Barré - GBS Initiative e.V.

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Barré - GBS Initiative e.V.
Krankengeschichte
Guillain – Barré – Syndrom
Harald Niemann
Ende Sep. 2001
Es entwickeln sich folgende Symptome:
(1) Beim Hocken stellen sich in den Beinen, insbesondere den Oberschenkeln,
Schmerzen wie bei Muskelkater ein. Diese Beobachtung mache ich schon seit
etwa zwei Wochen. Es kommt mir jetzt aber langsam merkwürdig vor, da ich
nicht untrainiert bin und Muskelkater wieder verschwinden müsste.
(2) Zunächst an den äußeren Handflächen, dann an den Füßen stellen sich
Taubheitsgefühle ein. An den Händen bleiben sie vernachlässigenswert. Von
den Füßen beginnt die Taubheit (dumpfes Gefühl) jedoch aufzusteigen.
Ich vereinbare einen Termin bei meinem Orthopäden (Dr. Hellmann, Bonn). Nerv
eingeklemmt? Bandscheibenvorfall?
1. – 3. Okt. 2001 Die Taubheitsgefühle steigen die Beine hinauf, und zwar strumpfartig, nicht
punktuell. Weitere Körperregionen werden nicht beeinträchtigt.
4. Okt. 2001
Der Termin beim Orthopäden:
Er lässt sich eingehend die Symptomatik schildern und röntgt die Hals- und
Lendenwirbelsäule: ohne Befund. Dann lässt er mich auf einen Stuhl steigen – und
siehe da: Mit dem linken Bein kann ich das nicht (mehr). Die Kraft, um die
Bewegung umzusetzen, fehlt.
Der Orthopäde telefoniert mit einem Neurologen. Der Verdacht bekommt einen
Namen: Guillain-Barré-Syndrom (GBS). Am nächsten Tag soll ich mich bei dem
Neurologen vorstellen. Allerdings steht eine wichtige Dienstreise in meinem
Terminkalender. Der Orthopäde rät dringend zum Neurologen, anstatt zur
Dienstreise!
Weiterer Verdacht: Borreliose. Ich kann mich aber an keinen Zecken- oder
Insektenbiss erinnern. Doch wenn ich eine Weile darüber nachdenke, war da etwas:
Im Juli / August 2001 bemerkte ich am linken Unterschenkel eine kreisrunde
Rötung, die sich von einem Mückenstich unterschied: scharf konturiert und der
Juckreiz war nicht zu lindern. Es war sicher ein Insektenbiss, ob der einer Zecke
oder einer Bremse kann ich nicht mehr sagen, da ich den Biss selbst nicht bemerkt
habe.
Abends liegt mir das Ergebnis einer Internetrecherche mittels Suchmaschinen über
GBS vor. Ich bin entsetzt: Nun weiß ich, was GBS ist, welche Verlaufsformen es
nehmen kann und vor allem, wie lange die Heilung dauern und wie kompliziert sie
sein kann. Kann ich mich jetzt vom geregelten Leben verabschieden?
Eine Bestätigung des GBS-Verdachts ist nur mit einer Nervenwasserentnahme
möglich. Mit einer dicken Nadel neben der Wirbelsäule ins Rückenmark – oder so
ähnlich. Auch davor habe ich Angst.
5. Okt. 2001
Ich lasse mir zunächst bei meinem Hausarzt Blut abnehmen. Ergebnis nächste
Woche. Ein Röhrchen nehme ich selbst mit und schicke es an ein mit Borreliose
erfahrenes Labor (Dr. Lempfrid u.a., Köln).
Dann folgt der Termin beim Neurologen (Dr. Boxler, Bonn). Nach ausführlicher
Schilderung der Symptome untersucht er mich: Test der Reflexe (schwach),
Gangtests (leichte Schwäche, aber noch alles möglich), Reizempfindung der Haut
an den Beinen (dumpf, aber vorhanden), Elektromyagramm (EMG):
Nervenleitfähigkeit „noch“ normal.
Ergebnis: Verdacht auf GBS ist begründet, aber es können auch nur Parästhesien
(Irritationen der äußeren Nervenbahnen) sein.
Empfehlung: bei Verschlimmerung der Beschwerden sofort in die Klinik
(Wochenende!).
