1 VO Österreich II: Vom Ausgang des Mittelalters bis zum Ende der

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1 VO Österreich II: Vom Ausgang des Mittelalters bis zum Ende der
VO Österreich II: Vom Ausgang des Mittelalters bis zum Ende der Habsburgermonarchie
Pädagogische Akademie der Diözese Linz
Sommersemester 2005
Dr. Christian ROHR
Großmachtpolitik im 16. Jh. – Die Habsburger zwischen Franzosen und Osmanen
Das Zeitalter Friedrichs III.
Ab der Mitte des 15. Jh. gelang es den Habsburgern endgültig, auch die
Herrschaft als Könige bzw. Kaiser des Heiligen Römischen Reiches an sich
zu ziehen. Der nur mäßig aktive Kaiser Friedrich III. (1440-1493) glänzte
aber nur dadurch, dass er während seiner langen Herrschaft alle seine Feinde überlebte; schon zu seinen Lebzeiten erhielt er von seinen Kritikern den
Beinamen „Erzschlafmütze des Reichs“. Selbst die Wiener Bürger vertrieben
ihn mehrfach aus seiner Residenzstadt, sodass er sich hauptsächlich in
Wiener Neustadt, Graz und Linz aufhielt. Bekannt ist allerdings sein rätselhafter Wahlspruch A.E.I.O.U.
Das Zeitalter Maximilians I.
Als Kaiser Maximilian I. (1493-1519), der einzige Sohn des Habsburgerkaisers Friedrich III., die Regierung antrat, waren alle habsburgischen Erbteilungen des Spätmittelalters wieder überwunden. 1490 hatte Maximilian 1490
auch Tirol von seinem Cousin Sigismund übernommen. Mit militärischer
Gewalt und geschickten Verträgen dehnte er seine Herrschaft auch auf das
untere Inntal und die Teile des heutigen Vorarlberg aus, die bis dahin noch
nicht unter habsburgischer Herrschaft gestanden waren.
Als Kaiser des Heiligen Römischen Reiches versuchte Maximilian eine vorausschauende Reformpolitik: Auf dem Reichstag zu Worms (1495) gelang
es ihm, einen „Ewigen Landfrieden“ durchzusetzen. Dadurch wurden die
Fehde (= Privatkriege) und die private Blutrache verboten, die oft ganze
Landstriche in bürgerkriegsähnliche Zustände verstrickt hatten. Ebenso versuchte Maximilian den so genannten „Gemeinen Pfennig“, eine Art allgemeine Vermögenssteuer, ein. Das Projekt scheiterte aber bald am massiven
Widerstand des Adels und an organisatorischen Problemen.
Heiratspolitik als „Rechtfertigung“ für kriegerische Eroberungen
Mit ihren umfangreichen Erblanden und der Kaiserwürde waren die Habsburger zu den führenden Dynastien Europas aufgestiegen. Die habsburgische Heiratspolitik orientierte sich um 1500 nach den wichtigsten Fürstenhäusern Europas. So heiratete Maximilian I. zunächst die Tochter des letzten
Herzogs von Burgund, Maria. Als 1477 der letzte Herzog von Burgund
starb, gelang es Maximilian auf kriegerische Weise, seine Erbansprüche
gegen Frankreich weitgehend durchzusetzen. Nach dem frühen Tod Marias
heiratete Maximilian nochmals: Durch die Ehe mit Bianca Maria Sforza fiel
1516 das Herzogtum Mailand an die Habsburger.
Philipp, der Sohn Maximilians aus erster Ehe, wurde 1496 mit Johanna vermählt, der Tochter des spanischen Königspaares Ferdinand von Aragon und
Isabella von Kastilien. Philipp starb schon 1506, sein ältester Sohn Karl (der
spätere Kaiser Karl V.) trat daher 1516 in jugendlichen Jahren das spanische Erbe an. Habsburger herrschten somit über ganz Spanien sowie über
die neuen Kolonien in Übersee, aber auch über ganz Süditalien, Sardinien
und Sizilien.
Trotz seines frühen Todes hinterließ Philipp der Schöne zahlreiche Kinder,
die jeweils eine entscheidende Rolle in der habsburgischen Heiratspolitik
spielten. Der jüngere Sohn Ferdinand und dessen Schwester Maria wurden
1515 noch als Kinder in einer Doppelhochzeit mit dem Geschwisterpaar
Anna von Böhmen und Ungarn bzw. Ludwig II., König von Böhmen, Ungarn
und Schlesien, verheiratet. Auf diese Weise sollten sich die beiden Herrscherhäuser im Falle des Aussterbens eines Hauses jeweils gegenseitig
1
A.E.I.O.U.
Über den Wahlspruch
Friedrichs III. wurde
schon zu seinen Lebzeiten gerätselt. Mehr
als 300 zeitgenössische
und neuzeitliche Auflösungen sind bekannt, z.
B. All Erdenreich ist
Oesterreich untertan.
Andere mögen Kriege
führen
Die Devise „Andere
mögen Kriege führen,
du, glückliches Österreich, heirate!“ (Bella
gerant alii, tu, felix
Austria, nube!) hat bis
heute zu einem Mythos
geführt, was die Heiratspolitik der Habsburger um 1500 betrifft.
Zwei Gegenargumente
sind in diesem Zusammenhang vorzubringen:
Zum einen betrieben
alle Herrscherhäuser,
aber auch alle Adelshäuser, eine offensive
Heiratspolitik.
Zum
anderen konnten durch
dynastische Hochzeiten
hergestellte Erbansprüche nur in wenigen
Fällen
unkriegerisch
durchgesetzt werden.
Gerade
die
Regierungszeit Maximilians I.
bestätigt dies.
Burgund
Burgund umfasste im
15. Jh. die heutigen
Niederlande, Belgien,
Luxemburg und einige
Teile Ostfrankreichs. Es
war, eingebettet zwischen Frankreich und
dem Heiligen Römi-
beerben. Im Jahr 1526 fiel der böhmisch-ungarische König Ludwig bei
Mohács (Südungarn) gegen die vorrückenden Osmanen. Somit erbten die
Habsburger Böhmen, Schlesien und Ungarn. Diese Länder waren nicht nur
wirtschaftlich sehr wichtig: Mit der böhmischen Krone erwarben die Habsburger auch die lange ersehnte Kurfürstenwürde.
schen Reich, das wirtschaftliche und kulturelle Zentrum Europas.
Karl V.
Karl wurde 1500 in
Gent im heutigen Belgien geboren. Er wuchs
vor allem im burgundischen und spanischen
gebiet auf, und sprach
bei seinem Amtantritt
im Heiligen Römischen
Reich
nicht
einmal
Deutsch.
Die Osmanen
Die Habsburger konnten die ungarische Erbschaft vorerst aber nicht antreten, weil fast das gesamte Land von den Osmanen besetzt war. Im Jahr
1529 belagerten die Osmanen schließlich Wien, doch mussten sie aufgrund
des anbrechenden Herbstes wieder abziehen. Für über 150 Jahre blieben
die Osmanen aber eine ständige Bedrohung im Osten und Südosten des
Habsburgerreiches. Nur durch ständige Geldzahlungen konnte der übermächtige Gegner von neuen Angriffen vorerst abgehalten werden. Zudem
genossen die Osmanen die Unterstützung Frankreichs, das an einer weiteren Ausdehnung der habsburgischen Macht kein Interesse hatte. An dem
Bündnis zwischen Frankreich und den Osmanen lässt sich erkennen, dass
religiöse Unterschiede im europäischen Mächtespiel der Frühen Neuzeit nur
oberflächlich eine Rolle spielten.
Die Osmanen
Das aus Innerasien
stammende Volk hatte
Die Teilung der habsburgischen Erblande
Das Anwachsen der habsburgischen Länder machte 1522 eine Teilung nö- sich seit dem 13. Jh.
tig: Karl wurde als Karl V. zum König bzw. Kaiser des Heiligen Römischen der Herrschaft über die
Reiches bestimmt (1519-1556). Zudem erhielt er Spanien einschließlich heutige Türkei bemächSüditalien und den Kolonien, das Herzogtum Mailand und Burgund. Ferdi- tigt. 1389 zerstörten sie
nand blieben die österreichischen Länder sowie ab 1526 Böhmen, Schlesien das Serbenreich auf
und Ungarn. Es war vorauszusehen, dass besonders Karl an dieser Aufgabe dem Balkan, 1453 erzerbrechen musste, war er doch bei seiner Thronbesteigung im Heiligen oberten sie KonstantiRömischen Reich erst 19 Jahre alt. Zudem setzte gerade die Reformation nopel und rückten in
ein, auch soziale Unruhen bahnten sich an.
der Folge nach Mitteleuropa vor.
Verschärfte Konflikte zwischen Katholiken und Protestanten
Am Ende des 16. Jh. stritten sich zwei Brüder, die beiden Habsburger Rudolf
II. (1576-1612) und Matthias (1612-1619), um die Herrschaft im Reich und in
den habsburgischen Erblanden. In dieser Situation gelang es dem meist
protestantischen Adel, sich immer wieder religiöse Zugeständnisse zu erkämpfen, weil sie die beiden Kontrahenten um die Kaiserkrone gegeneinander ausspielten. Aufgrund der starken Position des protestantischen Adels
begann die vom Jesuitenorden getragene Gegenreformation in den katholisch verbliebenen Ländern erst gegen Ende des 16. Jh. zu greifen. In den
habsburgischen Ländern nahmen 1579 eigene Reformationskommissionen
die Rückführung der Bevölkerung zum katholischen Glauben in Angriff. Die
Protestanten, die in diesen Ländern nach wie vor die Mehrheit stellten, wurden nach den Bestimmungen des Augsburger Religionsfriedens zum Übertritt zum katholischen Glauben oder zur Auswanderung gezwungen.
Allgemein verschärfte sich nach 1600 der Konflikt zwischen Katholiken und
Protestanten: Die protestantischen Länder im Heiligen Römischen Reich
verbanden sich schließlich 1608 zur Protestantischen Union, die katholisch
verbliebenen Länder 1609 zur Katholischen Liga. Besonders in Böhmen, wo
der Anteil der Protestanten und anderer reformierter Gruppen groß war,
wurden die Spannungen immer größer, denn die Habsburger schrieben als
böhmische Könige die katholische Religion vor. Schließlich wurden bei einem Streit auf der Prager Burg drei kaiserliche Beamte aus dem Fenster
geworfen (Prager Fenstersturz). Die böhmischen Adeligen erkoren den Kurfürsten Friedrich von der Pfalz zum böhmischen König, nachdem sie den
Habsburger Matthias in diesem Amt abgesetzt hatten. Der Dreißigjährige
Krieg begann (1618-1648).
Arbeitsfragen:
2
•
•
Fasse die Zusammenhänge zwischen Heiratspolitik und Eroberungen zusammen (mit Beispielen)!
In welchen Erbangelegenheiten kreuzten sich die Großmachtinteressen der Habsburger und der
französischen Könige?
Materialien
Der Wahlspruch A.E.I.O.U (A.E.I.O.V.)
Der Wahlspruch A.E.I.O.U (A.E.I.O.V.) des Kaisers Friedrich III. war schon zu seinen Lebzeiten ein
Rätsel. Zahlreich sind die zeitgenössischen Auflösungen in lateinischer und deutscher Sprache, wobei
sich darunter auch zahlreiche Friedrich-kritische Deutungen finden. Es soll insgesamt über 300 Auflösungsmöglichkeiten geben. Hier eine kleine Auswahl:
Lateinisch:
Acris esse ingenii oportet virum (Es ist nötig, dass ein Mann einen scharfen Verstand besitzt)
Aquila excellit inter omnes volucres (Der Adler übertrifft alle anderen Vögel)
Augustus est iustitiae optimus vindex (Der Kaiser ist der beste Retter der Gerechtigkeit)
Austria erit in orbe ultima (Österreich wird bis zuletzt auf Erden bestehen)
Austria extenditur in orbem universum (Österreich erstreckt sich über die ganze Erde)
Austriacorum est imperare orbi universo (Es ist Sache der Österreicher, den gesamten Erdenkreis zu
regieren)
Deutsch:
All Erdenreich ist Oesterreich Untertan
Aller Ehren ist Oesterreich voll
Aller erst ist Oesterreich verdorben (zeitgenössische Verhöhnung des AEIOU)
Allen Eifers ist Oesterreich voll
Auf Erden ist Oesterreich unsterblich
Die Ausdehnung des habsburgischen Besitzes um 1500
Europa im 16. Jahrhundert
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Stammbaum der Habsburger im 15. und 16. Jh.
Habsburgische Erbfolgepolitik im Bild
Das Gemälde von Bernhard Strigel aus dem Jahr 1516 zeigt Kaiser Maximilian (links) mit seiner ersten Gattin Maria von Burgund, deren gemeinsamen Sohn Philipp (hinten Mitte), weiters Philipps Söhne Karl und Ferdinand (vorne Mitte bzw. links) sowie Ludwig II., den Erbsohn von Böhmen, Ungarn
und Schlesien.
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Arbeitsaufgaben:
• Vergleiche Karte und Stammbaum: Welche Heiratsverbindungen verschafften den Habsburgern
welche Gebietsgewinne?
• Vergleiche das Bild mit dem Stammbaum: Kann das Familienporträt historisch richtig sein?
• Kannst du dir vorstellen, warum der Maler genau die abgebildeten Personen auf dem Familienbild
zusammentrug? Achte auch auf das Datum der Entstehung des Bildes!
Das Gemälde von Bernhard Strigel entstand im Jahr 1516. Die dargestellte Szene kann keine historische sein: Auf der einen Seite ist noch Maria von Burgund, die erste Gattin Maximilians I. abgebildet,
die schon 1482 bei einem Reitunfall starb; auch der gemeinsame Sohn, Philipp, war schon 1506 verstorben. Die Enkelkinder Maximilians wurden allerdings erst 1500 (Karl V.) bzw. 1503 (Ferdinand I.)
geboren; auch der böhmisch-ungarische Erbprinz Ludwig II. (Wladislaws), von Maximilian adoptiert,
wurde erst 1505 geboren (die SchülerInnen können einen Teil dieser Daten aus dem Stammbaum
herauslesen). Vielmehr soll dieses Familienbild die Heiratspolitik Maximilians in einem Bild konkretisieren: Durch die Heirat mit Maria von Burgund kam das wohl reichste Gebiet Europas an die Habsburger, durch Philipps Hochzeit mit Johanna Spanien samt den Nebenländern und Kolonien – und was
die nächste Generation betraf, so hatte man eben eine dynastische Doppelhochzeit mit den Jagiellonen (Böhmen, Ungarn und Schlesien) abgeschlossen: Ferdinand wurde mit Anna von Ungarn, Ludwig
II. mit der Habsburgerin Maria verehelicht. Es ist bezeichnend für die Heiratspolitik dieser Zeit, dass es
schon 1505, also kurz nach der Geburt der Kinder zu einer „Vorhochzeit“ gekommen war, bei der
Maximilian das Eheversprechen abgegeben hatte; doch auch bei der eigentlichen Doppelhochzeit
waren die Kinder noch nicht älter als 10-12 Jahre.
Kunst und Religion im Dienste der Macht: Das Zeitalter des Barock in den habsburgischen
Ländern
Neuorientierung der Habsburger
Durch den Westfälischen Frieden von 1648 änderte sich die Stellung der
Habsburger: Die Kaiserwürde war nur noch ein Ehrentitel, denn seit 1648
durften alle Länder im Heiligen Römischen Reich Verträge aller Art mit ausländischen Mächten schließen, sofern sie sich nicht gegen das Reich richteten. Das Reich bestand somit aus etwa 360 weitgehend unabhängigen
Staaten. Die Habsburger blieben aber durch ihre vielen Erblande dennoch
sehr mächtig. Es gelang ihnen aber nie, in ihrem Herrschaftsgebiet eine
derart absolutistische Macht zu entfalten wie die Bourbonen in Frankreich.
Habsburger gegen Osmanen
Seit der ersten Türkenbelagerung Wiens (1529) hatten die Osmanen ihre
Herrschaft in Ungarn gefestigt. Aus der Sicht der Habsburger blieben sie
eine Gefahr für die österreichischen Erblande, ja in der Propaganda wurden
die Osmanen zur „muslimischen Bedrohung des christlichen Abendlandes“
hochstilisiert. Dennoch kam es auch zu einem kulturellen Austausch mit
den Osmanen.
Die Kriege zwischen Habsburgern und Osmanen lassen sich nicht auf die
beiden Belagerungen Wiens (1529 und 1683) sowie die Eroberungen der
Habsburger in Ungarn nach der zweiten Belagerung beschränken. Seit sich
das Osmanenreich nach der Schlacht von Mohács (1526) bis nach Ungarn
ausgedehnt hatte und diese Gebietsgewinne ab 1541 durch die Eroberung
Ofens (eines Teiles von Budapest) zusätzlich abgesichert hatten, war es
zwischen den beiden Nachbarn immer wieder zu kriegerischen Handlungen
gekommen: Nach einem Waffenstillstand im Jahr 1547 konnten die Habsburger die Osmanen nur durch hohe Tributzahlungen in Schach halten. Das
Geld für diese „Türkensteuer“ holten sich die Habsburger durch Sonderbesteuerungen der eigenen Bevölkerung, doch erkauften sie die Steuereintreibung durch zahlreiche Zugeständnisse an der meist protestantischen Adel –
einer der Gründe, warum die katholische Gegenreformation erst relativ spät
in den Habsburgischen Ländern einsetzte.
1571 konnte eine katholisch orientierte „Heilige Liga“ unter dem Kommando
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Kulturaustausch mit
den Osmanen
Von den Osmanen übernahmen die mitteleuropäischen Länder die
Militärmusik. Der aus
den spanischen Niederlanden
stammende
habsburgische Gesandte in Konstantinopel,
Oghier
Ghislain
de
Busbecq (1522-1592)
war auch ein leidenschaftlicher Botaniker:
Er brachte die Tulpe,
den Flieder und den
Jasmin nach Europa;
das „Nationalsymbol der
Niederlande“
stammt
Don Juans d’Austria einen entscheidenden Seesieg über die Osmanen bei
Lepanto (vor der Westküste Griechenlands erringen); dadurch wurde die
osmanische Vorherrschaft zur See im östlichen Mittelmeer gebrochen. Dieser Krieg zeigt aber auch auf, dass es nicht nur die Habsburger waren, die
in Opposition zu den Osmanen standen, sondern vor allem auch die Venezianer, die ihre Stützpunkte im östlichen Mittelmeer absichern und ausbauen wollten.
Zwischen 1593 und 1606 brach der Konflikt zwischen Habsburgern und
Osmanen neuerlich im so genannten „Langen Türkenkrieg“ Kaiser Rudolfs
II, (1576-1612) aus. Er konnte zwar die Vorherrschaft der Osmanen am
Balkan und in Ungarn nicht schmälern, doch gelang es den Habsburgern im
Frieden von Zsitvatorok (1606), die Tributzahlungen abzuschütteln. Die
Habsburger kämpften in Ungarn aber nicht nur gegen die Osmanen, sondern auch gegen einen protestantischen Adelsaufstand unter dem Siebenbürger Fürsten Stefan Bocskai. Daraus leitet sich der in Österreich weit
verbreitete Fluch „Kruzi Türken“ ab – von „Kuruzzen (die calvinistischprotestantischen Ungarn) und Türken (= Osmanen)“.
Mitte des 17. Jh. kam es erneut zu Zusammenstößen im westungarischen
Gebiet, etwa 1664 bei Mogersdorf und St. Gotthard an der Raab, wo die
Habsburger unter ihrem Feldherrn Raimund Montecuccoli siegreich blieben;
dennoch konnte dieser Sieg die erneute Offensive der Osmanen und zahlreiche Einfälle im Südosten des habsburgischen Herrschaftsgebietes (u.a.
in der Steiermark) nicht zum Stoppen bringen.
Im Jahr 1683 stießen sie erneut bis Wien vor und schlossen die Stadt ein.
