Plateau #83
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Plateau #83
E S S AY GENE EINEN, VORURTEILE TRENNEN EIN DENKSTÜCK ZUM RASSISMUS VOLKER SOMMER 4 W IE ICH DARWINISCHER AFRIKANER WURDE Stellen Sie sich vor, Ihnen würde mit dem Einstellungsvertrag oder Mietkontrakt ein Fragebogen vorgelegt, auf dem Sie Ihre Rasse angeben müßten. Sie würden wohl zusammenzucken. Denn wer Deutsch spricht, ist gegenüber dem Begriff »Rasse« ziemlich sensibilisiert. Und das ist auch gut so, nach all der Vergangenheit speziell der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Und in all der Gegenwart, die wir immer wieder erleben müssen. Das Formular mit der Rassenfrage ist hingegen gängige Praxis etwa in den USA oder Großbritannien. Noch nicht einmal verweigert werden darf die Antwort, jedenfalls nicht bei den Volkszählungen des Vereinigten Königreiches. Und auch nicht, als ich vor sieben Jahren meinen Arbeitsvertrag mit der Universität London unterschrieb. Allenfalls besteht die Option, »Other« anzukreuzen. Rasse: »Sonstige«. Das klang zwar entschieden nach Heimatlosigkeit, dünkte mir aber immer noch besser als »White«. Zumal ich mir klammheimlich ja doch mehr Gesichtsbräune wünsche. Bei den Farben gab es sonst aber keine weitere Auswahl – denn irgendwer hatte das Bunte aus den Rassen getilgt, also das »Schwarz« – »Gelb« – »Rot« – »Braun«. Stattdessen wurden Kästchen für allerlei Zugehörigkeit rund um den indischen Subkontinent feilgehalten und für fast jeden Kricketplatz im Meer der Karibik. Das erklärt sich zwar zwanglos aus großbritannischer Kolonialgeschichte. Doch minderte es nicht meine Erbostheit darüber, daß Entsprechungen für die rassische Vielfalt meiner nordhessischen Heimat fehlten. Denn die Leute aus Holzhausen am Reinhardswald, wo ich geboren wurde, wissen ganz genau, daß die Leute zwei Kilometer hinter dem Berg, aus der Obergemeinde Immenhausen, ganz andere Menschen sind. Wenn überhaupt. Oder gar die aus dem zehn Kilometer weiten Kassel. Da hat die Rasse sogar Zeitentiefe: Zugezogenen sind »Kasseler«, dort geborene »Kasselaner«, aber »Kasseläner« nur jene, die bereits eingeborene Eltern hatten. twas unglücklich meine »Sonstige« Rasse reflektierend, fiel mir ein, was mir als modernem Anthropologen gleich hätte einfallen können. Und flugs kreuzte ich mich unter »African« an. Die Personalabteilung – Datenschutz hin, Vertraulichkeit her – wies mich wenig später darauf hin, daß ich die Fragebögen korrekt auszufüllen hätte. Vielleicht war ja auch die Frage nach der Religion Stein des Anstoßes gewesen. Die hätte ich zwar als einzige verweigern können. Doch wollte ich gegenüber jenen 10 Prozent der Londoner ein Statement machen, die sich zur Religionsgemeinschaft der »Jedis« bekannten. Meine Religion war: »Darwinist«. »Darwinischer Afrikaner« – das ist in politisch korrekten Zeiten auf jeden Fall besser als »anglikanischer Weißer«. Denn die Fragebögen des Vereinigten Königreiches wollen eben nicht diskriminieren gegen irgendwelche Minderheiten. Sie wollen, ganz im Gegenteil, diskriminieren gegen die Mehrheit. Was früher einmal Grund zur Furcht war – denn auch unter angelsächsischer Kulturhoheit konnte man und frau durchaus zur absoluten falschen Rasse gehören –, gereicht heute leicht zur Freude. Weil, wer Mitglied einer seltenen Rasse ist, wird Kraft Gesetz oft bevorzugt – etwa bei Jobsuche oder Wohnungsvergabe. ie Frage nach der individuellen Rasse wird überdies entschärft durch die versöhnliche Note die in der englischen Vokabel »human race« schlummert. Die klingt nach Humanismus, nach Toleranz und Offenheit, weil damit einfach »die Menschheit« gemeint ist. In den Hirnen von Deutschdenkern weckt der Begriff »Rasse« hingegen weitaus reflexiver ungute Assoziationen. Ohne Zweifel, deutsche Lande hielten und halten guten Boden bereit für das Gedeihen einer besonders handfesten Konsequenz des Begriffes von der Rasse, nämlich dem Rassismus. Der im hölzernen Vokabular einer Enzyklopädie definiert ist als »Form des Biologismus, bei der für genetisch bedingt gehaltene, tatsächliche oder nur angenommene Differenzen zwischen Menschen als Anlaß zu sozialer Trennung und Zurücksetzung bzw. Bevorzugung benutzt werden.« E D 5 Biologismus – den könnte es nicht geben ohne Biologen. Und selbst wenn die ihn genausowenig erfunden haben mögen wie die Seismologen die Erdbeben, so haftet den »Lebenswissenschaflern«, wie sie sich heute gerne nennen, nichtsdestotrotz noch immer leicht der Geruch rechtslastiger Ideologie an. Denn behaupten sie nicht im Grunde doch, daß das Erbgut alles vorprogrammiert? Predigen sie nicht genetischen Fatalismus? Und sind sie damit nicht Wasserträger rassistischen Unterscheidungswahns? ut, daß eine am 8. und 9. Juli des Jahres 1995 in Stadtschlaining, Österreich, tagende UNESCO-Konferenz verkündete, es gebe »keinen wissenschaftlichen Grund, den Begriff ›Rasse‹ weiterhin zu verwenden.« Skinheads, Ku-Klux-Klan oder Britische Nationalisten scheren sich selbstverständlich einen Dreck um eine Stellungnahme der UNESCO. Und auch die gutgemeinten Fragebögen werden dadurch keineswegs ad acta gelegt. Jenen, die diskriminieren wollen – ob »negativ«, wie die Rassisten, oder ob »positiv«, wie die Gutmenschen – kann die Stellungnahme nicht in den Kram passen. Und die erwähnten intellektuellen Wasserträger des Rassismus, die Biologen, jene also, die den Rassebegriff unzweifelhaft erfunden und kräftig gefördert haben, lehnen die Stellungnahme sowieso als unwissenschaftlich ab … Sollte man meinen. Doch genau hier stimmt das Weltbild längst nicht mehr. Denn wenn es nach den heute maßgeblichen Biologen ginge, gehört der Begriff tatsächlich abgeschafft. Weil er nämlich jeder Grundlage entbehrt – speziell jeder biologischen. Die Resolution der UNESCO wurde nämlich von Angehörigen gerade jener biologischen Sub-Disziplinen mitformuliert, die einstmals »rassisch Unerwünschte« den Nazis ans Messer lieferten: von Anthropologen und Humangenetikern. »Ein wichtiger Schritt, einem […] Mißbrauch genetischer Argumente vorzubeugen«, so verkündet die UNESCO Arbeitsgruppe, »besteht darin, das überholte Konzept der ›Rasse‹ durch Vorstellungen und Schlußfolgerungen zu ersetzen, die auf einem gültigen Verständnis genetischer Variation beruhen.