Landleben in Eime
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Landleben in Eime
Leben in Eime Das dörfliche Sozialgefüge von 1850 bis 1950 Von Heiner Mensing In den Jahren 2007 bis 2011 hat Heiner Mensing mit zahlreichen Bewohnern des Ortes Eime Gespräche führen dürfen, die ihm das Gefühl gaben, dass sich mit dem Abschluss der 1950er Jahre im Dorf neue Sozialstrukturen entwickelten. Der Individualisierungsprozess begann seinen Siegeszug. Die Realität des dörflichen Alltags zwischen 1850 und 1950 hatte wenig mit der in Kinderliedern kolportierten Vorstellung vom ländlichen Arbeitsidyll gemeinsam. Ohne die Gesprächsbereitschaft zahlreicher Zeitzeugen und der Ansicht von umfangreichen Fotos aus der Vergangenheit hätte diese Arbeit nicht erfolgen können. Entstanden ist so ein umfangreicher Aufsatz über die dörfliche Lebenswelt des Flecken Eime vor dem Hintergrund der wechselnden Zeitläufe der Jahre 1850 bis 1950. Wir drucken hier neben der Einleitung auch Teile des Kapitels „Von der Tradition zum Ritual“ in Auswahl ab. Heiner Mensing, Jahrgang 1956, geboren und aufgewachsen in Eime, wohnhaft in Burgstemmen. Studium an den Universitäten Göttingen und Kiel, Dipl.-Ing. und Dipl.-Ing. agr. Bis in die Gegenwart im Dorfleben Eime integriert. Gemeinsam mit dem Nachbarn verbrachte man im Jahr 1926 den sonntäglichen Nachmittag auf der Bank vor dem Haus ➤ Die Ortschaft Eime hat in den letzten 150 Jahren Daseinsformen durchlaufen, die aufgrund ihrer Einschnitte in den Dorfalltag einem Quantensprung gleichkommend jetzt gewaltige Veränderungen bewirkten. Mit Vollzug der Agrarreformen im Jahr 1860 setzte im Dorf eine stille Revolution der Veränderung ein. Die vormalige vermeindliche Dorf-Idylle ist im Bewusstsein der Bewohner zwischenzeitlich zerstört, das Leben wird in der Gegenwart städtisch bestimmt als von den alten Traditionen und Kulturformen. Am Anfang des 21. Jahrhunderts ist es kaum vorstellbar, dass die Landwirtschaft vor ca. 160 Jahren im Dorf etwas über 90 Prozent der Erwerbstätigen stellte. Die landwirtschaftlichen Flächen in der Feldmark Eime wurden mit Pferden und Kühen anstatt mit Pferdestärken bewirtschaftet. Was ist eigentlich ein Dorf? Wie kam es zu dieser Revolution? Was stellt das Dorf auf den Kopf? Nahezu jeder Einwohner des Ortes hat seine eigenen Vorstellungen vom Begriff Dorf. Es fallen Erklärungen wie: „Das Dorf ist mein Wohnort“; „Das Dorf besteht aus Landwirt- schaft“; Im Dorf besteht eine enge Beziehung zwischen Siedlung und Landschaft“; „Es bestehen enge soziale verkrustete Beziehungen“; „Das Dorf ist Heimat“. Zunächst ist schon einmal zu beachten, dass Dorf und Bauer historisch untrennbar miteinander verbunden sind. Blättere ich im Brockhaus unter Dorf, so stoße ich auf die Erklärung: „Ländliche Siedlung hauptsächlich aus Bauernhöfen“. Dieses Dorf – der Flecken Eime – ist nicht mehr vorhanden, es gehört der Vergangenheit an. Zwischen 1850 bis 1900 ist die Ortschaft Eime vollständig durch Landwirtschaft geprägt. Das ansässige dörfliche Handwerk war in seiner Wirtschaftskraft fast gänzlich von den Bauern abhängig, die Schmiede, der Wagner, die Stellmacher – sie sorgten für das landwirtschaftliche Arbeitsgerät, für die Zugtiere. Die Tischler, Färber, Schuster und Schneider belieferten die Bauern mit Gegenständen des alltäglichen Bedarfs. Ohne Bauern war ein dörfliches Wirtschaftsleben undenkbar. Entsprechend war das Ansehen der Bauern im Dorf und ihr Einfluss. Wer Boden besaß, der galt was, wer viel Boden und Tier besaß, der galt noch mehr. Die Bauern hatten dann auch politisches Mitspracherecht. Der Bürgermeister war in der Regel ein Bauer, der Gemeinderat bestand meist aus Bauern, der Kirchenvorstand wurde von Bauern geleitet. Nicht nur das wirtschaftliche und politische Leben, auch das kulturelle Leben waren bäuerlich geprägt. Das dörfliche Sozialgefüge entsprach noch weitgehend traditionellen Mustern. Eime entwickelte sich seit 1854 von einem geschlossenen Agrar- und AgrarhandwerkerDorf zu einem halbgeschlossenen Agrardorf (Arbeitspendler) und seit 1896, mit dem Aufbau der Kolonie Schacht, zu einem industrialisierten Arbeiter- und Bauerndorf. Der lange Abschied vom Agrardorf begann spätestens mit der Abteufung des Kalis durch die Bohrgesellschaft Eime-Neu Hohenzollern am 19. Juni 1900. Bereits 1902, nach dem Bau des Schachtes I „Kaiser Wilhelm der Große“, wurde das erste Steinsalz verkauft. Die Bohrgesellschaft hat sich zwischenzeitlich zur Gewerkschaft „Fürst Heinrich zu Gera“ in die Gewerkschaft Frisch-Glück umgewandelt. Parallel mit dem Schachtausbau wurden die obererdigen Tagesanlagen im Jahr 1904 fertiggestellt. Ohne ein familiäres Produktionssystem, ohne generationsübergreifende Denkhaltungen, ohne feste jahres- und tageszeitliche Arbeitsrhythmen und ohne nachbarschaftliche Systeme war das dörfliche Überleben praktisch bis in die Jahre 1950 –1960 schwerlich möglich. Die landwirtschaftliche Lebensader des Dorfes erzeugte eine allen Schichten übergreifende Geistes- und Lebenshaltung, welches die Herausbildung eines gemeinsamen dörflichen „Wir“ entscheidend begünstigte. An den Bewohnern der Nachbarorte haftete immer der Makel des Fremden; sie waren nicht selten eine beliebte Zielscheibe berüchtigter dörflicher Spottlust. Man zog mit Neckversen über das Nachbardorf her. Dieses kommt in der Strophe des Liedes von Wilhelm Köllner gut zum Ausdruck: In Eime wird ein Haus gebaut, das ist die Molkerei. Da guckt die schöne Anna raus und sing ein Lied dabei, Vivat, o Eime, wie schwingst du dich