Nach zwei Monaten Belagerung trafen eine Armee aus dem Heiligen Römischen Reich und eine unter dem polnischen König Jan Sobieski ein. Bei
einem Angriff vom Kahlenberg bei Wien aus gelang es ihnen, die osmanischen Truppen in die Flucht geschlagen. Der Sieg der beiden Entsatzheere
aus dem Reich und aus Polen bei Wien am 12. September 1683 war zwar in
jedem Fall ein Wendepunkt, mit Sicherheit aber noch nicht eine militärische
Vorentscheidung zugunsten der Habsburger. Bis zur endgültigen Eroberung
des historischen Königreichs Ungarn (inkl. der heutigen Slowakei, des westlichen Rumänien und Kroatiens) dauerte es noch mehr als 15 Jahre, bis
schließlich im Frieden von Karlowitz (1699) der militärische Status quo besiegelt wurde. Auf Ungarn hatten die Habsburger schon seit 1526 Erbansprüche erhoben. Durch die Eroberung Ungarns gelangte Wien ins Zentrum
des Habsburgerreichs und wurde in der Folge groß ausgebaut.
1716-1718 kam es erneut zu einem Krieg zwischen Habsburgern und Osmanen. Nach der Eroberung der stark befestigten Stadt Belgrad im Jahr
1717 durch Prinz Eugen fielen damals auch die Gebiete südlich von Belgrad
an die Habsburger, sodass das Habsburgerreich damals seine größte Ausdehnung am Balkan erreichte; die Gebiete südlich von Belgrad gingen aber
bald wieder verloren. An der Grenze des Habsburgerreiches wurde ein militärisch organisierter Bereich geschaffen, den bewaffnete Bauern (Wehrbauern) verteidigten. Dazu wurde nicht nur die ansässige kroatische Bevölkerung herangezogen, sondern auch Serben, die aus dem Osmanenreich
flohen. Dadurch vermischten sich kroatisch-katholische und serbischorthodoxe Bevölkerung.
Der Streit um das spanische Erbe
Seit der Teilung der habsburgischen Erblande im Jahr 1522 existierten sowohl eine österreichische als auch eine spanische Linie der Habsburger. Die
spanische Linie starb im Jahr 1700 im Mannesstamm aus. Ihr letzter Vertreter, Karl II., galt als völlig unzurechnungsfähig, wohl eine Folge der zahlreichen Verwandtschaftsehen zwischen den beiden Habsburgerlinien.
Um das Erbe brach zwischen Frankreich und den österreichischen Habsburgern der Spanische Erbfolgekrieg (1701-1714) aus. Es ging dabei
gleichzeitig auch um die Vorherrschaft in Europa. Auf der Seite der Habsburger führte erneut Prinz Eugen die Truppen an, unterstützt von England,
Portugal, Preußen und den Niederlanden. Kaiser Leopold I. (1656/57-1705)
plante, seinen älteren Sohn Joseph I. in den österreichischen Ländern und
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somit eigentlich aus
dem Osmanenreich. Ob
auch die Wiedereinführung der in Europa damals schon ausgestorbenen Rosskastanie auf
ihn oder seinen Nachfolger in Konstantinopel,
Baron Ungnad, zurückgeht, ist zwar nicht restlos geklärt, doch zeigt
sich auch daran die
Transferfunktion dieser
Gesandten am Hof des
Sultans in Konstantinopel Die Kaffeekultur
erreichte aber schon vor
1683 Mitteleuropa: 1679
wurde in Hamburg das
erste Kaffeehaus errichtet.
Spanische Bourbonen
Bis heute regiert die
spanische Linie der
Bourbonen als Könige
das Land. Eine Unterbrechung der Herrschaft
gab es nur zwischen
1931 und 1975: zunächst wurde die Republik ausgerufen, nach
einem blutigen Bürgerkrieg (1936-1939) führte
General Franco eine
rechtsgerichtete Diktatur
ein. Nach seinem Tod
sollte der Bourbonenprinz Juan Carlos die
Diktatur
weiterführen,
doch dieser kehrte zur
Königsherrschaft
und
Demokratie zurück.
Barock:
von portugiesisch barroco = unregelmäßige
Perle. Kunststil des 17.
im Reich nachfolgen zu lassen. Der zweite Sohn, Karl, sollte in Spanien eine
neue habsburgische Dynastie begründen. Nach dem Tod Leopolds 1705
wurden diese Pläne auch umgesetzt. Die Lage veränderte sich aber, als der
noch junge Römisch-Deutsche Kaiser Joseph I. im Jahr 1711 unerwartet
starb. Sein Bruder und Nachfolger Karl VI. (1711-1740) vereinigte damit
nicht nur die Herrschaft im Reich und in den österreichischen Ländern, sondern auch die in Spanien und damit auch in den Spanischen Niederlanden
(= Belgien) und in den Kolonien. England, das sich immer um ein Gleichgewicht der Kräfte in Europa bemüht war, verließ daher die Koalition mit Österreich und hielt sich folglich aus den Kampfhandlungen heraus.
In den Friedensschlüssen von Utrecht (Niederlande, 1713) und Rastatt
(Deutschland, 1714) wurde das Königreich Spanien mitsamt den Kolonien in
Übersee einer Nebenlinie der Bourbonen zugesprochen, doch durften sich
die Bourbonen in Frankreich und in Spanien nicht gegenseitig beerben.
Österreich erhielt die Spanischen Niederlande (das heutige Belgien) und die
Lombardei (das Gebiet um Mailand).
Kameralismus – die österreichische Variante des Merkantilismus
Karl VI. war noch ein typischer Vertreter des Absolutismus. Er benötigte
dafür größere Einnahmequellen und versuchte deshalb den französischen
Merkantilismus an die österreichischen Verhältnisse anzupassen. Dieses
Wirtschaftssystem wurde Kameralismus genannt; es wurde dabei vor allem
versucht, die Wirtschaft durch staatliche Förderungen zu stärken. Karl VI.
unterstützte die Gründung von Handelskompanien, die für den Überseehandel zuständig waren. Diese Handelsgesellschaften mussten aber auf Druck
der westlichen Seemächte (England, Frankreich, Königreich Niederlande)
bald wieder geschlossen werden. Zudem wurden in Österreich von staatlicher Seite Seiden-, Porzellan- und Textilmanufakturen gegründet, in denen
besonders Luxuswaren produziert wurden, um teure Importe zu vermeiden.
Auch die berühmte Augarten-Porzellan-Manufaktur in Wien geht auf diese
Zeit zurück. In Vorarlberg versuchte man sogar Seidenraupen zu züchten.
Pietas Austriaca – „Österreichische Frömmigkeit“ im Dienste der
Macht
Neben den zahlreichen Kriegen gingen im 17. und 18. Jh. in den habsburgischen Ländern auch viele Seuchen um; mehrmals brach die Pest aus, bei
der bis zu einem Drittel der Bevölkerung umkam. Die Kirche schlug aus der
Angst vor dem Tod das meiste Kapital: Zahlreiche Menschen, allen voran
das Kaiserhaus, gelobten den Bau von Pestsäulen und Kirchen; Wallfahrten, etwa nach Mariazell, hatten Hochkonjunktur.
In der Barockkultur kam die überschwängliche Freude über den Sieg gegen die Osmanen und die Überwindung der Pest zum Ausdruck. Ganz besonders aber ging es auch um die eigene Repräsentation, egal ob das Kaiserhaus, Adelige oder die katholische Kirche die Auftraggeber waren: Kirchen und Klöster wurden unter oft gewaltigem Aufwand neu erbaut, ebenso
herrschaftliche Schlösser. Führender Baumeister und Architekt des österreichischen Barock war Johann Bernhard Fischer von Erlach (1656-1723), auf
den die Karlskirche in Wien, mehrere Adelspalais sowie der Prunksaal der
Nationalbibliothek zurückgehen. Weitere wichtige Barockbaumeister in Österreich waren Johann Lukas von Hildebrandt (Schloss Belvedere in Wien),
Jakob Prandtauer (Stift Melk/NÖ) und Johann Michael Prunner (Dreifaltigkeitskirche Stadl-Paura).
Die Sorge um den Fortbestand der Dynastie
Karl VI. befürchtete, dass sein Geschlecht wie in Spanien aussterben könnte. Er versuchte daher, durch die so genannte „Pragmatische Sanktion“
(1713) durchzusetzen, dass die österreichischen Erbländer unteilbar und
auch weibliche Erben voll erbberechtigt seien. Er musste allerdings die Anerkennung durch Zugeständnisse an die anderen Mächte in Europa teuer
erkaufen. Tatsächlich hatte Karl keinen männlichen Erben: Die älteste Tochter, Maria Theresia, sollte ihm in den habsburgischen Erbländern nachfol7
und frühen 18. Jh., der
sich vor allem durch
Farbenpracht und Verspieltheit in der Form
auszeichnet.
gen.
Maria Theresia heiratete im Jahr 1736 Franz Stephan von Lothringen. Gegen dessen Anspruch auf das habsburgische Erbe und gegen die geplante
Wahl zum römisch-deutschen Kaiser erhob sich besonders Karl Albert (Albrecht) von Bayern, der mit einer Tochter Kaiser Josefs I. – und somit einer
Cousine Maria Theresias – verheiratet war. Mit Unterstützung Frankreichs
und Preußens begann Bayern einen Erbfolgekrieg um die habsburgischen
Länder. Maria Theresia bemühte sich zunächst erfolgreich, die Herrschaft
als Königin von Ungarn und Böhmen zu sichern. Nach einer kaiserlosen Zeit
(1740-1742) wählten die Kurfürsten Karl Albert zum Kaiser (1742-1745).
Damit wurde die rund 300 Jahre ununterbrochene Herrschaft der Habsburger als Kaiser im Heiligen Römischen Reich für kurze Zeit unterbrochen. Die
Herrschaft Karl Alberts war jedoch nur von kurzer Dauer, weil er zulassen
musste, dass die österreichischen Truppen große Teile Bayerns besetzten.
Maria Theresia gelang es aber, sich in den habsburgischen Erblanden zu
behaupten; allein Schlesien ging an Preußen verloren. Im Jahr 1745 wurde
Franz Stephan von Lothringen schließlich doch von den Kurfürsten zum
römisch-deutschen Kaiser gewählt.
Arbeitsfragen zum Text:
• Fasse die wichtigsten Auseinandersetzungen der Habsburger mit Osmanen und Franzosen zusammen!
• Was versteht man unter der „Pietas Austriaca“ („Österreichischen Frömmigkeit“)?
Materialien
Habsburgische Gebietserweiterungen im 17. und frühen 18. Jh.
Europa um 1740
Arbeitsaufgaben:
Versuche anhand der Karte den habsburgischen Besitz um 1740 herauszuarbeiten:
8
•
•
Welche Gebiete kamen durch die Kriege gegen die Osmanen hinzu, welche durch den Spanischen Erbfolgekrieg?
Welche Gebiete gingen zwischen 1739 und 1742 verloren?
Der Streit um die Vorherrschaft im 17. Jahrhundert
Die habsburgische Außenpolitik war in der 2. Hälfte des 17. Jh. vor allem durch den Gegensatz zu
Frankreich und den Osmanen geprägt. Im Mächtespiel war jedes Mittel recht, um den Gegner zu
schwächen. Kaiser Leopold I. und seine Diplomaten schätzten die Situation im Jahr 1677 folgendermaßen ein:
„Der Kaiser … hat nicht aus Eigennutz um eines persönlichen Vorteiles willen, sondern aus der Pflicht
des Kaisertumes zu den Waffen gegriffen, zum Schutz der Bedrängten. Der König von Frankreich
[Ludwig XIV.] aber ist in seiner Herrschgier unersättlich. Er lässt sich den König der Könige nennen,
sein Ziel ist auf eine europäische Monarchie gerichtet. Er wendet darum alle Mittel auf, andere friedliche Länder in sich zu zerwühlen und zu zerstören. Er säet durch sein Geld Zwietracht und Rebellion in
1
Polen und Ungarn . Er sucht den Feind des christlichen Namens, den Türken, gegen uns aufzureizen
und zu entsenden, nur damit er uns, ermattet durch dessen Abwehr, dann umso leichter sein Joch
aufzwingen könne.“
(Gesandtschaftsinstruktion Kaiser Leopolds I. vom Februar 1677; zitiert nach Otto Frass, Quellenbuch
zur österreichischen Geschichte 2: Vom Beginn der Neuzeit bis Maria Theresias Tod, Wien 1959, S.
149)
„Alles für das Volk, aber nichts durch das Volk!“ – Der aufgeklärte Absolutismus in Österreich
Aufgeklärter Absolutismus
Die Ideen der Aufklärung flossen zunächst in Brandenburg-Preußen in die
Politik ein: König Friedrich II. interessierte sich persönlich für die Aufklärung
und stand sogar in einem regen Briefkontakt mit dem französischen Philosophen Voltaire. Unter dessen Einfluss führte Friedrich in BrandenburgPreußen die allgemeine Schulpflicht ein, sorgte sich um Krankenhäuser und
die tolerante Aufnahme Fremder. Bei aller absolutistischer Machtfülle wollte
er der „erste Diener seines Staates“ sein. Somit verbanden sich in Friedrichs
Herrschaft absolutistische und aufklärerische Züge. Diese Art der Regierung, bei der nur von oben gelenkte aufklärerische Maßnahmen geduldet
wurden, bezeichnet man als „aufgeklärten Absolutismus“. Auch die Regierungsweise Maria Theresias (1740-1780) sowie ihrer Söhne Josef II.
(1765/80-1790) und Leopold II. (1790-1792) war zugleich aufgeklärt und
absolutistisch; ebenso folgte die russische Zarin Katharina II. (1762-1796)
dem Beispiel Friedrichs.
Der österreichisch-preußische Gegensatz
Nach den Kriegen um die Nachfolge Kaiser Karls VI. im Heiligen Römischen
Reich und in den habsburgischen Erbländern herrschte zwischen Österreich
unter Maria Theresia und Brandenburg-Preußen unter Friedrich II. ein
Spannungsverhältnis. Beide waren 1740 an die Macht gekommen und waren ursprünglich auch für eine gemeinsame Ehe bestimmt gewesen. Friedrich II. war für Maria Theresia in vielen innen- und außenpolitischen Bereichen sowohl Konkurrent als auch Vorbild: zum einen wollte die Habsburgerin die wichtige Provinz Schlesien zurückgewinnen, zum anderen ahmte sie
immer mehr die Reformen Friedrichs nach.
Nach dem Ende des Österreichischen Erbfolgekrieges 1748 verbündete
sich Österreich mit Frankreich. Auf der anderen Seite rückten Brandenburg1
Königin Maria Theresia
Häufig wird Maria Theresia als „Kaiserin“ bezeichnet, doch ist dies
nicht korrekt. Kaiser des
Heiligen
Römischen
Reiches konnte nur ein
Mann werden; die Gattin führte nicht den Kaisertitel – im Gegensatz
zu dem seit 1804 bestehenden
Kaisertum
Österreich.
Hingegen
war Maria Theresia in
den
habsburgischen
Erbländern Königin von
Gemeint ist die Rebellion der Kuruzzen, der Calvinisten im österreichisch besetzten Teil Ungarns,
gegen die Habsburger im Jahr 1678, die sich ein Jahr zuvor schon abzeichnete. Aus dieser Zeit
stammt auch der volkssprachliche Stoßseufzer „Kruzi Türken“ (Kuruzzen und Türken).
9
Preußen und England näher zusammen; somit entstanden zwei große Ungarn, Böhmen, etc.
Machtblöcke in Europa. Im Siebenjährigen Krieg (1756-1763) versuchte
Maria Theresia nochmals, Schlesien zurückzugewinnen. Friedrich II. konnte
sich mit Mühe gegen die österreichischen Armeen behaupten, sodass
schließlich Schlesien bei Brandenburg-Preußen blieb. England und Frankreich bekämpften sich auch in den Kolonien in Nordamerika; daher könnte
man erstmals von einem „Weltkrieg“ sprechen. Frankreich verlor dabei alle
seine Kolonien in Nordamerika (Louisiana, Québec) an England.
Maria Theresias Reformen im Inneren
Nach den Niederlagen im Österreichischen Erbfolgekrieg wurde das habsburgische Heer von Grund auf modernisiert. Zur Ausbildung der Offiziere
schuf Maria Theresia die Militärakademie in Wiener Neustadt. Während des
Siebenjährigen Krieges war die österreichische Armee der preußischen
immerhin schon ebenbürtig.
Zur besseren Verwaltung der habsburgischen Erbländer wurden unter Maria
Theresia mehrere Reformen durchgeführt. Bisher hatten alle Länder des
Habsburgerreiches Verwaltungsstrukturen gehabt, die historisch gewachsen
waren. Jetzt wurden diese vereinheitlicht: an die Stelle der einzelnen Länder
trat ein einheitlicher, zentralistischer Staat. Im Steuerwesen wurde eine jeweils für zehn Jahre gültige Vorschreibung der Steuer eingeführt. Maria
Theresia führte auch die allgemeine Steuerpflicht ein; bisher hatten Adelige
und Geistliche keine Steuern zu bezahlen.
Auch das Strafrecht änderte sich: So schaffte Maria Theresia unter dem
Einfluss von Josef Freiherr von Sonnenfels 1776 die Folter ab; das Strafgesetz wurde vereinheitlicht. Nach preußischem Vorbild führte Maria Theresia die allgemeine Schulpflicht ein und sorgte sich um Sozial- und Gesundheitseinrichtungen: staatliche Spitäler, Armenhäuser und Gebärhäuser wurden errichtet.
Im wirtschaftlichen Bereich unterschied sich Österreich wenig von den übrigen Staaten: Schutzzölle wurden zur Förderung der eigenen Wirtschaft eingeführt, das Verkehrsnetz ausgebaut. Die Zünfte, die seit dem Mittelalter
darüber wachten, dass nicht zu viel Konkurrenz innerhalb eines Handwerks
aufkomme, verloren durch Verordnungen zahlreiche Kompetenzen. 1781,
kurz nach dem Tod Maria Theresias, wurde im Sinne des Physiokratismus
die Leibeigenschaft der Bauern abgeschafft, doch blieben die Bauern weiterhin von ihrem Grundherrn abhängig.
Der „stille“ Kaiser
Im Jahr 1745 übernahm Maria Theresias Gatte Franz Stephan als Kaiser
Franz I. die Herrschaft im Heiligen Römischen Reich. Er stand damit zwar
rangmäßig über seiner Gattin, doch hatte Maria Theresia als Herrscherin in
den habsburgischen Erbländern viel mehr reale Macht. An der Seite der
stets aktiven Maria Theresia blieben seine Tätigkeiten eher unauffällig: Mit
der Einführung des Maria-Theresien-Talers schuf er eine Silbermünze, die
in manchen Gegenden der Erde bis ins 20. Jh. als Zahlungsmittel diente.
Als Förderer der Wissenschaften und der Künste rief er mehrere Sammlungen ins Leben: ein Naturalienkabinett (der Kern des Naturhistorischen Museums in Wien), ein physikalisch-astronomisches Kabinett und ein Münzkabinett. Einige Sammlungen machte er auch der Öffentlichkeit zugänglich: die
Hofbibliothek (heute Nationalbibliothek) steht seit seiner Regierungszeit
allen Gelehrten offen. Auch der 1752 gegründete Tiergarten Schönbrunn,
der älteste öffentliche Tiergarten der Welt, geht auf Franz Stephan zurück.
Gebietserwerbungen
Maria Theresia umgab sich mit mehreren einflussreichen Beratern, allen
voran Kanzler Wenzel Graf Kaunitz, der für eine aktive Außenpolitik sorgte.
Er war es auch, der das Bündnis mit Frankreich schloss. Bei der Teilung
Polens im Jahr 1772 „erbeutete“ er Galizien und Lodomerien (das heutige
Südpolen) für die Habsburger. Am Ende der Regierungszeit Maria Theresias brach schließlich 1779 der Erbfolgekrieg um Bayern aus, der aber nach
10
Joseph Freiherr von
Sonnenfels
Der zum Christentum
übergetretene
Jude
Sonnenfels (1733-1817)
wurde zu einem der
wichtigsten
Berater
Maria Theresias und
ihres Sohnes Joseph II.
Durch das strenge Hofzeremoniell durfte er
allerdings als Jude der
Königin Maria Theresia
nie persönlich begegnen. Jede Kommunikation fand schriftlich oder
über Boten statt.
einigen Scharmützeln auf diplomatischem Weg beendet wurde. Österreich
erwarb dabei das Innviertel.