6. Okt. 2001
Ich kann die Ungewissheit nicht mehr ertragen und will eine Reaktion provozieren:
Es ist schönes Wetter und ich mähe den Rasen. Zwar mit einem Motormäher, aber
mit allem drum und dran bin ich zwei Stunden draußen. Ich schwitze, als wären es
30° C im Hochsommer. Das ist nicht normal. Aber ich schaffe es. Die Kraft reicht.
Am Abend bin ich nach einem Gang in den Keller – nur ein Stockwerk – Schweiß
gebadet und habe einen roten Kopf.
7. Okt. 2001
Spaziergang am Rhein, fast alles ebenerdig, kaum Steigungen. Dauer: 1 Stunde.
Nach Rückkehr bin ich wiederum Schweiß gebadet und fühle mich völlig fertig.
8. – 9. Okt. 2001 Ich gehe ins Büro. Das liegt im 2. Stock. Beim Weg zum Essen mittags kann ich
schon kleine Steigungen nur mit großer Kraftanstrengung bewältigen. Der
Rückweg wird zur Tortur: Ich schaffe kaum die zwei Stockwerke ins Büro, bin
Schweiß gebadet. Ich habe das Gefühl, dass ich Kraft unwiederbringlich
verbrauche, d.h. die verbrauchte Kraft nicht zurückkehrt.
Ich beschließe, am nächsten Tag zu Hause zu bleiben und mich auszuruhen.
10. Okt. 2001
Das Ergebnis der Blutabnahme beim Hausarzt (5. Okt.): erhöhter CK-NAC (CPK)Wert (372 U/l, normal: 0 – 71). Das deutet auf eine Zerstörung von Muskelgewebe
hin. Die Werte werden dem Neurologen gefaxt. Reaktion: sofort ins Krankenhaus!
Aufnahme in der Neurologie der Uni-Klinik in Bonn. Trotz Ankündigung will
mich keiner untersuchen und es ist kein Bett frei. Ich bin Privatpatient. Das hilft
mir jetzt auch nicht.
Der Dienst habende Arzt in der Ambulanz erbarmt sich und untersucht mich. Keine
Reflexe, ausgeprägte Schwäche. Ich kann ohne mich abzustützen keine Hose mehr
an- oder ausziehen. Jegliche Balance ist nicht möglich. Er bespricht den Befund mit
einem Kollegen der Station für Kassenpatienten. Sie sind sich einig: So kann man
mich nicht wegschicken.
Ich weiß nicht, was ich lieber haben möchte: Borreliose oder GBS.
Ich muss nicht lange darüber nachdenken. Denn jetzt geht alles sehr schnell.
Das Ergebnis des Labors Dr. Lempfrid wird per Telefax direkt auf die Station
gefaxt. Borreliose-positiv!
Mir wird ein Bett zugeteilt und die Nervenwasser-Entnahme (Lumbalpunktion)
angekündigt. Ich habe Bammel. Werde ich jetzt, wie ich es im Internet gelesen
habe, auf den Rücken gelegt und dann gepeinigt, muss danach Stunden auf dem
Bauch liegen bleiben und habe dann tagelang Kopf- und andere Schmerzen?
Dr. Becker erscheint mit einer Schwester und ein paar Utensilien in der Hand.
„Setzen Sie sich mal mit dem Rücken zu mir auf das Bett!“ Wird das jetzt die
Betäubung, bevor ich in den OP komme?
Dr. Becker sucht neben der Wirbelsäule eine geeignete Einstichstelle. Dann spüre
ich etwas wie eine Spritze, aber ohne Probleme auszuhalten. Plötzlich schnellt
mein linker Fuß nach vorne. „Ah, jetzt sind wir da, wo wir hinwollen!“ Nach 1 – 2
Minuten soll ich erst tief ein- dann ausatmen, die Nadel wird herausgezogen und –
das war schon alles. Ich bin erleichtert. Handwerklich perfekt gemacht!
Abschließend bekomme ich noch den Rat, viel zu trinken. „Mindestens drei Liter“
– und das abends um 17 Uhr. Ich halte mich daran und schaffe meine drei Liter.
Vielleicht war das der Grund, weshalb ich keine Nachwirkungen habe. Die
Schwestern können es kaum glauben: keine Kopfschmerzen? Nein, überhaupt
nicht. Danke, Herr Dr. Becker.
Sofort danach wird die Borreliose-Behandlung begonnen. Ich bekomme intravenös
Rocephin, gleich erst Mal die doppelte Dosis. Und außerdem: Das Nervenwasser
enthält eine hohe Eiweißkonzentration: also auch noch GBS!