empor, und ganz Esbeck ärgert sich und kratzt sich hinterm Ohr. Die Abfolge der dörflichen Festtage war über das ganze Jahr verteilt. Vom Ausbringen der Saat, der Reife der Ernte, den Winterarbeiten waren sie von der Landwirtschaft bestimmt. Daraus entstand ein eigenständiges kulturelles Dorfleben aus der Gemeinschaft von Sitte und Brauchtum. Traditionen wurden gepflegt und man war stolz auf sie: das Singen von gemeinsamem Liedgut im dörflichen Gesangverein seit 1851, das Weitergeben von besonderen Bauernweisheiten und Bauernregeln, das Erlernen von Tänzen, die Ausgestaltung von Festen, bei Ernte, Hochzeiten, Weihnachten, Ostern und so weiter. Letztendlich war das gesamte Dorf durch Lebenselemente verbunden. Daraus ergab sich dann auch eine dörfliche Abgeschlossenheit nach außen, eine bestimmte dörfliche Identität, ein „Wir-Gefühl“ aus der dörflichen Gemeinschaft heraus. Man war zum Beispiel ein „Eimer Bauer“, und die Eimer hielten gegenüber anderen Dörfern zusammen. Das Heiratsverhalten war davon wesentlich gekennzeichnet. Die Abgeschlossenheit des Dorflebens brachte es mit sich, dass in aller Regel innerhalb des Dorfes oder in die Nachbargemeinde geheiratet wurde. Wi trampen unse Höehner sülmst, so die Sprache der Dorfjugend. Das Miteinander bei der alltäglichen Lebensgestaltung und bei gravierenden Lebensherausforderungen bewirkte ein Zusammenschweißen über die unmittelbare Nachbarschaft hinaus, auch mit den anderen Dorfbewohnern. Die Nachbarschaft war ein wichtiger Faktor in der dörflichen Gemeinschaftsstruktur. Diese zeichnete sich dadurch aus, dass das ohnehin enge dörfliche Verhältnis durch die dichte Angrenzung der Häuser sich vertiefte. Mit seinen Nachbarn pflegte man in der Regel eine über dem Normalmaß hinausgehende Beziehung. Selbst wenn das persönliche Verhältnis zwischen zwei Nachbarn ausgesprochen kühl war, bedeutete es in der Regel eine blanke Selbstverständlichkeit, auch den wenig geliebten Nachbarn in Notfällen zur Seite zu stehen. Besonders ausgeprägt waren diese Nachbarschaftsverhältnisse dort, wo sich die Dorfbewohner aus sozial weitgehend Gleichgestellten rekrutierten. Die arbeitsfreie Zeit verbrachte man häufig bei den Nachbarn. Es wäre einem schroffen Affront gleichgekommen, erklärte Hans Schmull, wenn man den Nachbarn unter Verweis auf die knapp bemessene Leben in Eime eigene Zeit die Tür gewiesen hätte. Die Nachbarn waren wichtige Nachrichtenübermittler und Kundschafter; sie sorgten dafür, dass der an allen interessierten Dorföffentlichkeit der Gesprächsstoff nicht ausging. Natürlich war die „Enge“, die ständige Überschaubarkeit im Dorf, nicht nur angenehm: Man war einer permanenten Kontrolle ausgesetzt. Man verhielt sich so, wie es das Dorf von einem erwartete. „Selbstfindung oder Selbstverwirklichung“ – wie es in der Gegenwart heißt – fand da natürlich keinen Freiraum. Nachbarn konnten sehr lästig werden, wenn sie zu neugierig waren und ständig versuchten einem in die Kochtöpfe zu gucken. Die Arbeit zum Überleben und der Besitzerhaltung standen im Mittelpunkt jedes Familienverbandes. Die Erhaltung und Vermehrungen des Eigentums galten mehr als ein Leben. Die meisten Dorfbewohner waren abhängig von der Landbewirtschaftung und hatten ein Interesse an ihrem Wachstum. Wer viel Land hatte, dessen Einfluss war entsprechend hoch. Damit war eine gewisse Hierarchie im Dorf vorgegeben. Aber auch die Bauern waren angewiesen auf die Anderen, jede Hand wurde gebraucht. Insofern war ein guter Zusammenhalt notwendig. So musste man sich anpassen und sich einfügen in den vorgegebenen Rahmen. Tugenden wie Rücksichtnahme und Hilfsbereitschaft waren gefragt. Konflikten ging man lieber aus dem Wege. Ein Ausscheren aus dieser strengen Ordnung war kaum möglich. Wenn ein Bewohner des Ortes leichtfertigen Umgang mit seinem Besitz pflegte, wenn er der Arbeit aus dem Weg ging, dann verstieß er gegen den dörflichen Verhaltenskodex. Der hieß: Fleiß, Zuverlässigkeit und Ordnung, Sparsamkeit und Vorsorge. Setzte sich jemand über das Arbeitsgebot in geradezu aufreizender Weise hinweg, dann begab er sich in das soziale Abseits, ja verfiel im schlimmsten Fall sogar der gemeinschaftlichen Ächtung. Nur ja nicht unliebsam auffallen – wer die Maxime beherzigte, der konnte sein Leben unbehelligt in Eime verbringen. Von der Tradition zum Ritual1 Unter dem Einfluss der evangelischen Religion bildeten sich zu verschiedenen Zeitpunkten im dörflichen Leben einzelne Gebräuche heraus. Leben in Eime Diese verfestigten sich im Laufe von Jahrhunderten in ihrer Form, wurden durch Tradition zum Ritual. Für das Lebensgefühl der Bindung hatten kirchliche Feste und Rituale ihre besondere Bedeutung. Die Kirche wurde den Ortsbewohnern schon rein lebensgeschichtlich zu einem heimatlichen Ort: Hier wurde man getauft, konfirmiert, getraut, vielleicht sogar zur „Goldenen Hochzeit“ gesegnet. Für den überwiegende Teil der Dorfbevölkerung begann und endete die Biographie im Dorf. Kirche, Schule und Kindheit Wenn ein evangelischer Einwohner aus Eime von seiner Kirche sprach, so meinte er in der Regel seine örtliche Kirchengemeinde. Für das evangelisch-lutherische Kirchenverständnis ist die gottesdienstliche Gemeinde, die sich jeden Sonntagmorgen um Wort und Sakrament trifft, „die ganze Kirche“. Hier findet der evangelische Christ alles, was seines Seelenheils bedarf. Der katholische Mitbürger dagegen meint mit seiner Kirche seine Institution und denkt dabei an das Bistum Hildesheim, und schließt auch Rom mit ein. Nach der Reformation wuchs die Bedeutung