Joseph II. – Reformen der Kirche durch den Staat
Nach Franz Stephans Tod folgte dessen ältester Sohn, Joseph II., als Kaiser nach (1765-1790). Zwischen 1765 und 1780 regierten Maria Theresia
als Herrscherin in den österreichischen Ländern und Joseph II. als Kaiser
bzw. Mitregent nebeneinander – oder manchmal auch gegeneinander. Joseph II. war in einem deutlich größeren Ausmaß von den Ideen der Aufklärung beeinflusst und suchte nach radikalen Reformen. Dieser Gegensatz
wurde vor allem im religiösen Bereich spürbar. Noch ganz im Sinne ihrer
Vorgänger gestattete Maria Theresia der Kirche großen Einfluss auf die
Politik und auf das Alltagsleben der Menschen, aber sie wollte die Kirche
ganz in den Dienst des Staates stellen: Alles was die Kirche tat, musste
dem Staat nützlich sein.
Maria Theresia war in ihrem Handeln gegenüber den Juden von einem starken wirtschaftlichen und religiösen Antisemitismus geprägt. So plante sie im
Jahr 1744 alle Juden aus Böhmen auszuweisen, zog diese Maßnahme aber
noch zurück. Auch ihre Judenordnungen von 1753 und 1764 wiesen zahlreiche diskriminierende Bestimmungen auf. Erst nach dem Tod seiner Mutter konnte Joseph II. radikale Reformen im religiösen Bereich durchführen.
1781 gestattete er im Toleranzpatent die freie Religionsausübung für Protestanten und Griechisch-Orthodoxe, ein Jahr später auch für die Juden.
Unter Joseph II. musste sich die katholische Kirche dem Staat völlig unterordnen, kirchliche Reformen blieben dem Herrscher vorbehalten; man nennt
diese Art der Kirchenpolitik Josephinismus. Von oben verordnete er eine
Pfarreform: Überall sollte das Pfarrnetz verdichtet werden, jeder sollte nicht
mehr als eine Wegstunde zu Fuß in die Kirche haben. Die Ausbildung der
Priester sollte durch die Schaffung von Priesterseminaren verbessert werden. Auch die Diözesen, die Tätigkeitsbereiche eines Bischofs, wurden verkleinert, um sie besser verwalten zu können: Es entstanden die neuen Diözesen St. Pölten, Linz und Innsbruck.
Andererseits hob Josef auch zahlreiche Klöster und Orden auf, die keine für
den Staat nützlichen Arbeiten verrichteten; darunter fielen alle „beschaulichen“ Orden, die nicht im Sozialbereich tätig waren, und Klöster mit nur
wenigen Mönchen. Wallfahrten, kirchlicher Pomp und aufwändige Begräbnisse wurden eingeschränkt. Dadurch geriet Joseph II. sowohl mit Papst
Pius VI. als auch mit großen Teilen der Gläubigen in Konflikt. Viele der
kirchlichen Reformen wurden daher unmittelbar nach Josefs Tod zurückgenommen.
Koalitionskriege
Ab 1792 verbündeten
sich stets Koalitionen
aus europäischen Staaten zum Kampf gegen
das
revolutionäre
Frankreich. Die Zusammensetzung dieser
Koalitionen wechselte
von Krieg zu Krieg.
Tiroler Volksaufstand
Im Jahr 1809 lehnten
sich die Tiroler Bauern
gegen die bayerischen
Besatzer auf. Nach
einigen Erfolgen, etwa
am Bergisel bei Innsbruck, brach der Aufstand allerdings zusammen, als Andreas
Hofer durch Verrat an
Österreich im Zeitalter der Französischen Revolution und der Kriege die Franzosen fiel.
Napoleons
Die Mächte Europas hatten die Entwicklungen in Frankreich seit 1789 mit
großer Sorge verfolgt, besonders die Habsburger; sie bereiteten sich auf Säkularisierung:
einen Krieg mit Frankreich vor, um Ludwig XVI. wieder in seine alte Macht- Umwandlung von geistposition zu verhelfen. Im April 1792 begann eine Serie von Kriegen zwi- lichem Besitz in weltlischen Frankreich und wechselnden Koalitionen.
chen, z. B. Aufhebung
Auch nach der Machtübernahme Napoleons gingen die Koalitionskriege geistlicher Fürstentümer
weiter. Preußen, Österreich, Russland und England versuchten dabei den oder Klöster. Das ErzVormarsch Napoleons einzudämmen – zunächst ohne Erfolg. In Deutsch- bistum Salzburg fiel auf
land gelang es Napoleon, Verbündete gegen Österreich und Preußen zu diese Weise an die
finden. Bayern stellte sich auf die Seite Napoleons und profitierte davon: es Habsburger.
bekam 1807 Tirol und das Innviertel zugesprochen. Österreich musste
1809 nach wechselvollen Kämpfen seinen Widerstand gegen Napoleon
aufgeben, blieb aber als eigenständiges Reich erhalten.
Der Staatenbund des Heiligen Römischen Reich fiel während der napoleonischen Kriege immer mehr auseinander. Während Preußen und Österreich
gegen Napoleon in den Krieg zogen, sympathisierten zahlreiche deutsche
Staaten, besonders Bayern und der so genannte „Rheinbund“ mit dem Kaiser der Franzosen. Um sich antifranzösische Verbündete im Reich zu si11
chern, säkularisierte Kaiser Franz II. alle geistlichen Fürstentümer und
verteilte sie an weltliche Fürsten. Er selbst krönte sich 1804 als Reaktion auf
Napoleons Kaiserkrönung zum Kaiser von Österreich.1806 erklärte Franz II.
das Heilige Römische Reich Deutscher Nation nach 844 Jahren für beendet.
Arbeitsfragen zum Text:
• In welchen Bereichen regierte Friedrich II. von Preußen als absolutistischer Herrscher, in welchen
ließ er die Ideen der Aufklärung einfließen?
• Welche innen- und außenpolitischen Herausforderungen hatte Maria Theresia zu meistern?
• Fasse die von Joseph II. verordneten Reformen in der Kirche zusammen! Kannst du Auswirkungen dieser Reformen in deiner näheren Umgebung finden?
Materialien
Die Tolerierung von Protestanten und Griechisch-Orthodoxen
Die katholische Gegenreformation hatte im Laufe des 17. Jh. die im Heiligen Römischen Reich gelegenen Erblande wieder zu rein katholischen Gebieten gemacht, wenn sich auch vor allem in einigen
Alpentälern noch ein geheimer Protestantismus hielt. Allein einige Adelige in Niederösterreich und
Schlesien hatten durch Sonderbestimmungen im Westfälischen Frieden das Privileg erhalten, protestantisch bleiben zu dürfen.
Die Juden wurden zwar als solche meist geduldet, doch kam es immer wieder zu Ausweisungen und
Verfolgungen, etwa 1670 in Wien. Durch den Erwerb Galiziens (1772) vergrößerte sich die Zahl der
Juden in den habsburgischen Erblanden auf das Doppelte.
In Ungarn hingegen galten die Bestimmungen des Augsburger Religionsfriedens und des Westfälischen Friedens nicht; zudem besaßen die Adeligen seit dem Mittelalter ein umfangreiches Widerstandsrecht gegenüber dem König. So lebten in Ungarn um 1780 etwa 4,5 Millionen Menschen, von
denen etwa ein Viertel lutheranische oder calvinistische Protestanten waren.
Im katholischen Erzbistum Salzburg wurden die Protestanten noch schärfer verfolgt als in den habsburgischen Ländern. Als Erzbischof Leopold Anton Eleutherius Freiherr von Firmian (1727-1744) sein
Amt antrat, begann er mit der systematischen Vertreibung der Protestanten. Durch sein Patent vom
31. Oktober 1731 wurden etwa über 10000 Protestanten des Landes verwiesen. Sie gingen zu einem
kleineren Teil in die freien Reichsstädte, zu einem Großteil aber nach Brandenburg-Preußen; einige
wanderten auch nach Amerika aus. John Adam Treutlen, ein Salzburger Auswanderer nach Georgia,
wurde 1777 der erste Gouverneur des Bundesstaates und machte damit 230 Jahre vor Arnold
Schwarzenegger als „Österreicher“ eine Politkarriere in den Vereinigten Staaten von Amerika.
In den habsburgischen Ländern lehnte Maria Theresia eine Tolerierung der Protestanten noch vehement ab und zog es vor, die „Landler“ aus dem südlichen Salzkammergut nach Ungarn abzusiedeln.
Auch das Judenpatent Maria Theresias von 1764 diskriminierte die Juden in vielerlei Hinsicht: So
mussten die Juden weiterhin Bärte als Erkennungszeichen tragen oder am Sonntag bis Mittag zu
Hause bleiben.
Joseph II. erkannte schnell, dass die Einbindung von Protestanten, Griechisch-Orthodoxen und Juden
ins Gesellschaftsleben dem Staat nur von Nutzen sein könne, waren doch besonders letztere beide
Gruppen als Händler unter den finanzstärksten Gruppen in Wien. Das Toleranzpatent vom 13. Oktober 1781, ursprünglich nur als Instruktion an die Behörden geplant, gestattete Lutheranern, Calvinisten und Griechisch-Orthodoxen die Errichtung von Kirchen, sofern sich mindestens 100 Personen
desselben Glaubens innerhalb einer Wegstunde befänden; allerdings durften sie keinen Glockenturm
und keinen Eingang von der Straße aufweisen. In den österreichischen Ländern erwartete Joseph II.
nicht, dass sich viele Menschen als Protestanten bekennen würden. Sehr zu seiner Überraschung
hatte sich aber der Geheimprotestantismus besonders in den Tälern des südlichen Salzkammergutes
(Gosau, Hallstatt, Bad Goisern), aber auch im Ötschergebiet gehalten: 1782 bekannten sich außerhalb Ungarns 74000 Menschen zum Protestantismus, 1785 waren es schon 107000.
In einer Resolution (= Erlass) teilte Kaiser Joseph II. seinem Staatskanzler Kaunitz mit, die Behörden
diskret über die Tolerierung der Protestanten und der Griechisch-Orthodoxen zu informieren. Dennoch
kam es am 13. Oktober gegen den ursprünglichen Plan zu einer öffentlichen Bekanntmachung der
Anweisungen im so genannten „Toleranzpatent“.
12
„Meine Willensmeinung, die ich der Kanzlei zu ihrem genauesten Richtmaß hiermit erkläre, ist dahin
2
3
gerichtet, den akatholischen Untertanen ... ein ihrer Religion gemäßes Privatexerzitium ... zu verstatten. ... Der dominanten Religion allein soll der Vorzug des öffentlichen Religionsexerzitiums verbleiben, den beiden protestantischen Religionen4 aber so wie der schon bestehenden schismatischen5
aller Orten ... das Privatexerzitium auszuüben erlaubt sein.
Unter diesem Privatexerzitium versteht sich in Entgegenhaltung der dominanten Religion kein anderer
Unterschied, als dass den Akatholischen ... kein Geläut, keine Türme und kein öffentlicher Eingang
von der Gasse ... eingestanden wird. Sonst aber mögen selbe, wie sie wollen, ... alle Administrierung6
ihrer Sakramente und Ausübung ihres Gottesdienstes in dem Ort durchführen ... Fürohin7 können
derlei Akatholiken zu Prozessionen, zu dem Bürger- und Meisterrechte, zu akademischen Würden und
8
selbst zu Zivil-Diensten unbedenklich zugelassen werden. ...“
(Resolution Kaiser Josephs II. über die bürgerliche Toleranz, 15. September 1781, gekürzt; zitiert
nach Dickmann, Geschichte in Quellen 3, S. 646 f.)
Arbeitsfragen:
• Auf welche Glaubensrichtungen bezog sich die Resolution bzw. das Toleranzpatent?
• Welche Einschränkungen mussten diese Glaubensrichtungen weiterhin bei der Ausübung ihrer
Religion in Kauf nehmen? In welchen Bereichen sind sie völlig gleichgestellt?
Die Aufhebung von Klöstern durch Joseph II.
Im Jahr 1782 begann Kaiser Joseph II. mit der Aufhebung all jener Klöster, die nicht in der Land- und
Forstwirtschaft oder im sozialen Bereich tätig waren und damit dem Staat dienlich waren. Die durch
die Aufhebung frei werdenden Vermögenswerte wurden dem so genannten Religionsfonds zugeteilt,
der zur Finanzierung einer besseren Priesterausbildung und zur Gründung neuer Pfarrkirchen angelegt wurde. Die Maßnahmen stießen auf derart großen Protest des Papstes, dass dieser 1783 nach
Österreich reiste; dieser „erste Papstbesuch“ in Österreich verlief für den Papst freilich erfolglos.
„Seine … Majestät haben aus erheblichen Ursachen für gut befunden, alle Klöster nachstehender
Orden in den Erbländern aufzuheben und mit den Personen und dem Vermögen dieser Personen
Nachfolgendes zu verfügen:
1. befehlen Seine Majestät, dass von nun an alle Ordenshäuser … von männlichem Geschlecht der
Karthäuser9, Kamaldulenser-Orden10 und die Eremiten [= Einsiedler] …, dann von weiblichem Geschlechte die Karmeliterinnen11, Kapuzinerinnen12 und Franziskanerinnen aufgehoben werden und
das gemeinschaftliche Leben der darin befindlichen Personen in denselben aufhören solle.
2. … wird der Commissarius [= kaiserliche Beauftragte] die Schlüssel von allen Kassen, Kirchenschätzen, Archiven und Vorratshäusern verlangen, all jenes was nicht zum täglichen Gebrauch in der Kirche und dem Hause … notwendig ist, versiegeln, über das aber, was zur täglichen Notdurft unversiegelt gelassen wird, auf der Stelle ein Inventarium [= Verzeichnis] verfertigen. …
6. Ferner ist allen wohl verständlich zu eröffnen …:
a) dass diejenigen, welche die Profession [= Ordensgelübde] noch nicht abgelegt haben, … binnen
vier Wochen das Kloster verlassen sollen, wobei sie aber ihr … Eigentum und was sie in das Kloster
mitgebracht haben, mitnehmen können …
2
Akatholisch = nicht katholisch.
Private Ausübung des Glaubens.
Lutheraner und Calvinisten.
5
Die durch das Schisma (Glaubensspaltung) des Jahres 1054 von den Katholiken getrennte griechischorthodoxe Kirche.
6
Durchführung.
7
In Zukunft.
8
Ämter in der öffentlichen Verwaltung.
9
Einsiedlerorden aus dem 11. Jh., bei dem die Mönche in Einzelhäusern (Kartausen) leben und einer strengen
Schweigepflicht unterliegen.
10
kirchliche Reformbewegung aus dem 11. Jh., bei der die Mönche (und Nonnen) nach der Benediktregel, aber
abgeschieden als Einsiedler lebten; benannt nach dem ersten Kloster in Camaldoli (Italien).
11
ursprünglich von Kreuzrittern im Hl. Land gegründeter Einsiedlerorden, benannt nach dem ersten Kloster am
Berg Karmel.
12
Reformzweig des Franziskanerordens.
3
4
13
b) bleibt es allen Priestern oder in höheren Würden stehenden Geistlichen sowohl als Klosterfrauen
frei, sich außer den k. k. Staaten [=Erbländern der Habsburgermonarchie] in fremde Klöster ihres Ordens zu begeben und zu emigrieren. …
d) Eben also würde man derjenigen Absicht behilflich sein, welche den Weltpriesterstand … erwählen
wollten …
e) Jenen Ordensgeistlichen männlichen Geschlechts, welche nach ihren Ordensregeln Gott in stiller
Ruhe und von allen Weltlichen abgesondert dienen wollen, steht zwar frei, ferner nach diesen ihren
Ordensregeln ungestört fortzuleben, jedoch haben sie sich ein Kloster eines anderen Ordens zum
zukünftigen Aufenthalt wählen. …“
(Aufhebungsdekret Kaiser Josephs II. vom 12. Jänner 1782, gekürzt; zitiert nach Gerhard Winner, Die
Klosteraufhebungen in Niederösterreich und Wien, Wien/München 1967, S. 82-87)
Arbeitsaufgabe:
• Was sollte mit den Mönchen und Nonnen geschehen, die in den aufgehobenen Klöstern lebten?
Die Neuordnung Europas am Wiener Kongress – das System Metternich
Der Wiener Kongress
Nach den Niederlagen Napoleons übernahm der österreichische Staatskanzler Klemens Wenzel Fürst Metternich die Führungsrolle bei der Neuordnung Europas. Er lud Vertreter aller europäischen Mächte zum so genannten Wiener Kongress (1814-1815). Zunächst waren die Fortschritte
allerdings bescheiden: die Verhandlungen zogen sich ohne Ergebnisse in
die Länge und während der Ballsaison 1815 gaben sich die Diplomaten eher
den Vergnüglichkeiten hin: „Der Kongress tanzt!“, wurde zum geflügelten
Wort.
Napoleon nützte die Uneinigkeit der europäischen Mächte für seine neuerliche Machtergreifung in Frankreich, die „Herrschaft der 100 Tage“. Erst als
eine große internationale Allianz Napoleon bei Waterloo im heutigen Belgien
endgültig besiegte, konnten sich die Diplomaten auf dem Wiener Kongress
zu raschen Beschlüssen durchringen.
Die Grundprinzipien des Fürsten Metternich waren Legitimation und Restauration: Nur die aus der Sicht Metternichs rechtmäßigen (legitimen) Dynastien sollten in ihren Ländern die Herrschaft ausüben; das alte Gleichgewicht der Kräfte zwischen den fünf Großmächten Frankreich, England,
Preußen, Russland und Österreich, wie es noch am Beginn der Französischen Revolution geherrscht hatte, sollte wiederhergestellt werden. Die
Wünsche der Bevölkerung in den Ländern Europas nach Freiheit und
Selbstbestimmung fanden auf dem Kongress keinerlei Berücksichtigung.
Gebietsaufteilungen
auf dem Wiener Kongress
Die Verhandlungen in
Wien wurden von Kritikern als reines „Planspiel“ angesehen, bei
dem Länder einfach hinund hergeschoben wurden.
Die
Vertreter
Frankreichs wurden am
Wiener Kongress als
gleichrangige Verhandlungspartner anerkannt.
Es war das letzte Mal,
dass Sieger und Besiegte gleichrangig an
einem Tisch saßen:
denn bei allen späteren
großen Friedensschlüssen mussten die Verlierer die von den Siegern
Die neue Landkarte Europas
diktierten Bedingungen
Frankreich wurde in den Grenzen von 1790/92 wiederhergestellt und verlor akzeptieren.
damit alle während der Koalitionskriege eroberten Gebiete. Die Bourbonen
wurden als rechtmäßige Herrscher Frankreichs bestätigt.
Legitimation:
England verzichtete auf größere Gebietserwerbungen, sicherte sich aber Anerkennung nur der
einige wichtige Stützpunkte für den Aufbau eines Kolonialreiches: Malta, nach alter Tradition
und Ceylon (heute Sri Lanka).
„rechtmäßigen“
HerrAuf Betreiben Russlands und Preußens wurde die weitgehende Aufteilung scher
Polens aufrecht erhalten: Der kleine Rest Polens, der nicht an die Nach- Restauration:
barmächte gefallen war, stand unter russischer Oberhoheit („Kongresspo- Wiederherstellung frülen“).
herer
HerrschaftsverDas Heilige Römische Reich gehörte endgültig der Vergangenheit an; es hältnisse
wurde durch den „Deutschen Bund“, einen losen Staatenbund unter der
Führung Österreichs und Preußens ersetzt, der aber keinerlei Gesamtstaat
bildete. Das Kaisertum Österreich erhielt die meisten seiner während der Klemens Wenzel Fürst
Kriege verlorenen Länder zurück, darunter auch das ehemalige Erzbistum Metternich
Salzburg, das nun endgültig Teil der Habsburgermonarchie wurde. Als Er- Metternich stammte aus
satz für die „Österreichischen Niederlande“, das heutige Belgien, das an das einem deutschen A14
Königreich der Niederlande fiel, erhielten die Habsburger das norditalieni- delsgeschlecht, das vor
sche Königreich Lombardei-Venetien zugesprochen.
allem im Bereich Mainz
und Koblenz Besitzungen hatte. Während der
Napoleonischen Kriege
floh er nach Wien, wo er
sich mit seinen extrem
konservativen
Ideen
immer mehr durchsetzten konnte.
