMR: Können Sie die Notwendigkeit und den Nutzen der
­Verwendung von Standards wie TOGAF, NGOOS-Framework
und ITIL für die Entwicklung und Umsetzung der Vision eines
künftigen Telko-Unternehmens beschreiben?
M. Kelly: Standards sind hervorragend. Es gibt diesen alten
Witz, dass man ja aus so vielen Standards wählen kann. Standards haben eine bedeutende Rolle. Jedoch ist es wichtig, dass
Standards überschneidungsfrei und nicht konkurrierend eingesetzt werden. Man sollte auch darauf achten, dass Standards nur
in den Bereichen eingesetzt werden, in denen sie ein Segen und
kein Fluch sind.
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Detecon Management Report • 1 / 2011
Organization
Bei meiner Arbeit habe ich erlebt, wie wertvoll es ist, in einer
aufgeschlossenen Umgebung tätig sein zu dürfen und sorgfältig darauf geachtet, das „Not-Invented-Here-Syndrom“ zu
meiden. Es ist äußerst wichtig, eine positive Einstellung gegenüber ­Arbeiten zu haben, die an anderen Stellen, zum Beispiel
in einem Industrieforum, einem offiziellen Gremium oder auch
in einem Privatunternehmen oder einer Ad-hoc-Gruppe, entstanden sind. Es ist ebenfalls wichtig – auch wenn es manchmal
sehr arbeitsintensiv ist –, etwas aufeinander abzustimmen und
zu integrieren, so dass Nutzer nicht die Zeit und Mühe aufwenden müssen, um konkurrierende Optionen zu bewerten. Es ist
wesentlich besser, eine abgestimmte Zielrichtung anzubieten.
Natürlich passt nicht immer eine Lösung für Alle. Doch das
Chaos auf wenige Optionen, wenn auch nicht auf eine, reduzieren zu können, geht in die richtige Richtung.
Bei der Verwendung von Standards muss man also beachten,
dass sie nur in den Unternehmensbereichen eingesetzt werden, in denen die Vorteile aus Vereinheitlichung die Vorteile
aus D
­ ifferenzierung überwiegen. Typischerweise fällt ein erheblicher – wahrscheinlich der größte – Teil der Bereiche eines
Unternehmens unter diese Rubrik. Wenn wir diese Bereiche
korrekt identifizieren und uns auf die Standards verständigen,
die eine unnötige und unwirtschaftliche Differenzierung reduzieren, können wir die dadurch frei werdende Energie auf die
Bereiche konzentrieren, in denen einzelne Unternehmen wirklich etwas bewegen und auf vernünftige Art und Weise konkurrieren können – zumindest in Bezug auf Innovationen. Um das
noch mal zu betonen: Meiner Meinung nach müsste sich der
Wettbewerb auf Angebot und Preis konzentrieren, aber das ist
die Idealvorstellung.
DMR: Wie schätzen Sie den steigenden Einfluss IT-gesteuerter
Telko-Unternehmen in Bezug auf die Bedeutung von ITIL ein?
M. Kelly: Da sprechen Sie eine ganz wichtige Sache an. Ich
glaube, es gibt inzwischen Unternehmen, denen die strategische
Bedeutung der Zusammenführung ihrer IT und ihrer Fachseite
bewusst ist. Diese Unternehmen haben erkannt, dass ein hohes
Maß an Ineffizienz durch die Trennung von IT und F
­ achseite
verursacht wird. Aber bei vielen Unternehmen wird es noch
dauern, bis sie aufwachen und diesen Zusammenhang erkennen. Unternehmen, die das Problem in den Griff bekommen,
werden in der Zukunft erfolgreicher sein und sich positiv von
ihren Wettbewerbern absetzen.
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Detecon Management Report • 1 / 2011
Die gegenwärtige Position ist fast so wie die „Kluft der zwei Kulturen“, die C. P. Snow beschreibt, wenn er von den U
­ nterschieden
zwischen Geistes- und Naturwissenschaft spricht, und ihre Bedeutung ist für die Entwicklung der Unternehmen entscheidend. In einer idealen Welt würden wir vermutlich das „ideal“
zusammengefügte Unternehmen der Zukunft analysieren und
dann entscheiden, wie dass zu modellieren ist. Aber das ist ein
Luxus, den der gegenwärtige Druck nicht zulässt, so dass wir
uns vorerst damit begnügen müssen, einen Blick auf die verfügbaren Tools zu werfen, die uns bei der Gestaltung der ­Vision
eines integrierten Unternehmens helfen. Aus meiner eigenen
Arbeit liegt uns das eTOM Business Process Framework als
eine Geschäftssicht vor, die in den vom TM Forum adressierten
Bereichen breite Unterstützung findet und die Bereiche Kommunikation, Medien, Unterhaltung, Information, Verteidigung
etc. umfasst. Wir sind eine äußerst erfolgreiche Verbindung
mit itSMF als Gremium, dessen Mitglieder ITIL entwickeln,
eingegangen und haben zusammen effektive und funktions­
fähige Mechanismen zur Integration dieser beiden Frameworks
­definiert. Diese können auf jeden Fall eine Referenz oder sogar
das Modell eines integrierten Unternehmens sein, in dem die
geschäftliche Seite und der IT-Support zusammenarbeiten.
DMR: Können Sie die Rolle des Business Process Manangement in
zukünftigen Telko-Unternehmen beschreiben?
M. Kelly: Business Process Management offeriert eine
­äußerst nützliche architektonische Perspektive als auch ­einen
Design- und Implementierungsrahmen zur Entwicklung
­
von ­Management-Lösungen. Insbesondere die Trennung der
Prozessorchestrierung von der Anwendungsfunktionalität
­
­machen dies zur idealen Wahl hinsichtlich des wachsenden Interesses an einem serviceorientierten Ansatz für Architektur und
Design. Auf dieser Grundlage können modifizierte Prozesse auf
dieselbe zugrundeliegende Funktionalität, jedoch organisiert in
einer Vielzahl von Workflows, zurückgreifen, ohne dass eine
­kostenintensive und zeitaufwendige Neuentwicklung erforderlich ist.
Obgleich das nicht der einzige Weg zur Realisierung von Vorteilen in diesem Bereich ist, erscheint er besonders gut geeignet für
Managementsysteme.
Interview mit Mike Kelly, eTOM
DMR: Wie sollte Ihrer Meinung nach die Prozess-Ownership in
Bezug auf die Integration von Prozessen und IT zugeordnet werden?
DMR: Haben Sie einen Vorschlag, wie Führungskräfte diesen
­Herausforderungen begegnen können?
M. Kelly: Wie schon zuvor ausgeführt ist es wichtig, dass es
hierfür einen Architektur-Ansatz gibt, der beide Perspektiven
integriert und bei dem alle beteiligten Gruppen ein Mitsprache­
recht haben. Doch letztendlich muss es eine klare Prozess-­
Ownership geben und diese muss aus der Geschäftstätigkeit
abgeleitet werden.
M. Kelly: Es wäre einfach zu sagen, die Aufstellung von ­Strategie
und Planung wäre die Lösung des Problems. Die ­Frage, die ich
mir stelle, ist, ob wir uns in einer Zeit befinden, die in einem
fast mathematischen Sinne „chaotisch“ ist, so dass die Bestimmung des Endzustands unmöglich ist, auch wenn man hervorragende Kenntnisse über die gegenwärtigen Bedingungen hat –
was natürlich nicht realistisch ist, weil Verhaltensregeln in einer
„chaotischen“ Welt nicht deterministisch sind.
DMR: Können Sie uns eine kurze Beschreibung der Methode
­geben, die Telko-Unternehmen einsetzen können, um Ihrer Vision
zu entsprechen?
M. Kelly: Business Transformation ist ein weites Feld in
­Anbetracht der stetigen Änderungen. Meiner Meinung nach ist
es ein Thema, das man, abhängig von der jeweiligen Art der
Transformation, in viele Rubriken unterteilen kann. In Bezug
auf Prozesstransformation haben zum Beispiel die Erfahrungen
aus vielen Bereichen gezeigt, dass sich ein maximaler Nutzen
dann ergibt, wenn der gesamte Prozess von Anfang bis Ende berücksichtigt und neu gestaltet wird. Dies muss jedoch durch das
Managen der relevanten Risiken ausbalanciert werden. Auch
wenn ein umfassender Bedarf für zügige Verbesserungen vorliegt, ist es ratsam, in kleinen Schritten vorzugehen, Vertrauen
aufzubauen und Erfahrungen zu sammeln.
DMR: Welches sind Ihrer Ansicht nach die drei wichtigsten
­Herausforderungen bei der Implementierung einer zukunftsfähigen
Unternehmensstruktur?
M. Kelly: Darauf sind wir ja schon kurz eingegangen. Eine
Herausforderung ist das zunehmend komplexe wirtschaftliche
Umfeld und die Geschwindigkeit, mit der es sich verändert,
einhergehend mit der daraus resultierenden Fragmentierung
der Wertschöpfungskette und der Herausforderung, innerhalb
dieses Umfelds effektiv zu arbeiten. Die zweite Herausforderung
liegt in der Fähigkeit der Unternehmen, hierauf zu reagieren
und interne Zwänge und Hindernisse zu überwinden, die sich
der Integration von IT und Fachseite entgegenstellen. Aus meiner Sicht ist die dritte wirklich große Herausforderung die Art
und Weise, wie der Markt zukünftig gestaltet sein wird – auf
welche Produkte wird sich ein Unternehmen konzentrieren
können und müssen? Vor wenigen Jahren war die Antwort noch
eindeutig. Mittlerweile hat sich der Markt in eine Richtung entwickelt, die mehrere Antworten möglich macht.
Wenn wir davon ausgehen, dass das stimmt, dann müssen wir
schnell und reaktionsfähig sein, da es in der Natur der U
­ mstände
liegt, dass diese sich ändern. Wir müssen diese Änderungen aufspüren und dort, wo es möglich ist, vorwegnehmen.
In diesem Rahmen brauchen wir strategische Richtlinien und
Führung innerhalb der Unternehmen und für die Branche insgesamt. Auf einem Konsens aufzubauen ist nicht perfekt, aber
ich glaube, dass es unsere Fähigkeit, eine gemeinsame Vision
zu entwickeln und daraufhin zu wirken, maximiert. ­Eventuell
besteht die Gegenposition aus der Verteilung der Last, indem
Unternehmen Partnerschaften eingehen, um sich auf ihre
­
­eigenen Stärken zu konzentrieren und Nutzen aus den Stärken
der anderen ziehen. Sinnvolle Kooperationen einzugehen und
Industrieverbände wie TM Forum zu nutzen, ist ebenfalls eine
Option.
In der Hoffnung, dass das Ganze mehr ist als die Summe ­seiner
Teile und auch wenn der Druck auf die Unternehmenswelt
heutzutage vergleichsweise mächtig ist, hält die Zukunft für uns
hervorragende Chancen bereit.
DMR: Vielen Dank für das Interview!
Das Interview führten
Georg Vitt und Frank Lorbacher, Detecon International GmbH.
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Detecon Management Report • 1 / 2011
Organization
Tobias Kress, Andreas Penkert, Carsten Schulz
Keine Musik mehr
in der Warteschleife
Self-Service prägt die Servicekultur 2032
In der Servicevision 2032 wird sich der Kunde vor allem selbst ­helfen
können. Die Herausforderung für Unternehmen besteht im intelligenten Zusammenspiel von Multikanal-Optionen.
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Keine Musik mehr in der Warteschleife
itte haben Sie einen Moment Geduld – Sie werden
„B
gleich mit dem nächsten freien Mitarbeiter verbunden….“
Wer kennt nicht diese oder ähnliche automatische Ansagen, die
den Anrufern von Service-Hotlines die Zeit in der Warteschleife
verkürzen sollen? Doch das Warten wird im Kundenservice von
übermorgen Geschichte sein. Produkte und Prozesse werden
qualitativ immer hochwertiger, zuverlässiger und auch selbsterklärender. Gleichzeitig ist der Kunde autonomer geworden: Die
vielfältigen Möglichkeiten des Internets und die zunehmende
Verbreitung hochleistungsfähiger, mobiler Multimedia-Endgeräte machen Informationen unabhängig von Zeit und Ort verfügbar.