der Predigt. Vom Wirken Gottes sollen die Gläubigen durch das gesprochene und geschriebene Wort erfahren. So wurde beim Neubau der Kirche ein Kanzelaltar installiert. Die Kanzel ist über dem Altar an der inneren Stirnwand der Kirche angebracht. Sie symbolisiert seitdem die Gleichwertigkeit des Wortes mit den beiden Sakramenten, Abendmahl und Taufe. Der Altar nimmt in der Kirche eine zentrale Stellung ein, da hier das heilige Abendmahl gefeiert wird und die Kommunikanten hier nach lutherischer Auffassung Christi wahren Leib und sein wahres Blut zur Vergebung der Sünden empfangen wird. Die zentrale Bedeutung des Altarsakramentes wird in Eime auch dadurch deutlich, dass sich um den Altar Kniekissen an den Stufen befinden. Im Knien bittet hier die Gemeinde noch einmal um das Erbarmen Christi, der sich am Kreuz geopfert hat. Auch das Taufbecken, das zweite Sakrament, befindet sich in Eime vor den Sitzbänken der Kirchengemeinde. Es ist hier nicht in ein Seitenschiff gedrängt oder unmittelbar am Eingang aufgestellt. Hier bekennen Eltern bzw. Taufpaten vor der Kirchengemeinde – entweder Seit dem Neubau der St.-Jakobi Kirche nimmt der Kanzelaltar bis in die Gegenwart die zentrale Stelle ein. Hier ein Bild aus dem Jahr 1910. ➤ als Stellvertreter des Täuflings oder im eigenen Namen – den Glauben an Jesus Christus und versprechen eine christliche Erziehung des Kindes. In protestantischen Kirchen sollen die als Kinder Getauften ihre Taufe in der Konfirmation selbst bestätigen, indem sie ein Bekenntnis zu Jesus Christus ablegen. Altar, Kanzel und Taufbecken symbolisieren in der Jacobus Kirche einen harmonischen Dreiklang, eingefügt in einen Kirchenraum, der in dieser Weise die Glaubens- und Kirchengeschichte des Dorfes Eime als urevangelisch dokumentiert. Im evangelischen Ort dominierte eine passive Frömmigkeit, welche den Pastor als Vermittler zwischen Gott und den Menschen betrachtete und damit der katholischen Auffassung nahekam. Die Hochzeit war dorföffentlich ebenso wie Taufe, Konfirmation und das Begräbnis. Das heißt, man ging zu Fuß zur Kirche oder zum Friedhof, unter den neugierigen Blicken aller. Die Kirchlichkeit begann sich erst nach dem 1. Weltkrieg aus der dörflichen Sitte zu lösen, das heißt die Nachfrage nach Taufe, Konfirmation, Trauung, Beerdigung, Besuch des Gottesdienstes und die Teilnahme am Abendmahl ließ nach. Ab 1912 kam es zu Kirchenaustritten vor allem von einigen Baptisten und Neuapostolischen. Bis in die 1930er Jahre fand das Tischgebet in einigen Familien statt auch das stille Gebet beim Abendläuten war nicht außergewöhnlich. Einige Mitglieder der Hitlerjugend ließen sich am Ende der 30er nicht mehr konfirmieren. Mit Einführung des automatischen Abzuges der Kirchensteuer von der Lohnsteuer erfolgte im Jahr 1948 eine zweite Welle von Kirchenaustritten. Unter der Voraussetzung, dass Religion und Kirche im Dorf etwas galten, erwuchs dem Pastor auf diese Weise eine Sonderstellung, mit der zugleich eine soziale Führungsposition verknüpft war. Als religiöse Leitfigur fiel dem Geistlichen die Aufgabe und Verpflichtung zu, auch in den öffentlichen Angelegenheiten Verantwortung zu übernehmen. Im Umgang mit dorffremden Mächten und Behörden, schätzte man insbesondere Pastor Georg Bauer als eine unverzichtbare Auskunftsperson, von der man Rat in allen Lebenslagen erhoffte. 32 Jahre versah Georg Bauer das Pastorenamt in Eime. Er gehörte in diesem langen Zeitraum zu den Dorfhonoratioren. Also eine Person mit ausübendem informellem Einfluss. Diesen Ruf erwarb er sich in erster Linie durch seine akademische Bildung. Mit seiner Besonderheit einer universitären Ausbildung umgab den Dorfpastor eine Aura allumfassender Kompetenz, die ihn für die Bewältigung auch nichtkirchlicher Probleme als qualifiziert erscheinen ließ. Seine Familienabende, gehalten in Sehlde und Eime, trugen die Mitglieder der Gemeinden in eine andere Welt. Ihnen wurden die großen geschichtlichen Zusammenhänge mit seinen Ergebnissen der dörflichen Geschichtsforschung näher gebracht. Für die Familien Gecius und Pape stellte er den Familenstammbaum mit Hilfe der vorhandenen Kirchenbücher bis ins 14. Jahrhundert zusammen. Die Familie Nagel führt ihren Stammbaum bis ins Jahr 1430 zurück. Von einer solchen dörflichen Respektsperson verlangte man, dass er sein Amt zwar in einer gewissen Volksverbundenheit, aber doch immer mit einer gewissen Würde versah. Auch der aus Schlesien stammende und als Flüchtling in Eime 1949 „ Fuß gefasste“ Pastor Adolf Hosemann vermittelte seiner Gemeinde in den Ortschaften Sehlde und Eime das Gefühl einer religiösen Leitfigur. Aber in öffentlichen Angelegenheiten des Dorfes hielt er sich zurück. Seine Seelsorgepraxis versuchte sich inhaltlich an der biblischen Lebensordnung zu orientieren. Also im weitesten Sinne mit Begleitung, Ermutigung und Tröstung. Dieses geschah im persönlichen Gespräch oder im Gebet. Er verstand auch zu feiern und war bei Familienereignissen seiner Gemeindemitglieder gern gesehen. Leben in Eime Geburt und Taufe Leben in Eime Die Kindererziehung lief nebenher. Kleinkinder konnten mit Mohn- und Most-Schnullern ruhig gestellt werden. Waren sie aus dem Säuglingsalter heraus, wurden sie überall hin mitgeschleppt. Im „Bollerwagen“ ging es mit aufs Feld oder die älteren Geschwister mussten beim Spiel auf der Straße auf die „ungeliebten Kleinen“ aufpassen. Ziel der Kinderziehung auf dem Lande war es, aus einem „Mitesser“ möglichst bald einen „Mithelfer“ zu machen. Das Kind lernte viel durch Nachahmung der