10. – 17. Okt.
2001
Stationärer Aufenthalt in der Neurologie der Uni-Klinik Bonn. Behandelnder Arzt
ist Direktor Prof. Dr. Klockgether.
Gegen die Borreliose gibt es jeden Tag Rocephin. Nach drei Tagen verschwinden
die krampfartigen Schmerzen in den Oberschenkeln („Muskelkater“ – Symptome 1
von Ende Sep. 2001).
GBS wird beobachtet. Es wird insbesondere täglich die Lungenkapazität gemessen
um festzustellen, ob die Schädigung der Nerven auf die Atmung übergreift. Viele
akute Fälle des GBS führen zur künstlichen Beatmung und einem langen
Aufenthalt auf der Intensivstation.
Die Atmung scheint nicht beeinträchtigt zu werden. Die Werte bleiben gleich gut.
Eine Behandlung des GBS, z.B. mit Immunglubolinen, erfolgt nicht. Schwäche und
Taubheitsgefühle scheinen stabil zu sein. Mal kann ich allein aus der Hocke
aufstehen, mal nicht.
Es gibt Schlimmeres. Erstmals ernsthaft im Krankenhaus, werde ich mit
Schlaganfall-Patienten, Parkinson-Kranken und Epileptikern konfrontiert. Ich stelle
mir die Frage, ob mein bisheriges berufliches und privates Leben richtig war. GBS
ist zwar nicht stressbedingt. Und beruflichen Stress habe ich immer als positiv
gesehen, da mir meine Arbeit als Verbandsgeschäftsführer Spaß macht. Aber wenn
ich mir die anderen Patienten anschaue, habe ich noch „Glück“ gehabt. Meine
Prognose ist eine vollständige Ausheilung. Allerdings wird es bis dahin Monate
dauern. Aber: Ich bin bei Bewusstsein, kann mir selbst helfen und mich
einigermaßen bewegen, wenn auch schwer. Ich muss mich beim Anziehen setzen,
um nicht umzufallen, Treppensteigen wird immer schwerer und in die Badewanne
der Toilette des Krankenzimmers komme ich nur unter Schwierigkeiten. Mein
Gang ist wackelig und unsicher.
Letzte Tests mit dem EMG und bei der Krankengymnastik zeigen weiterhin das
typische Krankheitsbild: verzögerte Reizleitung und stark eingeschränkte
Bewegungsfähigkeit.
Die
Therapeutin
ist
überrascht,
wie
wenig
Bewegungsfähigkeit und Kraft noch da ist. Am Besten kann man es wohl mit
einem Albtraum vergleichen, der nicht selten ist: Man will vor irgend etwas
fliehen, kommt aber nicht oder nur schwer vom Fleck. Schmerzen habe ich nicht.
17. Okt. 2001
Ich werde entlassen.
Die Rocephin-Infusionen müssen noch elf Tage fortgesetzt werden, also bis 28.
Oktober 2001. Das geht auch ambulant. Eine Kontrolluntersuchung kann erst drei
Monate nach Ende der Behandlung erfolgen, etwa Ende Januar 2002.
Eine Behandlung des GBS ist nach wie vor nicht angezeigt, weil die Lähmungsund Taubheitserscheinungen sich offenbar nicht weiter ausdehnen und Ruhe sowie
Gymnastik auch zu Hause möglich sind. Mit einem Rezept für Krankengymnastik
verlasse ich das Krankenhaus.
Die Erleichterung, die Klinik verlassen zu dürfen, bekommt schon zu Hause einen
Dämpfer: Ich kann nur mit Mühe die Treppe zum Schlafzimmer im Obergeschoss
steigen. Ich merke, dass ich nicht als geheilt entlassen worden bin, sondern GBS
sich nur in Ruhe zurückbilden soll. In den folgenden Tagen muss ich diese
Situation erst „lernen“. Aber ich habe die Geduld dafür.
Die Frage „Wie geht’s dir heute?“ ist für mich als GBS-Patient nicht so
erquicklich. Besserungsschritte lassen sich allenfalls im Wochenvergleich
beurteilen. Dies werde ich in den nächsten Wochen und Monaten noch erfahren.
Ich organisiere meinen häuslichen Zwangsaufenthalt. Nur nicht zu oft
Treppensteigen. Alles will wohl überlegt sein. Brille – zum Fernsehen im
Obergeschoss – nicht im Erdgeschoss liegen lassen usw.