Mit fortschreitender technologischer Innovation wird sich
der Grad der Automatisierung von Serviceleistungen deutlich
erhöhen bei gleichzeitig immer flexibleren und sich erweiternden Zugangsmöglichkeiten des Kunden. Insbesondere die
einfachen, standardisierten First-Level-Anfragen werden über
intelligente Self Service-Angebote durch den Endverbraucher
selbständig abgewickelt werden können.
Diese Entwicklungen revolutionieren die Serviceleistung der
Unternehmen in der Zukunft – der Kundenservice in seiner
ursprünglichen Form, das klassische Call Center als zuständige
organisatorische Serviceeinheit mit der Funktion des exklusiven
„Nadelöhr“ im direkten Kontakt zwischen Kunde und Unternehmen, wird es so sicher nicht mehr geben. Service 2032 wird
ein ganzheitlicher Prozess sein, der an vielfältigen Touchpoints
praktiziert wird und in völlig veränderter Kommunikationsform stattfindet.
mehr und mehr „den Ton angibt“. Dabei profitiert er vor allem
von der rasanten Entwicklung des Web 2.0, die ihn insgesamt
informierter und kritischer in seiner Entscheidung für oder gegen ein Produkt oder eine Dienstleistung macht. Mobile Technologien erlauben dem Kunden zudem einen nahezu permanenten Zugang zu benötigten Informationen – egal wann und
wo er sich gerade befindet.
Mit Web 2.0 haben sich neue Dimensionen der Kommunika­
tion herausgebildet. Dies liegt vor allem in der prägnanten Ausweitung der Social Media – Blogs, Communities, Foren, Wikies
und natürlich Social Networks – begründet. Entstanden sind
Informationsumschlagsplätze mit grenzenloser Reichweite, und
in dieser Eigenschaft werden sie von Nutzern zunehmend auch
als Foren für Beschwerden über und die Bewertung von Unternehmensleistungen genutzt. Der Kunde kann seine Meinung zu
einem Unternehmen oder einer Leistung in Sekundenschnelle
mit einer unüberschaubaren Anzahl anderer Kontaktpersonen
teilen, indem er diese im Internet in einem beliebigen Forum
veröffentlicht. Gleichzeitig kann er auf demselben Wege die
Meinungen einer breiten Masse anderer User empfangen. Die
„Weisheit der Vielen“ („Wisdom of the crowd“) beeinflusst seinen eigenen Standpunkt mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht
unwesentlich mit, noch bevor die eigentlich betroffene Instanz,
das zuständige Unternehmen, überhaupt damit konfrontiert
wurde.
Autonomere Kunden und verändertes
Kommunikations­verhalten
In der Konsequenz bedeutet das: Die übliche „1:1-Kommunikation“ wird immer mehr hinter die Kommunikation zwischen
den Massen („Many-to-many“) zurücktreten. Von einer „neuen
Autonomie des Kunden“ kann mit Recht gesprochen werden,
weil das Web 2.0 die Fähigkeit zu einem intensiveren Austausch
und einer viel höheren Einflussnahme verleiht, als man das bis
dato kannte.
Die Position des Konsumenten im Zusammenspiel der K
­ räfte
zwischen Angebot und Nachfrage hat sich in den vergangenen Jahren gravierend und nachhaltig verändert. Der Verbraucher sieht sich einem Überangebot von Produkten und
Dienst­leistungen gegenüber, die technisch hoch entwickelt, in
­steigendem Maße standardisiert und substituierbar geworden
sind. Es sind Käufermärkte entstanden, in denen der Kunde
Mit den Möglichkeiten, die der Kunde schon heute hat und
noch stärker in der Zukunft nutzen kann, wird er zwangs­läufig
höhere und komplexere Serviceerwartungen entwickeln: Er
möchte Service-Transaktionen, sofern sie denn überhaupt erforderlich sind, in höherem Maße selbständig durchführen, zu
einem selbstgewählten Zeitpunkt und unter geringstmöglichem
Aufwand.
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Organization
Für die Unternehmen bedeutet dies, dass kundenfreundliche
und gleichzeitig effiziente Self Service-Lösungen in der ­Zukunft
immens ausgebaut werden müssen, um die Erwartung des Kunden mit einem entsprechenden Serviceerlebnis zu beantworten.
Dazu gehört, dass bei höherem Schwierigkeitsgrad im Bedarfsfall nach wie vor eine persönliche Beratung für den Kunden
bereit steht. Im intelligenten Zusammenspiel solcher Multi­
kanal-Optionen besteht eine wesentliche Herausforderung der
Servicevision 2032.
spektive und der Umbau zu kundenzentrierten Organisationen
werden die Prozessfehler auf ein Minimum reduzieren und
Durchlaufzeiten steigern.
The Best Service is no Service!
Der Bearbeitungsfortschritt von Anfragen und Beschwerden
wird bereits von einigen Unternehmen aktiv über alle relevanten
Kontaktkanäle ebenfalls in Echtzeit kommuniziert. Auch hier
ist der Kunde genauso informiert wie der Servicemitarbeiter
und benötigt keinen Kontakt mehr – es sei denn, die Bearbeitung erfolgt zu langsam und erfüllt nicht die Erwartungen.
Der freundliche, immer erreichbare und kompetente Kundenservice ist ein Differenzierungsmerkmal, um im Wettbewerb
die Nase vorn zu haben. Die Sichtweise, dass Service nicht nur
ein notwendiges Übel darstellt, ist richtig und wichtig – doch
­welche Gründe gibt es tatsächlich für Kunden, den Kundenservice in Anspruch zu nehmen? In den meisten Fällen sind es
keine Anlässe, mit denen sich Unternehmen differenzieren können!
Die persönliche, individuelle Beratung ist eine wesentliche
Leistung, die Vertrauen bildet und Kundenverhalten beein­
flusst. Die Beratung reduziert die Komplexität für den Kunden
und dient als Navigator durch den Informationsüberfluss von
Produktvielfalt, Serviceleistungen, Kundenbewertungen und
Preisvergleichen. Hier setzen bereits neue technologische Verfahren an, um die Informationsvielfalt zu bündeln und deren
Komplexität mit Web 2.0-Techniken und intelligenten Services
zu reduzieren, damit für den Kunden persönlich relevante Informationen leichter zugänglich werden. Im Zuge dieser neuen Autonomie des Kunden kann der Kundenservice nur dann
punkten, wenn die Beratung als Mehrwert und als vertrauensvoll wahrgenommen wird.
Der überwiegende Teil aller derzeitigen Kundenkontakte resultiert aus unternehmensinternen Prozessproblemen und einer
mangelnden Transparenz beziehungsweise Nachvollziehbarkeit
für den Kunden. Mit der weiteren Optimierung und Professionalisierung der internen Ablaufprozesse, die auch aus Effizienzgründen und der notwendigen Agilität für Unternehmen
vital ist, werden viele Kundenanfragen einfach obsolet. Die
konsequente Ausrichtung der Kernprozesse auf die Kundenper-
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Hinzu kommt die gesteigerte Transparenz gegenüber dem Kunden. Kunden vollziehen bereits den Bearbeitungsstatus in der
gesamte Logistikkette in Echtzeit nach. Hier ist kein Service
mehr erforderlich, da der Kunde alle Informationen selbst vorliegen hat.
Technologischer Fortschritt wird Produkten und Endgeräten
nicht nur ein formschöneres und ästhetischeres Design geben,
sondern gravierend die Installation und Bedienung verbessern.
Die Innovationen werden nicht nur erweiterte Funktionen ermöglichen, sondern ebenfalls die Komplexität reduzieren – und
somit Anfragen zur Produktbedienung im Kundenservice überflüssig machen.
Zusätzlich werden verbesserte Produktionsmethoden in Verbindung mit gesteigerten Qualitätskontrollen – auch in den
Niedrigpreis-Segmenten – die Defektanfälligkeit reduzieren. Im
Defektfall kommen innovative Analyse und Diagnosemethoden zum Einsatz, sodass auch hier die Kundenkontaktintensität
­reduziert wird.
Diese Entwicklungen werden entscheidend zur Reduktion des
Volumens in den heute betriebenen Kundenserviceeinheiten
führen. Damit werden die notwendigen Freiräume zur Konzentration auf die wesentlichen Mehrwert stiftenden Kundeninteraktionen geschaffen.
Self Service – besser als der persönliche Kontakt!
Die Idee ist weder neu noch innovativ: Den Kunden in die
Wertschöpfungskette einzubeziehen, damit er seine Fragen
selbst beantworten kann oder Probleme und Anfragen selbständig löst.
Keine Musik mehr in der Warteschleife
Self Service-Angebote sind in allen Kanälen, in denen Kunden
mit den Unternehmen in Interaktion treten, bekannt und auch
bereits auf recht breiter Ebene akzeptiert.
Dennoch sind die Lösungen nur begrenzt einsetzbar. Automatische, dynamische FAQ-Listen oder natürlichsprachliche
IVR-Systeme – sie alle eint die Voraussetzung, dass der K
­ unde
sein Problem möglichst präzise beschreiben kann. Dies ist eine
erfolgreiche Umsetzungsstrategie in Situationen, in denen die
Anfrage immer die gleiche ist und folglich auch die Lösung
­einer einheitlichen Struktur folgt – eine Einschränkung, die
sehr ­limitiert.
Zukünftig werden Kunden jedoch nicht nur einfache Anliegen
mittels intelligenter Sprachdialogsysteme lösen können oder
sich durch FAQ-Listen wühlen. Nein, Self Service-Lösungen
werden den heute durch die Interaktion mit Mitarbeitern geprägten Service weitestgehend ersetzen – auch für komplexe
Fragestellungen und Transaktionen.
Der permanente Zugang und die Nutzung konvergenter
­Medien und entsprechender Endgeräte einerseits und die technologische Entwicklung andererseits ermöglichen Self ServiceFunktionen, die bisher nur durch Menschen erbracht werden
konnten. Die Grundlagen der relevanten Technologien durchdringen den Alltag durch intelligente Anwendungen.
Virtual Agents wie VirtuOz [www.virtuoz.com] demonstrieren
bereits, wie die Kunde-Maschine-Interaktion im Support und
Sales-Bereich funktioniert. Kunden kommunizieren die Probleme in unstrukturierter Form und erhalten basierend auf den
Ergebnissen der semantischen und syntaktischen Analyse die
entsprechende Antwort oder Information.
Die weiteren Entwicklungen zeigen persönliche Smart Agents
auf. Entgegen der heute praktizierten und bekannten Vorgehensweise, Informationen zu suchen, werden Kunden verändert Serviceleistungen der Unternehmen in Anspruch nehmen.
Smart Agents übernehmen anstelle des Kunden die Aufgabe,
komplexe Sachverhalte zu adressieren und die Bearbeitung
bis zur Lösung zu überwachen. Somit wird der Kunde nicht
mehr direkt mit dem Unternehmen in Kontakt treten, sondern
überträgt diese Aufgabe seinem eigenen intelligenten Agenten.
Smart Agents wie SIRIs [www.siri.com] personal Assisstant
verstehen diese Anfragen, können diese auf Basis der umfangreichen Informationen und Erfahrungen mit ihrem Besitzer
in den entsprechenden Kontext setzen und liefern nicht nur
­relevante Informationen, sondern Lösungen. Der Kunde nutzt
keine Self Service-Angebote der Unternehmen, sondern erhält
eine völlig autonome Lösungsfindung – ohne sein Zutun oder
seine Interaktion mit dem Unternehmen.
Diese Delegation von Informationsbeschaffungsaufgaben und
Problemlösungen wird auch die Entscheidungsfindung und
das Konsumentenverhalten beeinflussen. Unternehmen werden
gezielt die noch verbleibenden direkten Interaktionen nutzen
müssen, um Kundenloyalität durch Service zu etablieren.