« er um 68 eingenordete Nachkriegskopf hat mit der Rassenfrage so seine Schwierigkeiten, ohne das unterschwellige Unbehagen mit soliden Argumenten unterfuttern zu können. Für diese also, die ohne Rassenschema bessere Menschen zu sein glauben, und für jene, die ihr Gehirn aus schier intellektuellen Gründen zur rassefreien Zone erklären möchten, mag eine Rekonstruktion des Rassebegriffs nützlich sein – ein Denkstück, das von Anfängen in der biologischen Systematik über Höhepunkte im Sozialdarwinismus und Faschismus bis zur Kannibalisierung durch eben jene Disziplin reicht, die den Begriff der Rasse propagierte und hätschelte: die Biologie. Und als darwinischer Afrikaner bin ich selbstverständlich ein berufener Reiseführer. G Intellektuelle Wasserträger des Rassismus D 6 REINE LEHREN – Es war der Schwede Carolus Linnaeus, durch den die Klassifikation des Organismenreiches verbindlich wurde, und der dem Begriff der Rasse zumindest indirekt die Karriere erleichterte. In dem erstmals 1735 erschienenen Werk Systema naturae benutzte Linné die übersichtliche binäre Nomenklatur aus Gattungs- und Artname für die Benennung von Pflanzen und Tieren – weshalb etwa der Schimpanse heute Pan troglodytes heißt. Linné meinte, die geistigen Strukturpläne des Schöpfergottes nachvollziehen zu können. So nahm er als Zahlenmystiker an, wegen der Anzahl der Buchstaben im Alphabet Gattungen anhand von 26 natürlichen Kennzeichen unterscheiden zu können. Die moderne Systematik erweiterte die Gruppen des Linnaeus vielfach, so daß die Reihe der »Linnaeischen Hierarchie« von »unten nach oben« folgende »Taxa«, mithin klassifikatorische Kategorien, umfassen kann: Art, Gattung, Familie, Ordnung, Klasse, Stamm, Reich. So zählt Pan troglodytes zur Familie der Menschenartigen, zur Ordnung der Primaten oder »Herrentiere«, die wiederum eine Klasse der Säugetiere sind, welche als Stamm der Wirbeltiere schließlich zum Tierreich gehören. ls Kategorie unterhalb der Art wurde und wird der Begriff »Rasse« verwendet – heute oft ersetzt durch den Terminus »Unterart« oder »Subspezies« – und vielfach mit einem eigenen Unterartnamen belegt. Dadurch erweitert sich der Binomen entsprechend zum Trinomen. Bei Schimpansen etwa werden vier Subspezies unterschieden: die in Ostafrika (P. t. schweinfurthii), Zentralafrika (P. t. troglodytes), Nigeria und Kamerun (P. t. vellerosus) und Westafrika (P. t. verus). Die Menschheit wurde binär ab der 12. Auflage des Systema naturae von 1766. Hier ordnete Carl von Linné den Menschen erstmals in das Tierreich ein. Die von ihm eingeführte Spezies Homo sapiens vierteilte er entsprechend der Geographie – nicht ohne einige Charaktereigenschaften hinzuzufügen: Americanus (rot, cholerisch, aufrecht), Europeus (weiß, sanguin, muskulös), Asiaticus (bleichgelb, melancholisch, hartnäckig), Afer (schwarz, phlegmatisch, gleichgültig). Speziell die den Afrikanern zugeordneten Eigenschaften mögen uns vorurteilsbeladen dünken. Doch spiegelte die Einteilung lediglich klassisch-mittelalterlich die Temperamente wider, denen kaum Wertung innewohnt. Zudem werden Europäer nicht zuerst genannt – wohl, weil dem bibeltreuen Linnaeus alle Menschen als Kinder der Ureltern Adam und Eva galten. Eine Hierarchisierung gewann erst in dem Maße an Dynamik, wie die Weltauffassung säkularisiert wurde, also im Zuge der bibelkritischen Aufklärung. Theologische Bezüge wurden zunehmend ersetzt durch Orientierung an der Natur – oder dem, was dafür gehalten wurde. Da es die Europäer waren, A Rot: cholerisch Weiß: muskulös Bleichgelb: hartnäckig Schwarz: phlegmatisch 7 Absturz der Menschenlinie über »rote« Indianer zu »gelben« Orientalen die sich im Zuge des aufstrebenden Kolonialismus des Globus ermächtigten, lag es nahe, das Weiß zum Maß aller Dinge zu machen. Genügend Vergleiche existierten dank der zunehmenden Narrative über ferne Länder. So wurde im Rahmen der Macht- und Ausbeutungsverhältnisse selbstherrlich gedeutet, Menschen weißer Hautfarbe wären die zivilisiertesten und erfolgreichsten – und ständen demnach an der Spitze der natürlichen Ordnung. Es sollte jene erweiterte Farbpalette sein, die Johann Friedrich Blumenbach 1775 zusammenstellte, mit der über Jahrhunderte hinweg die stärksten rassistischen Stereotype illustriert wurden. Daß der wundersame Terminus »Kaukasier« für die »weiße« Variante bis in heutige Volkszählungen fortlebt, verdanken wir dem Entzücken des Göttinger Anthropologen an einem weiblichen Schädel aus Georgien, den er für das ästhetischste Stück seiner Sammlung hielt. Allerdings diagnostizierte Blumenbach, das kaukasische Schönheits-Ideal habe während der Erdbesiedelung mancherlei »Degeneration« erlitten. So sei eine Menschenlinie über »rote« Indianer zu »gelben« Orientalen abgestürzt, eine andere über »braune« Malaien zu »schwarzen« Afrikanern. Im Unterschied zu Linné stellte also Blumenbach manche Menschengruppen wertend über andere. Eine Legierung von wissenschaftlichen und ideologischen Interessen brach dann jenem Rassismus Bahn, der das von Charles Darwin ab 1859 vorgestellte Modell der Evolution und des »Überlebens der Tüchtigsten« auf Gesellschaften übertrug. Praktisch nicht vorhanden waren Hemmungen, die belebte Welt in »höhere« und »niedere« Lebewesen einzuteilen, und Menschen dementspreched in »zivilisiert«/»entwickelt« versus »primitiv«/»zurückgeblieben«. inke sowohl wie rechte Politiker und Propheten befleißigten sich der Gedanken Darwins. Es war aber die Ideologie des Sozialdarwinismus, die sich in den faschistischen Rassenwahn auswachsen sollte. Ausgehend von dem (Kurz)schluß, daß Selektion Fortschritt erzeugt (während Biologen heutzutage wertneutral von »adaptiver Radiation« reden), wurde das Ausbleiben der natürlichen Auslese mit Degeneration und Rückschritt gleichgesetzt – und genau das stand zu befürchten für Gesellschaften, die sich über Verbesserungen in Hygiene, medizinischer Versorgung und Fürsorge um ihre Kranken und Unterpriviligierten kümmerten. Denn dies, so die Sozialdarwinisten, führt zur Vermehrung der Schwachen. Francis Galton, ein Vetter von Charles Darwin, begründete am University College London um 1883 das Konzept der »Eugenik«. Es wurde eine gesellschaftliche Selbststeuerung der Evolution in zweierlei Hinsicht angestrebt. Einerseits sollte eine befürchtete »Entartung« verhindert werden, indem die Vermehrung von Minderwertigen – Erbkranken, Alkoholikern, Kriminellen – unterbunden wurde, etwa durch Eheberatung, L 8 Heiratsverbote oder Sterilisation (»negative Eugenik«). Andererseits sollte die Reproduktion der Hochwertigen gefördert werden, etwa durch Steuererleichterungen oder gar »Zuchtanstalten« mit Ordensstruktur (»positive Eugenik«). Die Eugenik-Bewegung löste mithin das humanistische Ideal der Fürsorge und Förderung des Individuums ab durch das Konzept des »Volksgemeinschaftswohles«. Es entbehrte somit nicht einer gewissen Logik, wenn die Nationalsozialisten das Programm der Sozialdarwinisten mit dem von ihnen gepflegten Rasse-Mythos verbanden. Dieser nährte sich vor allem aus dem »Essay über die Ungleichheit der Menschenrassen«, den Joseph Artur Comte de Gobineau 1853 bis 1856 verfaßte, und der die »Arier« (wortgeschichtlich mit »Aristokratie« verwandt) als Kernrasse der »Weißen« an die Spitze der Kulturgeschichte stellte. Ähnlich Blumenbach sah auch Gobineau allerorten Degeneration dieses Ideals am Werke, gefördert nicht zuletzt durch Rassenmischung. er das verhindern wollte, mußte auf Segregation der Rassen drängen. Doch wie konnten die Guten von den Schlechten unterschieden werden? Hier half den Nazis die »Typologie«, die gemäß dem Verhaltensforscher Konrad Lorenz auf eine »angeborene Begabung zur Gestaltwahrnehmung« setzte. Die erste Riege der »physischen Anthropologie« verstand Rassen zunehmend als unwandelbare Typen – was selbstverständlich den darwinischen Aspekt des Wandels pervertiert. So schrieb etwa Hans F. K. Günther: »Eine Rasse stellt sich dar in einer Menschengruppe, die sich durch die ihr eigene Vereinigung körperlicher Merkmale und seelischer Eigenschaften von jeder anderen Menschengruppe unterscheidet und immer wieder nur ihresgleichen zeugt.