Erwachsenen und älteren Kinder und durch das Mitmachen bei der häuslichen Arbeit. Wichtige Erziehungsziele, wie Respekt und Gehorsam, Genügsamkeit, Fleiß und Achtung vor der Arbeit, wurden autoritär vermittelt. Wenn Kinder die Autorität der Eltern angriffen, ihnen den Respekt verweigerten, ungehorsam und unordentlich waren, folgten strenge Strafen auf dem Fuße. Körperliche Züchtigungen lernten die Kinder zur Genüge kennen. Die Strenge der Eltern erstreckte sich auch auf die jungen Erwachsenen. Solange sie noch im gemeinsamen Haushalt lebten, hatten sie sich an die von den Eltern bestimmten Regeln zu halten. Auch die Lehrer forderten absoluten Gehorsam und Unterwürfigkeit der Kinder. „Stille sitzen, Ohren spitzen, Hände falten, Klappe halten“ war angesagt. Zu den strengen Strafen kam als Erfahrung für die Schüler hinzu, dass der Unterrichtstoff durch mechanisches Wiederholen beigebracht werden sollte: Lesen lernten die Kinder durch Auswendiglernen und Vorlesen unverständlicher Texte, Schreiben durch Abschreiben allgemeiner Lebensweisheiten und das Abmalen von Kinder mussten von früh auf mitarbeiten. Hier im „Deilmisser Feld“ beim Rübenziehen im Jahr 1920. Die Kleinkinder wurden während der Arbeitszeit in die Obhut von älteren Geschwistern gegeben. ➤ Am unmittelbarsten prägte die Familie das menschliche Miteinander. Das Zusammenleben brachte das Gefühl von Geborgenheit und Zusammengehörigkeit mit sich. Auch innerhalb der Verwandtschaft bestand ein enger Zusammenhalt. Die Familie war Wohngemeinschaft, denn Kinder, Eltern und auch Großeltern lebten zusammen unter einem Dach. So wurde eine Arbeitsgemeinschaft gebildet, die all das, was zum Überleben gehörte, im Rahmen der Familie produzierte. Der Zwang, den Lebensunterhalt zu sichern, Kleidung, Essen und Wohnung bereitzustellen, führte dazu, dass alle Familienmitglieder mitarbeiten mussten. Die Arbeit auf dem Feld oder in der häuslichen Werkstatt war ohne Wenn und Aber nötig. Hochschwangere Frauen standen in der Regel bis zur Niederkunft auf dem Feld oder verrichteten in Haus und Hof ihre Alltagsarbeit. Für die Entbindung gab es nur eine geringe Auszeit. Die Fortpflanzung wurde in den vergangenen Jahrhunderten nicht nur als natürlicher Bestandteil der Gemeinschaft von Frau und Mann angesehen, sondern als Lebensziel verstanden. Der Tod wurde leichter akzeptiert, wenn man die Hoffnung hatte, in seinen Kindern fortzuleben. War das Kind schließlich glücklich geboren, wurde die Geburt den Nachbarn angesagt, die zum Wöchnerinnenbesuch eingeladen wurden. Hierzu wurden Geschenke wie Kaffee, Zucker und Butter, auch Kleider für das Kind überbracht. Der Vater des Kindes spendierte Getränke: „Er ließ das Kind pinkeln“. Es galt als Muss, neugeborene Kinder innerhalb kürzester Zeit taufen zu lassen. Erst durch die Taufe galt das Neugeborene als aufgenommen, nicht nur in die kirchliche Gemeinde, sondern auch in die Familie und in der Verwandtschaft. Die Spendung des Taufsakraments als göttliche Heilsvermittlung war ein kirchlicher Akt. Die Eltern wurden vom Pastor im Taufgespräch darauf hingewiesen, dass das Kind religiös erzogen und angehalten werden muss, an den Gottesdiensten teilzunehmen. Die Besonderheit der Feier bestand auch darin, dass das Kind das familiäre Taufkleid trug, in dem bereits Generationen vorher das Taufsakrament empfangen hatten. Die Wahl der Paten verdichtete nochmals die familiären Beziehungen. Buchstaben im Rahmen des Schönschreibens. Die Angst vor Strafe und vor dem „Sitzenbleiben“ bildete den hauptsächlichen Lernanreiz. Die schulischen Leistungen fanden ihrem Ausdruck in der Rangordnung der Sitzplätze. Der Klassenbeste saß entweder in der hintersten Reihe oder in der vordersten Reihe, der schlechteste Schüler dementsprechend in der ersten oder letzten Reihe. Jeder Schüler wusste demzufolge genau, wie gut oder wie schlecht es um ihn stand, wie es im Vergleich zu den anderen um ihn stand. Auch außerhalb der Schule war die Autorität für die Schüler noch bestimmend. Wenn ein Lehrer durchs Dorf ging, dann haben wir schon von Weitem gegrüßt. Oder wir wechselten die Straßenseite, verschwanden auf den Höfen. So ein Mitbewohner, der die Schule in Eime acht Jahre besuchte. Besondere Merkmale der Kindheit und Jugendzeit in der Weimarer Zeit war der ständige Zwang zur Mithilfe in der Familie, die dauerhafte soziale Kontrolle durch Eltern, Nachbarn und gemeindliche Aufpasser (Lehrer, Pastor, Dorfpolizist, auch Landjäger genannt). Für viele Eimer Kinder gab es aber oft keine „Kinderzeit“, denn sie mussten von früh auf mitarbeiten: Die Geschwister hüten, die Wohnung schrubben, Futter für die Kleintiere holen, Beeren, Pilze und Holz im Wald suchen, bei der Ernte helfen, Kartoffeln lesen, Rüben ziehen, Steine auf dem Feld aufklauben, Engerlinge, Kartoffelkäfer und andere Schädlinge sammeln, Unkrautjäten und vieles andere mehr. Dorfrivalitäten wurden durch jugendliche Trupps aus beiden Lagern mit einer Schlägerei ausgetragen. In den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts gab es Jugendliche – von der Kolonie Schacht – die im Dorf ihre Pubertät auslebten. Ehrfürchtig wurde dann erzählt: „Gott behüte mich vor Sturm und Wind und den Bengels die vom Schachte sind“. Die Jugendzeit war kurz und endete mit der Konfirmation und Schulentlassung mit 14 Jahren. In diesem Alter begann dann der lange vorbereitete „Ernst des Lebens“, ein langes Arbeitsleben. Den Grundstein für die „Alterskameradschaft“ wurde in der gemeinsamen Schulzeit gelegt, die sich auf alle Gleichaltrigen