Im Haus ziehe ich mich am Treppengeländer hoch und herunter. Zum Glück haben
wir stabile Geländer und nicht so einen Zierrat. Ich kann beim Treppensteigen
keine Kraft in die Beine umsetzen, so dass ich die Hände zur Unterstützung
brauche.
Die drei Treppenstufen vor dem Haus (kein Geländer) schaffe ich gerade noch so –
aber nicht mehr lange.
Okt. / Nov. 2001 Beim Spaziergang – nur mit meiner Frau als „Stütze“ möglich - sacke ich nach der
letzten dieser drei Treppenstufen regelrecht in die Knie; ich kann mich beim
Treppensteigen nicht mehr auf eigenen Beinen halten. Geradeaus Gehen geht
gerade noch so.
Ich akzeptiere, dass es seit der Entlassung aus dem Krankenhaus nicht besser,
sondern schlechter geworden ist. Also nehme ich ab jetzt zum Treppensteigen,
wenn kein Geländer in der Nähe ist, eine Gehhilfe. Die brauche ich auch, um selbst
kleine Absätze zu überwinden, z.B. Bordsteine, sogar abgesenkte! Psychologisch
ist dies ein belastender Rückschritt. Denn nun wird auch äußerlich dokumentiert,
dass eine Besserung noch nicht in Sicht ist.
Aber wichtig scheint mir Eines – und das gibt mir Mut: Die Symptome haben sich
nicht auf andere Körperregionen ausgeweitet. Nach wie vor sind nur die Beine und
– fast vernachlässigenswert – die äußeren Handflächen und ein bisschen die Arme
betroffen. Ich habe aber nicht das Gefühl, dass mir in den Armen – im Gegensatz
zu den Beinen - viel Kraft fehlt. Nur die Taubheit auf der Hautoberfläche ist da.
Autofahren funktioniert. Wenn ich im Auto sitze, also das Körpergewicht (nur 70 –
71 kg) nicht auf meinen Beinen tragen muss, kann ich die Füße gut koordinieren
und bewegen. Ich habe dann auch Kraft in den Füßen. Aber zum Auto muss ich
mich schleppen. Jedenfalls kann ich zur Krankengymnastik selbst fahren.
9. Nov. 2001
Ich fahre zur Krankengymnastik. Eigentlich habe ich das Gefühl, es wird nicht
mehr schlechter und der Wendepunkt zur Besserung ist erreicht.
Nach dem Verlassen des Autos, um das Garagentor zuzumachen, nicke ich im
Umdrehen dem Nachbarn zum Gruß zu – und sacke zusammen. Ich kann mich
selbst wieder mühsam an einer Mülltonne hochziehen und benötige die angebotene
Hilfe nicht. Doch der Schreck „sitzt“: Ich brauche die Gehhilfe – sie liegt im Auto
griffbereit! – offenbar nicht nur zum Treppensteigen, sondern auch bei
Drehbewegungen während des Gehens.
Autofahren funktioniert trotzdem noch sicher. Aber sobald ich wieder auf eigenen
Füßen stehe, zittern mir die Knie – wohl teils vor Schwäche, teils vor Schreck. Ich
brauche zwei Tage, bis ich wieder die Sicherheit von vor dem Vorfall habe.
13. Nov. 2001
Ich bin mit meinem Büro noch verbunden. Der Postaustausch ist sichergestellt und
das meiste mache ich sowieso elektronisch. Ein paar Stunden Arbeit am Tag halten
mich geistig fit und sorgen für Abwechslung.
Aber für eine ganz bestimmte Sache möchte ich ins Büro (2. Stock!). Ich bereite
mich logistisch minutiös vor und lasse mich direkt vor dem Büro absetzen. Als ich
abends nach Hause komme, bin ich guter Stimmung. Ich habe alles, was ich wollte,
schaffen können. Aber da passiert es wieder: Beim Bücken sacke ich in den Knien
ein und komme aus eigener Kraft nicht mehr auf die Beine.
Nun kenne ich das ja schon. Der Schreck ist nicht mehr so groß. Dennoch: Ein
Heilungsprozess scheint das nicht zu sein. Andererseits liest man auch, dass sich
durch Verschlechterungen bei GBS neue Heilungsschübe ankündigen können –
jedenfalls gilt dies wohl für die schweren Formen. Und ich brauche nicht mehr
zwei Tage, bis ich die Sicherheit von vor diesem Zusammenbruch wieder erlangt
habe, sondern nur noch zwei bis drei Stunden.