« Der Humangenetiker Fritz Lenz warnte entsprechend, daß »die Rassenkreuzung offenbar häufig zu disharmonischen Kombinationen« führt. Der grobschlächtigen Nazi-Ideologie langten am Ende drei Großrassen: zur Herrschaft berufene »Kaukasier«, »theromorphe« (tiergestaltige) »Negride« und »pädomorphe« (kindliche) »Mongolide«. Wer so in Schwarz und Weiß malte, meinte natürlich zugleich »gut« und »böse«. (Daß »Mongolide« nahe an Geisteskranke gerückt wurden, lebt übrigens in der Bezeichnung »mongoloid« für Menschen mit Down-Syndrom fort.) Der Rassismus der Nationalsozialisten manifestierte sich in dreifacher Variante: Der »Überlegenheitsrassismus« hielt hellhäutige Menschen europäischer Abstammung für höher gestellt, der »Reinhalterassismus« postulierte, daß Rassenmischung die Kultur und Lebensfähigkeit eines Volkes zerstöre, und der »Erbgesundheitsrassismus« warnte vor gesellschaftlichem Verfall durch übermäßige Vermehrung von »Minderwertigen«. Auf dem Höhepunkt seiner traurigen Karriere war der RasseBegriff Vorwand für millionenfachen Mord – und es waren speziell Anthropologen und Humangenetiker, die den Nazis W Wie konnten die Guten von den Schlechten unterschieden werden? 9 aberwitzige Vorwände lieferten, damit Viehwaggons um so vollgestopfter die Selektionsrampen anliefen. Hier eine kleine Auswahl: – »Die Moral und Tätigkeit der bolschewistischen Juden zeugt von einer solchen ungeheuerlichen Mentalität, daß man nur noch von Minderwertigkeit und von Wesen einer anderen Spezies sprechen kann« (Eugen Fischer, Anthropologe, 1942). – »Juden sind Parasiten, die ihr Wirtsvolk im Eigeninteresse nicht zerstören« (Fritz Lenz, Eugeniker und Erbforscher, 1936). – »Zum Glück ist die Ausmerzung« asozialer Mitglieder »für den Volksarzt leichter und für den überindividuellen Organismus weniger gefährlich als die Operation des Chirurgen für den Einzelkörper« (Konrad Lorenz, Verhaltensforscher, 1940). ätten die Faschisten ihr Programm konsequent durchziehen können, wäre übrigens ihr Projekt einer »Reinheit der Rasse« spektakulär schiefgegangen. Denn aus der Landwirtschaft ist bekannt, daß die Praxis, «reine Stämme« züchten zu wollen, schnell zur Unfruchtbarkeit führt. Und auch die Idee, daß »Rassenmischung« schädlich sei, ist empirisch betrachtet Unsinn. Es ist in der Regel nämlich genau umgekehrt: Kreuzungen zwischen Individuen unterschiedlicher Herkunft erzeugen eine größere Robustheit. Speziell bei Menschen ist absolut kein biologischer Nachteil bekannt, der sich aus der Fortpflanzung von Mitgliedern verschiedener »Rassen« ergäbe. Ergo: Wer heute von »Mischlingen« redet, vor »Überfremdung« warnt und »Leitkultur« beschwört, schreibt im Grunde jene absurden Nazi-Gedanken fort, wonach »Rassenkreuzung« zu »disharmonischen Kombinationen« führt und ein Volk zum Aussterben bringt. Dieser Vorwurf kann leider auch nicht dem bekannten Humanethologen Irenäus Eibl-Eibesfeldt erspart bleiben, wenn er angesichts des Geburtenrückganges in Mitteleuropa warnt: »Den Bevölkerungsschwund mit reproduktionsfreudigen Ausländern auszugleichen, bedeutet sowohl kulturell als auch biologisch einen massiven Eingriff in die Deutsche Volkssubstanz.« Zum Glück ist Eibl-Eibesfeldt trotz seines Renommés längst zum Dissidenten geworden in seiner eigenen Disziplin. In den Nachkriegsjahrzehnten hatten allerdings viele Biologen, die im Dritten Reich die Nazi-Ideologie bedienten, einflußreiche Positionen in Lehr- und Forschungseinrichtungen in Deutschland und Österreich inne – auch und gerade die oben zitierten. Ein Generationenwechsel vollzog sich nur langsam – buchstäblich in dem Tempo, wie die Altvorderen wegstarben. Erst in den letzten 25 Jahren gewannen zunehmend kritische Stimmen aus den Reihen der Anthropologen an Gewicht, etwa die des Wiener Humanbiologen Horst Seidler, des Oldenburger Biologiedidaktikers Ulrich Kattmann oder H »Reine Stämme« führen zur Unfruchtbarkeit. 10 die meines eigenen Lehrers, des Göttinger Anthropologen Christian Vogel. Eben weil zahlreiche Wissenschaftler den Rassismus bedient hatten, muß betont werden, daß es nicht etwa politische, sondern wissenschaftliche Argumente waren und sind, die dem Rasse-Konzept den Boden entziehen. WELCHER AR T IST DIE AR T? – Einen Großteil der Konfu- sion, die sich um ihn rankt, hat der Begriff »Rasse« ererbt von seiner taxonomischen Suprakategorie, der »Art«. Fällt dieser Begriff, zumal in seiner latinisierten Form »Spezies«, runzeln sich allerdings weitaus weniger Stirnen. ine jedoch der gegenwärtigen Runzelzonen gehört zu James Mallett, Mitherausgeber der in Fachkreisen bedeutenden Zeitschrift »Evolution« und Genetiker am »Galton Labor« – benannt nach eben dem »Erfinder« der Eugenik. Das Labor befindet sich im »Darwin Building« des University College London. Denn genau hier, im zentrallondoner Viertel Bloomsbury, stand das Stadthaus von Charles Darwin, bevor sich dieser auf seine historische Segelreise begab, die der Wissenschaft völlig neue Ufer bescherte. Wohl nicht zuletzt wegen des genius loci hat Mallet »seinen« Darwin gelesen, und wird nicht müde, auf ein wenig bekanntes, beinahe absurdes Faktum hinzuweisen: daß nämlich der Verfasser von »Die Entstehung der Arten« der dezidierten Auffassung war, »that there are no such things as species«. Ja, Darwin formulierte gar, sein opus magnum handele vom »Tod der Arten«! Und wäre dies ernst genommen worden, hätte das automatisch auch den »Tod der Rassen« bedeutet. Wie kann das sein? Löst doch der Titel seines Buches, erschienen 1859 und die Evolutionstheorie begründend, genau gegenteilige Assoziationen aus. Etwa, daß Arten fest umrissene Einheiten seien; daß die Lebewesen jeweils »nach ihrer Art« leben; daß es »arttypische« Merkmale gibt; daß Verhalten dazu da sei, das »Artwohl« zu fördern. Dies Konglomerat aus instinktivem Halbwissen verfestigte sich in der Rassediskussion zum fatalen Konzept von Arten als »konstanten Größen«. anz unschuldig ist Darwin nicht an den Mißverständnissen. So führt der Titel seines bahnbrechenden Werkes »On the Origin of Species by Means of Natural Selection« auch in anderer Hinsicht in die Irre. Denn »natürliche Auslese« suggeriert Intention: daß eine Macht existiert, die den Evolutionsprozess quasi rational in Bahnen lenkt. Darwin nahm dies in Kauf, denn mit »natural selection« lehnte er sich an »artifical selection« an, die bewußte Auslese gewünschter Formen von Haustieren, Nutz- und Zierpflanzen, die im viktorianischen England des 19. Jahrhundert gang und gäbe war. Das in gebildeten Zirkeln vorhandene Verständnis der »künstlichen Zuchtwahl« sollte durch das parallele Vokabular von der »natürlichen E Instinktives Halbwissen in der Rassediskussion G 11 Züchterische Phantasie Zuchtwahl« den Weg