Die Neuordnung Europas am Wiener Kongress
Restauration und Solidarität in Europa
Metternich und seine Gesinnungsgenossen in den anderen Ländern Europas hatten auf dem Wiener Kongress eine Ordnung verwirklicht, die den
Wunsch der gebildeten Bürger nach persönlichen Freiheiten völlig vernachlässigte. Zudem änderten sich auch die schlechten Lebensverhältnisse der
Unterschichten nicht. Die Herrschenden waren sich daher bewusst, dass
sich ein derartiges System nur mit Gewalt, Geheimpolizei und Spitzelwesen
erhalten konnten – und selbst das nur, wenn die einzelnen Mächte einander
gegenseitige Unterstützung beim Kampf gegen revolutionäre Bewegungen
versicherten.
1815 gründeten der Kaiser von Österreich, Franz I., der König von Preußen,
Friedrich Wilhelm III., und der Zar von Russland, Alexander I., die so genannte Heilige Allianz. Sie sahen sich als die Schutzherren der bestehenden Ordnung sowie der drei wichtigsten christlichen Glaubensrichtungen,
der katholischen, protestantisch-lutherischen und orthodoxen Kirche. Damit
war auch die Verbindung von Herrscherhaus und Kirche zur Erhaltung der
Macht vorgegeben.
In der Habsburgermonarchie zogen sich viele Menschen in die Privatsphäre
zurück und schufen im familiären Kreis eine Kultur, die nachträglich als Biedermeierzeit bezeichnet wird. Besonders aber unter den deutschen Studenten regte sich massiver Widerstand gegen die Restauration.
Der Vormärz
Nach den Revolutionen von 1830 verstärkte Staatskanzler Metternich den
Druck gegen die Opposition im Kaiserreich Österreich. Als im Jahr 1835
schließlich Kaiser Franz I. starb, folgte ihm der kranke und kaum regierungsfähige Ferdinand I. auf dem Thron. Nun schien Metternich der alleinige
Regent zu sein. Als Mitglied der „Geheimen Staatskonferenz“, des engsten
Beraterstabs des Kaisers, gelang es ihm, die Innen- und Außenpolitik der
Habsburgermonarchie zu lenken. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis
sich der aufgestaute Hass gegen das System Metternich entladen sollte.
Diese Jahre vor der Revolution in Wien im März 1848 werden als „Vormärz“
bezeichnet.
15
Arbeitsfragen zum Text:
• Versuche die Bestimmungen des Wiener Kongresses auf der Karte nachzuvollziehen! Vergleiche
dabei die Landkarte Europas mit dem Zustand um 1812 (Karte in Kapitel 8.4, Materialien)!
• Versuche mit eigenen Worten das „System Metternich“ zu charakterisieren!
• In welchen Gebieten Europas und Außereuropas kam es zwischen 1815 und 1848 zu revolutionären Erhebungen und Freiheitskriegen? Welche waren erfolgreich, welche nicht?
Materialien
Das System Metternich aus der Perspektive eines „Auslandsösterreichers“
Der aus dem südmährischen Dorf stammende Schriftsteller Karl Anton Postl (1793-1864) wurde zunächst katholisch erzogen und schließlich 1814 zum Priester geweiht. Unter dem Druck des Metternich-Regimes floh er 1823 zunächst in die Schweiz und dann weiter in die USA. Den Großteil seines
Lebens pendelte er zwischen den Kontinenten, lebte bisweilen wieder in der Schweiz, dann als Korrespondent in Paris und London und wieder in den USA. In Amerika nahm er den Namen Charles
Sealsfield an; unter diesem Pseudonym erschienen sowohl seine Reiseberichte und politischen Analysen als auch seine sonstigen Romane. Erst nach seinem Tod wurde die Identität von Karl Anton
Postl und Charles Sealsfield aufgedeckt. Er selbst war zunächst dem liberal-aufklärerischen Gedankengut zugeneigt, wie es aus seiner Sicht auch in der amerikanischen Verfassung verwirklicht war.
Allerdings finden sich in seinem Werk auch durchaus konservative Züge: So lehnte er etwa die fortschreitende Industrialisierung ab und trat stattdessen für eine agrarisch geprägte Bürgergesellschaft
ein.
Die politische Analyse und Reiseschilderung „Austria as it is or: Sketches of Continental Courts“ (Österreich, wie es ist, oder Skizzen von Fürstenhöfen des Kontinents) erschien erstmals 1828 in englischer Sprache in London bzw. noch im selben Jahr in französischer Übersetzung; die deutsche Erstausgabe ließ freilich bis zum Ende der Monarchie warten. Sealsfield verbindet darin das Wissen eines
Mannes, der bis zur frühen Restaurationszeit in Österreich gelebt hatte und mit der österreichischen
Mentalität mehr als vertraut war, mit der scharfen Beobachtungsgabe eines „Ausländers“, der als Reisender getarnt die Habsburgermonarchie unter die Lupe nahm. Seine Analysen gehören zu den besten, die für Österreich in der Zeit zwischen 1815 und 1848 erhalten sind. Sie umfassen Politik, Kirche
und öffentliches Leben ebenso wie den Alltag der Weinbauern in Niederösterreich oder der Bürger
von Wien.
Immer wieder sind in seinem Werk Schilderungen zum Spitzelwesen zu finden, die Sealsfield in seiner
Abkehr von der alten Heimat gleichsam bestätigen. Allein in Wien soll es nach seinen Angaben 11000
„Naderer“ (Spitzel, davon abgeleitet „vernadern“ = anschwärzen) gegeben haben. Auch die ausgewählten Textpassagen geben einen lebendigen Endruck von der staatlichen Kontrolle und dem Spitzelwesen der damaligen Zeit, das die ÖsterreicherInnen zu vorauseilendem Gehorsam bewegte und
selbst die allmächtige katholische Kirche in ihrem Aktionsradius deutlich einschränkte. Interessant ist
dabei der Hinweis, dass Sealsfield nicht allein Metternich als Urheber dieses Systems ansieht, sondern in einem ebenso großen Maße auch Kaiser Franz I. Weiters lässt auch die Bemerkung aufhorchen, dass den ÖsterreicherInnen jedes Nationalgefühl fehle, gerade in einer Zeit des Vordringens
nationalistischer Ideen in ganz Europa.
Über die Aufsicht des Staates über die Kirche
„Der Abt [von Klosterneuburg] wird in Gegenwart eines kaiserlichen Kommissärs erwählt, mit dem
Ringe beteilt und derart in seine Würde eingeführt. Er untersteht dem Fürsterzbischof von Wien und
der kaiserlichen Regierung. Die Zahl der Klöster in Österreich ist jetzt nicht mehr so groß wie früher,
aber ihre Verfassung ist überall die gleiche. ... Die Bischöfe werden vom Kaiser ernannt, ohne dessen
Erlaubnis keine päpstliche Bulle13 im Lande veröffentlicht werden darf. Sie unterstehen nicht nur den
Statthaltern, sondern auch den Kreishauptleuten, welche Einfluss auf die Angelegenheiten der Klöster
nehmen. Die Ausbildung der Theologen ruht in den Händen der Bischöfe wird aber von der kaiserlichen Regierung überwacht. Diese behält sich auch das Recht vor, in außergewöhnlichen Fällen besondere Gottesdienste und Prozessionen anzuordnen. Auf diese Weise ist die Geistlichkeit in Öster13
Päpstliche Urkunde, die mit einem Bleisiegel (Bulle) besiegelt ist. Im Konkreten auch eine spezielle Form
päpstlicher Urkunden.
16
reich eigentlich in ihrer Macht beschränkter als in jedem anderen Lande. Im Vergleich mit dem Einfluss, welchen der Kaiser von Österreich auf seine Erzbischöfe, Bischöfe und die gesamte Geistlichkeit ausübt, verschwindet die Macht der Könige von Frankreich und England in geistlichen Dingen.“
Charles Sealsfield, Austria as it is, London 1828, Nachdruck der deutschen Ausgabe, Wien 1919, S.
97 f., leicht gekürzt)
Geheimpolizei und Spitzelwesen unter Kaiser Franz I.
„Franz wird immer als bloßes Werkzeug in Metternichs Händen betrachtet. Dies ist unrichtig. Zwischen
dem Monarchen und dem Staatskanzler herrscht vollständige Übereinstimmung der Gesinnung und
Ansichten. Der Kaiser hat in Metternich den Mann nach seinem Herzen erwählt, deshalb findet er an
seinen Vorschlägen Wohlgefallen und führt sie aus. Das schmähliche Erzeugnis eines schlechten
Gewissens, die Geheimpolizei, liegt ausschließlich in seinen Händen. Franz ist ihr oberster Chef und
die Geheimpolizei liefert einen großen Teil der schweren Arbeitslast des Kaisers. ... Dieser Nachrichtendienst umspannt das ganze Kaiserreich. Er reicht in die Hütte des Bauers, in die Wohnung des
Bürgers, in die Gaststube des Wirtes und in das Schloss des Adeligen. Kein Ort ist vor den Horchern
des Kaisers sicher, der eine regelrechte Liste aller Beamten, Offiziere, Geistlichen und sonstigen
Würdenträger, vom Statthalter bis zum Schreiber führt und darin von einem ausgezeichneten Gedächtnis unterstützt wird. Aufgrund dieser Geheimakten erfolgen die Beamtenernennungen. Anhänglichkeit an die kaiserliche Person ist das erste, was Franz fordert, und die Ernennungsdekrete sind
auch dementsprechend stilisiert: ‚In Anbetracht seiner aufrichtigen Ergebenheit an Unsere Kaiserliche
Person wird X. zum ... ernannt.’“.
Charles Sealsfield, Austria as it is, London 1828, Nachdruck der deutschen Ausgabe, Wien 1919, S.
126 f., leicht gekürzt)
Über die Schwächen der österreichischen Mentalität
„Dieses Volk [die Österreicher], trotz seines Hanges zum Essen und Trinken sicher eines der besten
und gutherzigsten auf Erden, wird merkwürdigerweise allgemein verachtet. Dafür gibt es zwei Gründe:
Der eine ist der blinde Gehorsam gegenüber dem Herrscher, welcher die Österreicher dazu führt, im
Augenblick, wo sie es mit der Regierung zu tun bekommen, aus Liebdienerei noch mehr zu leisten, als
ihnen befohlen wird. Nicht ob ihrer Laster oder wegen des Unrechtes, das sie getan haben, werde sie
gehasst, sondern wegen der täppischen Art, mit der sie sich lenken lasen. Der zweite Grund ist der
Mangel an jeglichem nationalen Selbstgefühl oder an Tugenden, welche dieses erweckt. Dieser Umstand, so geeignet er sein mag, die zwanzig Rassen und Völker zusammenzuhalten, welche Österreich bilden, und so mildernd er auf die Vorrechte einwirkt, welche die Österreicher im Besonderen
genießen, hat die Verachtung für ein Volk gemehrt, welches so wenig blendende Vorzüge besitzt.
Jede Nation würde es als Unglück empfinden, einem Österreicher Untertan zu sein, dessen ungehobeltes Wesen und unangebrachte Vertraulichkeit ihn selbst dort zum Gegenstande des Hohns machen, wo er als Sieger in die Fremde kommt.“
Charles Sealsfield, Austria as it is, London 1828, Nachdruck der deutschen Ausgabe, Wien 1919, S.
95)
Arbeitsaufgaben:
• Vergleiche die drei Texte: Welches Bild lässt Charles Sealsfield von Österreich und den Österreichern im Zeitalter von Kaiser Franz I. und Fürst Metternich entstehen? Beachte: Der Autor wanderte erst fünf Jahre vor der Niederschrift dieser Texte aus politischen Gründen aus Österreich
aus.
• Wie stellt der Autor das Verhältnis von Kirche und Staat dar?
• Wie sehr prägen staatliche Aufsicht, Gehorsam und Geheimpolizei das Leben in Österreich?
Das Biedermeier – Kunst und konstruierte Lebensform
Biedermeier und Romantik
17
In der Zeit zwischen dem Wiener Kongress und der Revolution von 1848
verhinderte im Kaisertum Österreich ein allumspannendes Spitzelsystem,
dass die BürgerInnen offen politisch Stellung beziehen konnten. Die Politik
Kaiser Franz I. und Staatskanzler Metternichs zielte darauf ab, gefügige,
unpolitische, aber gegenüber der Staatsführung loyale Staatsbürger heranzuziehen. Im privaten Bereich sollten die Menschen bescheidene Unterhaltung genießen dürfen, sie sollten sich aber von jeder politischen Tätigkeit
fernhalten. Unter diesen Umständen gingen nur wenige auf Konfrontation
mit dem Regime oder wanderten aus.
Besonders in den besser gestellten Schichten fügten sich viele BürgerInnen
in dieses vom Staat vorgegebene Korsett und entwickelten im Familienkreis
eine Kultur, die rückblickend als Biedermeier bezeichnet wurde. Mit dem
Biedermeier ging auch eine verträumte Rückbesinnung auf vergangene
Zeiten einher, die Romantik: Man entdeckte die Schönheit mittelalterlicher
Burgruinen in der Landschaft und beschäftigte sich mit der Erforschung des
Mittelalters. Die Natur und das beschauliche Alltagsleben rückten in den
Mittelpunkt künstlerischer Darstellung.
Unpolitische Unterhaltung?
Die bürgerliche Gesellschaft des Biedermeier vergnügte sich nicht mehr im
Stile des Adels, sondern übte sich in mehr Bescheidenheit. Besonders in
der Residenzstadt Wien waren Tanzveranstaltungen sehr populär; die erste
Hochblüte des Wiener Walzers mit Johann Strauss (Vater) und Joseph
Lanner fällt in diese Zeit. Mit der Entdeckung der Natur als idyllischem Ort
kamen auch Ausflüge ins Grüne in Mode: So fuhr man etwa mit den neu
aufkommenden Eisenbahnen von Wien in die Kurstadt Baden oder in den
Wienerwald.
Auch das Theater stellte auf den ersten Blick ein unpolitisches Vergnügen
dar. Die Stücke spielten in der Sagenwelt oder im kleinbürgerlichen Milieu.
Staatliche Überwachungsbehörden und verdeckte Polizeispitzel wachten
genau darüber, dass keinerlei regimekritische Äußerungen über die Bühne
unters Volk gebracht wurden. Schriftsteller wie Ferdinand Raimund oder
Johann Nestroy (1801-1862) umgingen diese Zensur, indem sie selbst auch
als Schauspieler und während der Aufführung aus dem Stegreif kleine Seitenhiebe auf die Regierung austeilten.
Das Haus als Kulturzentrum
Die Kunst fand auch in den häuslichen Bereich Eingang: Wertvolles Mobiliar, später als Biedermeiermöbel bezeichnet, stand in den Salons der bürgerlichen Gesellschaft. Kleinformatige Bilder mit Familienporträts, Naturdarstellungen oder Szenen aus dem Alltag waren sehr beliebt. Sie alle vermittelten den Eindruck einer heilen Welt, die oft wenig mit der Realität zu tun
hatte.
Das Haus war auch ein beliebter Ort für Musikdarbietungen und Dichterlesungen: Berühmt wurden etwa die Liederabende von Franz Schubert (17971828) im Kreise kleinerer Gesellschaften. Die Lieder und Gedichte handelten wiederum von sorgloser Idylle und der Natur; Politik blieb ausgespart.
Die Verfasser kritischer Literatur wurden hingegen genauestens beobachtet
und wichen daher häufig ins Exil aus.
Rückzug in die Vater-Mutter-Kind-Familie
Mit dem Rückzug in das eigene Heim entstand auch ein neues Familienideal in den bürgerlichen Kreisen: die Vater-Mutter-Kind-Familie. Der Vater war
erwerbstätig, etwa als biederer, verlässlicher Beamter, während sich die
Mutter zu Hause um die Erziehung der Kinder zu sorgen hatte. Bis heute
wirkt dieses Bild einer „Idealfamilie“ fort.
Freilich sah die Realität während des 19. Jh. und auch in den Jahrhunderten
zuvor anders aus: Zumeist wohnten drei Generationen unter einem Dach
und auch die unverheirateten Geschwister lebten in einer Gemeinschaft mit
der Großfamilie. Im bäuerlichen Milieu und in der neu entstandenen Arbeiterschaft war es dringend notwendig, dass neben dem Vater auch die Mut18
Biedermeier:
benannt
nach
der
Hauptperson einer 1857
erschienenen Satire von
Ludwig Eichbrodt; der
Schulmeister
Gottlieb
Biedermeier wurde zum
Inbegriff eines biederen,
bescheidenen
Spießbürgers.
ter und Kinder am Hof mithalfen bzw. einer Lohnarbeit nachgingen, oft unter
menschenunwürdigen Bedingungen.
Arbeitsfragen zum Text:
• Was bedeutet der Begriff Biedermeier?
• Welche Bereiche umfasste die Kultur des Biedermeier?
• Versuche Ideal und Realität der biedermeierlichen Familie zu beschreiben? Kennst du Bereiche in
der heutigen Gesellschaft, in der das Ideal der biedermeierlichen Vater-Mutter-Kind-Familie noch
nachwirkt?
Materialien
Der Lebensalltag im Spiegel der Biedermeiermalerei
Die österreichische Malerei der Biedermeierzeit dient gleichsam als Spiegelbild einer ganzen Epoche:
An die Stelle der zuvor und danach dominierenden Themen – Religion, historische Ereignisse und
Mythologie – treten Familienporträts aus dem bürgerlichen Bereich, Natur- und Städtedarstellungen
sowie Genreszenen aus dem Alltag. Allen Bildern ist eine Liebe zum Detail anzumerken, die allerdings
jede offene Kritik an den herrschenden Zuständen ausspart. Sie waren für die biedermeierliche Bürgerstube bestimmt und nicht als repräsentative Gemälde für den öffentlichen Bereich; daher sind sie
bis auf wenige Ausnahmen in kleinen Formaten gehalten.
Unter den Porträtisten sind vor allem Friedrich von Amerling (1803-1887) und Moritz Michael Daffinger
(1790-1849) zu nennen. Während Amerling durchaus auch offiziöse Porträts, etwa von Kaiser Franz
I., schuf, so war Daffinger der Meister der Porträtminiatur; die abgebildeten Personen stammten aus
höfischen Kreisen ebenso wie aus Adel und Bürgertum. Die Landschaftsmalerei wurde vor allem von
Friedrich Gauermann (1807-1862) und Ferdinand Georg Waldmüller (1793-1865) zur Perfektion gebracht. Beide arbeiteten stark mit Lichteffekten, wobei Waldmüller in seinem Spätwerk schon in Richtung Impressionismus wies. Neben der Landschaftsmalerei erfreuten sich auch Stadtansichten (Veduten) großer Beliebtheit; führend waren dabei die Darstellungen von Jakob Alt (1789-1872) sowie seines Sohnes Rudolf (von) Alt (1812-1905).
In der Genremalerei waren Peter Fendi (1796-1842) und Joseph Danhauser (1805-1845) besonders
populär. Die Themen ihrer Bilder spiegeln häufig den Gegensatz von reich und arm wider oder porträtieren Szenen des Abschieds, der Mühe und der Trauer. Dennoch spricht aus ihnen höchstens versteckt Sozialkritik; selbst die leidenden Witwen und Bauern haben etwas Idyllisches an sich und wirken nicht als Anklage gegen die herrschenden Zustände.
Die beiden ausgewählten Gemälde geben einen durchaus detaillierten Einblick in die Wohnverhältnisse der Biedermeierzeit: Einer kleinen bürgerlichen Oberschicht war es vorbehalten, in gediegen ausgestatteten Salons zu leben, die mit Gemälden und Teppichen geschmückt waren. Der reich gedeckte
Tisch (u. a. mit einer Ananas) steht im krassen Gegensatz zum Bettler, der von rechts den Raum
betritt und zum farbigen Diener am linken Bildrand. Danhauser, der selbst aus einer reichen Möbelfabrikantenfamilie stammte, malte das Bild für den Textilhändler und Seidenfabrikanten Rudolf Arthaber.
Die biblische Szene vom reichen Prasser wird dabei in die Biedermeierzeit verlegt.
Die Realität der gemeinen Bevölkerung sah allerdings eher wie auf dem Bild Peter Fendis aus: Eine
ganze Familie wohnte oft in einem einzigen Mansardenzimmer, das im Winter sehr kalt und im Sommer unerträglich heiß war. Starb der Ehemann bzw. Vater, so wurden die Lebensverhältnisse zusätzlich erschwert, zumal der Arbeitsmarkt für viele Frauen nicht oder nur in einzelnen Berufssparten zugänglich war. Die feuchten, unhygienischen Lebensbedingungen führten zur raschen Verbreitung von
Seuchen und Lungenkrankheiten: eine Cholera-Epidemie im Jahr 1831 kostete mehr als 2000 Menschen das Leben. Die Kindersterblichkeit sowie die Sterberate bei Frauen während der Entbindung
und im Wochenbett waren nach wie vor sehr hoch.
