das seelenamt - Gedankenzirkus

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das seelenamt - Gedankenzirkus
DAS SEELENAMT
von Oliver Koch
Als Enrico starb, kam es plötzlich. Wie ein nasser Sack fiel er vom Kutschbock, schlug hart
auf den Boden und rührte sich fortan nicht mehr.
Der Arzt bescheinigte seinen Tod, die Leiche wurde mit dem Auto zur nächsten Leichenhalle
gefahren und dort aufgebahrt.
Es war ein Schock, denn Enrico war nicht nach langem Siechtum dahin geschieden wie einst
seine Mutter.
Er fiel einfach von der Kutsche, tot, Herzversagen hieß es.
Hier in diesem Teil Süditaliens war man jetzt noch sehr traditionell und ausgesprochen
katholisch.
Die Rosenkränze und Ave Marias gehörten zum täglichen Leben. In der Verführung, in der
Begierde, in schwarzen Katzen sollte der Teufel zu finden sein, erzählten sich die Alten bei
Rotwein; und die Kirche mit ihrem steinalten Turm aus groben Blöcken und ihrer armseligen
Bimmel als Glocke galt als Gotteshaus in strengstem Sinne.
Andere Dörfer hatten ihre Dorffeste, hier hatte man Andachten.
Man ging morgens zur Morgenandacht, abends zur Messe, und wer Zeit hatte, ging mittags
auch noch einmal. Hinzu kamen noch diverse Taufen und Hochzeiten, man beging jeden
Sonn- und Feiertag, und so war der kühle schmucklose Innenraum der Kirche mit ihrer kargen
Einrichtung, ihrem diffusen Licht, ihrer dissonanten Orgel, die unter den Fingern des
altersschwachen Organisten Grauenerregendes hören ließ und ihrem knarrenden Gestühl eine
zweite Heimat.
Nun war wieder die Gemeinde versammelt, um Enrico das letzte Geleit zu geben.
Die Hitze des Tages brannte auf das Dach der Kirche, die sich für die Witterung nicht
interessierte. In ihr war es stets kühl, und das war gut so, zeugte doch Frösteln von
Frömmigkeit.
Da saßen sie alle, auch Enricos Frau Sofia und die vier Söhne und drei Töchter, deren
sonnengebräunte Gesichter bei all dem Schwarz, das sie trugen, bleich wirkten. Vor dem
Altar stand Enricos geöffneter Sarg. Das Gesicht des Toten war wie aus Marmor gehauen.
Weihrauch war zu riechen, und jeder überhörte das schiefe Gewimmer der verstimmten
Orgel. In dieser Kirche mit ihrem lächerlich kurzen Nachhall war jeder Laut, und wenn es ein
Furz war, ein heiliger Laut, ein ernster Laut, und so gab es auch an der vergewaltigten
Orgelpartitur nichts Lächerliches.
Dorfpfarrer Fabrizio hielt eine bewegende Rede, nachdem man Orgel und Trauergemeinde
die verdiente Pause gönnte und der Organist eine Herztablette schluckte.
„Enrico war ein guter Familienvater, er stets für seine Kinder und seine Frau sorgte und für
sie in allen Lebenslagen einstand.“
Das war blanke Lüge. Doch es heißt „Sprich nicht schlecht über die Toten.“ Und so geschah
es, dass jeder widerspruchslos mit anhörte, was der Pfarrer sprach. So dachte niemand jetzt
mehr daran, dass Enrico fremd gegangen und ein launenhafter Faulpelz gewesen war, dass er
seiner Schwägerin einen Sohn geschenkt und den Haushalt und die Kinder seiner Frau
überlassen hatte. Man ging auch nicht darauf ein, dass Enrico gern drei über den Durst
getrunken und danach ins Bett gepinkelt hatte, und dass ihm auch schon mal die Hand
ausgeglitten war, wie auch die ganzen anderen Ausrutscher an dem eigentlich gar nicht so
netten Enrico unter den Altar fielen.
Da kullerte schon die eine und andere Träne aus wässrigen Augen verschiedenster Leute, die
Enrico zu seinen Lebzeiten mit einem Schrotgewehr den Kopf vom Halse hätten schießen
mögen; man war geübt darin, pietätvolle Tränen in der Kirche zu vergießen. Es war ein im
wahrsten Sinne des Wortes göttliches Schauspiel.