Nichts bleibt, wie es war – es wird viel mehr
durch Augmented Reality!
Augmented Reality verknüpft die realen optischen Eindrücke
mit den Informationen aus dem Web oder den Social Networks
und reichert somit jede Alltagssituation mit weiteren, umfangreichen Daten an. Dazu legen die Augmented Reality-Applikationen [www.junaio.com; www.layar.com] diese ergänzenden
Informationen über das Kamerabild.
Die notwendigen Voraussetzungen finden sich bereits in den
meisten mobilen Endgeräten – Kamera, GPS, Kompass, Barcode-Scanner und der entsprechende Breitband Zugang.
Dies wird nicht nur die kundenindividuelle Ansprache im Sinne
des Segment-of-one-Ansatzes in Verbindung mit dem Location
Based Marketing verändern. Es bietet auch neue Chancen für
den Kundenservice – an allen Kunden-Touchpoints.
Die Anreicherung der sichtbaren Realität bietet im Besonderen deutlich erweiterte Möglichkeiten zur Lösungsunterstützung bei technischen Problemen und Installationen: Kunden
müssen sich nicht mehr durch komplexe, unverständliche Anleitungen kämpfen oder den technischen Support bemühen.
Das Problem oder die Störung wird durch das sichtbare Bild
automatisch analysiert und die Lösung oder entsprechende
Installa­tionsanweisung Schritt für Schritt auf dem Bildschirm
angezeigt.
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Detecon Management Report • 1 / 2011
Organization
Umfangreiche Abstimmungen und komplexe Erläuterungen
entfallen, ebenso wie weiterstgehend der Einsatz von Kundendienst-Technikern entweder remote per Telefon oder direkt vor
Ort.
Augmented Reality ermöglicht neue Formen des Self Services.
Mit dieser Technik wird es zukünftig möglich sein, die Produkte
mit den Augen eines Servicetechnikers zu sehen. Man hält sein
mobiles Endgerät einfach über das entsprechende Produkt und
aktiviert die Videokamera. Die Anzeige des Videobildes wird
dann mittels Augmented Reality um Serviceinformation oder
Installations- und Handlungsanweisungen angereichert. Dadurch erfährt der Kunden genau, wie er sein Gerät anschließen
oder reparieren muss.
Neue Organisationsformen:
Service als „Wissensarbeit“ im gesamten Unternehmen
Die beschriebenen Entwicklungen werden sich entscheidend auf
die Aufgaben der Call Center auswirken. Call Center wurden
ursprünglich aufgebaut, um Kundeninteraktionen in großem
Umfang abwickeln zu können. Die Komplexität der bearbeiteten Anfragen und Aufträge ist dabei gering. Dieses ermöglicht
einen hohen Grad an Standardisierung, welche die Grundlage
für eine kostengünstige und effiziente Leistungserbringung darstellt. Als weitere Funktion stellen Call Center die ausschließliche Schnittstelle zwischen Unternehmen und Kunden dar. Die
große Masse der Kundenanfragen wird in diese eigenständigen
Organisationseinheiten geleitet, um die Gesamtorganisation
nicht mit dem Arbeitsaufwand der vielen Kundenanfragen zu
belasten. Der überwiegende Teil dieser Anfragen wird in den
beiden typischen Kompetenzstufen eines Call Centers, dem 1st
und 2nd Level, fallabschließend bearbeitet. Nur die sehr geringe
Anzahl an Anrufern mit komplexen Fragestellungen wird vom
Call Center in die entsprechenden Fachabteilungen der Unternehmung geleitet.
Durch die beschriebenen Entwicklungen wird der überwiegende
Teil der einfachen Serviceanfragen, welche heute in Call Centern bearbeitet werden, wegfallen. Ein Großteil der Kundenanfragen resultiert aus Prozess- oder Produktfehlern sowie aus
der unverständlichen Handhabung von Produkten. Verbesserte
Prozesse und Produkte werden daher deutlich zum Rückgang
des Servicevolumens beitragen. Die noch verbleibenden Aufgaben können die Kunden zukünftig schneller und bequemer
per Self Service erledigen. Werden zusätzliche Informationen
benötigt, so stellt das „wisdom of the crowd“ des Internet diese
überall verfügbar bereit.
Mit dem Wegfall der großen Masse an einfachen Serviceanfragen entfällt das hauptsächliche Aufgabengebiet der Call Center.
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Detecon Management Report • 1 / 2011
Call Center als eingeständige, dem Unternehmen ­vorgelagerte
Unternehmenseinheiten werden nicht mehr benötigt. Die
wenigen verbleibenden, komplexen Kundenanfragen werden
­
ohne manuelle Weiterleitung von den Kunden direkt an das
Unternehmen gerichtet. Durch die zunehmende Vernetzung –
intern wie extern – werden Unternehmen transparenter. Kunden sind durch neue Technologien in der Lage, ihr spezifisches
Serviceanliegen selbstständig an die jeweils zuständigen Bereiche
eines Unternehmens zu richten. Dieses bietet den Kunden einen
direkten Zugang zu den gewünschten kompetenten Ansprechpartnern und Informationen und führt zu einer Verbesserung
der Servicequalität. Für Unternehmen bietet diese organisatorische Veränderung die Chance, wieder näher an ihre Kunden
zu kommen. Die produzierenden und produktbezogenen Einheiten eines Unternehmens erhalten direktes Kundenfeedback
über ihre Leistungserbringung und können ihre Wertschöpfung
besser an den Bedürfnissen der Kunden orientieren.
Zu den Aufgaben eines jeden Mitarbeiters wird zukünftig auch
der Kundenservice, die direkte Dienstleistung am Kunden gehören. Der wichtige Unterschied zum heutigen Kundenservice
besteht in der Art der erforderlichen Serviceerbringung. Service
entwickelt sich von der einfachen Standardtätigkeit zur anspruchsvollen Wissensarbeit. Spezifisches Wissen zur schnellen
Lösung des individuellen Kundenanliegens ersetzt die heute
bekannten einheitlichen Standardprozesse. Dieses bedeutet in
der Konsequenz nicht, dass jeder Mitarbeiter zukünftig durch
Kundenanrufe an einer ungestörten Ausübung seiner Tätigkeit
gehindert wird. Die Wissensabfrage erfolgt nicht mehr zwangsläufig one-to-one, sondern durch eine many-to-many-Kommunikation in Netzwerken. Für den zukünftigen Wissensarbeiter
wird der Austausch mit anderen Menschen, das Teilen von
Informationen, zwingend notwendig sein. Wissensaustausch
findet innerhalb der Unternehmen zur optimalen Leistungserbringung statt – und mit dem Kunden als permanenter Feedbackpartner. Dieses führt zu einem besseren Kundenverständnis, bedarfsorientierteren Produkten und Dienstleistungen,
höherer Kundenzufriedenheit und damit steigenden Umsätzen.
Die steigende Komplexität erzeugt zusätzlich den Bedarf nach
einer neuen Form der Kundenservicedienstleistung. Concierges
werden auf Wunsch die Navigation durch das Informationsnetzwerk übernehmen. Die Funktion von Concierges wird das
Verknüpfen von Wissensträgern und Informationen sein. Dabei
folgen sie keinem Standardprozess, sondern sind ausschließlich
am Ziel der optimalen Kundenzufriedenheit orientiert. Die Bereitstellung von Concierges ist eine optionale Dienst­leistung,
die anders als heutige Call Center nicht zwingend für die
­Leistungserbringung am Kunden notwendig ist. Damit stellen
die Concierges ein Differenzierungsmerkmal für Unternehmen
dar. Bei immer homogeneren Produkten und Dienstleistungen
Keine Musik mehr in der Warteschleife
können sich Unternehmen durch zusätzliche Dienstleistungen
wie die eines Concierges von ihren Wettbewerbern abheben.
Durch den fallbezogenen und individuellen Charakter dieser
Dienstleistung werden die Kosten dafür deutlich höher sein als
für die heutigen, standardisierten Call Center-Leistungen. Lediglich Premiumanbieter werden diese Dienstleistung aufgrund
ihrer Ertragsstruktur kostenlos anbieten können. Anbieter aus
niedrigeren Preissegmenten werden diesen Service als zusätzliches, kostenpflichtiges Angebot ihren Kunden zur Verfügung
stellen, so dass Kunden fallweise entscheiden, ob sie diesen Service in Anspruch nehmen wollen oder nicht.
Concierge. Diese Dienstleistung erlaubt dem Kunden weiterhin
einen Single Point of Contact zu einem Unternehmen – aber
auf einem qualitativ höheren Niveau als heute.
Der Concierge als Single Point of Contact – Dienstleistung
auf hohem Niveau
[email protected]
Der Kundenservice wird bis zum Jahr 2032 gravierende Veränderungen erfahren. Die Kundenserviceeinheiten werden in ihrer
derzeitigen Form nicht mehr existieren. Da das Bedürfnis der
Kunden zur one-to-one-Kommunikation mit den Unternehmen drastisch sinken wird, entfällt der Großteil der heutigen
Aufgaben eines Call-Centers. Direkte Kommunikation zwischen Kunden und Unternehmen wird nur noch zu hochspezifischen Themen stattfinden und dann durch eine Vernetzung
von Kunden und Fachexperten. Dies schafft eine Herausforderung für die Unternehmen, da der direkte Kundenkontakt weitestgehend verloren geht und somit die Chance auf Loyalisierung durch emotionale Erlebnisse im direkten Kontakt. Doch
schafft dies ebenfalls den erweiterten Freiraum für die noch
verbleibenden Aufgaben und die zentrale Rolle im Service: Den
Tobias Kress arbeitet als Senior Consultant im Global Compentence Team
CRM, Sales & Service und ist Spezialist für den Bereich Financial Services.
Seine mehr als zehnjährige Berufserfahrung sammelte er bei Banken und Unternehmensberatungen. Seine Themenschwerpunkte sind CRM und Customer
Care-Strategien sowie kundenwertdifferenzierte Service- und Vertriebsstrategien. Er ist Autor verschiedener Publikationen zum Thema Kundenservice und
CRM.
Andreas Penkert arbeitet seit 2008 als Senior Consultant im Global Competence Team CRM Sales & Service. Vor seinem Wechsel in die Beratung war
er mehrere Jahre als Projekt- und Business Manager im CRM- und Customer
Care-Umfeld tätig. Der Schwerpunkt seiner Beratungsexpertise liegt auf den
Themen Customer Service Management, Konsolidierungsstrategien sowie
CRM-Innovationen. Er ist Autor verschiedener Publikationen zum Thema
Kundenservice und CRM.
[email protected]
Carsten Schulz ist Partner und leitet das Global Competence Team CRM,
Sales & Service. Mit mehr als zehn Jahren Erfahrung als Unternehmens­berater für CRM und Call Center liegen seine Schwerpunkte auf innovativen
CRM- und Servicestrategien, Customer Care-Organisation und O
­ utsourcing.
Er e­ntwickelte verschiedene Loyalitätskonzepte und baute ein führendes
­Multipartner Bonusprogramm auf. Er ist Autor verschiedener Publikationen
zum Thema Kundenservice.
[email protected]
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Detecon Management Report • 1 / 2011
Technology
Gregor Kaczor, Johannes Ewers
Intelligente
Helfer erobern
die Welt
Die Renaissance der künstlichen Intelligenz
Künstliche Intelligenz – nach euphorischen Erwartungen
vor 20 Jahren und vielen Rückschlägen steht eine Renaissance bevor. Automatische Spracherkennung, regelbasierte
Systeme, neuronale Netze und Mustererkennung haben sich
schon jetzt in Internet-Suchmaschinen, Einkaufsportalen
oder Computerspielen etabliert. Die wachsende Vernetzung, beinahe unlimitierte Rechenleistung in der Cloud,
Lernalgorithmen und innovative Programmierverfahren
schaffen in Zukunft ein neues Eco-System für die Umsetzung intelligenter Schnittstellen und Dienste.