Die Maler der Biedermeierzeit widmeten sich verstärkt Szenen aus dem Alltagsleben. Auch wenn sie
dabei immer wieder auch soziale Unterschiede und Armut thematisierten, so wirken die Bilder dennoch beschaulich und höchstens versteckt sozialkritisch.
19
Bild: Der Verschwender – der reiche Prasser (Gemälde von Joseph Danhauser, 1836)
Bild: Arme Offizierswitwe (Gemälde von Peter Fendi, 1836)
Arbeitsaufgaben:
• Versuche beide Bilder so detailgetreu wie möglich zu beschreiben!
• Welche Details der beiden Bilder geben Aufschluss über die Wohnverhältnisse der Biedermeierzeit?
• Betrachte das zweite Bild: Wie sieht es darin mit der Realität der biedermeierlichen Vater-MutterKind-Familie aus?
Die Revolutionen von 1848/49
20
Unruhen in Wien
Im März 1848 kam es auch in fast allen Staaten des Deutschen Bundes zu
revolutionären Unruhen, besonders aber in Österreich. Schon in den ersten
Tagen der Revolution floh der verhasste Staatskanzler Metternich nach
England. Kaiser Ferdinand I. versprach zunächst auf Druck der bewaffneten
Bürger und Studenten die Ausarbeitung einer Verfassung, ließ sich jedoch
Zeit. Nach neuerlichen Unruhen wurde ein österreichischer Reichstag einberufen, der eine neue Verfassung ausarbeiten sollte: Im September 1848
beschloss der Reichstag auf Antrag des mährischen Abgeordneten Hans
Kudlich die Aufhebung der Grundherrschaft.
Doch schon im Oktober 1848 überschlugen sich in Wien erneut die Ereignisse: Es kam zu Revolten unzufriedener Arbeiter und Studenten und Straßenkämpfen; am Höhepunkt der Unruhen wurde Kriegsminister Latour gelyncht. Ende Oktober warfen kaiserliche Truppen die Aufständischen in
Wien brutal nieder; zahlreiche revolutionäre wie der deutsche Abgeordnete
Robert Blum wurden hingerichtet. Die Regierung floh nach Olmütz (Mähren), der Reichtag nach Kremsier (Mähren). Am 2. Dezember 1848 dankte
der schwache Kaiser Ferdinand I. schließlich ab und zog sich nach Prag
zurück; Nachfolger wurde sein erst 18-jähriger Neffe Franz Joseph. Mit Gewalt löste er den Reichstag auf und richtete eine autoritäre Herrschaft ein.
Frauen an der Front
Besonders unter den gebildeten Frauen aus dem bürgerlichen Milieu erwachte während der Revolution von 1848 der Wille zu politischer Mitgestaltung. In Wien wurde der Wiener Demokratische Frauenverein gegründet,
der sich zum Ziel setzte, die Ideen der Gleichheit, Freiheit und Demokratie
unter allen Frauen zu verbreiten. Der Wunsch der Frauen nach politischer
Mitbestimmung wurde allerdings von manchen männlichen Zeitgenossen
mit spöttischer Kritik bedacht.
Während der revolutionären Kämpfe in Wien ergriffen auch Frauen aus den
Mittel- und Unterschichten an der Seite der Männer die Waffen. Sogar ein
leicht bewaffnetes „Amazonencorps“ wurde aufgestellt. Während der Erstürmung Wiens durch die kaiserlichen Truppen Ende Oktober 1848 spielte
es als „letztes Aufgebot“ eine durchaus wichtige militärische Rolle.
Aufstände in der gesamten Habsburgermonarchie
Nationalistische Ideen fanden auch unter den nicht-deutschen Völkern der
Habsburgermonarchie weite Verbreitung. In Ungarn erklärte der Revolutionär Lajos Kossuth die Habsburger sogar für abgesetzt. Erst im August 1849
konnte der junge Kaiser Franz Joseph den Aufstand mit russischer Hilfe
blutig niederschlagen. In Norditalien erhoben sich nationalistische Freiheitskämpfer, doch blieben die kaiserlichen Truppen unter ihrem schon greisen
Feldmarschall Radetzky siegreich.
Tschechen und Ungarn, Polen, Kroaten, Italiener und die zahlenmäßig kleineren Völker forderten die Gleichberechtigung ihrer Sprache im Behördenverkehr und strebten eine Autonomie (regionale Selbstständigkeit) an; die
Monarchie sollte in einen föderalistischen Staat umgewandelt werden. Als
1848 die Revolution ausbrach, versammelten sich die slawischen Völker
unter der Führung des tschechischen Historikers František Palacký zu einem Slawenkongress in Prag, um ihre Forderungen zu koordinieren. Ihre
Ziele waren gemäßigt: Man erkannte die Oberhoheit des Kaisertums Österreich an, da man sich als kleiner Nationalstaat zu klein und schutzlos fühlte,
strebte aber vor allem die Gleichberechtigung der eigenen Sprache an.
Was blieb von der Revolution?
Die Revolutionäre hatten weder in Wien noch in Paris oder Berlin die Erfüllung ihrer Forderungen erreicht: Das gebildete Bürgertum erlangte die bürgerlichen Freiheiten erst 1867; die Arbeiterschaft musste noch bis ins 20.
Jh. warten, dass ihre schweren Lebens- und Arbeitsbedingungen gelindert
wurden. Noch einmal hatten sich die konservativen Kräfte mit Waffengewalt
21
Amazonencorps:
benannt nach den Amazonen („Brustlose“),
einem
kriegerischen
Volk in der griechischen
Mythologie, das nur aus
Frauen bestand. Um
beim
Bogenschießen
nicht beeinträchtigt zu
sein, wurde der sage
nach schon den jungen
Mädchen die rechte
Brust weggebrannt.
durchgesetzt und erneut ein absolutistisches System etablieren können. Die
Aufhebung der seit dem Mittelalter bestehenden Grundherrschaft wurde
aber nicht mehr zurückgenommen. Die Grundherren wurden zu zwei Drittel
für den Verlust ihres Besitzes entschädigt: Ein Drittel musste der Bauer
bezahlen, ein Drittel übernahm der Staat. Viele Bauern konnten sich freilich
auch diese Summe nicht leisten und zogen in die Städte, um sich dort als
Arbeiter zu verdingen. Zahlreiche ehemalige Grundherren wiederum nutzten
ihr frisch erworbenes Kapital, um sich als Unternehmer eine neue Karriere
aufzubauen.
Arbeitsfragen zum Text:
• Fasse die wichtigsten Stationen der Revolution von 1848 in Wien zusammen!
• Welche Errungenschaft der Revolution blieb auch nach 1848 bestehen?
Materialien
Der Prager Slawenkongress 1848
Auf dem Prager Slawenkongress von 1848 kam es zum Wettstreit zweier grundsätzlicher Richtungen
des slawischen Nationalismus: Zum einen förderte Russland die Idee des Panslawismus, des Zusammenschlusses aller slawischen Völker. Diese von meist russischen Adeligen (darunter etwa der
russische Anarchist Bakunin) vertretene Richtung fand aber in Prag nur wenig Zuspruch. Vielmehr
wurde dort das Konzept des „Austroslawismus“ betont. Man fühlte sich in der Habsburgermonarchie
durchaus sicher und betonte dies auch, wie die Erklärung des politischen Vereins „Slovenija“ zeigt.
Spätestens seit dem harten Vorgehen Russlands gegen die polnischen Revolutionäre im Jahr 1830
traute man den Hegemonialbestrebungen Russlands offenbar nicht. In der Habsburgermonarchie
hingegen schien ein Überleben der kleinen slawischen Völker weit eher möglich.
Die Ziele des Prager Slawenkongresses, der allerdings schon nach wenigen Wochen unverrichteter
Dinge gewaltsam aufgelöst wurde, lassen sich auf drei Punkte zusammenfassen:
1) die Ausarbeitung eines Manifests an die Völker Europas
2) die Zusammenfassung der nationalen Forderungen der einzelnen Nationalitäten in einer Petition an
den Kaiser
3) die Erörterung der Möglichkeiten für eine engere Kooperation bzw. ein Bündnis zwischen den österreichischen Slawen.
Die Forderungen der Slowenen sind hier stellvertretend für zahlreiche ähnliche Stellungnahmen aufgenommen: Ganz klar wird betont, dass man sein Heil in einem Verbleib innerhalb der Habsburgermonarchie suchte, ja man erkannte auch die deutsche Sprache als die Leitsprache zur allgemeinen
Verständigung innerhalb des Vielvölkerstaates an. Im Land selbst aber suchte man nach der völligen
Gleichberechtigung des Slowenischen: In den Grundschulen sollte nur in slowenischer Sprache unterrichtet werden, in den weiterführenden Schulen sollte Slowenisch neben Deutsch gleichberechtigt
sein. In der Verwaltung sollten alle Gesetzestexte und Erlasse auch auf Slowenisch verfasst sein; alle
Beamten sollten der slowenischen Sprache in Wort und Schrift mächtig sein. Interessant im Sinne des
Nationalismus erscheint auch die Forderung, die Slowenen sollten innerhalb der Habsburgermonarchie ein eigenständiges Königreich bilden; die Aufsplitterung auf die historisch gewachsenen Länder
Krain, Kärnten, Steiermark und die Küstenlande sollte überwunden werden. Der in Wien gegründete
politische Verein „Slovenija“ forderte in einem Schreiben an den Slawenkongress folgende Rechte für
die Slowenen:
„1. Der Bestand des österreichischen Kaisertums als unauflösliches Ganzes, als selbstständige verfassungsmäßige Herrschaft der Familie Habsburg-Lothringen. Eine solche Macht ist für unsere gemeinsame Sicherheit gegen jeden Feind notwendig, wir können also nicht, ohne Schaden zu nehmen,
eine Verkleinerung des Staates zulassen.
2. Alle Völker des österreichischen Kaisertums sollen, in ihrem jeweiligen Land, völlig gleiche Rechte
haben; wir verlangen die Einführung der slowenischen Sprache in Schulen und Ämtern, und zwar so,
dass in Volksschulen nur in slowenischer Sprache, in Hauptschulen und höheren Lehranstalten auf
Slowenisch und auch Deutsch unterrichtet werde; dass Amtsgeschäfte, amtliche Korrespondenz, Verlautbarungen aller Gesetze und Erlässe in slowenischer Sprache erfolgen; daher muss jeder Beamte
in unseren slowenischen Ländern das Slowenische in Wort und Schrift beherrschen.
22
3. Um uns in unserer Nationalität frei und ungehindert ausbilden zu können, ist es notwendig, dass
sich die krainischen14, steirischen, kärntnerischen und küstenländischen15 Slowenen in ein Land mit
dem Namen Slovenija zusammenschließen, das einen eigenen Landtag haben würde, was uns nach
16
dem Gesetz des ersten Reichstages und des Kaisers erlaubt sein muss. Als gemeinsames Band
aller österreichischen Völker anerkennen wir die deutsche Sprache; sie soll die Sprache des
Reichstags und der Minister im Schriftverkehr sein.
4. Den Beitritt Österreichs zum Deutschen Bund können wir nicht anders zulassen als von Staat zu
Staat, bei völliger Wahrung der österreichischen Selbstständigkeit.“
(Schreiben des politischen Vereins „Slovenija“ vom 29. Mai 1848 an den Prager Slawenkongress;
zitiert nach Andreas Moritsch [Hg.], Der Prager Slavenkongreß 1848, Wien/Köln/Weimar 2000, S. 130
f.)
Arbeitsaufgaben:
• Wie stehen die Autoren des Schreibens zur Habsburgermonarchie? Wird ein eigener, gemeinsamer slowenischer Staat gefordert?
• Welche Forderungen stellen sie bezüglich des Gebrauchs der slowenischen Sprache?
Frau Biedermeier auf den Barrikaden
Schon in der Zeit des Vormärz hatte sich vor allem das Rollenbild der gebildeten Frauen einigermaßen aufgeweicht: Zwar blieb viel hinter der „Biedermeierfassade“ verborgen, doch waren Frauen als
Organisatorinnen von Liederkränzen sowie patriotischen Bürger- und Museumsvereinen durchaus
aktiv. Während der Revolution des Jahres 1848 ergab sich nun das Problem, dass die politisch aktiven Männer zwar für Meinungsfreiheit und politische Mitsprache eintraten, ja in diese Forderungen oft
auch den bisher völlig rechtlosen vierten Stand (die Unterschichten, vor allem die neu entstandene
Arbeiterschaft) miteinbezogen, eine Mitsprache der Frauen jedoch eher ablehnten. Mitunter kam es
gar zu spöttischer Kritik wie in der abgebildeten Karikatur. Frauenvereine werden als chaotisch dargestellt, ohne jede politische Kultur. Die Vereinigung von Mutterpflichten und politischer Betätigung wird
als unmöglich dargestellt: Das kleine Mädchen rechts im Vordergrund wirft einen Tisch um und bringt
dadurch alles durcheinander. Freilich hielten diese Vorbehalte gegenüber Müttern im politischen Alltag
noch sehr lange: Als 1990 die Abgeordnete Christine Heindl für die „Grünen“ (damals „Die Grüne Alternative – Die Grünen im Parlament“) in den österreichischen Nationalrat einzog, wurde sie Ziel massiver Kritik, vor allem seitens einzelner Abgeordneter der ÖVP und selbst in zahlreichen Karikaturen,
weil sie im Sitzungssaal öffentlich ihr Kind stillte.
Sowohl in Deutschland als auch in Österreich entstanden als Reaktion auf die Gründung von Bürgervereinen, die allein den Männern vorbehalten waren, auch Frauenvereine wie der Wiener Demokratische Frauenverein, der es sich in seinen Statuten zum Ziel setzte, dass er Anstoß für die Gründung
weiterer ähnlicher Vereinigungen werde. In Deutschland gründete Louise Otto mit einigen Mitstreiterinnen auch die „Frauen-Zeitung“, in der ähnliche Ziele verfolgt wurden, wie sie sich in den Statuten
des Wiener Demokratischen Frauenvereins finden. Standesunterschiede unter den Frauen sollten
dabei keine Rolle spielen. In den Statuten des Wiener Demokratischen Frauenvereins heißt es daher:
„Unter den Mitgliedern darf kein Standesunterschied gelten. Man sagt einfach Frau und Fräulein. Verheiratete Frauen haben vor den unverheirateten keinen Vorzug.“ (§ 10; zitiert nach Hauch, Frau Biedermeier auf den Barrikaden, S. 236).
Die Ziele der Frauen erscheinen aus heutiger Sicht moderat, waren aber vor dem Hintergrund einer
durch und durch patriarchalischen Gesellschaft durchaus gewagt: Vor allem die politische und rechtliche Gleichstellung der Frauen sollte erreicht werden, eine Forderung, die vor allem über eine bessere
Ausbildung der Mädchen erreicht werden sollte. Hier lassen sich durchaus Parallelen zu den Forderungen der Arbeiterbewegung erkennen, die nach 1867 in Österreich vor allem danach strebte, das
Bildungsniveau der Arbeiterschaft durch Arbeiterbildungsvereine zu heben. Aufbauend auf die höhere
Bildung der Frauen sollten in weiterer Folge auch zahlreiche neue Berufssparten den Frauen offen
stehen, die auf diese Weise mehr finanzielle Unabhängigkeit von ihren Ehemännern erlangen würden.
Das wichtigste Betätigungsfeld sahen aber die Frauen nach wie vor in einem ihrer angestammten
Bereiche, in der Kindererziehung. Der Wiener Demokratische Frauenverein nahm es sich zum Ziel,
vor allem durch die Erziehung der Kinder im Sinne der neuen Ideen diese allgemein zu verbreiten.
14
Slowenen aus dem historischen Herzogtum Krain (Kranj), das den Großteil des heutigen Slowenien umfasste.
Slowenen aus den Gebieten an und nahe der östlichen Adriaküste.
16
Das im Rahmen der Revolution von 1848 zur Ausarbeitung einer Verfassung gegründete gesamtösterreichische Parlament.
15
23
Waren die politischen Frauenvereine zum Großteil von gebildeten Bürgerinnen dominiert, so fanden
sich unter den kämpfenden Frauen Bürgerinnen und Arbeiterinnen vereint, wie auch die Darstellung
zu den „Amazonen von 30. October“ zeigt. Der Kleidung nach ist die vordere (rechte) Frau eindeutig
als Bürgerin erkennbar, während die hintere (linke) Frau mit dem roten Kopftuch ebenso eindeutig der
Arbeiterschaft oder allgemein den werktätigen Unterschichten zuzuordnen ist. Schon in den Revolutionen in Frankreich 1789/1792 bzw.1830 hatten Frauen durchaus auch eine militärische Rolle gespielt;
jetzt hatte sich der Trend auch im konservativen Österreich fortgesetzt. Die „Amazonencorps“ gehörten offensichtlich durchaus zu einem gewohnten Anblick während der revolutionären Kämpfe auf den
Barrikaden; nur eher selten wurden sie in ihren Hosen und Waffenröcken zum Objekt der Karikatur.
Die hier abgebildeten Amazonen tragen freilich Frauenkleidung. Sie gehörten zu den letzten Einheiten, die sich Ende Oktober 1848 den kaiserlichen Truppen bei deren Sturm auf Wien entgegenstellten.
Nach dem Sieg der Konterrevolution verschwanden die Frauen für Jahrzehnte wieder aus dem Frontbereich. In den Kriegen in der zweiten Hälfte des 19. Jh. gestand man ihnen nur die Rolle als Sanitäterinnen zu.
Zwei neue Rollenbilder der Frau im Bild: die revolutionäre Kämpferin und die Politikerin
Bild: „Die Amazonen von 30. October“: Bewaffnete Bürgerinnen während der Revolution von 1848
(zeitgenössische kolorierte Zeichnung von Carl Lanzedelli, Detail)
24
Bild: Politischer Damenklub (zeitgenössische Karikatur von W. Völker)
Arbeitsaufgaben:
• Beschreibe beide Darstellungen möglichst genau: Welche Unterschiede in der Darstellung der
Frauen fallen dir auf?
• In welcher Form lässt der Zeichner der Karikatur seine Ablehnung gegenüber dem neuen Rollenbild von Frauen als politisch aktive Menschen erkennen?
Wiener Frauen schließen sich zu einem politischen Verein zusammen
„Die Aufgabe des Vereins ist eine dreifache: eine politische, eine soziale und eine humane:
a) eine politische, um sich durch Lektüre und belehrende Vorträge über das Wohl des Vaterlandes
aufzuklären, das demokratische Prinzip in allen weiblichen Kreisen zu verbreiten, die Freiheitsliebe schon bei dem Beginne der Erziehung in der Kindesbrust anzufachen und zugleich das deutsche Element zu bekräftigen;
b) eine soziale, um die Gleichberechtigung der Frauen anzustreben durch Gründung öffentlicher
Volksschulen und höherer Bildungsanstalten, den weiblichen Unterricht umzugestalten und die
Lage der ärmeren Mädchen durch liebevolle Erhebung zu veredeln;
c) eine humane, um den tiefgefühlten Dank der Frauen Wiens für die Segnungen der Freiheit durch
sorgsame Verpflegung aller Opfer der Revolution auszusprechen.
(Aus den Statuten des Wiener Demokratischen Frauenvereins 1848, Wien, Kriegsarchiv; zitiert nach
Hauch, Frau Biedermeier auf den Barrikaden, S. 235)
Arbeitsaufgaben:
• Fasse die politischen Forderungen des Wiener Demokratischen Frauenvereins zusammen?
• Welche Forderungen hältst du für das späte 20. und 21. Jh. nicht mehr als zeitgemäß?