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Dorfpfarrer Fabrizio meißelte aus dem groben Sandstein Enrico einen Heiligen. Da erschien
in salbungsvollen Worten in jedermanns Erinnerung ein aufopfernder Mann, von dem jeder
wusste, dass er den Nachbarsjungen Giovanni mit einer Mistforke töten wollte, weil dieser es
gewagt hatte, an seinen Zaun zu urinieren.
Ein Lied wurde gesungen, das grässlich klang, als all die Andächtigen versuchten, eine
Melodie, die sie nicht beherrschten, zum Besten zu geben, und sich im Mute der Trauer nicht
zurückhielten, ihre falschen Töne aus vollem Halse ins Kirchenschiff zum Herrgott hinauf zu
schreien.
Insgeheim freute sich schon jeder auf den Wein und die Grappa, den es geben sollte, sobald
Enrico endlich verscharrt war.
Man ging dazu über, mit gekonnt leidenden Minen ein Gebet zu sprechen. Die Münder, deren
Winkel geübt nach unten zeigten, öffneten sich, um einzustimmen, als etwas geschah, was
nicht geschehen durfte: jemand hustete.
Für sich allein genommen wäre das nichts Erstaunliches gewesen, wenn dieses Geräusch nicht
aus dem geöffneten Sarg gekommen wäre, von Enrico, dem Toten, selbst.
Die hereinbrechende Ruhe war eisig.
Niemand wagte, zu atmen. Alle Augen ruhten auf Enrico, der rotwangig mit verzerrtem Mund
in seinem Sarg lag, den Kopf auf seinem Kissen aus blauer Seide langsam bewegend, als galt
es, Schläfrigkeit abzuschütteln.
Sofia, seine Frau, die bis vor wenigen Sekunden noch seine Witwe gewesen war, glotzte mit
riesigen Augen auf den nun doch nicht mehr toten Ehemann und konnte nicht fassen, was sie
sah. Ihre beisitzenden vier Söhne und drei Töchter taten es ihr gleich, wie auch der
Dorfpfarrer Fabrizio, dem sich in Anbetracht einer wieder auferstandenen Leiche keine zwei
Meter von ihm entfernt die Nackenhaare sträubten. Der Organist fingerte nervös nach einer
weiteren Herztablette.
Blankes Entsetzen, nein, Unverständnis und Erstaunen herrschten. Jeder schaute auf Enrico,
dessen Brustkorb sich hob und senkte, und schließlich hustete er noch einmal. Das Geräusch
hallte wider in den Mauern, und Fabrizio trat einen Schritt nach vorn. Er sah, wie Enrico
versuchte, die Augen zu öffnen. Blöd glotzte er in die Kirche hinein, als könnte er sich nicht
vorstellen, wo er sich befand.
Fabrizio stieß ein gehauchtes „Sante croce“ aus und rief danach: „Er lebt!“
Und tatsächlich, Enrico weilte wieder unter den Lebenden – dabei war doch gar nicht Ostern!
Der Pfarrer stolperte langsam auf ihn zu, und Enrico, sich und Enrico, sich umsehend,
sprach:“ O, Fabrizio.“ Ja, da war sie, Enricos Stimme, und alles Blut in jedem Millimeter
jeder Blutbahn in der Kirche gefror zu Eiswasser.
Fabrizio blieb wie angewurzelt stehen und betrachtete den auferstandenen Mann im Sarg, der
sich mittlerweile aufgerichtet hatte, sich auf den Ellenbogen stüzend.
Enrico wollte gerade beginnen, aufzustehen, als Fabrizo mit dem lauten Schrei „Diavolo!
Diavolo!“ auf ihn zustürmte und ihm die Hände um den Hals legte. Enrico war bemüht, ein
„Was soll das?“ zu röcheln, das kaum jemand hörte.