28. Nov. 2001
Kontrolluntersuchung im Krankenhaus.
Das Bild ist deutlich schlechter als beim stationären Aufenthalt vom 10. – 17.
Oktober. Keine Reflexe, ich kann nicht auf Zehenspitzen stehen, geschweige denn
gehen, kein Fersengang möglich. Das EMG ist schlechter als damals.
Prof. Dr. Klockgether ist auch überrascht, dass es seit der Entlassung aus dem
Krankenhaus noch schlechter geworden ist. Angesichts dessen kann er seine
damalige Prognose der Genesungszeit – etwa drei Monate – nicht mehr aufrecht
erhalten. Ich muss mich auf eine längere Periode einstellen.
Anfang Dez.
2001
Ich habe das Gefühl, es wird nicht mehr schlechter. Der Zustand der Schwäche ist
auf niedrigem Niveau stabil. Die Krankengymnastik (Frau von Jonquières, Bonn)
tut gut. Sehnen und Bänder werden für den Fall fit gemacht, dass sie wieder
gebraucht werden.
Ich muss mich beim Treppensteigen nicht mehr so schleppen. Die Bewegung wird
leichter, allerdings nur das Geradeausgehen. Ich spüre, wie Kraft zurückkommt. Ich
schwitze nicht mehr so schnell, wenn ich mich anstrenge. Die Wendigkeit fehlt
nach wie vor. Die Taubheitsgefühle gehen nicht zurück.
Wenn ich keinen Termin zur Krankengymnastik habe, mache ich Übungen zu
Hause. Das ist zwar langweilig, aber ich will gesund werden und mich dafür
trainieren. In Maßen. Ruhephasen sind unbedingt erforderlich.
8. Dez. 2001
Weihnachtsfeier bei der GBS-Initiative in Mönchengladbach. Viele der
Anwesenden sind chronisch an GBS erkrankt. Eine junge Frau hat es so ähnlich
gehabt wie ich. Nur die Beine waren betroffen, aber wohl doch noch ein bisschen
schwerer als bei mir. Sie wurde mit Immunglubolinen behandelt und hat ein drei
Viertel Jahr bis zur völligen Genesung gebraucht. Aber sie ist 100%ig wieder
hergestellt. Das müsste ich dann auch schaffen.
9. – 16. Dez.
2001
Ich bemerke eine deutliche Kräftigung der Beine. Treppensteigen wird leichter. Ich
traue mich ohne Gehhilfe. Spaziergänge – bisher um das Haus – sind nun um den
Block möglich. Ich kann erstmals nach der Bodengymnastik mit der Kraft meiner
Beine aufstehen und muss mich nicht mit den Händen an anderen Dingen
hochziehen. Ich komme aus der Hocke wieder alleine hoch. Ich kann schneller
gehen. Von Eleganz kann noch keine Rede sein. Für Eiskunstläufer: Die A-Note
hat sich deutlich verbessert, aber die B-Note ist noch schlecht.
Außerdem habe ich das Gefühl, die Taubheit in den Beinen und jetzt auch Armen
(Parästhesien) wird stärker.
16. / 17. Dez.
Ich fühle mich nun sicherer auf den Beinen. Kann ich nun mal ein Glas Wein
2001
trinken? Seit dem 10. Oktober habe ich keinen Alkohol mehr getrunken, zunächst
wegen der Antibiotikum-Behandlung, dann wegen der Unsicherheit beim Gehen.
Die Aussagen von Ärzten und Betroffenen sind vorsichtig bis widersprüchlich. Ich
mache einen Selbstversuch und trinke am ersten Abend ein Glas Weißwein (0,2 l)
und am zweiten etwas mehr, vielleicht 0,3 l.
Ich
kann
keine
typischen
alkoholbedingten
Erscheinungen
(Stimmungsveränderungen, Gangunsicherheit) feststellen. Aber die Parästhesien
spüre ich sehr deutlich – deutlicher als sonst? Kann sein, ich weiß es nicht.
Schließlich kann ich nicht gleichzeitig meine eigene Kontrollgruppe sein.
22. – 28. Dez.
2001
Weihnachtsurlaub auf der Insel Rügen.
Nachdem bereits der geplante Jahresurlaub im Oktober 2001 storniert werden
musste, wollen meine Frau und ich nicht auch noch den Weihnachtsurlaub absagen.