25
Das bürgerliche Zeitalter in Österreich
„Kakanien“
Kaum eine Epoche der österreichischen Geschichte findet bis heute so viel Interesse wie die Zeit der
ausgehenden Habsburgermonarchie unter der Regierung Kaiser Franz Josephs (1848-1916). Der
Blick auf diese Epoche schwankt oft zwischen Verklärung und Kitsch, man denke nur an die Vermarktung der schwierigen Ehe Franz Josephs mit der bayerischen Prinzessin Elisabeth („Sisi“). Die „gute
alte Zeit“ wurde ebenso sprichwörtlich wie die „böhmische Köchin“, die in keinem gutbürgerlichen
Haushalt fehlen durfte.
Die Wirklichkeit sah freilich nur zum Teil so rosig aus: Nur die gutbürgerlichen Kreise konnten im allgemeinen Wirtschaftsaufschwung der so genannten Gründerzeit rasch zu großem Wohlstand kommen. Auf der anderen Seite wuchs die Arbeiterschaft, die in teils menschenunwürdigen Verhältnissen
lebte, stark an. Zwischen den einzelnen Nationalitäten der Monarchie kam es damals häufig zu Spannungen; auch der Antisemitismus war in Wien weit verbreitet. Das Kulturleben in der Metropole Wien
und in den anderen Großstädten der Monarchie pulsierte hingegen. Der österreichische Schriftsteller
Robert Musil (1880-1942) hat in seinem Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ die Zeit der untergehenden Monarchie nachträglich als „Kakanien“ betitelt – abgeleitet von „k.k.“ (kaiserlich-königlich).
Franz Joseph
Mitten während der revolutionären Wirren im
Jahr 1848 kam der erst 18-jährige Franz Joseph an die Macht. Mit seinen engsten Beratern kehrte er zunächst brutal zu einer neoabsolutistischen Herrschaftsform zurück, musste
aber dann nach zahlreichen außenpolitischen
Misserfolgen Zugeständnisse im Inneren machen. Er regierte 68 Jahre lang und prägte die
Epoche zwischen 1848 und dem Ersten Weltkrieg wie kein anderer Herrscher in Europa.
Die Doppelmonarchie
Die zahlreichen Nationalitäten der Habsburgermonarchie strebten besonders seit 1848
nach möglichst großer Selbstbestimmung.
Gezwungen durch die militärischen Niederlagen des Jahres 1866 gestand Franz Joseph
den Ungarn praktisch einen eigenen Staat zu.
Die beiden Reichshälften Österreich und Ungarn waren seit 1867, dem so genannten
„Ausgleich“, nur durch den gemeinsamen
Herrscher und einige gemeinsame Ministerien
miteinander verbunden.
Parteien und Vereinswesen
Unmittelbar nach dem Ausgleich mit Ungarn
wurde für den österreichischen Reichsteil eine
Verfassung erlassen, die erstmals die Möglichkeit gab, weitgehend frei politische Parteien und Vereine zu gründen. Die zweite Hälfte
des 19. Jh. gilt als die Periode, in der – nach
politischen Lagern getrennt – ein großer Teil
des Lebens der BürgerInnen in Vereinen organisiert war.
Schmelztiegel Wien
Die Hauptstadt Wien wuchs unter der Regierung Franz Josephs zu einer der wichtigsten
kulturellen Metropolen Europas heran. Großprojekte wie der Bau der Wiener Ringstraße
schufen tausende neue Arbeitsplätze. Aus allen Teilen der Monarchie strömten Menschen
nach Wien. Neben der Wohnungsnot brachte
auch das Zusammenleben der verschiedenen
Nationalitäten immer wieder Spannungen mit
sich.
Vom Neoabsolutismus zum Ausgleich mit Ungarn
Mythos Franz Joseph
Im Dezember 1848, als in vielen Teilen der Habsburgermonarchie noch
revolutionäre Kämpfe tobten, löste der erst 18-jährige Franz Joseph seinen
weitgehend unzurechnungsfähigen Onkel Ferdinand I. auf dem Kaiserthron
ab. Vor allem die erzkonservativen Gegner der Revolution, knüpften an ihn
große Hoffnungen. Geleitet von seinen engsten Beratern, dem Staatskanzler Fürst Schwarzenberg und dem greisen Feldmarschall Radetzky, ließ er
die Revolution in allen Teilen der Monarchie brutal niederschlagen und richtete wieder eine absolutistische Herrschaft ein. Dieser „Neoabsolutismus“
führte dazu, dass Franz Joseph in den ersten zwanzig Jahren seiner Regierung im Volk nicht sehr beliebt war. Das gescheiterte Attentat auf ihn im
Jahr 1853 ist Ausdruck dieser großen Kluft zwischen Kaiserhaus und Bevöl26
Das Attentat auf Kaiser
Franz Josef am 18.
Februar 1853
Der ungarische Schneider Janos Libényi attackierte auf der Wiener
Mölkerbastei
Franz
Joseph mit einem Messer, doch wurde sein
Angriff vom Adjutanten
(persönlichen Begleiter)
kerung.
Auch die glanzvolle Hochzeit mit der bayerischen Prinzessin Elisabeth („Sisi“) konnte daran vorerst nur wenig ändern: Die Verklärung dieses Ereignisses durch Filme, Musical und zahlreiche Bücher darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Hochzeit in erster Linie für die Hofkreise bestimmt war.
Das Volk, ob Bürger- oder Arbeiterschaft, hatte damals wichtigere Anliegen
und Probleme.
Außenpolitische Niederlagen und innenpolitische Zugeständnisse
Franz Joseph steuerte zunächst einen stark an die katholische Kirche gebundenen Kurs. 1855 trat ein Konkordat in Kraft, das den gesamten Unterricht in den Schulen unter kirchliche Aufsicht stellte. Zudem durften Katholiken nur mehr kirchlich und nicht mehr vor dem Staat heiraten. Allein in wirtschaftspolitischen Fragen zeigte Franz Joseph fortschrittliche Ansätze. Eine
Gewerbeordnung aus dem Jahr 1859 hob das Zunftwesen endgültig auf;
auch das Münz-, Maß-, Gewichts- und Zollsystem in der gesamten Monarchie wurde vereinheitlicht.
Zu innenpolitischen Zugeständnissen an das Bürgertum war Franz Joseph
erst nach den schweren Niederlagen gegen Piemont-Sardinien und gegen
Preußen bereit. Tausende Soldaten hatten in den Kämpfen ihr Leben gelassen; die Provinzen Lombardei und Venetien gingen 1859 bzw. 1866 verloren. Die vernichtende Niederlage 1866 bei Königgrätz (Nordböhmen) gegen
Preußen hatte endgültig jeden Gedanken an eine deutsche Einigung unter
Einschluss Österreichs zerstört.
Schon 1860 hatte Franz Joseph im so genannten Oktoberdiplom die Wiedereinrichtung der Landtage, der „Parlamente“ auf Landesebene, und damit
eine gewisse Selbsterwaltung der Länder zugelassen. Diese föderalistische
Maßnahme wurde allerdings schon wenige Monate zurückgenommen und
durch eine zentralistische ersetzt: Im Februarpatent von 1861 gestand
Franz Joseph dem neu gegründeten Reichsrat, einem „Parlament“ auf
Reichsebene, die Gesetzgebung zu.
Franz Josephs und
einem Passanten abgewehrt. Als Dank für
die Errettung stiftete das
Kaiserhaus die Votivkirche, den einzigen Kirchenbau der Ringstraße.
Konkordat:
Vertrag zwischen dem
Papst und einem Staat.
Die Verwaltung der
Doppelmonarchie
Alle Ämter waren seit
1867 einer der beiden
Reichshälften oder beiden gemeinsam zugeteilt. Darauf wies jeweils
ein System von Abkürzungen hin:
k.u.k. = kaiserlich (Österreich) und königlich
(Ungarn), d. h. für beide
Reichshälften gemeinsam
k.k. = kaiserlich (Österreich) königlich (Böhmen), d. h. für die österreichische Reichshälfte
Die Zweiteilung der Habsburgermonarchie
k.u. = königlich unga1867, ein Jahr nach den Niederlagen gegen Preußen und Italien, erfolgte risch, d. h. für die ungaeine Einigung zwischen dem Kaiserhaus und dem Königreich Ungarn: Im so rische Reichshälfte.
genannten Ausgleich wurden praktisch zwei voneinander unabhängige
Staaten mit eigener Verwaltung geschaffen: Österreich und Ungarn, jeweils
mit den dazugehörigen Nebenländern. Allein das Außen-, das Kriegs- und
Finanzministerium blieben gemeinsam; Kaiser Franz Joseph war als Kaiser
Staatsoberhaupt der österreichischen Reichshälfte, als König das der ungarischen. Als Grenze diente der Fluss Leitha, sodass man offiziell (aus Wiener Sicht) von Cisleithanien (Österreich, diesseits der Leitha) und
Transleithanien (Ungarn, jenseits der Leitha) sprach.
Arbeitsfrage:
• Welche innenpolitischen Maßnahmen setzte Franz Joseph während der Zeit des Neoabsolutismus (1848/49-1860)?
Materialien
Der Ausgleich mit Ungarn
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Die Doppelmonarchie Österreich-Ungarn seit 1867
Die gemeinsam verbliebenen Bereiche der Doppelmonarchie
„§ 1. Nachfolgende Angelegenheiten werden als den im Reichsrate vertretenen Königreichen und
Ländern und den Ländern der ungarischen Krone gemeinsam erklärt:
a) Die auswärtigen Angelegenheiten mit Einschluss der diplomatischen und kommerziellen Vertretung
dem Auslande gegenüber, sowie die in betreff der internationalen Verträge etwa notwendigen Verfügungen, wobei jedoch die Genehmigung der internationalen Verträge, insoweit eine solche verfassungsmäßig notwendig ist, den Vertretungskörpern der beiden Reichshälften (dem Reichsrate und
dem ungarischen Reichstage) vorbehalten bleibt;
b) das Kriegswesen mit Inbegriff der Kriegsmarine, jedoch mit Ausschluss der Rekrutenbewilligung
und der Gesetzgebung über die Art und Weise der Erfüllung der Wehrpflicht, der Verfügungen hinsichtlich der Dislozierung [= Verlegung] und Verpflegung des Heeres, ferner der Regelung der bürgerlichen Verhältnisse und der sich nicht auf den Militärdienst beziehenden Rechte und Verpflichtungen
der Mitglieder des Heeres;
c) das Finanzwesen rücksichtlich der gemeinschaftlich zu bestreitenden Auslagen, insbesondere die
Festsetzung des diesfälligen Budgets und die Prüfung der darauf bezüglichen Rechnungen.
§ 2. Außerdem sollen nachfolgende Angelegenheiten zwar nicht gemeinsam verwaltet, jedoch nach
gleichen von Zeit zu Zeit zu vereinbarenden Grundsätzen behandelt werden:
1. Die kommerziellen Angelegenheiten, speziell die Zollgesetzgebung;
2. die Gesetzgebung über die mit der industriellen Produktion in enger Verbindung stehenden indirekten Abgaben;
3. die Feststellung des Münzwesens und des Geldfußes [= Wechselkurses];
4. Verfügungen bezüglich jener Eisenbahnlinien, welche das Interesse beider Reichshälften berühren;
5. die Feststellung des Wehrsystems.“
(Österreichische Fassung des Ausgleichsgesetzes vom 21. Dezember 1867, Reichsgesetzblatt Nr.
146, § 1-2; zitiert nach Der österreichisch-ungarische Ausgleich von 1867. Seine Grundlagen und
Auswirkungen, München 1968, S. 153).
Arbeitsaufgaben:
28
•
•
Beschreibe anhand der Karte, welche Erbländer der Habsburgermonarchie dem cisleithanischen
(österreichischen) Teil und welche dem transleithanischen (ungarischen) angehörten!
Nenne jene politischen Bereiche, die durch das Ausgleichsgesetz weiterhin gemeinsam bestritten
wurden! Vergleiche das Ergebnis mit den Zielsetzungen der Europäischen Union!
Wahlrechtsreformen und Parlamentarismus
Die Verfassung vom Dezember 1867
Mit 21. Dezember 1867 verabschiedete der Reichsrat erstmals eine Verfassung, die nicht vom Kaiser erlassen wurde. Sie bestand aus mehreren
Staatsgrundgesetzen. Die drei Gewalten wurden getrennt: An der Spitze der
ausführenden Gewalt (Exekutive) stand der Kaiser, dem die Regierung mit
Ministerpräsident und Ministern unterstellt war. Die gesetzgebende Gewalt
(Legislative) lag in den Händen des Reichsrats. Der Reichsrat bestand einerseits aus einem Herrenhaus, in dem Abgeordnete saßen, die vom Kaiser
ernannt worden waren; andererseits gab es das Abgeordnetenhaus mit
gewählten Volksvertretern, die vorerst von den Landtagen entsandt wurden.
Auch die Unabhängigkeit der Richter wurde in der Verfassung festgehalten.
Unter den allgemeinen Rechten der Staatsbürger fanden sich nun auch das
Recht auf freie Meinungsäußerung und das Recht auf die Gründung von
Vereinen.
Die Gründerzeit – Regierungen der Liberalen (1867-1879)
Zunächst bestimmten die Liberalen die Politik im Reichsrat: Sie traten für
den Ausbau der bürgerlichen Grundrechte und für die Zurückdrängung des
Einflusses der katholischen Kirche in der Politik ein; zudem betonten sie die
Führungsrolle der deutschsprachigen Bevölkerungsgruppe innerhalb der
österreichischen Reichshälfte. Die wichtigsten Vertreter der Liberalen waren
Ernst von Plener und Moritz Benedikt, der Gründer der liberalen Zeitung
„Neue Freie Presse“ (heute „Die Presse“).
In die Zeit der liberalen Regierung fiel auch ein enormer Wirtschaftsaufschwung, der vielen Aufsteigern in kurzer Zeit großen Reichtum brachte –
wenn auch oft auf der Basis von Spekulationsgeschäften, die durch den
Börsenkrach vom 8. Mai 1873 mit einem Schlag wieder zunichte gemacht
wurden. Diese Periode des Wirtschaftsaufschwungs, die „Gründerzeit“ genannt wird, ist noch heute durch die zahlreichen großen Bauprojekte des
Großbürgertums sichtbar: An der Wiener Ringstraße entstanden nicht nur
die großen öffentlichen Gebäude, sondern auch die Wohnpaläste der reichen Oberschicht. Auch in den kleineren Städten und vor allem in den beliebtesten Zielen für die Sommerfrische wurden ganze Villenviertel errichtet,
etwa in der kaiserlichen Sommerresidenz Bad Ischl.
Der Weg zum allgemeinen Wahlrecht (der Männer)
Von einer wirklich demokratischen Zusammensetzung des Reichsrats war
man damals noch weit entfernt. Zunächst durften aufgrund des Zensuswahlrechts nur diejenigen (männlichen) Bürger wählen, die über eine hohe
Steuerlestung verfügten. Dadurch waren im Reichsrat allein jene Parteien
vertreten, die für die Interessen der Reichen eintraten: Liberale und Katholisch-Konservative. Die konservative Regierung unter Ministerpräsident
Taaffe, die ab 1879 im Amt war und auf die liberale Regierungsperiode folgte, war zu Zugeständnissen in der Wahlrechtsfrage bereit: Schrittweise wurde das Wahlrecht auf größere Bevölkerungsschichten ausgedehnt.
Die Mitglieder des Abgeordnetenhauses im Reichsrat waren seit 1861 von
den Landtagen beschickt worden. 1873 wurden sie erstmals direkt gewählt.
Die aufgrund ihres Steueraufkommens wahlberechtigten Männer wurden
dazu in vier Kurien (Wahlgruppen) eingeteilt: Großgrundbesitzer, Handelsund Gewerbekammern, städtisches Bürgertum und ländliches Bürgertum.
1882 wurde das nötige Steuereinkommen von jährlich 10 auf 5 Gulden verringert und damit die Wahlen auf den Mittelstand ausgedehnt. 1896 wurde
29
Eduard Graf Taaffe
(1833-1895)
Länger als jeder andere
Politiker der ausgehenden Habsburgermonarchie bekleidete der konservative Graf Taaffe
von 1879 bis 1893 das
Amt des Ministerpräsidenten. Als Politiker der
Kompromisse und des
Ausgleichs
zwischen
sehr unterschiedlichen
Interessengruppen im
Vielvölkerstaat zog er
sich die harsche Kritik
der Deutschnationalen
und der radikalen „Jungtschechen“ zu.
Zensuswahlrecht
Die Höhe der Steuerleistung
entscheidet
über die Zulassung zur
Wahl und über das Gewicht der einzelnen
Wählerstimme.
Vereinswesen
Für jeden noch so kleinen Bereich der Freizeitgestaltung gab es
bald eigene Vereine,
von Sportklubs bis hin
zu Kleingartenvereinigungen. Die Mitgliedschaft bei bis zu zwanzig Vereinen war in der
zweiten Hälfte des 19.
Jh. keine Seltenheit.
der Wahlzensus neuerlich auf 4 Gulden Steuerleistung gesenkt und zudem
eine fünfte, allgemeine Kurie für alle Männer über 25 Jahren eingeführt.
Von einem allgemeinen und gleichen Wahlrecht war man aber immer noch
weit entfernt: Jede der Kurien stellte eine bestimmte Anzahl an Abgeordneten im Reichsrat, doch entsprach diese Abgeordnetenzahl nicht der Größe
der jeweiligen Wählergruppe. So wählten in der Kurie der Handels- und
Gewerbekammern knapp 600 wahlberechtigte Unternehmer, die insgesamt
21 Abgeordnete in den Reichsrat entsenden durften; für einen Abgeordneten waren somit gerade 28 Stimmen nötig. Zum Vergleich: Um in der allgemeinen Kurie gewählt zu werden, brauchte ein Abgeordneter 76388 Stimmen!
Erst 1907 wurde das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht
für Männer Wirklichkeit. Damit gelang es erstmals den Parteien, die die
große Masse der Bevölkerung vertraten, mit vielen Abgeordneten in den
Reichsrat einzuziehen. Frauen waren weiterhin von der Wahl ausgeschlossen; sie durften erst nach dem Ersten Weltkrieg erstmals wählen.
Von politischen Vereinen zu Massenparteien
Mit der Dezemberverfassung von 1867 war es möglich geworden, Vereine
zu gründen. In allen sozialen Schichten und politischen Lagern wurde diese
neue Freiheit umfassend genützt. Einige dieser Vereine hatten in Wirklichkeit politische Absichten und bildeten langfristig den Kern der späteren Parteien. Vor allem die Aktivitäten innerhalb des Arbeitermilieus wurden von
den konservativen Regierungen mit Argwohn betrachtet und nicht selten
unter fadenscheinigen Begründungen verboten.
Katholisch-Konservative und Christlichsoziale
Als das Zensuswahlrecht noch weite Teile der Bevölkerung von der Wahl
ausschloss, konnten katholisch-konservative Parteien eine Mehrheit im
Reichsrat erlangen. Sie betonten vor allem ihre enge Verbindung zur Kirche
und zum Kaiserhaus und sprachen sich in der Nationalitätenfrage für gemäßigte Zugeständnisse aus. Im Laufe der Wahlrechtsreformen gingen diese
Parteien immer mehr in der Christlichsozialen Partei auf. Diese formierte
sich ab 1891 unter dem Wiener Rechtsanwalt Karl Lueger und dem katholischen Sozialreformer Karl von Vogelsang. Zunächst war das Wirkungsfeld
der Partei vor allem auf Wien beschränkt, wo Lueger das Amt des Bürgermeisters anstrebte. Erst nach seiner Wahl zum Wiener Bürgermeister
(1897) wurde aus den Christlichsozialen schrittweise eine Reichspartei.
Lueger ging es von Anfang an um die Einbindung möglichst großer Bevölkerungsschichten in seine Bewegung. Mit einer betonten Treue zu Kaiser,
Reich und Kirche und mit einer gewissen Reformbereitschaft in der sozialen
Frage wollte er große Teile der nicht-sozialistischen Bevölkerung für sich
gewinnen. Kleinbürger, Handwerker und Gewerbetreibende gehörten zu
den wichtigsten Wählerschichten der Christlichsozialen. Mit gezieltem Populismus und judenfeindlichen Parolen fand er in der Bevölkerung großen
Zuspruch. Kaiser Franz Joseph hingegen verweigerte ihm aufgrund seiner
Judenfeindlichkeit mehrfach die Ernennung zum Wiener Bürgermeister.