ebnen für eine Akzeptanz des Evolutionsgedankens. Das war auch der Fall, ahmen Landwirt und Hobbyzüchter doch die Kräfte der Evolution nach: Sie mischen Erbmaterial durch Kreuzung stets auf neue und picken Nachkommen mit erwünschten Merkmalen zur erneuten Zucht heraus: Kartoffeln mit den dicksten Knollen, Schweine mit den dicksten Schinken. Doch bewegten sich Züchter jahrtausendelang in den schwer überwindbaren Grenzen, die im natürlichen Repertoire scheinbar wohlunterscheidbarer »Arten« vorgegeben waren. Erst Genetik und Biotechnik sollten die züchterische Phantasie aus ihren uralten Fesseln befreien. Und diese raffinierten Methoden – von denen noch zu sprechen sein wird – konnten und können nur deshalb funktionieren, weil es in der Natur eben keine in Stein gehauenen »Arten« gibt – wovon ebenfalls noch zu sprechen sein wird. Während seiner Weltumsegelung mit der »Beagle« in den Jahren 1831 bis 1836 besuchte Darwin bekanntermaßen auch Galapagos. Auf der Inselgruppe fand er mehr als ein Dutzend Finkenarten vor. Er erkannte, daß es einer Ahnenart der Finken gelungen sein mußte, das abgelegene Pazifik-Archipel vom 1000 Kilometer entfernten Südamerika aus zu besiedeln. Allmählich entwickelte sich mehr als ein Dutzend eigenständiger Arten, auf jeweils andere Nahrungsquellen spezialisiert. An den Schnäbeln ließen sich etwa reine Pflanzenfresser von Gemischtköstlern unterscheiden, die Insektennahrung bevorzugen. Die Schnabelvielfalt, so theoretisierte Darwin, war das Produkt der natürlichen Auslese, die auf drei Prinzipien gründet: Wettbewerb (nicht alle Lebewesen überleben und pflanzen sich fort); Variation (die Lebewesen unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Fähigkeiten, mit ihrer Umwelt zurechzukommen); Erblichkeit (die Unterschiede sind zumindest teilweise genetisch bedingt). Das Resultat dieser Mixtur ist, wie es heute ausgedrückt wird, »differentieller reproduktiver Erfolg«, bei dem manche Organismen mehr Kopien ihrer genetischen Information in die nächste Generation transportieren als andere. ie Galapagos-Finken hatten, glaubte Darwin, verschiedene Formen ausgebildet, weil sie heftig durch das Sieb der natürlichen Auslese geschüttelt worden waren – durch unterschiedliche Verfügbarkeit von Nahrungspflanzen etwa oder periodischen Futtermangel. Daß der Prozess auf einer Insel und damit in geographischer Isolierung abgelaufen sei, hielt er hingegen für unbedeutend. »Sehr dumm« sei die Behauptung, »die Anzahl der Arten werde in hohem Maße durch den Grad, in welchem das Gebiet häufig isoliert und geteilt worden sei, bestimmt.« Genau diese Dummheit schrieb sich jedoch der junge deutsche Zoologe Ernst Mayr auf die Fahnen, als er zwischen 1928 und 1930 die Salomon-Inseln und Neuguinea besuchte. Auch D 12 Mayr bestaunte eine exotische Vogelwelt – was ihn jedoch veranlaßte, Darwin zu revidieren. Der evolutive Wandel sei zwar durch Selektion bewirkt. Eingeleitet werde die Vervielfältigung der Arten jedoch durch geographische Trennung von Populationen, die »Separation«. Sie unterbindet den Kontakt zwischen Bevölkerungen, so daß es schließlich zur genetischen »Isolation« kommen kann – der Voraussetzung für »Speziation«, für Artbildung. Und nirgendwo, so Mayr, lasse sich die Entstehung der biologischen Mannigfaltigkeit besser verfolgen als auf Inseln, wo die Evolution gleichsam wie in einem »Freilandlaboratorium« ihre eindrucksvollen Experimente ausführt. Bevölkerungs-»Inseln« können selbstverständlich auch durch drastische geologische und klimatische Änderungen entstehen – etwa als sich die mittelamerikanische Landbrücke zwischen Atlantik und Pazifik erhob oder als Gletscherströme die Kontinentalmassen Nordamerikas und Europas zerstückelten. eil getrennte Gründerpopulationen nur noch aus einem begrenzten Erbreservoir schöpfen und wegen der unterschiedlichen Umweltbedingungen unter einem anderen Druck der Auslese stehen, werden sie so von offenen genetischen Systemen relativ rasch zu geschlossenen, d. h. sie werden so sehr verändert, daß sie sich mit den ehemals Verwandten nicht mehr fortpflanzen können. Entsprechend schlug Mayr seine berühmte Definition vor: »Eine biologische Art ist eine Gruppe sich […] fortpflanzender natürlicher Populationen, die reproduktiv von anderen solchen Populationen isoliert sind.« Da das »Biospezies«-Konzept auf das Kriterium der Fortpflanzung aufbaut, zählt bei der Unterscheidung von Arten nicht der Augenschein, sondern die inneren Werte – das Erbgut. Einerseits ist deshalb selbst zwillingshafte Ähnlichkeit kein Anlaß, den Speziesstatus zu verweigern: Die Singvögel Zilpzalp und Fitis lassen sich optisch ebenso wenig auseinanderhalten wie Waldbaumläufer und Gartenbaumläufer, Wintergoldhähnchen und Sommergoldhähnchen. Zwar leben diese »Zwillingsarten« im gleichen Verbreitungsgebiet. Da sie sich jedoch nicht paaren, werden sie von den Taxonomen unterschiedlichen Spezies zugeordnet. Andererseits muß augenfällige Verschiedenheit nicht mit Verschiedenartigkeit einhergehen, solange das ungleiche Paar Nachkommen haben kann. Das trifft auf Pinscher und Bernhardiner ebenso zu wie auf ein bis zu eine Tonne schweres Rheinisch-Deutsches Kaltblut und sein Pendant, das argentinische Falabella-Pferdchen, das die Maße eines Reisekoffers hat: 40 Zentimeter hoch, 80 Zentimeter lang, 20 Kilogramm leicht. Ernst Mayr, von vielen als der größte Evolutionsbiologe nach Darwin angesehen, erfreut sich zu recht – einhundert Jahre alt – weltweiter Achtung. Doch die Vatermörder hecken bereits eifrig ihre Verschwörungen aus, um die jahrzehntelange Alleinherrschaft des Biospezies-Konzeptes zu beenden. W Nicht der Augenschein, sondern die inneren Werte zählen. 13 Denn Mayrs zentrale Theorie ist im tiefsten problematisch. Nach seinem Verständnis gehören zwei Organismen zur gleichen Art, wenn ihre Verpaarung zum reproduktiven Erfolg führt. Nun sind aber einerseits viele Verpaarungen unter Mitgliedern von »guten« Arten unfruchtbar – speziell jene unter nahen Verwandten, weil Inzucht die Fertilität herabsetzt. Andererseits bilden zahlreiche Arten auch in der Natur Hybriden – darunter etwa ein Zehntel aller Vogel- und Schmetterlingsspezies, sowie viele wildlebende Primaten. Und in den allermeisten Fällen sind die Nachkommen durchaus nicht steril – im Gegensatz zum Lehrbuch-Beispiel von der Kreuzung zwischen Pferd und Esel, das das Biospezies-Konzept stützen soll. Doch selbst dieses Exempel stimmt nicht. Denn entgegen landläufiger Annahme sind nicht alle Hybriden – nach dem Muttertier entweder Maultier oder Maulesel genannt – unfruchtbar. uch Pflanzenarten bereiten der Mayr’schen Definition Kopfzerbrechen, denn sie scheren sich häufig nicht um die vorgeschriebene Barriere der »reproduktiven Isolation«. Ursache ist eine Mutation, die »Polyploidie«, bei der sich der Chromosomensatz spontan vervielfacht. Folgt einer Hybridisierung per Zufall eine solche Verdoppelung, kann dabei eine neue, fruchtbare Form entstehen – mithin eine neue Art. So ist etwa die Hauszwetschge aus einem Erbgut-Mix von Schlehe