Ich bin stabiler auf den Beinen und die Lage des Hotels lässt es auch für mich als
ideal erscheinen. Und es ist so: Das Hotel liegt direkt an der Strandpromenade, die
ständig vom Schnee geräumt wird. Ich kann an frischer Ostseeluft ebenerdig
spazieren gehen. 1 – 1 ½ Stunden schaffe ich, noch gestützt auf meine Frau. Im
Hotel erleichtert ein Fahrstuhl mein Fortkommen. Im Fitnessraum kann ich bei
besten Bedingungen meine Gymnastik machen. Im Hotelschwimmbad probiere ich
erstmals seit langer Zeit, wieder zu schwimmen. Es geht gut. Nach zwei
Probeläufen – fünf und 15 Minuten – schwimme ich 45 Minuten (Brust) ohne
kräftemäßige Probleme. Nur die Parästhesien stören: Das Kitzeln auf der Haut bei
den Schwimmbewegungen ist gewöhnungsbedürftig.
Ich weiß nicht, ob dieser Urlaubsaufenthalt die Heilung beschleunigt hat.
Geschadet hat er jedenfalls nicht. Und ich hatte „GBS-ideale“ Bedingungen.
30. Dez. 2001
Ein Resümee am Ende des Jahres:
Ich kann wieder Treppen steigen, ohne die Hilfe der Hände zu gebrauchen, wenn
auch zunächst nur wenige Stufen. Ich kann wieder auf Zehenspitzen gehen. Der
Gang wird schneller, ist aber noch unsicher, insbesondere bei Drehungen sowie
steigendem oder abfallendem Gelände. Fersengang funktioniert noch nicht.
Die Parästhesien sind noch sehr deutlich spürbar, sogar eher stärker geworden,
besonders an den Armen und um die Knie herum. Das steht im Gegensatz zur
Wiedererlangung der Kraft.
6. Jan. 2002
Soll ich einen Saunagang probieren?
Die Auffassung der Ärzte ist skeptisch. Es gebe Anzeichen, dass bei ähnlichen
Erkrankungen der Nerven Hitze die Symptome eher verstärkt. Meine Sauna ist
jedoch mit einem „Sanarium“ ausgestattet. Das ist ein Programm, was auch im
Krankheitsfall, z.B. bei Erkältungen, angewandt werden kann, da es den Kreislauf
nicht belastet (milde Temperatur bei höherer Luftfeuchtigkeit im Gegensatz zur
trockenen und heißen Sauna).
Ich entscheide mich für einen Selbstversuch im Sanarium bei 55° C und 55 %
Luftfeuchtigkeit (zum Vergleich: übliche Trockensauna 85 – 100° C, 10 %
Luftfeuchtigkeit) und mache zwei Saunagänge à 15 Minuten.
Sie bekommen mir sehr gut. Ich bemerke keine Verstärkung der Parästhesien, eher
im Gegenteil. Hinterher bin ich allerdings etwas erschöpft, was aber auch daran
liegen kann, dass ich danach den ganzen Saunabereich einschließlich Dusche
trocken gewischt habe. Die Erschöpfung ist aber nicht stark und geht eher mit
einem Wohlgefühl einher.
7. – 10. Jan.
2002
Ich glaube, die Parästhesien gehen langsam zurück. Es gibt Zeiten, da spüre ich sie
zumindest in den Armen nicht mehr und auch in den Beinen weniger. Dann
wiederum sind sehr stark zu spüren. Sie verändern sich also intervallartig – mit
deutlicher Tendenz zurückzugehen.
18. Jan. 2002
Arzttermin mit Untersuchung.
Gegenüber der letzten Untersuchung im Dezember ist eine deutliche Besserung
festzustellen. Aber die Symptome sind noch da: Ich kann noch nicht in die Hocke
gehen. Wenn ich einmal unten bin, komme ich aber aus eigener Kraft wieder auf
die Beine. Der Fersengang kommt langsam wieder, ist aber noch nicht sehr
ausgeprägt. Keine Reflexe. Der Gang ist stabil, sieht allerdings noch abrupt und
wenig elegant aus. Das linke Bein ist besonders problematisch. Es federt ab und zu
im Kniegelenk nach hinten durch.
Dennoch: Aufgrund der wieder erlangten Kraft ist – bei meinem Büroberuf – die
Wiederaufnahme der Arbeit ab kommenden Montag möglich, zunächst zu etwa 50
%, um nicht durch Erschöpfung die Heilungsphase über Gebühr zu verzögern.
