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Christine Lavant
Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus
________________________________________
Wichtige Themen
•
•
•
•
Verrückt/normal
Existenz
Armut, Not und Scham
Schreiben und Wahrhaftigkeit
Eignung
• Das Lesen und Verstehen von Christine Lavants Aufzeichnungen aus einem
Irrenhaus stellt einige Ansprüche an
das Empathievermögen des Lesers;
psychologische Grundkenntnisse eröffnen einen differenzierten Zugang.
Eine ergiebige Auseinandersetzung
mit diesem Text – bei dem es oft um
das Nichtgeschriebene geht – dürfte
daher ab 15/16 Jahren möglich sein.
Module
• „Ankommen“ – Wie findet sich ein
Neuankömmling in einem Irrenhaus
zurecht?
• Was unterscheidet den Mensch vom
Tier?
• Die Beziehung von erzählendem Ich
zu den Aufzeichnungen
Zusatzmaterialien
• Comfortably Numb – Angenehm gefühllos, ein Song von Pink Floyd
HAYMONtb 2
ISBN 978-3-85218-802-7
Zum Buch
Christine Lavants Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus wurden erst Jahrzehnte nach dem Tod der Schriftstellerin ein erstes Mal veröffentlicht (im Jahr 2001).
Geschildert wird der sechswöchige Aufenthalt einer
Ich-Erzählerin in einem Irrenhaus, in das sie sich –
nach einem gescheiterten Selbstmordversuch – freiwillig hat einweisen lassen. Von Schlaflosigkeit gequält und von Weinkrämpfen geschüttelt, versucht die
Patientin, die nur vielleicht „verrückt“ ist, schreibend
von ihren Erfahrungen im Irrenhaus zu berichten. Die
Aufzeichnungen geben nicht nur einen tiefen Einblick
in die Behandlungsmethoden in der ersten Hälfte des
20. Jahrhunderts, sondern auch in die zeitlosen zwischenmenschlichen Erfahrungen, die an einem Ort zu
gewärtigen sind, an dem man sich nirgends verstecken
kann.
Zur Autorin
Christine Lavant, geboren 1915 in
St. Stefan im Lavanttal/Kärnten,
gestorben 1973 in Wolfsberg. Sie verfasste Gedichte und Erzählungen, für die
sie mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurde, u. a.
1954 und 1964 mit dem Georg-Trakl-Preis und 1970
mit dem Großen Staatspreis für Literatur.
Foto: Brennerarchiv
Christine Lavant: Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus/Modul 1
Modul 1 „Ankommen“ – Wie findet sich ein Neuankömmling in einem Irrenhaus zurecht?
(Lektüre bis S. 29)
1
Der freiwillige Gang ins Irrenhaus
Mit der Ich-Erzählerin von Christine Lavants Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus betreten wir die Abteilung „Zwei“. Wir verfolgen, wie sich die Protagonistin an einem ihr fremden Ort zurechtzufinden versucht. Vieles dreht sich bei diesem Ankommen um Eigenwahrnehmung und Fremdwahrnehmung;
also darum, wie sich die Protagonistin selber begreift und wie sie von andern gesehen und eingeschätzt
wird. In der Psychologie geht man insbesondere dann von einer Störung aus, wenn Eigen- und Fremdwahrnehmung weit auseinanderdriften. Das aber weiß auch die Protagonistin, und so drehen sich ihre
Gedanken darum, wie sie sich zu verhalten hat, damit sie so gesehen wird, wie es ihren Wünschen entspricht. Mit andern Worten: An einem fremden Ort fällt man zunächst immer als die oder der „Neue“
auf. Man kann diese Rolle befördern, um einen Sonderstatus beizubehalten, oder man versucht, sich an
die neue Situation anzupassen, um möglichst schnell als Teil des Ganzen zu gelten. Solche – und auch
andere – Gedanken beschäftigen die Ich-Erzählerin beim Eintritt in das Irrenhaus …
a) Lies die ersten beiden Abschnitte (S. 5/6) nochmals aufmerksam durch. Dem Einstieg einer Lektüre kommt immer eine besondere Bedeutung zu; denn Leserinnen und Leser sollen ja möglichst
dazu animiert werden, weiterzulesen. Welche Stimmung wird in diesem Einstieg vermittelt?