im Dorf erstreckte. Denn die Schule beherbergte nahezu sämtliche Kinder eines Altersjahrganges, da der Besuch einer weiterführenden Schule nur in Ausnahmefäl len eintrat. Solche Schulen waren in den 20er Jahren in Gronau (Realschule) und in Alfeld (Gymnasium) angesiedelt. Die schlechten Verkehrsverhältnisse nach Alfeld wurden mit einer auswärtigen Unterbringung ersetzt. So nahm die örtliche Schule in Eime fast alle Dorfkinder auf. Wer seinen Mitbewohner seit den Schulzeiten kannte, mit ihm 8 Jahre lang in derselben Schulbank gesessen und in seiner Begleitung als Jugendlicher den Sonntagnachmittag verbrachte, der stand ihm auch nach Gründung einer eigenen Familie nicht als Fremder gegenüber. Die Kameradschaft endete nicht mit der Schule, sie endete mit dem Tod. Für das spätere Leben wichtige Dorfqualifikationen (wie der Umgang mit Tieren, die Kenntnis über die Lage der Grundstücke, der Umgang mit Eigentum) galten eben so viel wie „abstraktes“ Bildungswissen der Dorfschule. Nicht von ungefähr gibt es daher Schilderungen des Schullebens die von säumigen oder im Unterricht eingeschlafener Kinder gibt. Im Kaiserreich hatten Kirche und Schule in diesem hierarchisch gegliederten System ihren festen Platz. Lange Zeit war Kirche und Schule Vertreter der Obrigkeit, zuständig für die Vermittlung von Werten und die Einhaltung von Normen. Die Verantwortung des örtlichen Schulwesens lag bis 1920 bei der Kirche, also beim residierenden Pastor auch. Martinssingen Das Martinisingen – auch im Dorf unter den Namen Martinssingen und Mattenherrn bekannt – ist ein alter protestantischer Brauch im lutherisch geprägten Ort. Das Martinsfest, das ursprünglich zum Andenken an den heiliggesprochenen Bischof Martin von Tours am 11. November begangen wurde, bekam nach der Reformation 1517 einen neuen Inhalt. Von da an wurde nur noch Martin Luther gefeiert. So wurde der Martinstag mit dem Martinisingen auf dem 10. November, den Geburtstag des Reformators, vorverlegt. Somit wird in den evangelisch geprägten Ort der Martinstag am 10. November gefeiert! In diesem Brauch mischt sich noch ein weiteres Ursprungselement. Am Martinstag endete das Wirtschaftsjahr der Bauern, an das Gesinde wurden die Löhne ausbezahlt, Pachtverträge aufgelöst oder geschlossen, Steuern und AbLeben in Eime gaben an den Grundherren abgeführt. Für Landarbeiter und Dienstpersonal endeten die Arbeitsverträge. Für diese weitgehend besitzlosen Bevölkerungsschichten galt es nun, die kalte Jahreszeit ohne eigenes Einkommen zu überstehen. Einen Beitrag dazu leisteten dann die Kinder, die an diesem Tag von Haus zu Haus zogen und um Gaben bettelten. Nach der Reformation wurde dieser Brauch mit Luthers Geburtstag und dem Bettelmotiv der Mönchsorden erklärt. Hauptlehrer Hans Duckstein schrieb im Jahr 1927 die traditionellen Lieder, die zum Martinitag in Eime gesungen wurden, nieder: Als Martin noch ein Knabe war, hat er gesungen manches Jahr vor fremder Leute Türen, er sang so schön, er sang so zart, so recht nach frommer Kinder Art, das mag ein Herz wohl rühren. Wir bitten, liebe Leute Euch, nach guter Sitt' und altem Brauch, so wollt Ihr uns was schenken. Und wenn ihr reichlich uns beschenkt, mit schönen Äpfeln uns bedenkt, wird Gott es euch vergelten. Drum hört auf unsern Bittgesang und nehmt von uns den schönsten Dank für eure milden Gaben. Wir wünschen Luthers Glauben euch, so werdet ihr im Himmelreich das ew’ge Leben haben. Bei ihrem Bitt-Rundgang sangen die Kinder eine Kurzform: Matten-, Mattenherrn, die Äppel un de Beern, de hebbt wi ja so geern. Maak op de Döör, maak op de Döör, staat paar lüttje Kinner vöör. Giff se wat, giff se wat, laat se nich so lange staan, mött noch paar Huus widder gaan. Als Martin noch ein Knabe war, hat er gesungen so manches Jahr vor allen Türen weit und breit. Gott sei gelobt in Ewigkeit! Matten-, Mattenmähren, die Äpfel und die Beeren, lasst uns nicht so lange stehen! Wir müssen noch nach Bremen gehen! Leben in Eime Bremen ist ne große Stadt, da kriegen alle Kinder was. Kriegen se nen Stückchen Kuchen, können se gut nach suchen. Kriegen se nen Stückchen Speck, dann gehen se wieder weg. Beim katholischen Martinisingen am 11. November, dem Namenstag von Sankt Martin, folgen singende Kinder mit Laternen dem Sankt Martin und feiern so seine gute Tat. Hervorgerufen durch Kommerzialisierung und Amerikanisierung verbreitete sich seit Ende der 1990er Jahre Halloween im Dorf. Es hat sich zur Konkurrenz zum Martinisingen entwickelt. Die Kinder und auch die Begeisterung einiger Erzieher und Eltern an Halloween nehmen an diesem Tag die neuen Strömungen des Zeitgeistes auf. Einige Kinder verwechseln in der Gegenwart das traditionelle Martinisingen mit Halloween. Traditionelle Lieder wie am Martinstag werden bei Halloween nicht mehr vor den Haustüren gesungen. Beim Halloween wird die Drohung „Süßes oder Saures“ vor der Haustür ausgestoßen und dafür eine Belohnung eingefordert. Manche evangelische Christen bedauern das zeitliche Zusammentreffen von Halloween mit dem Reformationstag, der am gleichen Tag an die Reformation erinnern soll. Hochzeit Der Gedanke der Liebesheirat war früheren Generationen weitgehend fremd. Die Ehe diente der Lebensabsicherung, wenngleich ein emotionales Solidaritätsgefühl der beiden Ehepartner dazugehörte. In erster Linie war es jedoch wichtig, dass die zukünftigen Eheleute standesgemäß und wirtschaftlich zusammenpassten. Dieses scheinbar hartherzige Prinzip war an den herrschenden Lebensbedingungen orientiert. Die Hofstelle, der Laden