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Detecon Management Report • 1 / 2011
Intelligente Helfer erobern die Welt
ernen Sie noch Fremdsprachen? Das ist vielleicht schon
L
bald eine unnötige Anstrengung. In Zukunft übersetzt das
Mobil­telefon für Sie simultan. Und das nicht nur in einer
Sprache, sondern in allen Sprachen, die global eine Bedeutung
haben. Ihre chinesischen Geschäftspartner werden sich ­freuen.
Forschungseinrichtungen und Firmen wie Google arbeiten
­
­bereits heute an den ersten praktischen Applikationen1.
Das ist nur ein Beispiel für einen neuen Abschnitt des digitalen
Zeitalters, in dem der digitale Assistent tatsächlich persönlich
wird. PDAs (Personal Digital Assistant) sind spätestens nach
dem Erfolg des iPhones und des Blackberrys in jedem Haushalt
zu finden. Die tragbaren Computer, die Anfang der 90er Jahre
von verschiedenen Herstellern wie Palm, Apple oder RIM eingeführt wurden, haben nach der Verschmelzung mit Mobiltelefonen den Durchbruch geschafft. Die kleinen Helfer versorgen
uns überall mit Email, Internetzugang und schließen den Medienbruch zwischen der Terminverwaltung auf dem Bürorechner
und dem tragbaren Papierkalender. Ladbare „Apps“ erweitern
den Funktionsumfang täglich in neue Richtungen. Noch ist
die Leistung der persönlichen Assistenz auf einfache Aufgaben
­beschränkt. Diese Schranke wird fallen. In den nächsten 20
Jahren werden digitale Systeme zu tatsächlichen Assistenten des
Benutzers werden. Sie werden ihm nicht nur helfen, sprachliche
Barrieren zu überwinden, sondern entwickeln sich zum individuellen Ratgeber und Agenten. Der Schlüssel zu dieser Entwicklung ist der Einsatz der künstlichen Intelligenz – kurz KI.
Erste Forschungsvorhaben unterschätzten Komplexität
Was kann man sich unter dieser Bezeichnung vorstellen? Bis
heute fällt es schwer, das Wort „Intelligenz“ im menschlichen
Kontext zu definieren, denn darunter fallen ganz verschiedene
Aspekte menschlichen Verhaltens vom logisch-mathematischen
Planen bis zur Emotionalen Intelligenz. Unter künstlicher Intelligenz verstehen wir eher ein selbstständiges, planvolles Handeln eines Computer-Systems, das über eine einfache Abarbeitung eines Algorithmus weit hinausgeht und das selbstständiges
1http://googleblog.blogspot.com/2011/01/new-look-for-google-translate-for.html
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Detecon Management Report • 1 / 2011
Technology
Lernen und ein vorgegebenes oder teilweise von der KI selbsterzeugtes Abbild der Umwelt voraussetzt.
KI-Technologie umgibt uns bereits heute in vielen
Anwendungen
Die systematische Erforschung der künstlichen Intelligenz hat
ihren Anfang in den 50er Jahren mit der ersten Konferenz zu
diesem Thema am Dartmouth College. Die Erwartungen waren
enorm. Die Forscher glaubten, innerhalb einer Generation eine
Maschine zu bauen, die nach allen menschlichen Maßstäben intelligent sein würde. Durch diese Hoffnungen getrieben wurden
sehr viele Forschungsprogramme aus öffentlicher und privater
Hand finanziert. Bald stellte sich heraus, dass die Komplexität
einer intelligenten Maschine hoffnungslos unterschätzt wurde.
Die Forschungsziele waren für den damaligen Stand der Technik zu hoch gesetzt. Von dieser Perspektive ausgehend waren die
Forschungsergebnisse enttäuschend, sodass die Finanzierung
der Forschungsvorhaben immer wieder stockte.
Ob künstliche Intelligenz, die mit menschlicher Intelligenz
konkurrieren kann, sich jemals in einer Maschine schaffen lässt,
bleibt noch abzuwarten, zumal die Definition von Intelligenz
nicht eindeutig geklärt ist. Was aber in den nächsten 20 Jahren möglich ist, ist wohl ein kognitives System, das mit dem
Menschen oder auch anderen kognitiven Systemen interagieren
kann. Wo ist der Unterschied? Nun, ein kognitives System muss
nicht intelligent sein. Niemand würde bei Fruchtfliegen von
­Intelligenz sprechen, doch die kognitiven Leistungen, wie Flug,
Koordination in einem dreidimensionalen Raum, das Aufspüren und Nutzen von Futterquellen, Partnerwahl sind unbestritten. Man könnte die kognitive Leistung zusammenfassend als
Überleben in einer komplexen Umwelt bezeichnen.
Die ersten Ansätze zur KI beruhen auf der Konstruktion von
Regelsammlungen, zum Beispiel medizinische Diagnoseregeln.
Durch Suche optimaler Kombination von Regeln kann eine
Diagnose oder ein Plan abgeleitet werden. Damit ließen sich
durchaus leistungsfähige Diagnosesysteme, auch für andere Gebiete wie technische Fehlersuche, aufbauen. In sehr fokussierten
und gut beschreibbaren Fachgebieten wie dem Schachspiel sind
Computer inzwischen in der Lage, jeden menschlichen Gegner zu schlagen. Um diese Regelwerke zu konstruieren, sind allerdings erst einmal menschliche Experten notwendig, die ihr
Wissen abgeben. Aber welcher Experte macht sich schon gerne
überflüssig?
Die KI-Technologie umgibt uns bereits. Auf dem militärischen
Sektor sind es autonom fliegende Drohnen oder der InfanterieRoboter BIGDOG3, welcher mehr als das eigene Gewicht an
Gepäck im unzugänglichen Gelände tragen kann. Die Automobilindustrie forscht an völlig neuartigen Fahrer-AssistenzSystemen. BMW arbeitet an einem Fahrzeug, das eine Notfallsituation des Fahrers erkennt4. Fällt der Fahrer aus, manövriert
es in Abhängigkeit vom Verkehr an den rechten Fahrstreifen,
stoppt und informiert währenddessen den Leitstand über den
Vorfall. Volvo hat Mitte Januar 2011 automatisches Kolonnenfahren getestet. Volkswagen arbeitet an einer automatischen
Erkennung von Verkehrsteilnehmern wie Fußgänger und Fahrradfahrer. IBM ließ im Februar 2011 seine Software „Watson“
gegen amtierende Jeopardy Champions antreten. Jeopardy ist
ein bekanntes Quiz, bei dem den Spielern Antworten aus verschiedenen ­Wissensgebieten präsentiert werden. Es gewinnt der
Spieler, der am schnellsten die passende Frage zu der Antwort
formulieren kann – zum Beispiel Vorgabe: Aquamanile; Antwort: Was ist eine Handwaschschale, die bei liturgischen Handlungen benutzt wird? Watson erhält die Antworten als Textdatei,
um innerhalb von etwa drei Sekunden aus zirka 100 GB Daten
basierend auf Wikipedia, Enzyklopädien, Wörterbüchern, Biographien und so weiter eine Frage zu formulieren Watson hat
sich gegen die beiden Jeopardy-Champions erfolgreich durchgesetzt. Damit hat IBM ein state-of-the-art Produkt, das natürliche Sprachverarbeitung und Ausgabe, Information Retrieval,
Wissensrepräsentation und Interferenz sowie maschinelles Lernen in einem bestimmten Kontext kombiniert. Dabei liegt die
eigentliche Leistung in der ­Kombination der unterschiedlichen
Ausgangsdaten zu einer konsistenten Wissensbasis.
Regelwerke mit wenigen hundert Regeln konnten noch von
Experten kontrolliert werden. Bei 10.000den von Regeln waren der Rechenleistung und der Programmierbarkeit Grenzen
gesetzt. Es wurde deshalb nach neuen Methoden gesucht, die
KI-Systemen selbstständiges Lernen ermöglicht. Ein Lösungsweg führte zu „neuronalen Netzen“, die die Arbeitsweise von
Nervenzellen nachahmen. In den 90er Jahren war die auf dem
Markt verfügbare Rechenleistung ausreichend, um in der Medizintechnologie moderne Analyseverfahren einzuführen, die
dreidimensionale Abbildungen des Gehirns erzeugen. Mithilfe der Magnetresonanztomographie konnte man Gehirne von
Menschen und Tieren ohne großen Aufwand bei einfachen
kognitiven Aufgaben beobachten. Diese Technologien eröffneten neue Perspektiven auf die Arbeitsweise des Gehirns und
befeuerten die Entwicklung moderner mathematischer Hirnmodelle, die am Computer simuliert werden können2. Zudem
verabschiedete man sich von dem Vorhaben, eine komplette
intelligente Maschine zu bauen und fokussierte sich auf Teil­
aspekte der kognitiven Informationsverarbeitung, wie Objekterkennung, Spracherkennung sowie Datenklassifikation.
68
Detecon Management Report • 1 / 2011
2 Blue Brain Project http://bluebrain.epfl.ch/
3 BigDog video http://www.youtube.com/watch?v=W1czBcnX1Ww
4http://www.heise.de/autos/artikel/BMW-entwickelt-automatischenNothalteassistenten-455648.html
Intelligente Helfer erobern die Welt
Ein weiteres wichtiges Anwendungsfeld der KI ist die Finanzwelt. Die Europäische Union hat Ende 2010 das Forschungsprojekt „FIRST“ – „Information Extraction and Integration Infrastructure for Supporting Financial Decision
Making“ (http://project-first.eu/) zu diesem Thema gestartet.
Ziel ist die Entwicklung eines Informationssystems für Marktüberwachung und Risiko-Management, Online-Retail-Banking
und Brokerage. Zielgruppe sind Finanzexperten und interessierte Benutzer, die auf Finanzinformationen „on demand“ zugreifen möchten. Die Datengrundlage stellen textbasierende Quellen wie Nachrichten, Blogs oder Online-Newsletter. Mit Hilfe
von KI-Algorithmen wird aus ihnen das Wissen extrahiert, das
Entscheidungen am Finanzmarkt unterstützen soll.
Entwicklung von Lehr- und Lernalgorithmen rückt
in den Forschungsfokus
Das ist mit einem überschaubaren Modell machbar. Später fasst
der persönliche Assistent aber nach und nutzt dazu ein komplexes Verhaltensmodell, das Initiativen erlaubt:
KI:
„Du warst heute im Finanzamt, aber nur kurz.
Bewegungsprofil über GPS
Hatte es nicht auf?“
Angaben auf der Website waren nicht aktuell
Mensch: „Nein. Es war bereits geschlossen.“
KI:
Stellt fest, dass Benutzer innerhalb der angegebenen
Öffnungszeit da war.
„Ich sende eine E-Mail an die Kontaktadresse und
frage nach den aktuellen Öffnungszeiten.“
Diese Beispiele zeigen auf beeindruckende Weise, was heute
bereits möglich ist und bald den normalen Stand der Technik
darstellen wird. Die Erwartungen an ein KI-System in der einfachen Interaktion mit dem Menschen sind mit den heute zur
Verfügung stehenden Technologien schon zu bewältigen. Das
ideale Medium der Mensch-Maschine-Kommunikation ist die
Sprachsteuerung. Während das Problem der Spracherkennung
bereits zufriedenstellend gelöst ist, gibt es bisher keinen funktionierenden Ansatz, das Gesprochene von einer Maschine „verstehen zu lassen“. Zurzeit lassen sich nur Kommando-getriebene
Maschinen realisieren, die auf bestimmte Kommandos oder
andere Trigger aus der Umwelt reagieren und vordefinierte Aktionen mit geringem Spielraum ausführen.
Mensch: „Gerne. Vielen Dank.“
Das Beispiel einer einfachen Recherche und einer komplexeren
Reaktion soll das mögliche Verhalten einer KI zeigen:
Ein weiteres Hindernis auf dem Weg zur KI ist die Programmierung der KI-Systeme. Der klassische Ansatz der Definition
von Regelsystemen ist nur für eine beschränkte Zahl von Regeln
manuell machbar. Der innovative Schritt ist die Entwicklung
von Lehr- und Lern-Algorithmen, so dass die KI wie ein Kind,
unter Anleitung aber auch selbstständig, sinnvolles Verstehen
und Verhalten lernt. Zentrales Element ist der Aufbau einer
Wissensbasis, die Verbindungen zwischen Objekten der realen
Welt speichert. Das Internet bietet heute strukturierte und unstrukturierte Daten in unbegrenzter Menge, die dazu verwendet
werden können. Eine einmal generierte Wissensbasis kann dann
beliebig kopiert werden.