Welche Haltung nimmt die Ich-Erzählerin ein? Welche Wirkung erzielt diese Erzählstimme auf
dich?
b) Bald erfahren wir, dass der Gang ins Irrenhaus zwar ein freiwilliger war, sich aber die ersten
Tage offensichtlich nicht ganz nach den Vorstellungen der Ich-Erzählerin abspielen. Sie tut die
ersten drei Nächte kein Auge zu und wir erfahren, sie sei „mit aller Kraft am Ende“ (S. 9). Lassen sich Gründe für die Schlaflosigkeit der Protagonistin nennen? Welche Schlüsse zieht sie
selber? Inwieweit sind für dich die Gedankengänge der Ich-Erzählerin (über Feindseligkeiten,
den Hass, das Lachen) nachvollziehbar? Wo würdest du widersprechen wollen?
c) Es kommt zum Gespräch mit dem Gerichtspsychiater, dem Primarius und der Oberschwester (S.
19ff.). Analysiere dieses Gespräch; versuche dabei zu unterscheiden, was allein der Wahrnehmung der Protagonistin geschuldet ist und was sich darüber hinaus interpretieren lässt. Wie lässt
sich insbesondere die Aussage – „Wieder ein abschreckendes Beispiel dafür …“ (S. 23) – des
Glatzköpfigen beim Hinausgehen verstehen?
d) Der Tod der Mageren scheint der Ich-Erzählerin nur wenige Sätze wert; dennoch lohnt es sich,
diese Textpassage („Die Magere, die im zweiten Bett rechts vor mir lag …“ – bis zum Ende des
Abschnitts, S. 28) genauer ins Auge zu fassen. Wie wird dieser Tod geschildert? Sind Erzählhaltung und Erzählton dem Ereignis angepasst? Welche Rückschlüsse lassen sich aufgrund der
Erzählweise auf die Protagonistin ziehen?
e) Mit der Feststellung „Vielleicht verfluche ich mich mit jedem dieser Worte, aber dass ich sie
schreiben muss, ist mir am Ende wohl aufgesetzt“ (S. 29) scheint die Protagonistin ein erstes
Zwischenfazit zu ziehen. Interpretiere diese Aussage! – Welche Funktion hat das Festhalten der
Aufzeichnungen für die Ich-Erzählerin? Inwieweit lässt sich diese Funktion an den angefügten
Vergleichen („Brücke bauen“, „Kinder zum Leben bringen“ usw.) ablesen?
Christine Christine
Lavant: Aufzeichnungen
aus einemaus
Irrenhaus/Modul
1
Lavant: Aufzeichnungen
einem Irrenhaus/Modul
1
2
2
Figurenkonstellation und -entwicklung
Figurenkonstellation und -entwicklung
Nach gut einem Drittel der Lektüre sind die wichtigsten Figuren um die Protagonistin aufgetaucht.
Nach gut
einem
Drittelhat
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Lektüre
sind
die wichtigsten
Figuren
um dieHierarchien
Protagonistin
aufgetaucht.
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Das
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Irrenhaus
hat einige
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mit sich
und Abhängigkeiten werden
werden
sichtbar.
stehen nun aber
diesegebracht,
Figuren Hierarchien
zur Ich-Erzählerin?
sichtbar. Wie stehen nun aber diese Figuren zur Ich-Erzählerin?