Was mich überrascht: Die Kraft in den Händen liegt bei 30 kg. Im Dezember waren
es nur 22 kg. Dabei hatte ich damals gar nicht das Gefühl, mit Händen und Armen
schwach zu sein.
21. – 25. Jan.
2002
Die Arbeitsaufnahme ist geglückt. Den Weg von der Tiefgarage (Treppe hinauf)
zum Büro (2. Etage) bewältige ich vom Bewegungsablauf und auch von der Kraft
her. Ich bin danach nicht erschöpft. Ich kann mich auch im Büro gut bewegen,
Akten aus dem Regal nehmen, in jeder Höhe wieder zurückstellen und dabei einen
„Elefantenfuß“ benutzen.
Die aktuelle Arbeitsbelastung hält sich in Grenzen. Und ich habe gelernt: Der
Rückstau der letzten drei Monate muss nicht in einer Woche abgearbeitet werden.
Zeitlich bin ich zwar mehr als 50 % im Büro. Aber ich „muss“ auch nicht mehr drei
Dinge gleichzeitig erledigen. Die Verbandsmitglieder müssen sich eben ein
bisschen gedulden. Ich lasse es ruhig angehen. Zwischen 15 und 16 Uhr
nachmittags verlasse ich das Büro, um nicht in den Feierabendverkehr zu kommen.
Auf dem Rückweg zur Tiefgarage muss ich leicht bergauf gehen. Das macht mir im
Moment die meisten Probleme: Ich bin noch etwas ungeschickt, dabei das linke
Bein durchzudrücken. Meistens habe ich das Gefühl, es lässt sich „zu weit“
durchdrücken.
Hieran muss jetzt in der Krankengymnastik gearbeitet werden. Weiteres „Thema“
ist das In-die-Hocke-gehen. Das bereitet wegen des Anwinkelns der Beine
Schwierigkeiten. Aber daran arbeiten wir jetzt. Kraft, um aus der Hocke
hochzukommen, ist inzwischen genügend da.
Ich kann inzwischen auch wieder Wege erledigen, z.B. zur Bank oder einfache
Sachen einkaufen. Es tut gut, wieder am Geschäftsleben teilnehmen zu können.
Sobald ich wieder zu Hause bin, achte ich auf Ruhe. Obwohl ich nicht erschöpft
bin, habe ich das Gefühl, die Ruhe noch zu brauchen. Bei GBS macht der Körper
sehr deutlich, was er kann, was noch nicht und wann Ruhe ratsam ist.
Anfang Feb.
2002
Mit der Arbeit klappt es gut. Ich lasse es allerdings auch nach dem Motto angehen:
„In der Ruhe liegt die Kraft.“
Entwicklung der GBS-Symptome:
Die Parästhesien werden schwächer, aber sehr langsam. Sagen lässt sich das nur,
wenn ich einen Vergleichszeitraum von etwa zwei bis drei Wochen heranziehe.
Aber sie verstärken sich nicht mehr bei – maßvollem – Alkoholgenuss (siehe 16. /
17. Dezember 2001).
Ich kann langsam wieder in die Hocke gehen, aber dort noch nicht verharren. Doch
das Hinhocken wird schon deutlich besser.
Der Bewegungsablauf im linken Bein ist noch nicht optimal, scheint sich aber zu
bessern – ebenfalls sehr langsam.
Als nächstes werde ich die Ausdauer beobachten. Anstrengen kann ich mich
wieder, z.B. Getränkekästen in den Keller tragen und wieder hoch. Jetzt muss ich
herausfinden, wie schnell ich bei Anstrengungen ermüde und danach wieder
regeneriere.
18. Feb. 2002
Termin bei einem Arzt, der sich mit Borreliose auskennt.
Der Erfolg der Borreliose-Behandlung (s.o. 10. – 17. Okt. 2001) lässt sich erst drei
Monate nach Ende der Antibiotika-Therapie im Blut feststellen. Die Untersuchung
erfolgte am 5. Februar 2002. Ergebnis: Titer fast unverändert gegenüber dem 10.
Oktober. Also waren die 2 g Rocephin vom 10. – 28. Oktober 2001 offenbar eine
zu niedrige Dosis oder hätten länger verabreicht werden müssen. Der Arzt meint, er
hätte 4 g pro Tag verordnet.