„Du bist der Teufel!“ schrie Fabrizio, und die entsetzte Trauergemeinde nahm zur Kenntnis,
wie der vermeintlich Totgewesene den Pfarrer an den Unterarmen griff und versuchte, ihn am
Würgen zu hindern. Als es ihm kurzzeitig gelang, fragte Fabrizio: „Was willst du von uns,
Satan?“
„Ich bin nicht Satan, ich bin Enrico, Enrico, verdammt noch mal!“ entfuhr es ihm atemlos.“
„Er flucht im Hause des Herrn!“ schrie seine damalige Witwe, die die Hände vors Gesicht
schlug. „O mein Gott, er entweiht diesen heiligen Ort!“
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Alsdann hastete schon der älteste Sohn Maurizio nach vorn, um dem Pfarrer zur Hand zu
gehen. „Halt ihn fest!“ rief er Fabrizio zu und versuchte, den verdutzten Enrico festzuhalten.
Derweil fingerte der Organist vergeblich nach einer weiteren Herztablette in seiner
Brusttasche.
Tanten, Geschwister, Angetraute und Eingeheiratete, Nachbarn, Freunde und Feinde hielt es
nicht mehr auf den Sitzen. Jeder sprang schreiend auf. Einige liefen zum Sarg.
Der Nachbar Mauro war der erste, de zur Stelle war. Enrico versuchte, sowohl den Pfarrer, als
auch den eigenen Sohn abzuschütteln, der ihn in die Sargpolster drückte.
Mauro ergriff vom Altar den schweren Eisenkerzenständer und schlug mit diesem auf Enrico
ein, wobei der rief: „Du Teufel! Du Teufel!“
Sofia, Enricos ehemalige Frau und Witwe weinte kläglich, die Jüngsten schmiegten sich
zitternd an sie, und Sofia betete inständig, dass der erworbene Status der Witwe ihr möglichst
schnell wieder zugedacht werden könne.
In der Bank dahinter tuschelte man darüber, dass Enrico, ob nun wieder auferstanden oder
nicht, den Tod verdiene, und die allgemeine Einhelligkeit mündete zu guter Letzt in einer
Skandierung, die die Forderung nach Enricos neuerlichem Tod zum Inhalt hatte.
Enrico schrie, während Mauro und Fabrizio ersuchten, ihn wieder ins Jenseits zu befördern.
Dieser kämpfte, noch nicht dem Sarg entstiegen, allein gegen einen Mob an, der ihn Satan
und Teufel schimpfte und unter der Anfeuerung seiner eigenen Frau (oder Witwe) und der
eigenen Kinder abermals oder erst richtig das Leben verlor.
Selbst, als er weder mehr rufen noch sich wehren konnte, schlug Mauro nochmals zu, um sich
zu vergewissern, dass nie wieder auch nur ein kleiner Atem seinem Mund entwich, und auch
Fabrizio würgte die Leiche prophylaktisch weiter.
Mit der Zeit wurde es still in der Kirche.
Der Mob beruhigte sich wieder, wie auch die aufgescheuchte Masse auf der Zuschauertribüne
der Kirchenbänke.
Vehement schlug Fabrizio den Sargdeckel über Enrico zu, und das Knallen war für lange Zeit
das einzige Geräusch, das die kahlen, kargen Kirchenwände erhallte.
Die Männer um den Sarg schnauften und kamen langsam zu Atem.
Der Organist schaute von seiner hohen Wacht herunter und fragte schließlich, ob die
Totenmesse nun wie gewohnt fortgesetzt werde.
„Natürlich“, gab Fabrizio zur Antwort. „Schließlich haben wir einen Toten zu beklagen, und
ihm soll ein Begräbnis zuteil werden, das jedem Kind Gottes gebührt.“ Prophetisch streckte er
die Arme aus und schaute sich um. „So setzt euch wieder. Lasst uns dieses ehrwürdige
Seelenamt zu seinem Ende bringen.“
Währen die Menge sich setzte, begannen wieder Tränen zu fließen.
Die Orgel gab schräge Töne von sich, und mit jedem Wort, jeder Strophe und jedem Choral
kehrte wieder die Heiligkeit und Festlichkeit zurück, die dem Anlass würdig waren.
Enricos ältester Sohn nahm seine Mutter, die abermals und nun endgültig verwitwete Sofia in
den Arm, und das Schluchzen quoll abermals bis ans Dach und in jeden Winkel wie der
Geruch von Weihrauch.
Fabrizio endete seine Rede mit den Worten: „Geben wir dem Toten nun endlich das letzte
Geleit.“
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