Primarius
Anus
Psychiater
Königin
Renate
Nusserl
Die Magere
Oberschwester
IchErzählerin
Schw. Minna
Schw. Friedel
…
f) Skizziere die wichtigsten Beziehungen (zum Beispiel in einem Diagramm wie oben); notiere in
Stichworten, wie die jeweiligen Figuren zueinander stehen. Wer ist von wem abhängig? Welche
Beziehung könnte für den weiteren Verlauf der Geschichte noch besonders wichtig werden?
f) Skizziere die wichtigsten Beziehungen (zum Beispiel in einem Diagramm wie oben); notiere
in Stichworten,
wieAufmerksamkeit:
die jeweiligen Figuren
zueinander
ist…
von
wem
g) Einige Namen
erregen die
Die Königin,
das stehen.
Nusserl,Wer
Anus
Was
hatabhängig?
es daWelche Beziehung könnte für den weiteren Verlauf der Geschichte noch besonders wichtig
mit auf sich?
werden?
h) Wie verhält sich die Ich-Erzählerin in diesem Beziehungsgeflecht? Gibt es Anzeichen/Indizien
g) dass
Einige
erregenaufgrund
die Aufmerksamkeit:
Königin,Wie
dassteht
Nusserl,
Anus
Was hat es
dafür,
sichNamen
ihr Verhalten
der KontakteDie
verändert?
es um
die …
Selbsteindamit
auf
sich?
schätzung der Protagonistin?
h) Wie verhält sich die Ich-Erzählerin in diesem Beziehungsgeflecht? Gibt es Anzeichen/Indizien
dafür, dass sich ihr Verhalten aufgrund der Kontakte verändert? Wie steht es um die
Selbsteinschätzung der Protagonistin?
Christine Lavant: Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus/Modul 2
Modul 2 Was unterscheidet den Mensch vom Tier?
(Lektüre bis S. 51)
1
Verrückt oder nicht, krank oder gesund?
Im Text von Christine Lavant ist oft von „Verrückten“ die Rede … eigentlich kein schlechtes Wort,
bezeichnet es doch Menschen, die ver-rückt sind, also etwas vom Normalkurs abgekommen sind. Doch
wie verrückt muss jemand sein, dass sie oder er auch als krank gilt?
a) Für menschliche Zustände, die wir nicht mehr als normal ansehen, kennen wir viele Bezeichnungen. Erstelle eine Liste solcher Bezeichnungen, die in ihren Bedeutungen von „ein wenig verrückt“ bis hin zu „verrückter geht es nicht mehr“ reichen.
b) Viele dieser aufgelisteten Wörter gelten als unschön bzw. als politisch unkorrekt; das heißt,
man benutzt sie zwar, allerdings vorzugsweise im Privaten, also unter Freunden. Welche Bezeichnungen sind deiner Ansicht nach auch in der Öffentlichkeit, in der Zeitung, in wichtigen Dokumenten verwendbar? Was unterscheidet die einen Bezeichnungen von den andern?
c) Zu Christine Lavants Zeiten scheint die Bezeichnung „Irrenhaus“ noch geläufig gewesen zu
sein, heute werden solche Einrichtungen anders benannt – wie nämlich? Was ist an den neuen
Bezeichnungen „besser“, und warum?
d) Interpretiere folgende beiden Zitate:
„Der Verrückte, der sich für ein Rührei hält, ist nur deshalb abzulehnen, weil er sich in der Minderheit befindet …“
Bertrand Russell (Geschichte der Westlichen Philosophie, 1946)
„Wer unter den herrschenden Bedingungen gesund bleibt, ist krank.“
Jean-Marc Seiler (Am Anschlag, 2010)
e) Versuche deinerseits eine Definition für „verrückt“ im Sinne von „geistig krank“ zu formulieren!
f) Die Ich-Erzählerin konstatiert: „Es ist gut, verrückt zu sein unter Verrückten, und es war eine
Sünde, ein geistiger Hochmut, so zu tun, als wäre ich es nicht. Warum soll ich nicht auch einmal irgendwo richtig und ganz daheim sein?“ – Wie ist diese Aussage zu verstehen? Lässt sich
diese Aussage mit den Wein- und Lachkrämpfen der Protagonistin in Zusammenhang bringen?
Christine Lavant: Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus/Modul 2
2
Pflanze, Tier oder Mensch – und die Seele?