Mensch: „Ich muss zum Finanzamt, wie lange hat es heute
offen?“
KI: „Finanzamt IV in Bonn?“
Vorschlag ermittelt aufgrund der Adresse des Nutzers
Mensch:„Ja.“
KI: Besucht die entsprechende Seite, extrahiert die
Öffnungszeiten
„Mo-Fr 8:00h bis 17:00h
Ich habe auch eine Wegbeschreibung“
Mensch: „Nicht nötig. Vielen Dank!“
Code für abgeschlossenen Kommunikationsprozess
Das zweite Beispiel ist als initiatives, planerisches Handeln noch
Zukunftsmusik.
Bisher waren hohe Rechenleistung und großer Speicherbedarf
noch einschränkende Faktoren beim Einsatz von KI-Programmen. Nach dem MoorschenGesetz verdoppelt sich die Rechenleistung von Prozessoren (genau: die Dichter der Bausteine auf
einem Computer-Chip) alle 18 Monate. Führende Mikroprozessorhersteller wie Intel und AMD glauben, dass dieses Gesetz – wie in den letzten 30 Jahren - noch mindestens 20 Jahre
Bestand haben wird.
Damit sind die wichtigsten Voraussetzungen für den Einsatz
fortgeschrittener KI-Technologie, die Verfügbarkeit von enormer Rechenleistung und von autonomen Lernalgorithmen in
der Zukunft gegeben.
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Detecon Management Report • 1 / 2011
Technology
Was erwartet uns in 20 Jahren?
Was passiert, wenn man sich diese beschriebenen Technologien
eine Größenordnung ausgereifter vorstellt und diese miteinander kombiniert
Dinge, die wir erwarten können, sind:
• KI-basierte Persönliche Assistenten oder Agenten werden
ähnlich gehandelt wie heute Apps auf Mobiltelefonen. Diese
Assistenten werden einen „Charakter“ haben und sich an das
Verhalten des Benutzers anpassen.
• Die Interaktion zwischen Mensch und Maschine wird die
emphatische Ebene erreichen. Durch die Sprachsteuerung
werden an den Agenten nicht nur Aufgaben übermittelt, sondern auch die emotionale Verfassung des Menschen. Aus der
Stimmlage, der Sprechgeschwindigkeit und der Betonung wird
ein emotionales Abbild des Menschen in der Maschine berechnet, wodurch das Verhalten der Maschine beeinflusst und an
die Stimmungslage des Menschen angepasst wird. Visuelle Reize
wie die Gesichtsmimik werden das emphatische Verhalten der
Maschine unterstützen.
• Komplexe Dienstleistungen in regulierten und gut
­dokumentierten Bereichen werden in Form von KI-basierten
Ratgebern angeboten, zum Beispiel Rechtberatung, Steuerberatung, ­Finanzberatung, Einkaufsberatung oder medizinische
Diagnose.
• Markteintrittsbarrieren auf internationalen Märkte sinken, da
der Kommunikations- und Übersetzungsaufwand sich verringert. Der kulturelle Anpassungsaufwand bleibt bestehen, kann
aber durch einen persönlichen KI-Berater verbessert werden.
• Verträge können zwischen zwei KI-Assistenten ausgehandelt,
Risiken und Vorteile bewertet und zur finalen Entscheidung
vorgelegt werden. Komplette Geschäftsmodelle, Leistungsbeziehungen und virtuelle Firmen lassen sich so bei entsprechender
Standardisierung in kurzer Zeit realisieren.
• Software-Entwicklung von Applikationen wird möglich, die
alleine aus fachlichen Anforderungsdokumenten (Geschäftsregeln) gesteuert wird. Entwickler werden immer weniger für die
technische Realisierung zuständig sein, sondern zunehmend für
die Beschreibung von Nutzungsmodellen in einer fachlichen
Domäne. Die Kosten individueller Softwareentwicklung werden sinken. Es wird mehr Software entwickelt denn je.
• Erste KI-basierte Kunstwerke in Form von Musik, Text und
Video werden auftauchen. Bei Filmen wird nicht nur die Grafik,
sondern auch die Dramaturgie von einer Maschine ­entwickelt.
Abbildung: KI-basiertes Sprechen
Guten
Tag
Spracherkennung
Sprachsynthese
Syntaxanalyse
Syntaxsynthese
Semantisches
Modell
Regelsystem
Lernalgorithmus
KI-Cloud
Internet
Wkipedia
Quelle: Detecon
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Blogs
News
Intelligente Helfer erobern die Welt
• In Online-Computerspielen sind menschliche Benutzer von
den Computer-Avataren im Verhalten nicht zu unterscheiden.
Der Einsatz der KI-Technologie wird die Computerspielindustrie revolutionieren. Heute wird das intelligente Verhalten in
Computerspielen nur simuliert, weil es weder ein zufriedenstellendes KI-Modell der Umwelt gibt, noch ausreichend Ressourcen, um so ein Modell neben den oft Ressourcenhungrigen
Spielen ablaufen zu lassen. In der Zukunft wird es möglich sein
real anmutende Welten zu schaffen, mit individuellen Charakteren und Verhalten. Die KI-Charaktere werden in der Lage sein
aufeinander zu reagieren, auf eine kreative Weise eigene Ziele
zu verfolgen und ermöglichen somit eine bis heute unbekannte
Spieltiefe.
Beispiel im „Terminator“oder in „Matrix“. Hinter diesen Science Fiction-Szenarien stehen reale Ängste vor der Technologieentwicklung. Mit jeder neuen Technologie gibt es in der Gesellschaft Berührungsängste. Beispiele sind in der Geschichte oft
dokumentiert worden: Der Dampflokomotive sprach man einen negativen Einfluss auf die Milchleistung von Kühen zu und
hohe Geschwindigkeiten sollten zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen beim Menschen führen. Diese, heute ­irrational
anmutenden Ängste sind zu erwarten, wenn der Einfluss neuer
Technologien auf die Umwelt und Gesellschaft nicht überschaubar ist und vielleicht ganz anders ausfällt als erwartet. Die Frage
lautet in solchen Fällen oft: Was geht verloren, wer wird verlieren und was gewinnen wir als Individuen und als Gesellschaft?
• Die in 3D real erlebbaren Simulationen werden völlig neue
Wege nicht nur des Spiels, sondern auch des Lernens eröffnen.
Die Entwicklung der KI-Technologie wird zudem Einfluss auf
das Bildungswesen haben. Ebenso, wie es heute üblich ist, Schülern den Umgang mit der Informationstechnologie zu vermitteln, wird es in Zukunft nötig sein, bereits im Schulalter den
Umgang mit der KI-Technologie zu erlernen.
Die KI-Technologie hat ihren Siegeszug bereits vor langer Zeit
angetreten. Die Frage ist nicht mehr, ob sie in der globalen Produkt- und Dienstleistungswelt ihren Platz findet - sie ist bereits
da. KI heute lässt sich mit dem DARPANET vergleichen, dem
Vorläufer des Internets. Das Konzept eines verteilten Netzes
weckte die Neugier der Militärs, anschließend der Wissenschaftler, der Informatiker und Tüftler, um dann innerhalb weniger
Jahre zur Grundlage der Informationsgesellschaft zu werden.
Die für die KI-Technologie benötigte Rechenleistung wird in
den nächsten Jahren noch keinen Platz in einem PDA oder
Mobiltelefon finden. Daher ist die Entwicklung von KI-Clouds
wahrscheinlich, die global KI-spezifische Dienstleistungen onDemand anbieten werden. Cloud ist ein breit verwendeter
Begriff in der Informationstechnologie. Er bezeichnet die Bereitstellung einer Informations-Dienstleistung über das Internet
durch einen Anbieter, bei der die genaue Lokalität dem Nutzer
nicht bekannt sein braucht. Auf diese Weise lassen sich komplexe Anwendungen, wie die automatische Sprachübersetzung,
auch auf einfachen mobilen Endgeräten global nutzen.
Ängste besiegen, Herausforderungen annehmen
Die Implikationen einer neuen Technologie sind komplex.
Ein Beispiel hierfür ist die Echtzeitkommunikation auf Social
Networking-Plattformen wie Twitter und Facebook. Sie wird
­aktuell zur Koordination von Großdemonstrationen eingesetzt,
wie die Beispiele aus Tunesien, Ägypten und Jemen zeigen. Dieses Feature war mit ziemlicher Sicherheit nicht darauf hin geplant worden, hat sich aber als Werkzeug einer breiten Masse
durchgesetzt.
Die Risiken der KI sind ein häufiges Thema in Science F
­ iction
Literatur oder Filmen. Meist geht es um den Verlust der Selbstbestimmung der Menschen gegenüber den Maschinen, zum
KI wird in den nächsten 20 Jahren unser Leben ähnlich verändern, wie es das Internet in den vergangenen 20 Jahren getan
hat. Das ist eine Herausforderung. Noch ist der Markt für KI
überschaubar und wenig strukturiert. Doch wie beim Internet
wird sich die Geschichte wiederholen: Nur die Unternehmen
werden den Markt erobern und neue Geschäftsmodelle etablieren, welche die Herausforderungen auf diesem Feld frühzeitig
identifizieren und meistern.
Johannes Ewers leitet die Gruppe „Telco Application Strategy“. Er hat lang­
jährige Erfahrung als Projektmanager und Systemarchitekt. Dabei beschränkt
sich das Thema System-Architektur für ihn nicht auf technische Konzepte,
sondern beginnt bei der strategischen und wirtschaftlichen Ausrichtung eines
Systems. Der Schwerpunkt seiner Arbeit liegt in der Entwicklung von Lösungen
für Telekommunikationsunternehmen, darunter OSS-/BSS-Anwendungen,
­Internet Services und Business Intelligence Systeme.
[email protected]
Gregor Kaczor hat Wirtschaftsinformatik an der Universität Duisburg-Essen
studiert und schließt gerade eine Doktorarbeit ab. Er hat nach einer Zeit als
Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Goethe Universität Frankfurt/Main für
Accenture Technology Solutions im Bereich Incident-, Problem und Changemanagement für Retail-Informationssysteme gearbeitet. Zu seinen fachlichen
Schwerpunkten gehören Systemanalyse und -modellierung, Open Source
­Frameworks und die Simulation neuronaler Netze.
[email protected]
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Detecon Management Report • 1 / 2011
Technology
Dr. Hans-Peter Petry, George Salisbury, Dr. Kai Grunert
Spiel mit Grenzen
Die Zukunft der Netze
Anwendungswelten der Informations- und Kommunikationstechnologie
(ICT) sind im Rahmen globaler Trends auch längerfristig vorhersagbar. Von
einer hohen Warte aus gesehen handelt es sich um ein komplexes Problem
mit einer zunehmenden Zahl von Randbedingungen. Die Anzahl der möglichen Lösungen nimmt dann in der Regel ab – wenn es überhaupt noch
welche gibt. In dieser Situation befinden wir uns, wenn wir über die Zukunft
von Zugangstechniken nachdenken. Zum einen ist zu untersuchen, was die
Technik überhaupt leisten kann und wo die physikalischen und informationstheoretischen Grenzen liegen, zum anderen ist diese Leistungsfähigkeit
auf bekannte und zukünftige Randbedingungen abzubilden. D
­ iese kennen
wir schon: Sie sind technischer, wirtschaftlicher und politischer Natur.
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Detecon Management Report • 1 / 2011
Spiel mit Grenzen
Foto: Gemälde, Michael Sistig
ie wohnen nicht zufällig in Friedrichshafen? Dann können
S
Sie Familie Bachmann über die „digitale Zukunft“ befragen.