oder die Werkstatt war die unverzichtbare materielle Grundlage für die Eheleute, den Altenteilern und zukünftige Generationen. Die Wirtschaftskraft einer Hofstelle zu schwächen, indem ein Vollmeier die Tochter eines Häuslings heiratete, war daher undenkbar. Eine besondere Bedeutung hatte die Aussteuer, also der Besitz, den Braut und Bräutigam in die Ehe einbrachten. Umfang und Bestandteile der Aussteuer waren abhängig vom Vermögen und von der sozialen Stellung. Üblicherweise wurden im Anschluss an die Verlobung alle Absprachen bezüglich der Aussteuer in einem Ehevertrag schriftlich festgehalten. Die Eheverträge enthielten auch Regelungen über die Erbfolge, was wichtig war, wenn ein Partner bereits Kinder aus einer früheren Ehe hatte. Bei Ehepartnern aus bäuerlichem Milieu wurde, wenn es sich um den künftigen Hoferben handelte, oft auch das Altenteil für den bisherigen Hofbesitzer und die Abfindungen für die Geschwister vereinbart. Nach protestantischer Auffassung ist die Ehe der weltlichen Ordnung unterworfen, aber zugleich ein heiliger Stand. Im Dorf bedeute die Ehe die Übernahme einer Hofstelle, das Weichen des Elternpaares auf das Altenteil und damit eine Veränderung. Zum Hochzeitsbrauchtum gehörte auch das Schmücken des Aufgebotskastens mit grünen Zweigen, der seit 1928 vor dem Sitz der Gemeindeverwaltung an der Turnhalle stand. Wenn vom Brautpaar voreheliche Beziehungen bekannt waren, so wurde statt grünen Zweigen Stroh verwendet. Der Polterabend war als Feier zum Abschied aus dem Kreis der jungen Dorfleute eingefordert und hauptsächlich für junge Leute ausgerichtet. Bis in die Gegenwart wird an diesem Abend Geschirr zerschlagen, um der neuen Ehe Glück zu bringen. Das eigent- Goldene Hochzeit des Ehepaares Heinrich Schwarze und Karoline geb. Winkel im Jahr 1928. ➤ 10 liche Hochzeitsfest begann nach Rückkehr der Hochzeitsgesellschaft aus der Kirche. Zum Brauchtum vor der Kirche gehörte es, dass nach der Trauung der Weg aus dem Kirchhof durch einen von Jugendlichen gespanntes Band versperrt wurde. Der Bräutigam musste nun „Pfennige schmeißen“, um sich den Weg freizukaufen. Noch vor dem Taschengeld, war dies eine wichtige „Einnahmequelle“ für die Kinder. Dieser Brauch hat seine Ursache darin, dass man an diesem Festtage auch den Armen im Dorf etwas zukommen lassen wollte. Auch die Wegsperrung in Form eines Sägebockes, mit deren Hilfe ein Baumstamm durch das Brautpaar durchgesägt werden musste, hat sich bis in die Gegenwart überliefert. Die Hochzeitsfeier wurde in der Regel im Elternhaus der Braut ausgerichtet. Die Vorbereitungen waren sehr umfangreich und zeitaufwendig. Nachbarn halfen bei der Hochzeitsvorbereitung (Sitte). Sie brachten Hühner für die Hochzeitssuppe als Gastgeschenk mit. Frauen kochten und backten, putzten Haus und Hof. Männer reinigten Ställe, stellten Tische und Stühle auf. Waren diese nicht vorhanden, reichten auch Holzbretter und prall gefüllte Strohsäcke. Die Männer räumten Zimmer aus und stellten Möbel um. Männer und Frauen dekorierten das Haus oder den Hof gemeinsam, denn man war in der Regel arm und konnte keine fremde Hilfe bezahlen. Die Hochzeit sollte trotzdem ein unvergessenes Ereignis werden. Geladen waren immer die Nachbarn, die Familien von Braut und Bräutigam und Freunde. Das Geschirr für die Festtafel konnte man sich bei den Kolonialwarenhändler Mönkemeyer ausleihen. Dem Essen folgte der Tanz. Den Höhepunkt erreichte das Hochzeitsfest um Mitternacht, wenn mit der Brautkrone die Braut symbolisch in den Kreis der Frauen aufgenommen wurde. Die Kosten einer solchen Hochzeit waren gewiss nicht unerheblich, mussten aber von den Eltern der Braut getragen werden. Sachgeschenke wurden bis in die 1930er Jahre nicht überreicht. Stattdessen gab es Geld. Bevor man sich niederließ, war es üblich, dass sich Brautpaar und Gäste fotografieren ließ. Die Möglichkeit, Ereignisse auf Fotografien festzuhalten, besteht erst seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts; doch die Kosten für ein Foto waren immens hoch. Damit ist auch klar, warum kaum Fotografien aus dem Leben in Eime Leben in Eime Zum Gedenken an eine im Jahr 1896 stattgefundene Goldene Hochzeit wird der getragene Myrtenkranz in einer Glasvitrine aufbewahrt ➤ 19. Jahrhundert – so jedenfalls in den meisten Familien – vorzufinden sind, denn das Fotografieren war teuer und die Mehrheit der Bevölkerung war so arm, dass sie sich keine teuren Fotografien leisten konnten. Dies ist auch der Grund, weshalb wir ebenso selten Bilder aus der Zeit von 1900 bis 1915 finden und wenn wir welche vorfinden, dann könnte es sein, dass diese „gestellt“ sind. Was heißt „gestellt“? Im späten 19. und im frühen 20.Jahrhundert kamen Fotografen ins Dorf. Sie waren mit ihrer Kamera, einem künstlichen Blumenstrauß, eventuell einem weißen und / oder schwarzen Brautkleid und einem weißen Brautschleier unterwegs und so konnten auch arme Leute aus dem Dorf sich – anlässlich ihrer bereits stattgefundenen Hochzeit – fotografieren lassen. Ähnlich war es in Gronau und Elze: In den Fotoateliers befanden sich ebenfalls Requisiten, die für ein gutes Hochzeitsfoto vom Fotografen zur Verfügung gestellt wurden. Manchmal entstand ein Hochzeitsfoto erst viele Jahre nach der eigentlichen Hochzeit. Für uns heute nicht mehr vorstellbar! Erst in den Jahren nach 1920 gehörte das zeitnahe Hochzeitsfoto zu jeder Hochzeit dazu. Nach 1960 wurden viele Fotos von dem Brautpaar und der Hochzeitsgesellschaft – teils mit dem eigenen Fotoapparat, teils vom Fotografen Friedrich