Der Vergleich mit dem Tier findet schon früh in den Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus seinen Niederschlag. So berichtet die Ich-Erzählerin von Agnes, die die Krankenschwestern wie ein Tier anfleht,
man möge sie sterben lassen (S. 17/18). Sie wird fortan „die Gekreuzigte“ genannt, die womöglich „auf
den Boden geworfen wie ein Tier“ die nächsten zwanzig Jahre verbringen wird. Wenig später muss die
Protagonistin erkennen, dass das, was sie als Engel sah, lediglich ein Falter ist, mit dem sie sich vergleicht, vor dem sie sich ekelt (S. 38). Und sie erinnert sich an die Worte von Anus, was dieser über
die „Gruppenseele“ erzählt hat: „Warum soll es nicht so sein. Pflanzen, Steine und Tiere haben eine
Gruppenseele. Und sind wir denn noch mehr als Tiere? Oder einfach verkümmerte Pflanzen, die nach
unten gehen?“ (S. 38, unten) – Eine weitere erhellende Textpassage findet sich auf Seite 50, nachdem
die Ich-Erzählerin eine Pille eingenommen hat: „Ja, ich war auf einmal so willig wie ein Tier und nicht
nur willig, sondern vielleicht nur mehr ein bebendes Tier …“
• Der Schweizer Schriftsteller Dieter Zwicky weist in einer kurzen Erzählung ebenfalls auf Gemeinsamkeiten zwischen Pflanzen, Tieren und Menschen hin. Wo finden sich Übereinstimmungen mit Lavants Text, wo Unterschiede? Inwieweit trägt der Vergleich von Pflanze, Tier und
Mensch? Wie hängen deiner Ansicht nach Denken und Seele zusammen?
Dieter Zwicky (*1957)
Pflanzliches
(aus: Reizkers Kern, Zürich, 2006)
Denken Pflanzen, sobald sie denken, in Grün, in Blattgrün? Geht pflanzliches Denken eher von Blattgrün
aus, um es zu überwinden, weil auch Grün Gefängnis ist?
5
10
Sind Pflanzen sich selber genug, freuen sie sich immer wieder am nachstoßenden Bauch? Eine Pflanze,
zur Besinnung gebracht, bliebe trotzdem entzückt über die eigene Fülle, den Vorrat an sich selber? Oder
stolperte sie und empfände augenblicklich Starre, was die Kraft und den Saft ihrer grünen Grenzen
angeht?
Eine Pflanze muss ja nicht unbedingt eine andere Pflanze denken. Eine Pflanze muss auch nicht zwingend
sich selber denken. Ebenso wenig muss eine Pflanze etwa einen Tiger denken. Sie darf, natürlich. Selbst
einen Menschen darf sie im Visier ihrer Wurzel, im Duft- und Schattenkreis ihrer obersten Knospen
haben.
Nur sind Tiger oder Mensch bloß unruhig, sind demnach auch nur Pflanzen, halt unruhige, besonders
unruhige Pflanzen, gewissermaßen.
Christine Lavant: Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus/Modul 3
Modul 3 Die Beziehung von erzählendem Ich zu den Aufzeichnungen
(Lektüre bis Schluss)
1
„Aufzeichnungen“ als literarische Gattung
Nicht Roman, nicht Erzählung und auch keine Novelle: Christine Lavant hat bewusst auf eine Gattungsbezeichnung verzichtet, bzw. diese in den Titel eingebaut. Im Nachwort (S. 99) wird ein Brief
der Autorin zitiert, worin sie unter anderem „die Russen“ und in Klammern Dostojewski erwähnt. Das
ist insofern interessant, weil es von Dostojewski sowohl Aufzeichnungen aus dem Kellerloch wie auch
Aufzeichnungen aus einem Totenhaus gibt – und zum Beispiel von Gogol Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen. Allerdings spricht man im Falle Dostojewskis von Romanen, bei Gogol steht als Gattungsbezeichnung Novelle.