Familie Bachmann gehört zu einer Reihe von sogenannten
„Zukünftlern“ im Rahmen des Projektes T-City Friedrichshafen der Telekom. Sie dürfen nach Herzenslust in die Zukunftswelt der Telekommunikation eintauchen, ohne sich Gedanken
über die Randbedingungen wie Kosten machen zu müssen.
T-City ist ein breit angelegtes Projekt, welches auf modernster
ultraschneller Glasfaserinfrastruktur und Mobilfunk basiert und
über einen Zeitraum von fünf Jahren zur Erprobung neuer Informations- und Kommunikationstechnik ausgelegt ist. Unter
diesen ausgezeichneten Randbedingungen wurden zahlreiche
Innovationsprojekte angestoßen, die alle unter dem Oberbegriff
„smart“ gesehen werden können. Angefangen vom persönlichen
Umfeld im Haus oder der Wohnung, dem beruflichen Umfeld,
bei Behördengängen, vielfältigen medizinischen Anwendungen
– dem Erfindungsreichtum sind keine Grenzen gesetzt. Sicher
sind viele dieser Dinge schon bekannt, viele sind auch nur technische Spielerei und werden sich nicht durchsetzen, allein die
Vielfalt der möglichen Applikationen lässt aber erwarten, dass
sich diejenigen durchsetzen, die uns das Leben leichter machen
und eben nicht Zeit stehlen, sondern mehr Freiräume schaf-
fen. Hinzu kommt der Spaßfaktor: Nicht alles muss permanent
­Effizienzkriterien erfüllen oder Kosten einsparen. Wir kennen
schon einige dieser Innovationen aus den letzten 20 Jahren.
Derartiges wird einem sogar schmerzhaft bewusst, wenn – in
gottseidank sehr seltenen Fällen – ein Mobilfunknetz einmal
ausfällt. Jeder wundert sich, wie er vor 20 Jahren ohne auskommen konnte. Wir gewöhnen uns schnell an diese Innovationen
und richten unser Verhalten danach aus; eine Tatsache, die sich
mit hoher Wahrscheinlichkeit auch für die nächsten 20 Jahre
extrapolieren lässt.
Dienste- und applikationsseitig reden wir daher in der Tat
von einem Spiel ohne Grenzen. Beobachten wir allerdings die
aktuelle Telekommunikationslandschaft, sind jedoch einige
­
Zweifel angebracht, ob die Entwicklung der letzten Jahrzehnte
sich einfach so fortsetzt oder fortsetzen kann. Die aktuell überblickbare Entwicklung der Dienste- und Endgerätevielfalt sowie weitere, oft diskontinuierliche Effekte führen zu einem stark
­nichtlinearen Anstieg der Datenraten. Schon heute zeigen sich
in vielen Bereichen Überlastungseffekte in Netzen, die nicht
mehr durch schnelles Nachbessern bereinigt werden können.
Es stellt sich daher zu Recht die Frage, wohin bei den Netzin-
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Detecon Management Report • 1 / 2011
Technology
frastrukturen langfristig die Reise geht. Was kann die Technik
in Zukunft leisten, gibt es überhaupt irgendwelche Grenzen
und wo liegen diese, gelten Bildungs- und Wachstumsgesetzte ­weiterhin oder liegt die Beschränkung eher bei den ökonomischen und/oder politischen Randbedingungen?
Das bekannteste Bildungsgesetz ist wohl Moore’s Law. Moore’s
Beobachtung aus dem Jahr 1965, dass sich die Anzahl der Transistorfunktionen, die sich wirtschaftlich auf einem ­integrierten
Schaltkreis realisieren lassen, in bestimmten Zeitabständen verdoppelt, lässt sich auf viele ähnliche Wachstumsfelder anwenden. Beispiele hierfür sind Rechenleistung von Prozessoren,
Kapazität von elektronischen Speichermedien, Pixelanzahl elektronischer Displays, um nur einige zu nennen. Sogar für Netze
gibt es eine entsprechende Aussage von Gerry Butters (Bell
Labs): Die Übertragungskapazität einer Glasfaser verdoppelt
sich alle 18 Monate. Können wir uns also beruhigt zurück­lehnen
und weiterhin auf die Gültigkeit derartiger Gesetze verlassen?
Ein Blick zurück auf die bekannten Infrastrukturelemente
der festen und mobilen Kommunikationsnetze bestätigt zunächst diese Gesetze in der Vergangenheit (siehe Abbildung).
­Abgesehen von wenigen Ausreißern lassen sich alle genutzten
Technologien in einer Weise anordnen, dass sich in einer
­logarithmischen Darstellung in etwa eine Verzehnfachung der
jeweiligen Leistungsfähigkeit in einem Zeitrahmen von zirka
fünf Jahren ergibt. Dabei unterscheiden sich die verschiedenen
Medien selbst auch um etwa einen Faktor zehn, der über die
Zeit konstant bleibt und von den physikalischen Übertragungseigenschaften und den jeweiligen Kanaleigenschaften abhängt.
Aber schon bei dieser Feststellung muss man genauer hinsehen.
Die in der Abbildung gezeigten Leistungsmerkmale stellen die
maximalen F
­ ähigkeiten des jeweiligen Mediums unter ­günstigen
Randbedingungen dar. Was letztendlich beim Nutzer ankommt, ist oft eine ganz andere Frage. Den Unterschied merkt
man insbesondere dann, wenn sich Nutzer die zur Verfügung
stehende Bandbreite teilen müssen (shared Medium), wie das
zum Beispiel bei allen Mobilfunksystemen der Fall ist, oder die
Übertragungs­kapazität stark von der Entfernung zum Teilnehmer abhängt (Beispiele: Mobilfunk und xDSL). Hier kommen
dann neben den rein physikalischen und informationstheoretischen Merkmalen auch wirtschaftliche, aufbautechnische und
regulatorische Aspekte zum Tragen. Wollen wir nun einen Blick
in die Zukunft werfen, müssen wir alle diese Aspekte der Reihe
nach untersuchen und mögliche Projektionen entwickeln.
Abbildung: Bildungsgesetze heutiger Telekommunikationstechnologien und ihre Grenzen
Data Rate in Bit/s
1.0E+15
Coax
1.0E+13
Copper/Hybrid
1.0E+12
DOCSIS 3.0
1.0E+09
1G
100 Mbit/s
1.0E+08
DOCSIS 2.0
HDSL
1.0E+07
1.0E+06
ISDN 2B
1.0E+03
ADSL 2+
ADSL
UMTS
EVDO
EDGE
CDMA 2000
1.0E+04
GSM
1T
40 Gbit/s
10 Gbit/s
1.0E+10
VDSL
LTE-A
VDSL2
LTE/WiMAX (MIMO)
LTE
1M
HSPA,
WiMAX
1K
1990
1995
2000
Legende:
= Hybride Techniken (Glas, Kupfer)
Quelle: Detecon
74
Mobile
100 Gbit/s
1.0E+11
1.0E+05
1P
Fiber
1.0E+14
Detecon Management Report • 1 / 2011
2005
2010
= DSL (Kupfer)
2015
= Mobilfunk
2020
2025
= Koaxialkabel
2030
= Glasfaser
2035 Jahr
Spiel mit Grenzen
Physik 2032 = Physik 2011
Die Vorhersage der physikalischen und informationstheoretischen Sachverhalte gehört dabei zu den leichteren Übungen.
Fakt ist: Entsprechende Gesetzmäßigkeiten sind zeitlich invariant und werden daher weiter unverändert gelten. Hierbei können wir uns zunächst auf das Theorem von Claude Shannon
aus dem Jahre 1948 stützen. Basierend auf früheren Arbeiten
von Nyquist und Hartley hat Shannon mit Hilfe rein mathematischer Überlegungen die maximal mögliche Übertragungskapazität eines „Kanals“ hergeleitet. Ein Kanal ist dabei das
­Medium oder ein Teil eines Mediums, welches für die Übertragung benutzt wird. Das Ergebnis ist einfach und elegant: Die
maximal mögliche Kanalkapazität ist proportional zur Bandbreite des jeweiligen Kanals, gewichtet durch einen Faktor, in
dem die bestimmende Variable das Verhältnis zwischen Nutz­
signal und Störer – beispielsweise Rauschen oder Interferenz –
ist. Hier kommen die physikalischen Aspekte ins Spiel. Beim
heutigen Stand der Wissenschaft erfolgen alle Nachrichten­
übertragungsverfahren mit Hilfe elektromagnetischer Wellen in
einem Frequenzbereich bis zu etwas mehr als 1 THz bei optischer Übertragung. Deren Verhalten in verschiedenen Medien
und Umgebungen ist also bestimmend. Andere Möglichkeiten
sind beim heutigen Stand der Technik theoretisch denkbar, werden aber im Betrachtungszeitraum nach aktuellem Kenntnisstand keine Rolle spielen.
Die Bandbreite der Ressource und die Beherrschung des Kanals
bestimmen also die zukünftigen Leistungsmerkmale im Kernnetz und Zugangsbereichen. Es lässt sich daher zunächst folgern, dass alle Technologievarianten, die derartige Grenzen bereits ausgelotet haben, an einer Grenze angelangt sind. Dies gilt
insbesondere im Zugangsbereich und noch schärfer für mobile
Technologien. In diesem Falle hilft nur die Vergrößerung der
Ressource (Bandbreite) an sich oder die Verwendung mehrerer
Kanäle, sofern diese vorhanden und hinreichend unabhängig
(orthogonal) voneinander sind.
Übertragungsmedien und Kanäle – ein weites Feld
Starten wir bei der Prognose für die nächsten 20 Jahre bei der
guten alten Kupferdoppelader: Sie hat die längste Historie a­ ller
Übertragungsmedien und mehr als 100 Jahre über­dauert. Ursprünglich für die direkte Übertragung niederfrequenter ­Signale
(Sprache, Morsezeichen) ausgelegt, wurde sie im Zeitalter
­digitaler breitbandiger Übertragungstechniken bis an die Grenzen des Machbaren ausgereizt. Es ist erstaunlich, was man mit
Hilfe moderner digitaler Übertragungstechniken aus einem für
hochfrequente Signale eigentlich völlig ungeeigneten M
­ edium
herausholen kann. Der große Vorteil: Das Medium ist vorhan-
den, eine wesentliche, nicht-technische Randbedingung also
günstig. Eine deutliche Verbesserung der Leistungsmerkmale
ist aber nicht mehr zu erwarten. Für die nächsten Jahrzehnte
gilt daher die Vorhersage, dass Netzbetreiber nicht mehr massiv
in den weiteren Ausbau von Kupferinfrastrukturen investieren
werden. Vielmehr wird der feste Zugang Zug um Zug durch die
Glasfaser abgelöst.