Peters – erstellt. Seit dieser Zeit gibt es in fast jeder Familie ein Familienfotoalbum, in dem die wichtigsten Ereignisse im Leben der Familie festgehalten wurden. Gemäß Personenstandsgesetz 2 für das Deutsche Reich und dem Bürgerlichen Gesetzbuch3 wurden die Eheleute verpflichtet ein Standesamt aufzusuchen. Der Staat verlangte, dass kein kirchlicher Eheschluss durchgeführt wurde, wenn nicht die Ziviltrauung voraufgegangen war. Mit dem Eheschließungsrecht von 1875 änderte sich auch die Kleiderordnung, denn von nun an erwartete die evangelische Kirche, dass die Braut ihre Keuschheit mindestens mit einem Kranz oder einem weißen Schleier dokumentierte. So etablierte sich der weiße Brautschleier; der sowohl zu einem schwarzen wie auch einem weißen Brautkleid getragen wurde. Der Brautschleier erfüllte nicht nur die kirchlichen Anforderungen, sondern diente der Braut auch als schmückendes Element. Zahlreiche Fotografien zeigen den Brautschleier, der zur einfachen Kirchgangskleidung oder zu einem Brautkleid getragen wurde. Der Brautschleier wurde von einem künstlichen Myrtenkranz gehalten und nach dem zweiten Weltkrieg von einem künstlichen Brautkranz abgelöst. In zwei Familien des Ortes wurde der liebevoll gerahmte Myrtenkranz hinter Glas versteckt. Aufwendigen Stickereien; der Name, das Hochzeitsdatum und ein Hochzeitsspruch des damaligen Brautpaares bilden den Untergrund für den Myrtenkranz. Er dient, zusammen mit dem Hochzeitsfoto und/ oder einer anderen späteren Fotografie des Paares, den nachfolgenden Generationen als Wandschmuck. Bis ca. 1930 erschienen die Männer im schwarzen Anzug, die Frauen im schwarzen Kleid (Kirchgangskleidung) und Mädchen trugen ihre Sonntags- oder Schulschürzen zur Hochzeit. Hierzu gibt es zahlreiche Fotografien in unterschiedlichen Archiven. Die Mädchen trugen ihre Haare zu Zöpfen geflochten und die Jungen ihr Haar seitlich gescheitelt. Die Schürzen der Mädchen waren an den Seiten mit gerüschtem Stoff eingefasst. Nach etwa 1930 erschienen die Männer im Gehrock und mit Zylinder und die Frauen mit mittig gescheiteltem Haar zur Hochzeit. Der Zylinder war aus der Männermode nicht mehr wegzudenken. Erst in den Jahren ab 1950 bis 1975 kleideten sich die Gäste modisch und festlich. Die Frauen richteten sich bei der Kleiderwahl nach der Kleidung der Braut. Trug die Braut ein langes Kleid, so versuchten die geladenen 11 weibliche Gäste ebenfalls, in langen Kleidern zu erscheinen. Ob kurze oder lange Kleider, der Stoff war festlich und farbig. Weiße Kleider waren ausgeschlossen, denn es sollte keine Verwechslung mit der Braut geben. Blumenkinder trugen ebenfalls Kleider, die der Länge des Brautkleides entsprachen. Lange pastellfarbige Kleider waren üblich (kleine Prinzessinnen) oder kurze dunkelfarbige Samtkleider. Jungen trugen zur dunklen Hose ein helles Hemd und bekamen eine Fliege um. In allen Generationen war der Tag der kirchlichen Trauung der größte und schönste. Von Glanz und Glimmer umgeben zu sein, war ein Traum und Herzenswunsch, der sich mit der eigenen Hochzeit erfüllte. Kirchliche Feste sind immer auch sinnliche Feste und jedes Fest ist anders. Diese Andersartigkeit verleiht der Hochzeit den ganz besonderen Aspekt der Einzigartigkeit. Es spielt also keine Rolle, ob das Brautpaar im Reichtum oder in Armut lebt, die Bedürfnisse nach dem Besonderen sind in allen sozialen Kreisen gleich. Die Hochzeit wird gefeiert und als bedeutender gesellschaftlicher Anlass gesehen. Wenn der Tod kommt Der Tod ist ein Ärgernis. Zu sein und gleichzeitig zu wissen, dass man so, wie man ist, nicht sein wird, das ist ein Problem, das jeden irgendwie beschäftigt, ja bedrängt, bedrückt und auf jeden Fall eine Lösung verlangt. Ohne kirchliche Begleitung und Sinndeutung war der Tod nicht zu verstehen. Das Sterben fand noch im Familienkreis statt. Der Tod war kein Nach der Predigt wurde der Verstorbene aus dem Haus zum Leichenwagen getragen. Der ca. 2,5 km lange Weg von der Kolonie Schacht zum Friedhof wurde von der Trauergemeinde hinter dem Leichenwagen zu Fuß zurückgelegt ➤ 12 einsames Ereignis. Trat der Tod ein, so fühlten sich die Nachbarn verpflichtet, der Trauerfamilie zur Hand zu gehen, ihr die wichtigsten Besorgungen abzunehmen. Das gehörte sich so, man half sich in Freud und in Leid, so die Erinnerung von Herbert Lambrecht. Von daher waren Sterben und Tod eingebunden in das dichte Netz sozialer Beziehungen. Nachbarn und Familie kümmerten sich nach Eintritt des Todes darum, dass die Leiche zu Hause aufgebahrt werden konnte. Die Nachbarschaft half bei der Waschung und bei der Ankleidung des Verstorbenen. Nach dem 1. Weltkrieg bis in die 1960er Jahre wurde diese Tätigkeit von einer Totenfrau erledigt. In den meisten Fällen erhielten die Toten ihre besten Kleidungsgegenstände, womit sie in den Sarg, welcher einer der seit 1830 praktizierenden fünf Tischler (Gecius, Struckmann, Ortlieb, Meyer, Drawe) des Ortes lieferte, gelegt wurden. Hans Schmull berichtete ferner: In dem Zeitraum nach dem Ersten Weltkrieg bis zu Beginn der 30er Jahre legten sich einige Familien, die sich keinen Sarg vom Tischler leisten konnten, „Notdielen“ zu, aus denen ein Sarg gezimmert wurde. Verwandte, Freunde und Nachbarn besuchten während dieser Tage die Trauerfamilie, nicht nur um Trost zu spenden, sondern sich vom Toten zu verabschieden. Das war eine Geste der Zusammengehörigkeit in solchen Lebenslagen. Die unmittelbare Nachbarschaft bzw. gute Freunde stellten sich als Sargträger zu Verfügung, die sich vorher bei der Familie für diesen