Ich habe also immer noch aktive Borrelien, allerdings keine Borreliosespezifischen Symptome. Deshalb erfolgt keine neue Therapie. Beobachtet werden
der CK-NAK-Wert (kann aber auch GBS-bedingt sein, sogar sehr wahrscheinlich)
und – in einem ½ Jahr – erneut der Borreliose-Titer. Bis dahin würde eine
Behandlung nur erfolgen, wenn Muskel- oder Gelenkschmerzen auftreten.
2. März 2002
Ich probiere eine Trockensauna (85° C). Die Parästhesien werden durch die
Hitzeeinwirkung deutlich, klingen ab er nach Ende des Saunagangs (einschließlich
Duschen und Anziehen) ab. Ich beschließe, es vorerst beim Sanarium zu belassen
(siehe 6. Jan. 2002).
3. März 2002
Erste Wanderung mit Auf und Ab. Zum Teil schwieriges, weil morastiges Gelände.
Ich kann gut laufen und bin hinterher nicht erschöpft, kein Muskelkater. Ab und zu
„schlackert“ das linke Knie ein wenig.
8. März 2002
Ergebnis einer erneuten Blutuntersuchung:
CK-NAK = 51 (siehe 10. Okt. 2001!). Auch sonst sind alle Werte im Normbereich.
Ich freue mich.
9. / 10. März
2002
Wochenendaufenthalt in der Pfalz.
Spazierengehen: kein Problem. 3-Stunden-Wanderung (Pausen abgerechnet): kein
Problem. Ich bin nicht erschöpft und habe keinen Muskelkater. Ich fühle mich
wieder fit.
Die Probleme beim In-die-Hocke-Gehen werden geringer. Es geht immer besser,
wohl auch dank guter Krankengymnastik, die ich insgesamt für sehr, sehr wichtig
halte. Dazu gehört auch das „Mitarbeiten“, d.h. auch Übungen machen, wenn keine
Termine sind – zu Hause, täglich mindestens ½ Stunde.
23. März 2002
Ein schöner Abend mit leckerem Essen im Freundeskreis mit mehreren Gängen
und – für meine Verhältnisse – reichlich Alkohol (Ouzo, Rotwein, Grappa). Und
keine Parästhesien mehr! Eigentlich war mir die Alkoholmenge schon ein bisschen
viel, auch wenn es dabei gut zu Essen gab. Aber dieser ungewollte „Test“ führt mir
vor Augen, dass schon wieder ein Teil der Beschwerden zurückgegangen ist. Oder
liegt es an der Einnahme von Vitamin B?
24. März 2002
3-½-Stunden-Wanderung, bergauf, bergab, durch zum Teil schwieriges Gelände –
schon die zweite innerhalb von acht Tagen (17. März oben nicht erwähnt). Ich
verspüre keine Müdigkeit und kein Muskelkater. Ich kann wohl sagen, dass ich mit
meiner Leistungsfähigkeit wieder auf dem Stand vor der Erkrankung angekommen
bin.
Probleme gibt es immer noch in der Hocke, und zwar jetzt beim Hocken-Bleiben.
Also auch hier werden die Beschwerden geringer, allerdings sehr langsam.
8. April 2002
Sauna bei 90° C, weil mir kalt ist. Ich mache zwei Saunagänge und habe keine
Parästhesien mehr. Ich denke, dass ich die Krankheiten jetzt „abhaken“ kann und
beschließe für mich das auch zu tun.
15. – 27. April
2002
Urlaub in der Schweiz. Dazu gehören auch Bergwanderungen von 5 – 6 Stunden.
Ich habe dazu Kraft und Ausdauer, schwitze genauso viel – oder wenig – wie
früher. Ich finde bestätigt, dass ich wieder vollkommen gesund bin.
Was mir ab und zu Schwierigkeiten bereitet, ist das steile Gehen bergab an
Abgründen. Manchmal zittern mir dabei die Knie, vielleicht noch letzte Zeichen
eines unsicheren Gangs. Ich habe aber auch das Gefühl, wenn die Muskulatur
wieder an Anstrengungen gewöhnt ist, wird das auch vorbei sein.
Der Erfahrungsaustausch bleibt wichtig. Ich werde dafür weiter zur Verfügung stehen. Grundsätzlich
steht für mich fest: GBS in der leichten und akuten Form ist 100%-ig heilbar.
24. Juni 2002
hn