Die Glasfaser ist das ideale Medium für die breitbandige Übertragung und war den Bandbreiteanforderungen bis heute
­locker gewachsen. Träger der Information sind elektromagnetische Wellen oberhalb des THz Bereiches, bei denen enorme
Bandbreiten zur Verfügung stehen, selbst wenn man nur einen
Bruchteil der Übertragungsfrequenz nutzt. Auch der zweite bestimmende Parameter der Shannon-Gleichung verhält sich ausgesprochen vorteilhaft. Das Medium kann durch einfache und
kostengünstige Verfahren so gestaltet werden, dass selbst über
große Entfernungen der Signal-Störabstand nur geringfügig abnimmt. Beide Effekte führen dazu, dass die Glasfaser allen anderen „Kanälen“ um Größenordnungen überlegen ist. Aber damit nicht genug, ohne große Anstrengungen lässt sich die Zahl
der Kanäle erheblich steigern: zum einen durch Verwendung
mehrerer Träger im optischen Bereich (WDM – man hat’s ja)
und/oder durch Verlegung gleich mehrerer Fasern. Die Kosten
sind gering im Vergleich zu den Verlegekosten. Aber auch das
ist nicht das Ende der Fahnenstange. Mit fortschreitender Technik der Signalquellen (Laser) wächst deren spektrale Reinheit,
was die Anwendung höherstufiger Modulationsverfahren und
­Kanalcodierung in Anlehnung an bereits etablierte Verfahren
der Mobilfunktechniken erlaubt. Derartige Techniken treiben
die kommerziell verfügbare Leistungsgrenze aktuell bis zu 100
Gbit/s für einen einzelnen optischen Träger. Weitere Verkürzung der Pulslängen (höhere Kanalbandbreite) und noch höherstufige Modulationsverfahren können in absehbarer Zeit die
Grenzen bis in den Tbit-Bereich verschieben – jetzt allerdings
auch entfernungsbahängig. Die Grenzen der Glasfaser sind also
in unserem Betrachtungszeitraum (noch) nicht prinzipieller Natur, obwohl diese Grenzen natürlich auch existieren, sondern
durch ökonomische Randbedingungen gegeben. Dies ist eine
gute Nachricht in den Kernnetzbereichen. Der flächendeckende
Ausbau im Anschlussbereich hingegen unterliegt strengen wirtschaftlichen Randbedingungen. Die Lösung dieses Problems
kann nicht Aufgabe des Betreibers alleine sein, sondern ist eine
Aufgabe für die ganze Volkswirtschaft. Der Ausbau wird daher
weiter voranschreiten, es wird starke regionale und überregionale Unterschiede geben, je nachdem, wie schnell die Bedeutung breitbandiger Kommunikation für die Gesellschaft von
Politik und Wirtschaft erkannt und – noch viel wichtiger – auch
umgesetzt wird. Diese Prozesse werden sich über mehrere Jahrzehnte hinziehen und in unserem Betrachtungszeitraum nicht
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Detecon Management Report • 1 / 2011
Technology
abgeschlossen sein. Dabei werden zahlreiche neue Initiativen
auf regionaler, kommunaler und privater Ebene die Anstrengungen der Netzbetreiber ergänzen. Eine schnelle, vollständige
Abdeckung wird sich trotzdem wirtschaftlich nicht realisieren
lassen.
Zur Lösung dieser „Restproblematik“ und natürlich für die
noch attraktivere mobile Breitbandwelt stehen uns drahtlose
Techniken zur Verfügung. Die Unabhängigkeit von leitungsgebundener Übertragung muss allerdings teuer erkauft werden.
Mobile Kanäle haben im Sinne der Shannonschen Informa­
tionstheorie die unangenehmsten Eigenschaften. Eine Vorhersage ist demnach besonders vielschichtig.
In den für mobile Kommunikation geeigneten Frequenz­
bereichen hatten Netzbetreiber in der ersten Dekade des 21.
Jahrhunderts im Mittel zirka 40 - 80 MHz an Gesamtbandbreite zur Verfügung, durch neue Lizensierungsverfahren erweitern sich diese Bereiche aktuell auf zirka 80 - 160 MHz. Eine
­weitere ­wesentliche Vergrößerung dieser Ressource ist nicht zu
erwarten – die erste ernste Begrenzung. In der Regel sind diese
Ressourcen auf mehrere Fragmente verteilt, die unterschiedlich
groß sein können, die Größe der Bruchstücke (letztendlich
bestimmend für die Kanalbandbreite) bewegt sich für mobile
Breitbandanwendungen im Bereich 5 - 20 MHz. Auch daran
wird sich längerfristig nichts ändern, selbst wenn man mehrere
dieser Bruchstücke zusammenfasst, wie beispielsweise bei LTE
Advanced.
Auch beim zweiten bestimmenden Parameter des Shannon
Theorems ist der weitere Spielraum klein. Mobilfunksysteme,
auch breitbandige, weisen beim heutigen Stand der Technik
zellulare Strukturen auf. Das für die Ermittlung der Grenzkapazität wichtige Signal-Störverhältnis hängt dabei von zwei wesentlichen Faktoren ab: der Entfernung zur Zentralstation und
den „Störungen“ durch benachbarte Zellen. Ohne auf die Details dieser komplexen Zusammenhänge einzugehen, lässt sich
aber leicht einsehen, dass dieser kapazitätsbestimmende Faktor
weite Bereiche überstreichen kann: in der Nähe der Zentralstation sind bessere Werte zu erwarten, am Zellrand deutlich
schlechtere. Hinzu kommen weitere lokale und dynamische
Störeffekte wie Abschattung und zusätzliche Dämpfung aufgrund zahlreicher Effekte. Die mittlere Effizienz einer Zelle ist
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Detecon Management Report • 1 / 2011
daher weitaus niedriger als der mögliche Maximalwert – dessen
Auftrittswahrscheinlichkeit ist klein.
Als einzige weitere Verbesserungsmöglichkeit neben Ressource
und Effizienz bleibt die Nutzung mehrere Kanäle. Obwohl das
bei drahtlosen Medien nicht offensichtlich ist, gibt es derartige
Techniken, zum Beispiel MIMO: Multiple In Multiple Out.
Ein Spezialfall davon ist die Nutzung doppelter Polarisation
beim stationären Richtfunk – eine altbekannte Anwendung.
Man kann durch geeignete Einrichtungen für eine derart hohe
Entkopplung sorgen, dass sich die Kapazität tatsächlich verdoppelt. Im Mobilfunkumfeld lassen sich bei geeigneter Umgebung
(viele Umwegsignale) sogar mehr als zwei Kanäle identifizieren
und simultan nutzen. Durch die endliche Größe eines Mobilfunkendgerätes und zahlreiche andere Effekte verkoppeln sich
diese aber so stark miteinander, dass der resultierende Effekt in
Grenzen bleibt.
Alle wesentlichen Parameter zu einer kontinuierlichen S­ teigerung
der Leistungsfähigkeit des Kanals sind also ausgeschöpft. Es verbleibt eine einzige Möglichkeit: die Verkleinerung der ­Zelle und
damit die Erhöhung der Zellenanzahl, das heißt die vermehrte
Verwendung mikrozellularer Konzepte. Da dies ein rein geometrisches Problem ist, gibt es keine physikalische Obergrenze.
Das Signal-Störverhältnis ist umso besser, je kleiner die Zelle
ist. In gleichem Masse wächst die Kanalkapazität und es sinkt
die Wahrscheinlichkeit einer großen Teilnehmerzahl pro Zelle
– a­ lles Trends in die richtige Richtung. Diese Sachverhalte sind
objektiv richtig und auch erkannt, die Umsetzung erfolgt immer
noch zögerlich, wird sich in Zukunft aber verstärken und im Betrachtungszeitraum zu einem wesentlichen Element zukünftiger
Zugangsnetze werden (müssen). Drei wesentliche technische
Probleme müssen dabei gelöst werden: mikrozellulare Konzepte
erfordern flexiblere Frequenzallokationen, niedrige Kosten pro
Infrastrukturelement und ein leistungsfähiges Backhaul-Netz.
Die gute Nachricht: alle Probleme sind lösbar. Insbesondere die
letzte Forderung ist in großem Stil synergetisch mit einem verstärkten Glasfaserausbau.
Heterogene und autonome Netze
Im Rahmen mikrozellularer Konzepte gibt es architektonische
Alternativen, die wir über längere Zeiträume ebenfalls betrach-
ten müssen. Aktuelle Mobilfunknetze sind homogen, das heißt
sie bestehen aus einem zentralen Element, der Basisstation, und
müssen sorgfältig geplant und optimiert werden. Im Rahmen
der Weiterentwicklung von LTE werden sogenannte heterogene
Architekturen betrachtet. Hierbei wird die ­
makroskopische
Zellstruktur mit einem mikrozellularen Netz im oben genannten Sinn überlagert. Dieses ist weniger stringent geplant beziehungsweise kann sogar vollständig unkoordiniert ausgerollt
werden. Die erreichbare theoretische Leistungsgrenze liegt viel
höher als bei Makro-Architekturen, wie wir wissen. Der Backhaul wird dabei von der Makrozelle geliefert. Ähnliche dynamische Architekturen hat man im Falle von extrem kurzreichweitigen Sondernetzen, zum Beispiel M2M, RFID, oder im
Falle der seit langem diskutierten Car-to-Car Kommunikation.
Man kann sich sogar ein Fahrzeug als Bestandteil eines solchen
(ad-hoc) Mobilfunknetzes vorstellen. Das klingt attraktiv und
die technischen Probleme sind höchstwahrscheinlich lösbar. Wir
stehen jedoch vor einem architektonischen Paradigmenwechsel,
der ein radikales Umdenken bei Betreibern erfordert. Derartige Prozesse erfolgen aus den Erfahrungen der Vergangenheit
gesehen – wenn überhaupt – evolutionär, sind daher selbst in
unserem langen Betrachtungszeitraum eher unwahrscheinlich.
Es ist weiterhin zu beachten, dass derartige autonome Netze
äußerst komplex werden und ein hohes Maß an Selbstorganisation bei Ressourcen (Frequenzen) und Architektur erfordern,
um nicht die operativen Kosten zu einer begrenzenden Randbedingung zu machen.
Eine weitere abzusehende Entwicklung bei Mobilfunktechnologien betrifft die Vielfalt der aktuell vorhandenen Varianten.
Jede Mobilfunkgeneration von 2G bis zu 4G hat zahlreiche
Varianten, die untereinander mehr oder weniger inkompatibel sind. Der Übergang von einer Variante zur anderen und/
oder ein Parallelbetrieb mehrerer Standards führt zu enormen
technischen, finanziellen und organisatorischen Problemen
bei Betreibern und zu Akzeptanzproblemen bei Nutzern. Dies
kann auf Dauer keine Lösung sein. Zwei Lösungswege bieten
sich an: Zum einen ist abzusehen, dass sich die Anzahl der Varianten verringert. Eine Konvergenz zu einem einzigen Universalstandard ist im Betrachtungszeitraum aber unwahrscheinlich.
Der zweite Lösungsweg ist wahrscheinlicher. Mit weiter fortschreitender Integration und Reife softwaregesteuerter Systemelemente wird die sogenannte Multistandard-Fähigkeit bei
Infrastruktur­elementen und Endgeräten weiter wachsen, erste
erfolgversprechende ­Lösungen drängen heute schon auf den
Markt. Die Infrastrukturkomponenten werden dabei früher
zur Verfügung stehen – erste Ansätze gibt es bereits. Bei den
Endgeräten verzögern wieder mal die Randbedingungen eine
schnelle Einführung: Über Software konfigurierbare Endgeräte
erfordern hohe Rechenleistungen und haben damit einen hohen Energieverbrauch und geringere Batteriestandzeiten.
Netzinfrastrukturen – nicht nur herrschen, auch teilen
Es ist bekannt, dass die Anforderungen an die Leistungsfähigkeit der Netze in höherem Masse wachsen als deren mögliche
Bildungsgesetze. Die wirtschaftliche Bereitstellung von Infrastruktur in einem ausgewogenen Maße und bei eher sinkenden
Diensteumsätzen wird daher immer schwieriger. Die klassischen
Netzbetreibermodelle geraten hier an ihre Grenzen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass global so gut wie alle Prognosen
über einen mittelfristigen Breitbandausbau den ehrgeizigen
Zielen hinterherhinken. Als eine mögliche Verbesserungsstrategie werden große staatliche Subventionsprogramme angesehen
(Beispiel: USA). Bisherige Erfahrungen zeigen jedoch eine recht
geringe Wirkung. Dies ist dadurch begründet, dass Subven­
tionen erfahrungsgemäß die Probleme nicht bei der Wurzel
anpacken und im Zeitalter vermehrt auftretender Wirtschaftsund ­Finanzkrisen schnell an ihre Grenzen stoßen.
Hier müssen grundsätzlich neue Lösungen gefunden werden.
Erste Ansätze gibt es: Weltweit haben sich daher schon seit
­einiger Zeit zahlreiche Initiativen gebildet, bei denen – auch
konkurrierende – Netzbetreiber sich Infrastrukturaufwand
­teilen (sogenanntes Network Sharing). Dies kann zu einer deutlichen Effizienzsteigerung bei der Infrastrukturnutzung führen,
ist aber ein komplexer und vielschichtiger Prozess, der technische, strategische, organisatorische und mentale Komponenten aufweist. Das Sharing muss sich dabei nicht auf reale Infrastrukturelemente beschränken, sondern kann auch virtuell sein.