Dienst gemeldet hatten. Die Häuser besaßen noch Möglichkeiten, die Leiche aufzubahren und wo nicht, wurde Platz geschaffen. Insbesondere unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg standen Flüchtlingsfamilien, hervorgerufen durch die Zwangseinquartierung, vor dem Problem der Platzschaffung. Am Abend vor der Bestattung kamen die Leute und brachten Sträuße und Kränze. Bevor der Sarg am Tag der Beerdigung zugemacht wurde, verabschiedete sich die ganze Familie. Wenn der Pastor dann seine Predigt gehalten hatte, wurde der Sarg aus dem Haus getragen und zum Leichenwagen gebracht. Die Kränze hing man an den Leichenwagen bzw. drückte jeden der Anwesenden einen in die Hand. Der Leichenwagen, welcher sich im Eigentum der Gemeinde Eime befand, wurde von einem Pferdegespann gezogen. Die Pferde wurden mit einen schwarzen Umhang gekleidet und Leben in Eime die Hufe mit Wagenfett schwarz gestrichen. Heinrich Mundhenke, Dunser Str. saß mit schwarzer Prinz-Heinrich-Mütze und Gehrock auf dem Bock des Leichenwagens bis in das Jahr 1966, mehr als drei Jahrzehnte. Dann ging es zum Friedhof. Gehörte der Verstorbene einem Verein an, so fühlten sich die Vereinsmitglieder verpflichtet, an der Beerdigung teilzunehmen. Die Vereinsmitglieder gingen dem Trauerzug voraus, dann der Leichenwagen, gefolgt vom Pastor. Ihm folgten die nächsten Verwandtschaftsgrade und es war üblich, dass das ausgefeilte Beerdigungszeremoniell mit der entsprechenden Rangfolge eingehalten wurde. Zum Abschluss folgte die Trauergemeinde. In der Zwischenzeit hatten Nachbarrinnen, die zu Hause blieben, Kaffee gekocht. Sie mussten auch, wenn die Leiche aus dem Haus getragen wurde, sämtliche Fenster und Türen öffnen, damit sich der Leichengeruch verzog. Nach der Beerdigung wurde nämlich für die Teilnehmer der Beerdigung im Hause des Verstorbenen zu Kaffee und Kuchen gebeten. Für die Vereinsmitglieder endete die Beerdigung im Ratskeller beim Bier, welches die Hinterbliebenen zahlten. Hans-Joachim Lange berichtete, dass zu Lebzeiten einige hierfür Rücklagen bildeten. Insbesondere für die, die eine umfangreiche Vereinsmitgliedschaft pflegten. Das verstorbene Vereinsmitglied konnte sicher sein, dass der Verein über den Tod hinaus gedachte. Bei Mitgliedern der Feuerwehr wurde diese Versammlung auch zum Gedankenaustausch genutzt. Dort hat man „das Fell“ versoffen. Manch einer trank einen über den Durst. Einige sind dann Stunden später aus dem Ratskeller herausgekommen. Bis Anfang der 1930er Jahre gaben Mitglieder des Kriegervereins mit sechs Gewehren Salutsalven als Ehrenbezeugungen am Grab ihres verstorbenen Vereinsmitgliedes ab. Die Gewehre wurden unmittelbar am Besatzungstag, den 6. April 1945, vernichtet. Frauen mit evangelischen Glauben wechselten unmittelbar nach Eintritt des Todes eines Angehörigen ihre hellen Kleider sofort in schwarze Kleidung. Beim Ableben der Eltern, des Ehegatten bzw. eines Kindes dauerte das Anzeigen der Trauer ein Jahr. Beim Tod eines entfernten Verwandten wurde sechs Wochen in schwarzer Kleidung getrauert. Frauen der katholischen Minderheit im Dorf trugen ebenfalls ein Jahr lang Trauerkleidung, jedoch nur an Sonn- und Feiertagen. Leben in Eime An die Stelle nachbarschaftlicher Hilfe sind in einem längeren Prozess spezialisierte Dienstleistungsunternehmen getreten. Gegenüber den vergangenen Jahrhunderten ist die Dorfbevölkerung ungeübter im Umgang mit Sterbenden und dem Tod, zumal die Riten, die in der v.g. Vergangenheit Todesfall und Trauer begleiteten, außer Gebrauch gekommen sind. In der Gegenwart finden wir in den veröffentlichten Traueranzeigen der Leine – Deister- Zeitung den Passus „ Von Beileidsbekundungen bitten wir abzusehen“. In diesem Satz kommt zum Ausdruck, dass Trauernde sich keinen Trost mehr von ihren Mitmenschen erwarten. Tote, die spurlos verschwinden, sind pflegeleicht: Sie fallen niemand mehr zur Last und entbinden die Angehörigen von der Verpflichtung, das Grab in Ordnung zu halten. Es sind vernünftige Beweggründe, die für eine anonyme Bestattung angeführt werden. Jedoch ist der Umgang mit Sterben und Tod eine Angelegenheit, bei der man sich bestenfalls vordergründig von vernünftigen Überlegungen leiten lässt, so die Einschätzung der Gesprächsergebnisse mit Zeitzeugen. Es scheint, dass der Trend zur anonymen Bestattung weniger eine Vernuftentscheidung ist. Menschen haben Angst davor, vergessen zu werden- wo kein identifizierbares Grab ist, kann es auch nicht vernachlässigt werden. Einige Personen im Ort wollen sich in der Gegenwart mit der Endlichkeit des Lebens nicht befassen. Sie vermeiden die Auseinandersetzung mit ihrem eigenen Sterben und scheuen sich darüber hinaus, die Beziehung zu ihren nächsten Angehörigen zu klären. Anmerkungen 1Der Begriff Tradition kommt aus dem Lateinischen und steht für Überlieferungen von Althergebrachten. Sitte beruht auf sozialen Gewohnheiten und Überlieferungen und stellt innerhalb bestimmter Grenzen verbindliche Verhaltensregelungen innerhalb einer Gemeinschaft auf. Mit Sitte kann Gewohnheit, Anstand, Kultur oder moralisches Verhalten gemeint sein. Ritual kommt aus dem Lateinischen und steht für die Ordnung der Bräuche des Gottesdienstes. Rituale kennzeichnen einen religiösen Inhalt, der nach einem immer gleichen Schema verläuft. 2Reichsgesetz über die Beurkundung des Personenstandes und Eheschließung vom 6. Februar 1875, Reichsgesetzblatt 1875, S. 23. 3Reichsgesetzbuch, Bürgerliches Gesetzbuch für das Deutschen Reich mit dem Einführungsgesetz, Berlin 1896, § 1317, S. 160. 13