und Kirschpflaume hervorgegangen, Raps aus Gemüsekohl und Rübsen, einer bedeutenden Ölpflanze. Saatweizen vereinigt in seinen Zellen sogar die Chromosomen dreier Mutterarten: die des Einkorns und – vermutlich – zweier Wildgräser. Durch Zusatzannahmen wurde versucht, das Bio-SpeziesKonzept zu retten. Alternativ wurden neue Art-Definitionen erfunden, die so klangvolle Namen tragen wie »kladistisch«, »pluralistisch«, »evolutionär«, »morphologisch«, »kohäsiv«, »ethologisch« oder »phenetisch«. Es ist nicht nötig, diese Definitionen im einzelnen durchzugehen. Denn sie alle sind mit zahlreichen Schwierigkeiten konfrontiert und müssen zahlreiche Ausnahmen zulassen. Was aber ist die Alternative? Darwins bereits angedeuteter Standpunkt war, daß Arten keine diskrete »Realität« haben, sondern daß eine Kategorie wie Spezies lediglich ein nützliches Hilfsmittel ist, um die Welt zu ordnen und darüber zu kommunizieren. Naturforscher, die sich um eine systematische Gliederung der lebendigen Vielfalt bemühen, können und sollen also eigentlich nur ihren gesunden Menschenverstand gebrauchen. Wer Schmetterlinge sammelt oder Blumen verkauft, wird deshalb meist keine Probleme haben, entsprechende Namensschilder anzubringen. Aber eben nur meistens – denn sämtliche Einzelstücke lassen sich nicht problemlos der einen oder anderen Spezies zuordnen. Arten, im originalen darwinischen Verständnis, werden also von Menschen gedacht und damit gemacht – sie sind kein »Ding an sich« im Kant’schen Sinne. A Hauszwetschge – ein Mix von Schlehe und Kirschpflaume 14 Jene, die eine »Definition« versuchen, wollen aber mehr leisten, als sich lediglich pragmatisch an eine operationale Faustregel zu halten. Sie sind dogmatisch auf Vollständigkeit und Widerspruchlosigkeit bedacht und müssen deshalb von einem Ideal ausgehen – und das scheitert, wenn es eben nur mehr oder weniger trägt. Grund dieser Unzulänglichkeit ist, daß der Selektionsprozeß die addierte Fortpflanzungsbilanz zahlreicher Einzelorganismen darstellt. Art-Definitionen hingegen begreifen die Spezies selbst als »evolutionäre Einheit«, deren Einzelteile auf »Kohäsion« angelegt sind. Dies ist der gleiche »gruppenselektionistische« oder »typologische« Gedanke, der dem Rassekonzept der Nationalsozialisten zugrunde lag: »Du bist nichts, dein Volk ist alles«. Modernem evolutionsbiologischen Verständnis steht dies diametral entgegen – denn die Auslese schert sich nicht um übergeordnete Einheiten, ob sie nun Rasse, Art, Gattung, oder Volk heißen, sondern »bewertet« nur die Merkmale der einzelnen Lebewesen. James Mallet schlägt vor, »genetische Cluster« zu identifizieren, also Ähnlichkeiten zwischen den Sequenzen des Erbgutes – eine Methode, die Darwin noch nicht zur Verfügung stand. Je nachdem, wieviele Sequenzen wir in unsere Clusteranalyse einbringen, können wir allerdings unterschiedliche Gruppierungen bilden – die wir gerne und ganz pragmatisch als Arten bezeichnen können. Allerdings sind sie nicht, wie bei den anderen Definitionen, permanent separiert. Die Cluster können sich vermischen – wodurch Arten in der Zukunft verloren gehen können, ohne auszusterben. omit existiert keine allumfassende Definition – weder für Art noch für Rasse. Vollends durcheinandergeschüttelt wird jeder definitorische Versuch ohnehin in den Labors der Gentechniker. Molekularbiologen schleusen mittlerweile routinemäßig Erbgut einer Lebensform in das einer anderen ein. Damit etwa Tomaten ein Abwehrgift gegen Raupenfraß bilden, wurden ihnen Gene vom Bacillus thuringiensis ausgeliehen. Das unbewaffnete Auge bemerkt kaum, wenn Mutter Natur so in die Suppe gespuckt wird. Die Biotechnik kann jedoch auch mit augenfälligen Kreationen aufwarten: etwa der Tomoffel. Züchter schufen diesen Hybriden aus Tomate und Kartoffel, indem sie Protoplasten – Zellen ohne Wand – beider Pflanzen vereinten. Selbst weitaus spektakulärere Kombinationen, ähnlich denen, die sich einst in den Köpfen antiker Schriftsteller zusammenbrauten, sind mittlerweile nicht nur denkbar, sondern wurden zumindest teilweise wahr. Die chimaira des griechischen Mythos war ein feuerschnaubendes Ungeheuer – vorn Löwe, in der Mitte Ziege, am Schwanz Schlange. Zwar eher amüsant als furchterregend, kommt die 1984 in deutschen und englischen Labors zusammengeköchelte »Schiege« solchen Visionen recht nahe. Dieses Mischwesen Der Mutter Natur in die Suppe gespuckt S 15 mit den Hörnern einer Ziege und dem Hinterteil eines Schafes enstand durch Verschmelzen von Embryonen. Mischwesen bereiten übrigens nicht nur den Taxonomen Kopfzerbrechen. Auch auf Schlachthöfen in den USA sorgen Genomfusionen für Konfusion. Dort ist Fleischbeschau gesetzlich vorgeschrieben, um Rindvieh zu Hamburgerbelag verhackstücken zu können, während Wildbret ohne Inspektion zum Verzehr freigegeben ist. Schwierig wird es, wenn ein Bison mit einem Hausrind gekreuzt wird, um die Winterhärte des amerikanischen Präriebüffels mit der Schmackhaftigkeit der domestizierten Nachfahren des Auerochsen zu vereinigen. Diese Kombination aus »buffalo« und »cattle« kann zum einen den »cattalo« ergeben, der aussieht wie ein Bison und deshalb bei Schlachtung nicht der Fleischbeschau unterworfen werden muß. Der »beefalo« jedoch, ein Hybride aus drei Achteln Bison und fünf Achteln Hausrind, sieht wie ein Rind aus und muß vor dem Verzehr gesetzlich inspiziert werden. agtäglich können wir im Feuilleton und oft sogar fettgedruckt auf Seite Eins von neuerlichen Bubenstücken der Genmanipulatoren lesen – und entsetzen uns nur zu gern über die zunehmene Leichtfertigkeit, mit der die Vorgaben von Mutter Natur ignoriert werden. Das Unbehagen speist sich mehr oder weniger aus einem quasi biblischen Verständnis von der Ordnung der Natur – daß ein Schöpfer den Garten der Erde mit einer fixen Anzahl von Spezies bevölkert hat, mit einer quasi gedeckelten Biodiversität also, und sich am siebten Tage genießerisch zurücklehnt: »Siehe, es war sehr gut …« Säkularisierte Gemüter ersetzen den Herrgott durch die ebenso nebulöse Mutter Natur. So entsteht die Meinung, weder dem einen noch der anderen dürfe »ins Handwerk gepfuscht« werden – sprich: der Mensch habe den Status quo zu respektieren. Wer genmanipulierte Tomaten und transgene Mäuse kreiere, vielleicht sogar geklonte Schafe oder – Gott und Göttin bewahre! – geklonte Menschentiere, setze sich über die Regeln der Natur frevelhaft hinweg. enn wir es auch nicht gerne hören wollen: Das faschistische Gedankengut rassischer Reinheit nährt sich aus denselben Mißverständnissen wie die fundamentalistisch-ökologische Forderung nach einem Berufsverbot für Biotechnologen. Natürlich: Es ist nicht ausgeschlossen und vielleicht sogar wahrscheinlich, daß Genköche neben zweifellos Wünschenswertem auch Schaden anrichten können und werden. Ein generelles Experimentierverbot allerdings läßt sich aus den Erkenntnissen der Evolutionsbiologie garantiert nicht ableiten. Denn in den Laboratorien sowohl des Herrgotts wie der Mutter Natur ging es schon immer zu nach dem Motto »Was geht, das geht«. Kein