a) Versuche, eine Definition von „Aufzeichnungen“ zu formulieren, wie sie zum Text von Christine
Lavant passen könnte.
b) In der Literatur kommen verwandte Gattungsbezeichnungen wie „Journal“, „Tagebuch“ oder
„(Auto-)Biografie“ vor. Meinen diese Begriffe alle mehr oder weniger dasselbe? Wo würdest du
Unterschiede machen?
c) Im Nachwort erfahren wir auch, dass Christine Lavant nach einem Selbstmordversuch mit Tabletten im Herbst 1935 freiwillig sechs Wochen in der Landesirrenanstalt in Klagenfurt war (S. 88).
Gibt es aber im Text selbst Hinweise darauf, dass Ich-Erzählerin und Autorin identisch sind?
d) Die Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus wurden von der Schriftstellerin 1946 geschrieben, also
elf Jahre nach ihrem Aufenthalt in der Anstalt. Welche Rückschlüsse lassen sich aus dieser Zeitdifferenz auf den Text ziehen?
e) Die Autorin wählte Christine Lavant als ihren Künstlernamen, mit bürgerlichem Namen hieß sie
Christine Thonhauser, nach ihrer Heirat 1939 Habernig. Was denkst du, welche Gründe haben
die Autorin veranlasst, unter einem Pseudonym ihre Texte zu veröffentlichen?
f) Schriftstellerinnen und Schriftsteller werden immer wieder gefragt, ob ihre Texte autobiografisch
seien. Ingeborg Bachmann (1926–1973) antwortete auf diese Frage einmal so: „Im Widerstreit
des Möglichen mit dem Unmöglichen erweitern wir unsere Möglichkeiten.“ – Was glaubst du,
wollte sie damit zum Ausdruck bringen? Könnte auch Christine Lavant diese Antwort gegeben
haben?
g) Eine von Lavants Antworten auf die Frage nach dem Selbst lautet so: „Das Selbst ist ein herrliches Geheimnis hinter tausend und einem Elend und niemals darstellbar. (…) Das wahrhaft
Erlebte oder vielmehr die stückweisen Spiegelbilder davon finden sich mehr oder weniger verzaubert-verdichtet in meinen Büchern.“ (Nachwort, S. 89) – Versuche, diese Antwort zu interpretieren! Inwieweit trifft diese Antwort grundsätzlich auf Literatur zu?
Christine Lavant: Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus/Modul 3
2
Die Liebe und die Angst, existenziell und wahrhaftig
„Das Selbst ist ein herrliches Geheimnis“ erfahren wir von Christine Lavant; ein anderes Geheimnis
– eine verborgene Liebe – ist in den Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus zentral. Der Ich-Erzählerin geht es darüber hinaus um Wahrhaftigkeit, auch von Scham und Not ist oft die Rede. Das sind
Themenkreise, die zur Zeit der Niederschrift des Textes auch aus philosophischer Perspektive neu aufgeworfen wurden, durch den Existenzialismus, wie ihn Jean-Paul Sartre (1905–1980) und andere begründeten. Diesen existenziellen Themen gilt nun unsere Aufmerksamkeit:
h) Womöglich ist die Liebe das Thema überhaupt in Lavants Aufzeichnungen; auf den Verdacht,
hinter dem Selbstmordversuch der Ich-Erzählerin könnte eine unglückliche Liebe stecken, antwortet diese: „… denn welche Liebe ist unglücklicher als diese, die nie gefordert und so auch
nie geleistet wird.“ (S. 23, oben) Hinweise auf eine konkrete Liebe finden sich auf derselben
Seite, weiter unten: Zunächst gewärtigen wir eine eigentümliche Lücke, markiert gleich mit drei
Gedankenstrichen, und am Ende der Seite findet sich der geheimnisvolle Satz: „Wenn ich die
Augen zumache und nur den Gerüchen nachgehe, kann ich mir jederzeit einreden, dass ich dort
bin, wo er herumgeht …“ – Lassen sich diese Textstellen entschlüsseln? Welche weiteren Textstellen kannst du ausmachen, die das Geheimnis der Protagonistin weiter erhellen?