Die Sozialdemokraten
Die Arbeiterschaft hatte nach 1867 zum einen die Gründung von Gewerkschaften, zum anderen ein allgemeines Wahlrecht zum Ziel. Über den Weg
zur Erlangung dieser Ziele gab es jedoch unterschiedliche Ansichten, sodass die Arbeiterbewegung, die meist dem Gedankengut von Karl Marx
folgte, in sich sehr zerstritten war. Den ersten Schritt zur Einigung setzten
die Vertreter zahlreicher Arbeiterbildungsvereine, die sich 1874 in Neudörfl
bei Wiener Neustadt zur „Sozialdemokratischen Arbeiterpartei“ zusammenschlossen. Aus Angst davor, dass die Polizei die Versammlung gewaltsam
auflösen könnte war man kurzfristig in die liberalere ungarische Reichshälfte, ins heutige Burgenland, ausgewichen. Kurz darauf brachen aber erneut
Flügelkämpfe zwischen radikalen und gemäßigten Sozialisten aus. Schließlich war es der aus bürgerlichen Verhältnissen stammende Armenarzt Victor
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Populismus:
Streben nach Volksnähe durch öffentlichkeitswirksame Auftritte
und Maßnahmen
Religiös und wirtschaftlich motivierter
Antisemitismus
In katholischen Kreisen
lebten die religiös und
wirtschaftlich motivierten Anfeindungen gegen jüdische Mitbürger
fort, die seit dem Mittelalter bestanden. Die
Juden wurden immer
noch als das Volk angesehen, das für den
Tod Jesu verantwortlich
gemacht wurde. Zudem
hätten Juden in Handel,
Gewerbe und Wissenschaft einen Großteil
der führenden Positionen inne und würden
damit auch die Politik in
ihrem Sinne beeinflussen.
Adler, der mit seiner Fähigkeit zu vermitteln die endgültige Einigung der
sozialdemokratisch orientierten Arbeiterbewegung herbeiführte. Mit seinen
erschütternden Reportagen zum Alltag der Ziegelarbeiter am Wienerberg
hatte er das Vertrauen der Arbeiterschaft gewonnen. Zum Jahreswechsel
1888/89 trafen sich zahlreiche Delegierte zu einem Einigungsparteitag im
niederösterreichischen Hainfeld und vollzogen eine Neugründung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei.
Die wichtigsten Ziele der neuen Partei waren zunächst Verbesserungen im
Alltag der Arbeiterschaft wie z. B. die Einführung des Achtstundentags. Man
wollte dieses Ziel auf dem Weg eines allgemeinen und gleichen Wahlrechts
erreichen; danach würde man als Massenpartei genügend Abgeordnete im
Reichsrat stellen.
Die nationalen Gegensätze innerhalb der Monarchie sollten durch eine
weitgehende Selbstverwaltung der Regionen entschärft werden. 1907, bei
den ersten Wahlen nach dem Gleichheitsprinzip (für erwachsene Männer),
wurden die Sozialdemokraten schließlich die stärkste Einzelpartei im
Reichsrat.
Burschenschaften und Deutschnationales Lager
Die Anfänge deutschnationalen Gedankenguts reichen in die Zeit zwischen
dem Wiener Kongress und der Revolution von 1848 zurück. Vor allem die
Studenten wurden zu Trägern des Wunsches nach einem geeinigten deutschen Sprachraum. Sie schlossen sich an vielen deutschsprachigen Universitäten zu Studentenverbindungen, den Burschenschaften, zusammen. Jede Verbindung hatte Uniformen in ihren eigenen Farben. Die Verteidigung
von Nation und Vaterland sowie die Erlangung bürgerlicher Freiheiten stellten für die Studenten die Hauptziele dar. Um für den Ernstfall einer Auseinandersetzung mit den Obrigkeiten gewappnet zu sein, wurden Fechtturniere unter den Studenten veranstaltet. 1848 spielten die Studenten eine wichtige Rolle bei den revolutionären Kämpfen in Wien und anderen Städten des
deutschsprachigen Raumes. Sie stellten mit der „Akademischen Legion“
eigene revolutionäre Kampfverbände.
Mit der Niederlage Österreichs gegen Preußen in der Schlacht bei Königgrätz (1866) und der Ausrufung des Deutschen Kaiserreichs (1871) änderten sich die Rahmenbedingungen der Deutschnationalen und damit auch
der studentischen Burschenschaften in der Habsburgermonarchie entscheidend: Die „großdeutsche Lösung“ zur Einigung aller deutschsprachigen
Gebiete hatte sich nicht durchgesetzt. In der Habsburgermonarchie waren
die Deutschen eine Nation von vielen, wenn auch die zahlenmäßig stärkste
und die politisch mächtigste. Die Burschenschaften verloren immer mehr
ihren demokratisch-nationalen Charakter und wandten sich nationalistischautoritären Zielen zu: Gewaltsame Übergriffe seitens deutschnationaler
Studenten gegen Juden und Angehörige nichtdeutscher Nationalitäten wurden gegen Ende des 19. Jh. immer häufiger. In den Vereinsstatuten wurden
Juden ausdrücklich von der Mitgliedschaft ausgeschlossen.
Nachdem die liberalen Parteien durch die Veränderung des Wahlrechts
rasch die Mehrheit im Reichsrat verloren hatten, sammelten sich viele ihrer
Anhänger in den deutschnationalen Parteien. Diese waren zwar in viele
Gruppierungen zersplittert, verfolgten aber das gemeinsame Ziel, im habsburgischen Vielvölkerstaat die Vorrechte der deutschsprachigen Bevölkerung zu bewahren oder noch auszubauen. Vehement richteten sie sich gegen Bestrebungen der konservativen Regierung, die jeweilige Landessprache als zweite Amtssprache zuzulassen, z. B. Tschechisch in Böhmen und
Mähren. Ein Fernziel für die radikaleren Gruppierungen war die Vereinigung
der deutschsprachigen Teile mit dem Deutschen Kaiserreich; allgemein
strebte man aber eine engere wirtschaftliche Bindung mit Deutschland an,
etwa durch die Beseitigung der Zollschranken. Scharf wandte man sich
gegen den Einfluss der Kirche auf Staat und Gesellschaft.
Das Phänomen des Antisemitismus
Schon in der mittelalterlichen Gesellschaft war es immer wieder zu juden31
feindlichen Übergriffen der christlichen Mehrheit gekommen. Sie trugen sich
zumeist in Krisenzeiten zu: Juden wurden aufgrund ihrer religiösen Andersartigkeit zu Sündenböcken für Seuchen und allgemein für Phänomene gemacht, die man sich nicht erklären konnte. Dieser Antijudaismus war in erster Linie von einem religiösen Gegensatz geprägt. Auch in der Frühen Neuzeit war der religiös begründete Antijudaismus weit verbreitet. Erst durch
den Toleranzgedanken der Aufklärung nahm er etwas ab. In streng katholischen Kreisen hielt sich aber auch noch im 19. Jh. ein religiöser Antijudaismus: Die Juden wurden immer noch als das Volk angesehen, das für den
Tod Jesu verantwortlich sei.
Seit der Aufklärung, besonders aber im 19. Jh., gelang zahlreichen Juden
aus dem Bürgertum, die in der Wirtschaft oder in akademischen Berufen
tätig waren, der Aufstieg in höchste Kreise. Viele von ihnen trat auch zum
Christentum über oder maßen der jüdischen Religion keinerlei Stellenwert
mehr bei. Gegen diese assimilierten (angepassten) Juden erhob sich allerdings rasch Neid im weniger gut ausgebildeten Kleinbürgertum und unter
den Konkurrenten um akademische Spitzenpositionen. Ihrer Meinung nach
hätten die Juden in Handel, Gewerbe und Wissenschaft einen Großteil der
führenden Positionen inne und würden damit auch die Politik in ihrem Sinne
beeinflussen.
Unter Abwandlung der Evolutionstheorie von Charles Darwin entstand in
judenfeindlichen Kreisen die Ideologie von einer „fremden jüdischen Rasse“;
Jude sei, wer von einem Juden abstamme. An die Stelle einer religiösen
Barriere zwischen Christen und Juden trat eine „rassische“, die selbst für
assimilierte oder zum Christentum übergetretene Juden nicht zu überwinden
war. Man spricht bei dieser rassisch begründeten Judenfeindlichkeit von
Antisemitismus.
Besonders unter den Deutschnationalen, aber auch unter vielen Christlichsozialen, allen voran der Wiener Bürgermeister Karl Lueger, war der Antisemitismus weit verbreitet; er nahm bis zum Ersten Weltkrieg stetig zu.
Deutschnationale Vereine schlossen in ihren Statuten jüdische Bürger von
der Mitgliedschaft aus. Der Führer der radikal-deutschnationalen Alldeutschen Partei, Georg Ritter von Schönerer, wurde zur Leitfigur rassischantisemitischer Politik. Auch der junge Adolf Hitler, der sich zwischen 1907
und 1913 in Wien aufhielt, war von Schönerers Alldeutscher Partei beeindruckt.
Evolutionstheorie und
rassischer Antisemitismus
Nach der Evolutionstheorie von Charles
Darwin hätten in der
Geschichte stets nur die
Lebewesen
überlebt,
die sich am besten an
die jeweiligen Verhältnisse anpassen konnten. Die Vertreter eines
rassischen Antisemitismus wandelten diese
Theorie
dahingehend
ab, dass nur die Stärksten zur Herrschaft berufen seien und überleben
würden. Daher sei es
die Aufgabe der „arischen
Herrenrasse“,
über andere „Rassen“
wie Juden und Slawen
zu herrschen.
Arbeitsfragen zum Text:
• Stelle die Hauptziele der liberalen Regierung jenen der konservativen gegenüber?
• Beschreibe die einzelnen Schritte der Wahlrechtsreform bis hin zum allgemeinen Wahlrecht für
Männer 1907!
• In welchen Parteien der ausgehenden Habsburgermonarchie war der Antisemitismus weit verbreitet?
Materialien
Aus den Programmen der wichtigsten Parteien in den drei politischen Lagern
Die Prinzipien der Christlichsozialen Partei
„Die christlich-soziale Partei strebt ... als Hauptziel an, das durch die unheilvolle Herrschaft des Liberalismus zerrüttete gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben unseres Volkes gemäß den Lehren unserer christlichen Religion zu erneuern. Sie will den Einfluss des Christentums im Unterrichtswesen und
im ganzen öffentlichen Leben wieder zur Geltung bringen. Sie will, dass Erwerb und Handel wieder
von den Grundsätzen der christlichen Gerechtigkeit beherrscht werden und deshalb ist sie die unversöhnliche Feindin jeder ungerechten Ausbeutung und Unterdrückung der Arbeit, sie komme woher
immer sie wolle. Sie will ein wohl geordnetes und friedliches Zusammenleben aller ehrlich arbeitenden
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Volksstände ohne Ausnahme und verlangt daher eine gesetzliche Organisation der Berufe unter
strenger Wahrung der staatlichen Einheit. ...
Als christliche Reformpartei steht sie in treuer Ergebenheit zum Papste ... und hält sich in unverbrüchlichem Einklange mit den Mahnungen und Weisungen, welche Leo XIII. für die christliche Sozialreform
insbesondere in seiner herrlichen Arbeiter-Enzyklika17 der Welt gegeben hat; sie bleibt den mit dem
Oberhaupte der Kirche verbundenen Bischöfen in allen religiösen und kirchlichen Fragen nach wie vor
in Verehrung treu ergeben.
Als österreichische Reformpartei hält sie in angestammter Treue zu Kaiser und Reich und bewahrt der
allerhöchsten Habsburger Dynastie, mit welcher Österreichs Bestand und Wohlfahrt aufs Innigste
verknüpft ist, für immer jene volle Ergebenheit, welche ein bleibendes Erbe aller wahren Österreicher
ausmacht. ...“
(Programmatische Resolution der Christlichsozialen, 1895, gekürzt; zitiert nach Klaus Berchtold, Österreichische Parteiprogramme 1868-1966, Wien 1967, S. 167 f.)
Die Prinzipien der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei
„1. Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei in Österreich ist eine internationale Partei, sie verurteilt die
Vorrechte der Nationen ebenso wie die der Geburt, des Besitzes und der Abstammung und erklärt,
dass der Kampf gegen die Ausbeutung international sein muss wie die Ausbeutung selbst.
2. Zur Verbreitung der sozialistischen Ideen wird sie alle Mittel der Öffentlichkeit, Presse, Vereine,
Versammlungen, voll ausnützen und für die Beseitigung aller Fesseln der freien Meinungsäußerung
(Ausnahmegesetze, Press-, Vereins- und Versammlungsgesetze) eintreten.
3. Ohne sich über den Wert des Parlamentarismus, einer Form der modernen Klassenherrschaft, irgendwie zu täuschen, wird sie das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht ohne Unterschied des
Geschlechtes für alle Vertretungskörper ... anstreben, als eines der wichtigsten Mittel der Agitation
und Organisation.
4. Soll noch innerhalb des Rahmens der heutigen Wirtschaftsordnung das Sinken der Lebenshaltung
der Arbeiterklasse, ihre wachsende Verelendung einigermaßen gehemmt werden, so muss eine lückenlose und ehrliche Arbeiterschutzgesetzgebung (weitestgehende Beschränkung der Arbeitszeit,
Aufhebung der Kinderarbeit usw.), deren Durchführung unter der Mitkontrolle der Arbeiterschaft sowie
die unbehinderte Organisation der Arbeiter in Fachvereinen ... angestrebt werden.
5. Im Interesse der Zukunft der Arbeiterklasse ist der obligatorische [= verpflichtende], unentgeltliche
und konfessionslose Unterricht in den Volks- und Fortbildungsschulen sowie unentgeltliche Zugänglichkeit sämtlicher höheren Lehranstalten unbedingt erforderlich; die notwendige Vorbedingung dazu
ist die Trennung der Kirche vom Staate und die Erklärung der Religion als Privatsache. ...“
(Prinzipien-Erklärung des Hainfelder Parteitags, 1888/89, gekürzt; zitiert nach Klaus Berchtold, Österreichische Parteiprogramme 1868-1966, Wien 1967, S. 137-144)
Die Prinzipien der Deutschnationalen
„2. … Es ist durch die Lage und die historische Entwicklung der diesseitigen Reichshälfte bedingt,
dass jenen Ländern der Monarchie, welche ehemals dem Deutschen Bunde angehörten, der deutsche
Charakter gewahrt bleibe, und es muss daher gefordert werden, dass durch ein Gesetz die deutsche
Sprache als Staatssprache erklärt, insbesondere aber verfügt werde:
dass die deutsche Sprache ausschließliche Sprache des Heeres, der Vertretungskörper und der öffentlichen Ämter sei, dass demnach der gesamte innere Amtsverkehr sowie die öffentlichen Bücher
und Protokolle ausschließlich in deutscher Sprache geführt werden und dass niemand eine Staatsanstellung oder sonst ein öffentliches Amt bekleiden könne, der nicht der deutschen Sprache in Wort
und Schrift vollkommen mächtig ist;
dass in Orten mit sprachlich gemischter Bevölkerung an mindestens einer Volksschule der Unterricht
in deutscher Sprache erteilt und an allen Mittelschulen die deutsche Sprache als obligatorischer Gegenstand gelehrt werde, wogegen kein Schüler zur Erlernung einer anderen, etwa landes- oder bezirksüblichen Sprache gezwungen werden kann. ...
9. Es ist eine ganz selbstverständliche Aufgabe des Staates, die heimische Produktion und die ehrliche Arbeit überhaupt zu unterstützen und zu fördern und nach Möglichkeit auch für das materielle
Wohl aller Staatsbürger zu sorgen. Dementsprechend ist zu fordern:
17
Enzyklika „Rerum Novarum“ (1891).
33
... eine Reform der Fabrikgesetzgebung, insbesondere der Feststellung einer Normalarbeitszeit, Beschränkung der Kinder- und Frauenarbeit, Haftpflicht der Arbeitgeber für Unfälle der Arbeiter und Einführung von Fabrikinspektoren, ...
12. Zur Durchführung der angestrebten Reformen ist die Beseitigung des jüdischen Einflusses auf
allen Gebieten des öffentlichen Lebens unerlässlich.“
(Linzer Programm der Deutschnationalen, 1882, gekürzt; zitiert nach Klaus Berchtold, Österreichische
Parteiprogramme 1868-1966, Wien 1967, S. 198-203)
Arbeitsaufgaben:
• Arbeite die jeweils zentralen Forderungen der drei Parteien heraus! Schreibe dazu aus den drei
Texten jene Wörter oder Wortgruppen heraus, die den „Charakter“ der betreffenden Partei am
besten umreißen!
• Welche Positionen nehmen die drei Parteien zu den Themen „Arbeiterelend“ und „Rolle der Kirche“ ein? Welche gesellschaftliche Gruppen jeweils angesprochen?
Der Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn
Das Sprachenproblem
Innerhalb der österreichischen Reichshälfte stellten die Tschechen nach
den Deutschen die größte Volksgruppe. Nach dem Ausgleich mit Ungarn
1867 gab es daher Bestrebungen seitens der Tschechen, ebenfalls einen
Ausgleich und damit eine weitgehende Selbstverwaltung für Böhmen und
Mähren auszuverhandeln. Die Pläne scheiterten am Widerstand der
deutschsprachigen Minderheit in Böhmen. Die Frage nach der Amtssprache
in Böhmen blieb noch lange offen. Während der Regierungszeit von Ministerpräsident Taaffe kam es in der Praxis zu einem Kompromiss: Böhmische
Beamte behandelten Eingaben in deren Sprache, also in Deutsch oder
Tschechisch. Dagegen wehrten sich die radikalen tschechischsprachigen
Böhmen, die Deutsch als Amts- und Staatssprache völlig ablehnten, während sich die Deutsch-Böhmen gegen Tschechisch als zweite Amtssprache
wandten. 1897 erließ der slawenfreundliche Ministerpräsident Badeni eine
Sprachenverordnung, die den Gebrauch beider Sprachen in der Verwaltung
vorschrieb. Wieder protestierten sowohl Deutschnationale als auch die national gesinnte Partei der Jungtschechen. Bald schon musste die Sprachenverordnung schrittweise zurückgenommen werden; die radikal-nationalen
Parteien auf beiden Seiten erhielten immer mehr Zulauf.
In Mähren hingegen wurde 1905 eine Einigung erzielt, wonach in allen Gemeinden Zweisprachigkeit auf allen Ämtern verpflichtend war, wenn mindestens 20 Prozent der Bevölkerung der anderen Nationalität angehörten. Alle
Beamten mussten beide Sprachen beherrschen und die Eingaben je nach
ihrer Sprache behandeln. Schulunterricht musste in jedem Fall in der jeweiligen Muttersprache möglich sein. Auch im äußersten Osten der Monarchie,
in der Bukowina in der heutigen Ukraine, wurde 1910 ein ähnlicher Kompromiss gefunden.
Ungarn bildete seit 1867 rein rechtlich einen eigenen Staat, in dem es ebenso wie in der österreichischen Reichshälfte zu nationalen Spannungen
kam. Schon 1868 bekam die größte nicht-ungarische Volksgruppe, die Kroaten, eine weitgehende Selbstbestimmung auf regionaler Basis zugestanden; anderen Nationalitäten, vor allem der großen rumänischen Bevölkerungsgruppe, wurden derartige Kompromisse allerdings nicht gewährt.
Nationalitäten im österreichischen Teil der
Monarchie um 1900 (in
%)
Deutsche
35,7
Tschechen
23,2
Polen
16,6
Ruthenen
13,2
Slowenen
4,6
Serben/Kroaten 2,8
Italiener/Ladiner 2,8
Rumänen
0,9
Julius Graf Andrássy
(1823-1890)
Als
ungarischer
Revolutionär wurde Graf
Andrássy 1848 zum
Tode verurteilt, kurze
Zeit später aber begnadigt. Gemeinsam mit
Franz Deák verhandelte
er für die Ungarn den
Ausgleich des Jahres
1867 aus. Im selben
Jahr wurde er ungarischer Ministerpräsident.
Als Günstling von Kaiserin Elisabeth bekleidete er von 1871 bis
1879 das Amt des k. u.
k. Außenministers.