Organismus hat je auf vorgebene Ordnungen Rücksicht genommen. Denn eine solche Ordnung hat es nie gegeben. T Weder Gott noch Natur dürfe »ins Handwerk gepfuscht« werden. W 16 GENETISCHE NÄHERUNGEN – Die grundsätzliche Kritik am Begriff der Art trifft in ihrer Substanz auch zu auf die Subspezies oder Rasse. unächst zerbröselte das Dogma der Typologie, wonach Rassen »ewig« seien – weil sich prominente »unwandelbare« Merkmale als umweltabhängig erwiesen. Beispielsweise züchtete Sauerstoffarmut in Hochgebirgen bei Bergvölkern in Asien und Amerika parallel größere Lungenkapazitäten heran, und es bildeten Völker in Äquatornähe unabhängig voneinander starke Tönungen der Haut aus – zunächst in Afrika, der Wiege der Menschheit, dann aber auch in Asien und Amerika. Geographisch korreliert die Pigmentierung der Haut mit der Stärke ultravioletter Strahlung. Die nimmt beispielsweise von Mitteleuropa nach Zentralafrika hin entsprechend zu, und im gleichen Maße wird die Haut der Menschen dunkler. Die Varianz ist ganz offenbar das Resultat eines Auslesevorganges – weil das die Haut verdunkelnde Melanin-Pigment vor Hautkrebs schützt. Wie richtig diese Theorie ist, erfahren hellhäutige Texaner oder Australier, die eben nicht zur Urbevölkerung dieser Landstriche gehören. Denn wenn sie sich nicht konsequent vor der Sonne schützen, haben sie ein vielfach höheres Risiko, an Hautkrebs zu erkranken, als die ursprünglich »Einheimischen«. Ähnliches trifft für die Augenfarbe zu, die in Äquatornähe dunkler ist – denn mit dunkler Iris sieht es sich besser unter gleißender Sonne. Die Vorfahren heutiger Bleichgesichter hingegen siedelten sich dort an, wo Winternächte lange währten. Helle Haut erlaubt dem Körper, das lebenswichtige Vitamin D auch bei wenig Sonne herzustellen. Rasse-Systematiker vergötzen Farben und Formen, weil sie im wahrsten Wortsinn ins Auge fallen. Ulrich Kattmann bringt dies so auf den Punkt: »Daß Oberflächenmerkmale von Menschen verschiedener geographischer Herkunft als wesentliche Unterschiede wahrgenommen werden, beruht auf sozialpsychologisch bestimmten Urteilen und nicht auf genetischer Differenz.« Wenn wir nicht auf die Oberfläche blicken würden, sondern gleichsam auf »innere Werte« – also physiologische oder genetische Marker – könnten wir die Menschheit gänzlich anders einteilen. Ein gutes Beispiel sind Blutgruppen-Merkmale. Denn die Verteilung der sogenannten Allele A, B und 0 nimmt absolut keine Rücksicht auf die grobe Dreiteilung »Europide – Negride – Mongolide«. Somit ist das Bonmot »Race is skindeep« tatsächlich berechtigt. Oder anders formuliert: »Rasse geht nicht unter die Haut«. Jedenfalls sind Merkmale, die der Selektion unterliegen, komplett ungeeignet, um genetische Verwandtschaft anzuzeigen – eben weil sie sich mehrfach unabhängig entwickeln können. Um Verwandtschaft zu rekonstruieren, konzentriert sich die moderne Molekulargenetik deshalb auf »selektions- Z Vergötzung von Farben und Formen 17 neutrale« Gen-Sequenzen, vorzugsweise aus jener DNA, die keine Eiweiße codiert – etwa die variable Kontrollregionen der Mitochrondrien, winziger Zellorganellen, die nur über die mütterliche Linie vererbt werden. Ganz kontra-intuitiv kam dabei etwa heraus, daß die behaarten, sich im Knöchelgang bewegenden Schimpansen nicht am nächsten verwandt sind mit den behaarten, sich ebenfalls im Knöchelgang bewegenden Gorillas, sondern mit den recht nackten, aufrecht gehenden Menschen. Die heutigen Menschen und die heute lebenden Schimpansen hatten demnach vor fünf bis sieben Millionen Jahren noch einen gemeinsamen Vorfahren. och bedeutender für unser Selbstverständnis dürfte sein, daß sich die vier »Unterarten« der Schimpansen trotz frappierender äußerer Ähnlichkeit genetisch sehr unterscheiden. Für Menschen hingegen gilt umgekehrt: Der äußere Eindruck mag Vielfalt suggerieren, doch ist unsere genetische Varianz extrem gering. Denn im Grunde sind wir alle Afrikaner – weshalb ich meinen Fragebogen durchaus wahrheitsgemäß beantwortet habe. Dies hat mit der Auswanderung des Homo sapiens aus Afrika zu tun. DNA-Analysen stützen weitgehend das sogenannte »Out-of-Africa« Modell, wonach der anatomisch moderne Mensch vor etwa 200 000 Jahren in Ostafrika enstanden ist. Erst vor etwa 100 000 Jahren schwärmten dann erste Weltenbummler aus Afrika aus. Obwohl die genauen Zahlen mit jedem Fossilfund revidiert werden, gilt als Faustregel, daß Europa vor etwa 40 000 Jahren besiedelt wurde, Australien vor vielleicht 50 000 bis 60 000 Jahren, die Gegend des heutigen China vor etwa 70 000 Jahren, Nordamerika vor etwa 20 000 bis 30 000 Jahren und Südamerika vor vielleicht 13 000 Jahren. Diese historische Abfolge erklärt, warum – wiederum entgegen dem Augenschein – »Schwarz«-Afrika die genetisch diversesten Bevölkerungen beheimatet: Jüngere Gründerpopulationen – die ja aus weniger Individuen bestehen als ältere Bevölkerungen – brachten weniger genetische Varianten mit in ihre neuen Heimaten und hatten zudem weniger Zeit, sich durch Mutationen zu verändern. Für die in Afrika »verbliebenen« Bevölkerungen gilt umgekehrt, daß sie einen älteren GenPool repräsentieren. Deshalb unterscheiden sie sich genetisch wesentlich stärker, als Individuen junger Populationen – eine Logik, die für Schimpansen in verstärkter Form gilt. anz ähnlich ist das Erbgut durchschnittlich um so übereinstimmenderer, je kleiner der geographische Abstand – vollkommen egal, wie jemand ausschaut. So ist die genetische Distanz der dunklen australischen Aborigines zu Thailändern geringer als der Abstand der Aborigines zu den ebenfalls sehr dunkelhäutigen Bantu. Umgekehrt gilt, daß ein Vergleich zwischen Nord- und Südasiaten, also etwa von Japanern und N Im Grunde sind wir alle Afrikaner. G 18 Mongolen mit Südchinesen oder Thailändern, eine starke Ähnlichkeit suggeriert. Gleichwohl sind die Nordasiaten genetisch näher verwandt mit der europäischen Urbevölkerung. Der erste Eindruck mag also in mancherlei Hinsicht trügen – wie schon das Beispiel des Zuckers lehrt, der aussieht wie Salz, aber mehr gemein hat mit Sirup. Wenn sich aber bestimmte Gene in manchen Bevölkerungen häufen: Was sollte uns dann hindern, neue Rassen einzuteilen? um ersten besteht das Problem, daß immer willkürlich ist, wieviel Prozent Differenz genügen sollen. Wer wollte etwa den Appenzellern das Recht auf eigenen Rassestatus verweigern – gelten die Bewohner dieser Schweizer Halb-Kantone doch nicht nur als kleinwüchsig, sondern verfügen zudem über eigene Käse-, Likör- und Hundesorten? Und sicherlich ließe sich auch der eine oder andere genetische Marker auftreiben, der die ziemliche Holzköpfigkeit in meiner nordhessischen Heimat erklären könnte. Daß immer wieder Völker oder solche, die sich dafür halten, ihre Unabhängigkeit ausrufen – ob es sich um Basken, Tschetschenen, Sikh, Kashmiris oder Yoruba handelt – zeugt davon, daß es nie Einigung geben wird, ob das Glas an Gemeinsamkeiten mit den lieben Nachbarn halb voll ist – oder halb leer. Entsprechend gibt es auch keine Einigung unter