Es liegt nun nahe, diesen Gedanken auf alle Arten von Infrastrukturen im öffentlichen und privaten Bereich zu erweitern.
Rein theoretisch sollte sich hier der größte Effizienzgewinn ergeben. Eine erste Analyse zeigt aber, dass hier auch die meisten
Hürden zu überwinden sind, da viele agierende Parteien und
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Detecon Management Report • 1 / 2011
Foto: Gemälde, Michael Sistig
Spiel mit Grenzen
Technology
zahlreiche einschränkende Randbedingungen unter einen Hut
gebracht werden müssen. Ein Fortschreiten auf diesem schon
vereinzelt eingeschlagenen Weg ist aber unabdingbar und wird
daher in unserem Betrachtungszeitraum erheblich an Bedeutung gewinnen. Infrastrukturen als „Besitzstand“ werden mehr
und mehr in Frage gestellt werden müssen. Aber auch hier
sind die bestimmenden Elemente nicht durch Prinzipien und
­Naturgesetze, sondern durch zahlreiche Randbedingungen eingeschränkt. Evolutionäre Prozesse sind also weiterhin angesagt.
Die Zeit nach Moore – Qualität statt Quantität zählt
Im Rahmen der weiter wachsenden Ansprüche an Kapazität
sind die Grenzen in allen Netzbereichen zu erkennen. Flucht
in Bandbreite zur Beherrschung von Qualitätsanforderungen ist
Referenzen
Detecon-Opinion Paper „ICT 2032 – Position for ICT everywhere“, Dr. Karl-Michael Henneking, Lars Theobaldt, Bernd
Ettelbrück, Falk Wöhler-Moorhoff und Daniel dos Reis.
DMR 4/2007: Mobile Breitbandnetze – was kommt da noch?
Technische und wirtschaftliche Perspektiven zukünftiger Funktechnologien, Dr. H.-P. Petry, W. Knospe
DMR 1/2009: Geschwindigkeit ist (keine) Hexerei. Leistungsfähigkeit von Mobilfunkstandards zwischen Wunschvorstellung
und Realität, Dr. H.-P. Petry, D. Schultz
DMR 3/2008: Zwei Seiten der Medaille. Mobile Kommunikationssysteme müssen Einfachheit und Komplexität integrieren,
Dr. H.-P. Petry, J. Noronha
DMR 2/2010: Betreiber zwischen Scylla und Charybdis. Wieviel Differenzierungspotenzial bietet die Leistungsfähigkeit der
Netze?, Dr. H.-P. Petry, G. Salisbury, Dr. A. Schnitter
DMR 1/2010: Gut geteilt ist doppelt gewonnen. Richtlinien
für effizientes Infrastruktur-Sharing, D. Münning, H.-F. Ma,
R. Abdallah
Shannon Claude E., A Mathematical Theory of Communication, Bell System Technical Journal, Vol. 27, October 1948
Nyquist, H., Certain Factors Affecting Telegraph Speed, Bell
System Technical Journal, April 1924
Hartley, R.V.L., “Transmission of Information”, Bell System
Technical Journal, July 1928
heute schon in vielen Netzbereichen nicht mehr möglich, d
­ iese
Effekte werden sich verstärken. Mechanismen zur Verkehrs­
steuerung und entsprechende Optimierungen von Netzarchitekturen und Protokollen werden daher eine größere Bedeutung
erlangen. Auf der kommerziellen Seite wird es eine Korrelation
von Kapazität, Qualität und Kosten geben müssen. Aktuell wird
dieser Punkt kontrovers diskutiert, es wird aber kein Weg daran
vorbeiführen, mit den verfügbaren Ressourcen sorgfältiger und
differenzierter umzugehen. Sie sind nun mal beschränkt und
wir sollten doch aus vielen anderen Bereichen gelernt haben.
Einfache Lösungen wird es nicht geben, das tiefe Verständnis
gültiger Prinzipien, die effiziente Beherrschung komplexer Zusammenhänge, holistisches (Ende-zu-Ende) Denken sind mehr
denn je ein Differenzierungsmerkmal. Wer das beherrscht, wird
alle weiteren „Hypes“ überleben.
Dr. Hans-Peter Petry ist als Managing Partner bei Detecon tätig und verantwortet die Leitung der Competence Practice „Communication Technology“.
Gleichzeitig wurde er in das Executive Board von Detecon berufen. Dr. Petry
ist Autor zahlreicher Publikationen mit dem Schwerpunkt Funktechnik und
besitzt ausgeprägte Erfahrungen im Bereich drahtloser Technologien und deren
Anwendungen im Bereich der Telekommunikation. Seine langjährige Management-Erfahrung im Herstellerumfeld sammelte er unter anderem bei Bosch
Telecom, Marconi und Ericsson. Dort war Dr. Petry in verschiedenen leitenden Funktionen im Bereich Entwicklung, Produktmanagement und Business
Development tätig.
[email protected]
George Salisbury ist Managing Consultant in der Gruppe Technology Strategy. Seine Beratungsschwerpunkte sind die Themen Next Generation Networks
(NGN) und die Entwicklung von Technologiestrategien für internationale
Telekommunikationsunternehmen. Vorher sammelte er mehr als vier Jahre
Business- und Strategieerfahrung in führender Funktion bei einem weltweit
operierenden Telekommunikationsunternehmen. Weitere 19 Jahre war er bei
internationalen Telekommunikationsherstellern beschäftigt mit den Arbeitsschwerpunkten Design und Entwicklung von Sprach-, IP- und Datenkommunikationsnetzen für öffentliche und private Auftraggeber. Insgesamt verfügt er
über mehr als 27 Jahre Erfahrung im Telekommunikationssektor und ist seit
1995 maßgeblich an der Entwicklung von NGN-Konzepten beteiligt.
[email protected]
Dr. Kai Grunert leitet die Gruppe Fixed Access & Transport Technologies.
Schwerpunkt seiner Arbeit ist die Migration und Integration geplanter oder
bestehender Zugangsnetze in ein für den jeweiligen Betreiber optimales NGN
Szenario. Er studierte Maschinenbau an der TU München und promovierte
zum Dr.-Ing. an der TU Berlin.
[email protected]
Foto: Gemäldeausschnitt, Michael Sistig
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Detecon Management Report • 1 / 2011
Detecon publiziert !
Detecon publiziert !
Mehr Flexibilität für Kraftfahrzeugzulieferer
Trendwechsel antizipieren – ICT flexibler gestalten
In Ungewissheit über zukünftige Geschäftsanforderungen (z.B. wieviel Kapazität? wofür? wo?)
ist eine Strategie der Flexibilisierung und Transparenz der Strukturen des eigenen Unternehmens
die einzig sinnvolle Strategie für ein Unternehmen der Automobilzulieferindustrie. Dies betrifft
sowohl die Re-Organisation im eigenen Unternehmen, die Zusammenarbeit mit Partnern vor-,
gleich- und nachgelagerter Produktionsstufen als auch Zukäufe und Verschmelzungen mit anderen Unternehmen. Informations- und Telekommunikationstechnologie (ICT) liefert hier eine
Reihe von nützlichen Methoden und Werkzeugen.
Maßgeschneidert oder von der Stange?
Grenzen und Möglichkeiten des Einsatzes von Standardsoftware
in der Versicherungsbranche
IT-Anwendungslandschaften bei deutschen Versicherern sind auf deren Anforderungen hin maßgeschneidert – und was die Kernanwendungen angeht, vielfach in die Jahre gekommen. Forderungen nach Modernisierung und Standardisierung der Applikationslandschaften sind seit den
90er Jahren zu hören. Software „von der Stange“ wird bis heute aber nur in wenigen Bereichen
eingesetzt.
Turning Data into Profit
Success Factors in Data-Centric Business Models
Das vorliegende Detecon Opinion Paper präsentiert die wichtigsten Erkenntnisse, wie Unternehmen effektiv ihre Datenbestände verwerten und gibt Empfehlungen für Führungskräfte, wie sie
ihre Geschäftsmodelle anpassen sollten, um erfolgreich datenzentrische Methoden zu integrieren.
Next Generation Mobile Application Management
Strategies for Leveraging Mobile Applications Within the Enterprise
Basierend auf den Detecon Application Lifecycle Management-Lösungen wurde ein LifecycleManagement-Framework für mobile Anwendungen entwickelt. In diesem Paper gibt der Autor
einen Einblick in den Status quo des mobilen Applikations-Managements für IT-Organisationen.
An Umsetzungsbeispielen wird eine bewährte Methodik dargestellt, wie eine mobile Applikations-Strategie aufgesetzt werden kann. Best Practices zeigen, wie der Lebenszyklus Ihrer mobilen
Applikationen idealerweise gesteuert wird.
Über weitere wichtige Themen aus dem ICT-Umfeld können Sie sich in unseren
aktuellen Veröffentlichungen informieren. Alle Detecon-Publi­
­
kationen finden Sie
­unter www.detecon.com und www.detecon-dmr.com
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Detecon Management Report • 1 / 2011
Detecon meets Young Art
Detecon unterstützt zeitgenössische Künstler, die sich mit unseren Schwer­
punktthemen auseinandersetzen. Einzelne Arbeiten werden in jeder z­ wei­ten
DMR-­Ausgabe gezeigt. Die Werke sind in unseren Firmenräumlichkeiten
­ausgestellt, bevor sie der Stiftung Industriedenkmal NRW übergeben werden.
Künstlerbiographien
Michael Sistig (Seiten 72-73, 76-77, 78)
1982 geboren in Bonn
2003 Studium an der Kunstakademie Düsseldorf
2010 Meisterschüler bei Peter Doig
Ausstellungen
2007 „K20 Kunstsammlung“ NRW Ernst&Young Benefizauktion, Düsseldorf
2008 „Art Cologne 2008“ - Galerie Oechsner, Nürnberg
2009 „Beyond the surface“, Artlab21, Los Angeles
2010 „Veranda am Haus zum Hades“, E105, Berlin
2010 „Get Closer, Aki Gallery“, Taipeh
2010 „Ballonmann Kopfgänger“, E105, Bonn
Amely Spötzl (Seite 50)
1975 geboren in Biberach an der Riß
2001 Studium der Bildhauerei, Freie Kunst, Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft in Alfter bei Bonn
2003 Staatliches Diplom, Bildhauerei / Freie Kunst
Ausstellungen
2007 Atelierstipendium der Stadt Bonn/Kunstverein Bonn
2009 „Members Choice“, Kunstverein Heidelberg
2009 „Beyond the Surface“ artlab21 Contemporary Fine Art, Los Angeles
2009 „Open your Mind – New German Art” AKI Galery Taipeh
2010 „Urban Intervention “ L. A. Art Assosiation, Los Angeles
2010 „WORSHIP” Celebrity Vault, L.A./Hollywood
2010 „Nach der Natur” Wissenschaftszentrum Bonn
Bernd Zöllner (Titelseite)
1962 geboren in Neustadt an der Saale
1996 Freier Fotograf
2008 Dozent für Fotografie an der Fachhochschule Bonn-Rhein-Sieg
Ausstellungen
80
2007 „Investigations in Photography“, Counterpoint, Melbourne
2008 Wissenschaftszentrum Bonn
2009 „Open Your Mind“, Aki Gallery, Taipeh
2010 „Worship, Celebrity Vault“, Los Angeles
Detecon Management Report • 1 / 2011
www.detecon-dmr.com
DMR
Das Magazin für Management und Technologie
ESSAY:
Schöne neue Welt –
gute alte Fähigkeiten
Detecon Management Report - 1 / 2011
Detecon Management Report - 1 / 2011
Moderne Technik sinn-voll nutzen
Thomas Lünendonk
Think ICT 2032!
Mehr als ein Gedankenspiel
Im Auge des Betrachters
Zukunftsszenarien für unser Leben in Augmented Realities
Spiel mit Grenzen
Die Zukunft der Netze
Detecon
Management
Report
1 / 2011