i) Mit Blick auf den Aufenthalt im Irrenhaus finden wir (scheinbar) widersprüchliche Aussagen der
Ich-Erzählerin. Zum einen: „Ja, ich kann mir vorstellen, dass ich hier zu einer Art Ruhe kommen
könnte, wenn es auf einmal hieße, ich müsste für immer hier bleiben.“ (S. 54), zum andern: „Nur
ist es hier völlig aussichtslos, sich zu verbergen, es gibt ja nirgendwo Winkel, und keine Türe ist
verschließbar, nicht einmal die des Klosetts“ (S. 64) Später erfahren wir: „Hier bin auch ich und
will hier bleiben für immer.“ (S. 74) Und gleich auf der folgenden Seite berichtet die Ich-Erzählerin von ihrer Entlassung aus der Irrenanstalt. – Lässt sich diese Widersprüchlichkeit erläutern?
j) Zu den zentralen Aussagen des Existenzialismus finden wir bei
Jean-Paul Sartre den Satz: „Der Mensch ist das Wesen, das sich
in die Zukunft entwirft.“ Aber auch: „Der Mensch ist dazu verdammt, frei zu sein.“ – Wie lassen sich diese beiden Aussagen mit
den Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus abgleichen? Treffen sie
auch auf die Ich-Erzählerin zu?
k) Auch das Schreiben hat für die Ich-Erzählerin in der Anstalt eine wichtige, um nicht zu sagen:
existenzielle Funktion. – Welche Rolle spielt für sie das Schreiben? Welche Textpassagen geben
darüber genauer Auskunft? Schau dir insbesondere die Stelle auf Seite 66/67 an: „Sie wissen ja
selbst, wie das ist, wenn man schreiben muss, nichtwahr, man schreibt ja nicht selbst, sondern
irgendwer schreibt in uns, weiß Gott, was für hohe Weisheiten da noch zu Tage kommen können.“ – Wie sind Armut, Not und Scham mit dem Schreiben verknüpft?
Christine Lavant: Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus/Zusatzmaterialien
Zusatz Modul 3 (Die Beziehung von erzählendem Ich zu den Aufzeichnungen)
Im Irrenhaus kommen Pillen, Spritzen und Zwangsjacken zum Einsatz – die Ich-Erzählerin selbst unterzieht sich einer Arsenkur (wie sie heute in der Praxis nicht mehr gängig ist). Dass Psychopharmaka
durchaus eine Wirkung haben, weiß man heute besser denn je. Wie weit die Gefühlslage der Protagonistin im Irrenhaus – insbesondere auch in ihren Träumen – der Medikation geschuldet ist, lässt sich
aus dem Text nur bedingt erschließen. Ein eindrückliches Beispiel für medikamentöse Ursache und
subjektiv wahrgenommene Wirkung findet sich in einem Song von Pink Floyd aus dem Album The
Wall. Wer weiß, vielleicht lässt sich mit Hilfe dieses Songs die Situation der Protagonistin im Irrenhaus
ein wenig nachfühlen …
Comfortably Numb
Hello,
Is there anybody in there?
Just nod if you can hear me.
Is there anyone at home.
Come on now,
I hear you´re feeling down.
But I can ease your pain
Get you on your feet again.
Relax,
I‘ll need some information first.
Just the basic facts.
Can you show me where it hurts.
There is no pain you are receding.
A distant ship smoke on the horizon.
You are only coming through in waves.
Your lips move but I can‘t hear what you‘re saying.
When I was a child I had a fever.
My hands felt just like two balloons.
Now I‘ve got that feeling once again.
I can‘t explain you would not understand.
This is not how I am.
I have become comfortably numb.
I have become comfortably numb.
O.K.
Just a little pinprick.
There‘ll be no more aaaaaaaah!
But you may feel a little sick.
Can you stand up?
I do believe it‘s working good.
That‘ll keep you going through the show.