Krisenherd Bosnien-Herzegowina
Zwischen 1875 und 1878 tobten auf dem gesamten Balkan Aufstände gegen die osmanische Oberhoheit. Als mehrere Friedensbemühungen keinen
Erfolg zeitigten, lud der deutsche Reichskanzler Bismarck 1878 zu einer
Friedenskonferenz, zum Berliner Kongress. Dort wurde nicht nur die Selbstständigkeit von Serbien, Montenegro, Bulgarien und Rumänien bestätigt,
sondern auch Bosnien und Herzegowina vom Osmanenreich abgetrennt. Annexion:
34
Dieses von katholischen Kroaten, orthodoxen Serben und Muslimen bewohnte Gebiet wurde unter die Verwaltung Österreich-Ungarns gestellt;
Österreich besetzte daraufhin das Land militärisch und richtete eine Verwaltung ein. Im Jahr 1908 wurde Bosnien-Herzegowina formlos annektiert,
d.h. der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn zur Gänze eingegliedert; der
Protest Serbiens, Russlands und Frankreichs konnte daran nichts ändern.
Mit Bosnien-Herzegowina wurde eine Region Teil der Habsburgermonarchie, in der ein Nationalitätenkonflikt herrschte, der auch von unterschiedlichen Religionsbekenntnissen getragen wurde. Außerdem gab es in dem
gebirgigen Land keinerlei Industrie, sodass das wirtschaftliche Gefälle gegenüber dem Rest der Monarchie enorm war.
Eroberung (Besetzung)
und formelle Eingliederung eines Landes in
einen anderen Staatsverband
Arbeitsfragen zum Text:
• Welche Positionen trafen beim Sprachenstreit in Böhmen aufeinander?
• In welchen Regionen der Habsburgermonarchie gab es Kompromisse in Fragen des Sprachgebrauchs?
• Warum wurden Bosnien und die Herzegowina zu einem Pulverfass, das schließlich zum Auslöser
des Ersten Weltkrieges wurde?
Materialien
Nationalitäten und wirtschaftlicher Reichtum in der Habsburgermonarchie
Der Nationalitätenkonflikt drehte sich zwar vordergründig meist um die Frage nach den zugelassenen
Amtssprachen, doch ging es dabei auch um die Unterschiede zwischen den reichen und den unterentwickelten Regionen der Monarchie.
Die Nationalitäten in der Österreichisch-Ungarischen Monarchie um 1910
35
Die Wirtschaft der Österreichisch-Ungarischen Monarchie
Arbeitsaufgaben:
• Versuche anhand der oberen Karte zu eruieren, welche Nationalitäten im cisleithanischen bzw.
transleithanischen Teil der Monarchie lebten! Beachte dabei die Legende zur Karte mit der Aufzählung aller Nationalitäten in der Habsburgermonarchie!
• Wo gab es eine starke Mischung zweier oder mehrerer Nationalitäten?
• Vergleiche beide Karten: In den Gebieten welcher Nationalitäten befanden sich die wirtschaftlich
wichtigsten Regionen der Habsburgermonarchie? Welche Sprachgebiete wiesen bis zum Schluss
kaum wirtschaftlich entwickelte Regionen auf?
Lebensalltag und Stadtentwicklung in Wien
Die Gründerzeit
Die Innenstadt von Wien war bis in die Mitte des 19. Jh. von einer Stadtmauer umgeben, vor denen ein breiter Grüngürtel lag. Spätestens beim
Attentat auf Franz Joseph im Jahr 1853 wurde klar, dass diese Verteidigungsanlage keinerlei militärischen Nutzen mehr brachte. In den 1860erJahren riss man die Stadtmauer nieder und baute stattdessen die Wiener
Ringstraße mit ihren öffentlichen und privaten Prachtbauten. Stilistisch lehnte man sich bei den öffentlichen Gebäuden an historische Baustile an. Der
aus Salzburg stammende Maler Hans Makart (1840-1884) richtete sich am
Höhepunkt der bürgerlichen Gründerzeitkultur in Wien ein luxuriöses Atelier
ein, das täglich eine Stunde gegen Gebühr zur Besichtigung geöffnet war.
Zahlreiche großbürgerliche Haushalte nahmen sich den protzigen Stil Makarts zum Vorbild, um damit ihren Reichtum zur Schau zu stellen.
Wien als „Schmelztiegel“ der Monarchie
Die großen Bauvorhaben in Wien schufen viele tausend neue Arbeitsplätze
im Baugewerbe, sowohl in den Ziegelfabriken am Stadtrand als auch auf
den Baustellen selbst. Aus allen Teilen der Monarchie, besonders aber aus
Böhmen, Mähren und Galizien strömten Saisonarbeiter in die Stadt, da in
Wien die Löhne deutlich höher waren als in ihrer Heimat; zudem hatte der
Preisverfall beim Getreide zahlreiche Bauern am Land in den Ruin getrieben.
36
Gründerzeit:
im engeren Sinn die
Periode zwischen 1867
(Dezemberverfassung)
und
1873
(Börsenkrach). Eine Schicht von
Großbürgern und wirtschaftlichen Aufsteigern
verdiente vor allem
durch Spekulationsgeschäfte und durch den
Bauboom. Die Gewinne
wurden in schmuckvolle
Wohnbauten mit pompöser Innenausstattung
investiert. Unter dem
Einfluss von Hans Makart kam vor allem orientalische Dekoration in
Mode.
Bei durchschnittlich 15000 Zuwanderern nach Wien pro Jahr wurde die
Wohnungsnot der Neuankömmlinge immer größer und damit auch deren
Lebensbedingungen schlechter. Dennoch nahm die Anziehungskraft Wiens
von Jahr zu Jahr zu. Aus dem Osten der Monarchie wanderten auch zahlreiche Juden nach Wien zu, einerseits aus wirtschaftlichen Gründen, andererseits aufgrund des steigenden Antisemitismus in Osteuropa. Um 1910
zählte Wien schließlich über zwei Millionen Einwohner, deutlich mehr als
heute.
Das Phänomen Karl Lueger
In Wien gab es wie bei den Wahlen zum Reichsrat der österreichischen
Reichshälfte ein Zensuswahlrecht, das in Wien bis kurz vor dem Ersten
Weltkrieg in Kraft blieb. Daher gelang es dem christlichsoziale Bürgermeister Karl Lueger (1897-1910), sich mit seiner bürgerlichen Wählerschaft lange an der Macht halten. Die Beurteilung seines Lebenswerks ist äußerst
zwiespältig: Zum einen war sein Regierungsstil äußerst populistisch, etwa
betont feindlich gegenüber anderen Nationalitäten, wenn es ihm nutzte, und
vor allem offen antisemitisch. Unter seiner Anhängerschaft, die ihn als
„Herrgott von Wien“ ansah, demonstrierte er Volksnähe.
Zum anderen führte Lueger für die Wiener Bevölkerung zahlreiche Bauvorhaben durch, die bis heute das Leben in Wien prägen: Durch die Eingemeindung der Vorstädte seit 1892 war Wien auf die dreifache Fläche gewachsen, die Einwohnerzahl stieg um 60 Prozent. Lueger ging nun systematisch daran, diese neuen Stadtgebiete zu erschließen: In alle Teile Wiens
wurden elektrische Straßenbahnen gebaut; die Strom- und Gasversorgung
wurde unter die Verwaltung der Stadt gestellt; öffentliche Parks und Bäder
wurden ebenso errichtet wie Schlachthöfe und große Krankenhäuser; für die
Wasserversorgung wurde eine zweite Hochquellenwasserleitung vom
Hochschwabgebiet (Obersteiermark) in die Stadt angelegt. Zur Finanzierung
wurden eigens die „Zentralsparkasse“ und die „Städtische Versicherungsanstalt“ errichtet. Im Wohnbau der Jahrhundertwende wurden Standards
geschaffen: Wasser und Toiletten waren am Gang und nicht mehr im Hof.
Die Stadt Wien konnte auf diese Weise nicht nur den starken Zuzug einigermaßen verkraften, sondern gehörte damit zu den fortschrittlichsten Metropolen Europas.
Arbeitsfragen zum Text:
• Was versteht man unter der Gründerzeit?
• Warum wurde Wien im letzten Drittel des 19. Jh. zum „Schmelztiegel“ der Monarchie? Wie stellst
du dir Wien als „Schmelztiegel“ konkret vor? Begründe deine Meinung!
• Welche Impulse gab Karl Lueger für die Stadtentwicklung Wiens? Warum wird er in der Überschrift des Textes als „Phänomen“ charakterisiert?
Materialien
Die böhmischen Ziegelarbeiter vom Wienerberg
Im letzten Drittel des 19. Jh. setzte eine massive Einwanderung aus allen Teilen der Monarchie, besonders aber aus Böhmen und Mähren nach Wien ein. Die Menschen waren auf der Suche nach Arbeit in der Hauptstadt. Viele tschechische Frauen und Mädchen arbeiteten als Köchinnen und Dienstpersonal in den gutbürgerlichen Familien Wiens. Eine beträchtliche Zahl der tschechischen Arbeiter
lebte am Wienerberg und war in der großen Ziegelfabrik tätig. Die Lebens- und Arbeitsbedingungen
der „Ziegelböhm“ waren dort aber oft katastrophal.
Victor Adler über das Elend der Ziegelarbeiter
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Der Wiener Armenarzt und Sozialdemokrat Victor Adler mischte sich im Spätherbst 1888 unerkannt
unter die Arbeiterschaft der Ziegelwerke am Wienerberg. In der von ihm herausgegebenen Zeitung
„Gleichheit“ veröffentlichte er zwei Berichte darüber, die den Beginn des „Aufdeckungsjournalismus“
darstellen.
„Nun denn, diese armen Ziegelarbeiter sind die ärmsten Sklaven, welche die Sonne bescheint. Die
blutige Ausbeutung dieser elendsten aller Proletarier wird durch das verbrecherische, vom Gesetz
ausdrücklich verbotene Trucksystem, die Blechwirtschaft, in unbedingte Abhängigkeit verwandelt. Der
Hunger und das Elend, zu dem sie verdammt sind, wird noch entsetzlicher durch die Wohnungen, in
welche sie von der Fabrik oder ihren Beamten zwangsweise eingepfercht werden. ...
Der Arbeitslohn beträgt im Sommer sechs bis sieben Gulden wöchentlich; im Winter sinkt er bis vier
Gulden zwanzig Kreuzer. ... Aber wenn dieser elende Hungerlohn auch nur wirklich ausbezahlt werden würde! Diese armen Teufel sehen aber Monate lang kein ‚gutes Geld’, der dort übliche Ausdruck
für das seltene Bargeld. Sondern zwei bis drei Mal täglich erfolgt die Auszahlung in Blech, ohne dass
auch nur gefragt wird, ob der Arbeiter es will und braucht, Dieses Blech wird nur in den den einzelnen
Partien zugewiesenen Kantinen angenommen. sodass der Arbeiter nicht nur aus dem Werk nicht heraus kann, weil er kein gutes Geld hat, sondern auch innerhalb des Werkes ist jeder einem besonderen
Kantinenwirt als Bewucherungsobjekt zugewiesen. Die Preise in diesen Kantinen sind bedeutend
höher als in dem Orte Inzersdorf. ...
Die Partieführer würden aber ihre Sklaven nicht ganz in der Hand haben, wenn diese abends auswärts schlafen gingen. Darum müssen alle Arbeiter im Werke schlafen. Für die Ziegelschläger gibt es
elende ‚Arbeiterhäuser’. In jedem einzelnen Raum ... schlafen drei, vier bis zehn Familien, Männer,
Weiber, Kinder, alle durcheinander, untereinander, übereinander. Für diese Schlafhöhlen scheint die
Gesellschaft sich noch ‚Wohnungsmiete’ zahlen zu lassen ...
Aber die verheirateten Ziegelschläger und Handwerker sind noch die Aristokraten unter den Arbeitern!
Nicht so glänzend geht es den ledigen Arbeitern ... Auch diese müssen auf dem Werke wohnen. Die
Gesellschaft stellt ihnen Wohnungen zur Verfügung; sie hat die Wohnungsfrage wunderbar gelöst.
Seit einiger Zeit wohnen die Ledigen in eigenen Schlafräumen. Ein nicht mehr benützter Ringofen,
eine alte Baracke wird dazu benützt. Da liegen denn in einem einzigen Raum 40, 50 und 70 Personen. Holzpritschen, elendes altes Stroh, darauf liegen sie Körper an Körper hingeschlichtet. ... Da
liegen sie denn, diese armen Menschen, ohne Betttuch, ohne Decke. Alte Fetzen bilden ihre Unterlage, ihre schmutzigen Kleider dienen zum Zudecken. ... dass Wanzen und Läuse die steten Bettbegleiter sind, ist natürlich. Von Waschen, von Reinigung der Kleider kann ja keine Rede sein.
Aber mehr noch. In einem dieser Schlafsäle, wo 50 Menschen schlafen, liegt in einer Ecke ein Ehepaar. Die Frau hat vor zwei Wochen in demselben Raum, in Gegenwart der 50 halbnackten, schmutzigen Männer, in diesem stinkenden Dunst entbunden!“
(„Gleichheit“ vom 1. Dezember 1888, gekürzt; zitiert nach Adler, Aus seinen Reden und Schriften, S.
179-187)
Arbeitsaufgaben:
• Welche Gründe gibt Victor Adler für die große Abhängigkeit der Arbeiter vom Ziegelwerk an?
• Was berichtet er über die Wohnverhältnisse der Ziegelarbeiter?
• Welche sprachlichen Mittel setzte Victor Adler ein, um bei den LeserInnen Emotionen zu wecken?
Wien um 1900 – eine der Kulturhauptstädte Europas
Wissenschafter strömen nach Wien
Die boomende Metropole Wien zog nicht nur Arbeiter an, sondern auch
Künstler und Wissenschafter aus allen Teilen der Monarchie. Die Wiener
Universität entwickelte sich zu einem der wichtigsten Forschungszentren
der Welt. Vor allem die Wiener Schule der Medizin um den norddeutschen
Chirurgen Theodor Billroth und den aus Ungarn stammenden Gynäkologen
Ignaz Semmelweis sorgte international für Aufsehen. Kurz nach der Jahrhundertwende entwickelte der aus Mähren eingewanderte Psychiater Sigmund Freud seine Psychoanalyse: Er ließ sich von Menschen mit psychischen Problemen deren Träume erzählen und deutete sie.
Auch in der Physik und Technik waren führende Persönlichkeiten in Wien
tätig: Der Physiker Ludwig Boltzmann wandte als erster die Gesetze der
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Statistik bei der Untersuchung der Moleküle von Gasen an. Carl Auer von
Welsbach erfand sowohl das Gasglühlicht als auch die Metallfadenglühlampe.
Musik- und Literaturhauptstadt Wien
Schon seit der zweiten Hälfte des 18. Jh. war Wien ein Zentrum der Musik:
Wolfgang Amadeus Mozart, später Ludwig van Beethoven und Franz Schubert waren hier tätig. Während der zweiten Hälfte des 19. Jh. bevorzugte
das Wiener Bürgertum die Unterhaltungsmusik, etwa die Walzer- und Polkakompositionen von Johann Strauß Sohn. Auch die Operette begann in
Wien ihren Siegeszug, der mehr als ein halbes Jahrhundert andauerte.
Daneben wurden aber auch die Weichen für die musikalischen Entwicklungen in der „ernsten Musik“ gestellt. Arnold Schönberg schuf in seinem musiktheoretischen Werk „Harmonielehre“ die Grundlagen der Zwölftonmusik.
Die Wiener Kaffeehäuser wurden zum Treffpunkt der wichtigsten österreichischen Schriftsteller: Der Arzt Arthur Schnitzler interessierte sich in seinen
Theaterstücken und Romanen vor allem für das Innenleben und die Gedankenwelt seiner Hauptfiguren – ganz im Sinne von Sigmund Freud, mit dem
er in Kontakt stand. In seinen Theaterstücken sprach er offen auch die sexuelle Verklemmtheit der Wiener Gesellschaft an und provozierte damit
Skandale. Andere wie der Literaturkritiker Karl Kraus kritisierten in satirischen Kommentaren den Kunstbetrieb um die Jahrhundertwende.
Wien als Zentrum der Moderne
In der Baukunst und in der Malerei machten die in Wien tätigen Künstler
einen starken künstlerischen Wandel durch: Die Zeit des Ringstraßenbaus
war rückwärts gewandt und man belebte alte Stile neu; man nennt diese
Kunstrichtung in der Baukunst und Malerei Historismus. Zentrum der historistischen Malerei war die Akademie der Bildenden Künste, wo Malerei in
der Tradition der Historienbilder Hans Makarts gelehrt wurde. Unter den
jungen Künstlern machte sich aber immer mehr Unmut darüber breit. Da sie
im konservativen Künstlerhaus ihre Werke nicht ausstellen durften, gründeten sie 1897 die „Secession“. Gustav Klimt wurde als wichtigster Vertreter
der Secession zum führenden Künstler des Jugendstils in Wien. Seine
meist quadratischen Bilder stellen oft nur in einem kleinen Ausschnitt das
eigentliche Motiv dar, der Rest ist Ornament zur Füllung des Raums.
Auch in der Architektur des Jugendstils spielte das Ornament eine große
Rolle. Im Gegensatz zu den Fassaden der Gründerzeithäuser, die mit Gesimsen und Figuren geschmückt waren, bauten Architekten wie Otto Wagner ihre Gebäude mit glatten Wänden, die mit aufgesetzten Metallornamenten aus Bronze oder Gold verziert waren. Wagner errichtete in erster Linie
Zweckbauten wie Wohnhäuser, das Postsparkassengebäude, Stadtbahnstationen oder die Kirche der psychiatrischen Anstalt am Steinhof in Wien.
Kunst sollte in seinen Augen nicht mehr nur den Oberschichten oder der
Kirche vorbehalten sein.
Die Durchdringung des Alltags mit Kunst war auch das Ziel der so genannten Wiener Werkstätte. Der Kreis um den Architekten und Kunsthandwerker
Josef Hoffmann entwarf Geschirr und Möbel in einem Design, das für das
20. Jh. vorbildhaft wurde.
Schon bald wurde der Jugendstil von neuen, noch radikaleren Kunstformen
abgelöst. Als Adolf Loos ein Haus ganz ohne Fassadenschmuck am Wiener
Michaelerplatz errichtete, erntete er vor allem Unverständnis für sein „Haus
ohne Augenbrauen“.
In der Malerei ging der junge Egon Schiele neue Wege: Nicht mehr das
Ornament, sondern der Ausdruck der eigenen Gefühlswelt war sein Ziel.
Man spricht dabei vom so genannten Expressionismus.
Die Weltausstellung von 1873
Die Wiener Weltausstellung zum 25. Regierungsjubiläum Kaiser Franz Josephs 1873 sollte alle bisherigen Ausstellungen in den Schatten stellen. In
einer Ausstellungshalle mit fast einem Kilometer Länge wurden auf 2,3 Milli39
Secession:
wörtl.
„Abtrennung“;
Künstlergruppe um den
Maler Gustav Klimt, die
ab 1898 in dem gleichnamigen Haus am Wiener Naschmarkt ihre
Werke ausstellte. Von
1898 bis 1903 gab sie
zudem die Jugendstilzeitschrift „Ver Sacrum“
(Geheiligter
Frühling)
heraus.
Jugendstil:
benannt nach der im
Jahr 1896 in München
gegründeten Kunstzeitschrift „Jugend“, der
Jugendstil war mit regionalen Unterschieden
um 1900 in ganz Europa verbreitet, in Spanien ebenso wie in
Norwegen, Frankreich
oder England.
onen Quadratmetern die neuesten technischen Errungenschaften aus aller
Welt vorgestellt; zusätzlich präsentierten sich die meisten Länder der Welt in
rund 200 kleineren Pavillons. Kurz nach der Eröffnung kam es allerdings zur
finanziellen Katastrophe: Der Wirtschaftsaufschwung der Gründerzeitjahre
(1867-1873) und vor allem das riesige Unternehmen Weltausstellung hatten
zahlreiche Spekulanten an die Börse getrieben; am 9. Mai kam es zu einem
gewaltigen Verlust an der Wiener Börse, der zahlreiche Unternehmen und
Anleger in den Konkurs zog. Die Weltausstellung wurde aufgrund des
schlechten Wetters, schlechter Organisation und schließlich einer CholeraEpidemie in Wien zum wirtschaftlichen Desaster.
Arbeitsfragen zum Text:
• Welche herausragenden wissenschaftlichen Leistungen wurden in Wien um 1900 vollbracht?
• In welchen Bereichen der Kunst war der Wiener Jugendstil um 1900 prägend?
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