Biologen, welche Unterschiede zur Anerkennung einer Unterart genügen sollen. Als »Kompromiß« wurde die »75 Prozent-Regel« versucht – die verlangt, daß Dreiviertel der Mitglieder einer Population von denen anderer unterscheidbar sein müssen. Nur: Was gilt als Unterschied? Was wir mit bloßem Auge unterscheiden können? Oder was uns die Genetik liefert an Information? Wären dann die lediglich 0,4 Prozent Unterschied zwischen Schimpansen und Menschen nicht Grund genug, den Schimpansen als Homo troglodytes zu bezeichnen – oder Menschen als Pan sapiens, da sich eine Trennung auf Gattungsebene damit überhaupt nicht mehr rechtfertigen läßt? Und sollten umgekehrt aufgrund ihrer durchschnittlich beträchtlichen genetischen Unterschiede nicht Männer und Frauen wenigstens als Subspezies bezeichnet werden – als Homo sapiens marsiensis und Homo sapiens venusiensis? Zum zweiten überlappen die Erbgutprofile verschiedener Bevölkerungen ganz enorm, während gleichzeitig sehr verschiedenartige Menschen zum selben Volk zählen können. Deshalb gab sich auch das Arier-Ideal nur allzu leicht dem Gespött preis: »blond und blauäugig wie Hitler …« etzterer Befund wird gewöhnlich so umschrieben, daß statistische Unterschiede zwischen zwei Völkern viel kleiner sind als die zwischen den Menschen innerhalb eines Volkes. Der Journalist Stefan Klein drückt das so aus: »Mit dem Erbgut des Homo sapiens verhält es sich ungefähr so wie mit Blumen auf zwei benachbarten Wiesen: Auf der einen mag durchaus Z Wer wollte etwa den Appenzellern das Recht auf eigenen Rassestatus verweigern? L 19 Gruppierung von schwarzhäutigen Äthiopiern mit käsegesichtigen Norwegern etwas mehr Löwenzahn stehen als auf der anderen – ein solcher Unterschied läßt sich durch Zählen erfassen. Trotzdem ähnelt eine Löwenzahnblüte einer Artgenossin auf der anderen Wiese ungleich mehr als der Dotterblume, die gleich neben ihr steht. Unter den Zürchern mögen bestimmte Gene häufiger auftreten als unter Buschmännern – die Erbfaktoren für eine Blutgruppe zum Beispiel. Aber weil in beiden Völkern die Gene so bunt durchgemischt sind wie die Gewächse auf einer Wiese, findet sich für jeden Zürcher ein Aborigine, der ihm genetisch näher steht als sein Zürcher Nachbar.« Mithin erlauben genetische Marker zwar, die geographische Herkunft grob zu bestimmen. Die sagen über das sonstige Erbgut einer Einzelperson aber nichts aus – beispielsweise ob jemand ein Gen trägt, das Kinder erblich schädigen könnte. Entsprechend formuliert die wohl gewichtigste Autorität auf dem Gebiet der Erforschung der biologischen Vielfalt unter Menschen, der an der Stanford-Universität in Kalifornien lehrende Luca Cavalli-Sforza: »Sehr selten kommt es vor, was wir in bezug auf die Hautfarbe zu sehen gewohnt sind, nämlich daß alle Individuen der Rasse A eindeutig dunkel und alle der Rasse B hell sind.« Gen-Archäologen können mithin nur Wahrscheinlichkeiten angeben: etwa, daß fast kein Chinese, aber acht Prozent aller Schweden an einer erblichen Eisenspeicherkrankheit leiden werden. Wer derlei Zahlen in Rassen umrechnen möchte, wird sich auf ewig den Kopf zerbrechen. Und nie sicher sein vor Überraschungen. So stellte David Goldstein – Genetiker und ebenfalls am University College London tätig – kürzlich fest, daß hinsichtlich Nebenwirkungen von Arzneimitteln schwarzhäutige Äthiopier nicht mit Bewohnern der Subsahara, sondern mit käsegesichtigen Norwegern gruppiert werden müssen. assen wir abschließend nochmals Luca Cavalli-Sforza zu Wort kommen: »Tatsächlich ist bei der Gattung Mensch eine Anwendung des Begriffs ›Rasse‹ völlig unsinnig. Die Struktur der menschlichen Populationen ist äußerst komplex und variiert von Region zu Region und von Volk zu Volk; dank der ständigen Migrationen innerhalb der Grenzen aller Nationen und darüber hinaus gibt es immer Nuancen, die klare Trennungen unmöglich machen.« L VORUR TEILE SIND NÜTZLICH – Das Konzept biologischer 20 Rassen läßt sich mithin nur um den Preis wissenschaftlicher Demenz reanimieren. Gleichwohl werden »Rassen« stetig neu erfunden – selbst wenn es sich um Sprachgruppen handelt, wie die zunehmend zahlreichen »Hispanier« in den südlichen USA. Auch daß Rasse Klasse ist, finden keineswegs nur ewig gestrige Rassisten. Ganz im Gegenteil: Wer meint, zu einer Minderheit zu gehören, dem wird über »positive Diskriminierung« oft mehr als nur ein Quo- ten-Stückchen vom sozialen Kuchen zugeschoben – wie an der Universität Michigan, wo es bei der Bewerbung Pluspunkte für seltene Hautfarbe gibt. Und wer wie ich als Angestellter der Universität London angehalten ist, sich die »Race Equality Policy« zu eigen zu machen, die »Rassengleichheitsvorschrift« (www.ucl.ac.uk/hr/docs/race_equality.php), muß zu seinem Erstaunen lernen, daß »Farbenblindheit« – einstmals das Nonplusultra nichtrassistischer Geisteshaltung – plötzlich eine Sünde ist. Denn wer alle gleich behandelt, sei auch blind gegenüber den unterschiedlichen Bedürfnissen von Minoritäten. Fazit: Unter umgekehrten Vorzeichen erfindet politische Korrektheit den Rassismus neu. ancherlei Verblüffendes dürfte hier noch ins Haus stehen, da wir ja alle und beinahe überall eine Minderheit sind – zumindest, wenn wir lange genug darüber nachdenken. So ist es nur logisch, daß zunehmend auch »weiße« Studenten an US-amerikanischen Universitäten einen Minoritätsstatus einzuklagen versuchen. Und ich sollte meine Universität ebenfalls vor den Kadi zerren, weil mein Bedürfnis, nur nach dem deutschen Reinheitsgebot gebrautes Bier trinken zu wollen, im Gemeinschaftsraum der Lehrenden sträflich ignoriert wird. Ergo: Rassen gibt’s nicht. Nur Rassismus. Warum aber drängt es uns überhaupt, Eigenes von Fremdem unterscheiden zu wollen? Die evolutionäre Psychologie meint, diese Neigung – wie unsympathisch, wie bedauerlich sie sich entladen mag – sei tief in uns verwurzelt. Denn beim Güterstreit mit Nachbargruppen, der die Menscheitsgeschichte durchzieht, sei humanitäre Toleranz weniger nützlich gewesen, als derbe Faustregeln über »Wir« und »Sie«. Ethnozentrischer Nahkampf ließ eben keine Feinheiten zu. Dies ist die uralte Grammatik der Xenophobie, der Fremdenfurcht. Sie erklärt, warum wir die Welt so gerne in Schwarz und Weiß einteilen, warum uns ziemlich automatisch unwohl wird bei der Begegnung mit Andersartigen. Somit ist einem Kernsatz von Hans Seidler unbedingt beizupflichten: »Was uns eint, sind die Gene – was uns trennt, sind die Vorurteile.