Come on it‘s time to go.
There is no pain you are receding.
A distant ship smoke on the horizon.
You are only coming through in waves.
Your lips move but I can‘t hear what you‘re saying.
When I was a child,
I caught a fleeting glimpse
Out of the corner of my eye.
I turned to look but it was gone.
I can not put my finger on it now.
The child has grown, the dream is gone.
And I have become
comfortably numb.
Christine Lavant: Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus/Zusatzmaterialien
Comfortably Numb – Angenehm gefühllos
Hallo,
Ist hier drinnen jemand?
Nick nur, wenn du mich hören kannst.
Ist da jemand zu Hause?
Nun komm schon,
Ich höre, dass du dich mies fühlst.
Ich kann deinen Schmerz lindern
und dich wieder auf deine Füße stellen.
Entspann dich.
Ich werde zuerst ein paar Informationen brauchen.
Nur die wichtigsten Fakten.
Kannst du mir zeigen, wo es wehtut.
Es gibt keinen Schmerz, du entfernst dich.
Ein fernes Schiff, Rauch am Horizont
Du kommst nur in Wellen durch.
Deine Lippen bewegen sich, aber ich kann nicht hören, was du sagst.
Als ich ein Kind war, hatte ich Fieber.
Meine Hände fühlten sich an wie zwei Luftballons.
Jetzt habe ich noch einmal dieses Gefühl
Ich kann es nicht erklären, du würdest es nicht verstehen.
Das ist nicht so wie ich bin.
Ich bin angenehm gefühllos geworden.
Ich bin angenehm gefühllos geworden.
O.K.
Nur ein kleiner Einstich.
Es wird kein aaaaaaaah mehr geben
Aber es kann sein, dass dir ein bisschen elend wird.
Kannst du aufstehen?
Ich glaube es wirkt, gut.
Das wird dir helfen durch die Show zu kommen.
Auf geht’s, es ist Zeit zu gehen.
Es gibt keinen Schmerz, du entfernst dich.
Ein fernes Schiff, Rauch am Horizont
Du kommst nur in Wellen durch.
Deine Lippen bewegen sich, aber ich kann nicht hören, was du sagst.
Als ich ein Kind war
Erhaschte ich einen flüchtigen Blick
Aus meinen Augenwinkeln
Ich drehte mich um, um zu sehen, aber es war weg.
Ich kann’s jetzt nicht (mehr) genau sagen
Das Kind ist herangewachsen.
Der Traum ist vorbei.
Ich bin angenehm
gefühllos geworden.
Diese Unterrichtsmaterialien sind dem Buch Lektüren I. Begleitmaterialien zu ausgesuchten Werken
der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (ISBN 978-3-7099-7041-6; Haymon Verlag 2013) von
Markus Bundi und Lara Dredge entnommen. Im Buch finden Sie zusätzlich weiterführende Materialien
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Lektüren I bietet Begleitmaterialien zu acht wichtigen Werken der Gegenwartsliteratur aus Österreich,
Südtirol und der Schweiz, die inhaltlich wie formal für die Behandlung im Deutschunterricht prädestiniert
sind. Markus Bundi und Lara Dredge, die aus langjähriger Praxiserfahrung im Deutschunterricht schöpfen, haben zu diesen Texten didaktische Hilfestellungen ausgearbeitet, die Lehrerinnen und Lehrern in
der Vorbereitung ihres Unterrichts bestmöglich unterstützen. In geschlossene Module gegliedert, ermöglichen die Begleitmaterialien einen flexiblen Einsatz im Rahmen eines zeitgemäßen Literaturunterrichts.
Lara Dredge-Zehnder, lic. phil. I, geboren 1968, Studium der Germanistik und Anglistik, Zürich. Lehrerausbildung Sekundarstufe II.
Markus Bundi, lic. phil. I, geboren 1969. Studium der Philosophie und Germanistik, Zürich. Autor und
Herausgeber.
Beide unterrichten seit Jahren an der Alten Kantonsschule Aarau.