« tets neu darüber nachzudenken, wer vielleicht zur eigenen Gruppe gehört, war allerdings in unserer Urzeit ein ebenso gefährlicher Luxus, wie das Reflektieren darüber, ob ein Säbelzahntiger sich vielleicht doch als Streicheltier eignet. Insofern können – oder zumindest: konnten – wir ohne Vor-Urteile gar nicht auskommen, weil durch sie unser Leben erst ökonomisch vor-strukturiert wird. Vor-Urteile sind somit Faustregeln, die in der Regel nützlich sind – aber eben nur »in der Regel«. Ändern sich die Regeln, kann einstmals Nützliches zur Belastung werden. So war es in der Umwelt von Jägern und Sammlern, die 99,9 Prozent der Menschheitsgeschichte charakterisiert, sicherlich vorteilhaft, soviel Süßes wie möglich in sich hineinzustopfen. Denn wann es wieder reife Früchte geben M Rassen gibt es nicht – nur Rassismus. S 21 würde, war ziemlich ungewiß. Heute jedoch, wo jeder Supermarkt Schokoriegel und Brausegetränke im Überfluß feilhält, beschert uns diese Neigung Dickleibigkeit. enngleich unser evolutionär gewordener Weltbildapparat bestimmte Hirnverschaltungen vorprogrammiert und uns dadurch in gewisser Weise »konservativ« macht, bedeutet das hingegen nicht, daß wir diesen Reflexen bedingungslos ausgeliefert sind. Wenn sich durch Training sogar die Naschsucht unter Kontrolle bringen läßt, dürften wir ebenfalls in der Lage sein, unsere Fremdenfurcht zu zügeln. Beispielsweise in dem Maße, wie wir mit anders aussehenden Menschen gute Erfahrungen machen, zumindest keine schlechten. Ich bin auf einem kleinen Dorf am Rande eines tiefen Waldes aufgewachsen, in dem meine Ahnen seit mindestens 1781 zuhause sind. Dementsprechend bin ich mit der Hälfte aller Einwohner verschwippt und verschwiegert, und die andere Hälfte hatte garantiert die gleiche bleiche Hautfarbe. Meine Gene bereiteten mich bestimmt nicht vor für meine spätere Lehrtätigkeit in London, wo ich tagtäglich unterschiedlichst aussehenden Menschen verwirrendster Sprachen und Gepflogenheiten begegne. Wenn ich zu Semesterbeginn eine Liste der eingeschriebenen Studenten in der Hand halte, weiß ich von der Hälfte der Namen nicht, wie ich sie aussprechen soll. Das erzieht ungemein, bereichert mein Leben immens, und ich würde dieses bunte und kreative Durcheinander auf keinen Fall mehr missen wollen. Sogar US-Amerikaner scheinen lernfähig zu sein. Jedenfalls gaben 73 Prozent aller Amerikaner in einer neuesten GallupStudie an, daß sie »interracial marriages« (»gemischtrassige Ehen«) für o.k. halten. Im Jahre 1958 waren es gerade mal vier Prozent. orurteile haben nicht nur eine psychologische Vorgeschichte, sondern auch eine philosophische. Befürworter und Kritiker des Rassenkonzeptes setzen nämlich einen Zwist fort, der schon unter den Philosophen des Mittelalters entbrannt war: den zwischen Realisten und Nominalisten. Erstere behaupten, in Nachfolge der Lehre Platons von den unwandelbaren Ideen, daß Ählichem ein gemeinsames Wesen zugrunde liegt, eine Essenz. So können, etwas überspitzt, Whisky-, Weinund Zahnputzgläser als Variationen der vollkommenen Urform eines Bechers verstanden werden, der »Becherheit« – oder Broschüren, Taschenbücher und dicke Wälzer als Variationen der idealen »Buchheit«. Dementsprechend weichen Ponys und Kaltblüter mehr oder weniger vom idealen Pferdetypus ab – genauso wie Malaien, Indianer, Neger oder andere Barbaren den idealen Menschentypus nicht erreichen. Die Realisten – so kontra-intuitiv sich dies auch anhört – sind wegen ihrer Berufung auf die unwandelbaren Ideen im Grunde ihres Denkens Idealisten. Realisten heißen sie, weil ihr W Buntes und kreatives Durcheinander V 22 Mantra die Reifikation ist – das Postulat, daß Kategorien »wirklich« existieren. Traditionelle Gegenspieler der Realisten/Idealisten/Essentialisten sind die Nominalisten. Sie lehnen die Vorstellung ab, ähnliche Dinge hätten ein gleiches Wesen, eine gleiche »Essenz« und behaupten, ähnliche Dinge hätten nichts anderes gemein, als ein »Nomen«, einen Namen. In Wirklichkeit käme speziell auch Arten oder Rassen in der Natur keine tatsächliche Existenz zu, sondern sie seien pragmatische Konzepte des menschlichen Geistes, damit wir auf eine große Zahl von Einzelorganismen Bezug nehmen können. en Nominalisten ist schwer zu widersprechen. Denn wer will schon entscheiden, ab welchem Punkt ein Becher zur Tasse wird und schließlich zur Schale? Oder ob eine flachrückig gebundene Zeitschrift eher eine Zeitung ist oder ein Buch? Entsprechend gilt im Diskurs der Rassenproblematik: Ab wann genau soll schwarze Haut als dunkelbraun gelten, und braune als weiß? Wir könnten wohl sogar so weit gehen, und die philosophische Neigung zum Idealismus selbst als Auswuchs der evolutionären Neigung zur Vor-Urteilsbildung ansehen. Linné schwankte zwischen Nominalismus und Essentialismus. Er hielt nur Arten für real existierende Einheiten, und sah höhere Taxa jenseits der Gattung als künstlich an, weil ihre Festlegung nach willkürlichen Regeln erfolgen müßte. Daß er seine Genera über Zahlenmystik definierte, würden ihm nominalistische Kritiker wohl kaum durchgehen lassen. Blumenbach war bekennender Essentialist, kam doch der anmutige Kaukasierinnen-Schädel, an dem er Gefallen fand, seinem Schönheits-Ideal am nächsten – ähnlich wie für Comte de Gobineau Norddeutsche und Engländer seinen Typus des »Ariers« (schön, edel, vital, kräftig) am perfektesten verkörperten. Realistisch-essentialistisches Gedankengut vertrat im 19. Jahrhundert auch relativ dezidiert der schottische Geologe Charles Lyell, den Darwin genau studierte. Nach Lyells Auffassung bestehen Spezies aus ähnlichen Individuen, die allesamt dieselbe Essenz teilen; Arten sind streng voneinander getrennt, und alle sind in der Zeit konstant. Und auch wenn Mayr es vehement bestreitet: Er wird von James Mallet aufgrund seines Bio-Spezies »Konzeptes« als zumindest verkappter Essentialist eingestuft. leibt mal wieder die lapidare Feststellung »Darwin hat recht gesehen« – hing er doch keiner starren Definition von Spezies oder Subspezies an und war somit eher Nominalist. Daß »Rassen« nicht »wirklich« existieren können, sollte im Lichte der Evolutionstheorie eigentlich unmittelbar einleuchten. Denn wenn wir die vielen Zweige am Stammbaum der Menschheit im Querschnitt betrachten, können wir zwar mehr oder weniger typische Cluster von Genen ausmachen. Im Längsschnitt aber löst sich deren Identität zwangsläufig auf – ist doch die biologische Perspektive nicht eine von Konstanz, sondern von stetigem Wandel. So wird stets »Zahlenmystik« D Für Blumbach kam ein KaukasierinnenSchädel dem Schönheits-Ideal am nächsten. B 23 nötig sein, um eine Einteilungen in »Typen« zu rechtfertigen – wobei je nach Jahrhundert gottgegebene Kennzeichen gezählt werden, Skelettmerkmale, Intelligenztests oder Gensequenzen. Wer etwas sprachlos wird eingedenk solcher De-Konstruktion, kann sich durchaus jener Schlagworte befleißigen, die in multi-kultureller werdenden Gesellschaften gerade Karriere machen und der »human race« langsam den Rang ablaufen. »Unity in diversity« lautet eines der Angebote, »Einheit in der Vielfalt«. Und wer’s ein bißchen religiöser mag, dem sei »Celebrate diversity« angedient: »Feiert die Vielfalt«. ■ LITERATUR ZUM WEITERLESEN (* = Lehrbücher und Übersichtsartikel; ** Beiträge des Autors, die für diesen Essay überarbeitet und erweitert wurden) 24 Angeloni, Elvio (2003). Physical Anthropology 03/04. A Reader. 12. Aufl. Boston etc.: McGraw-Hill. *Boyd, Robert & Joan Silk (2003). How Humans Evolved. 3. Aufl. New York: W. W. Norton. Cavalli-Sforza, Luca & Francesco CavalliSforza (1994). 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