ExaminatoriumZivilrecht
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Examenskurs Schwerpunktbereich 3 Skript EXAMENSKURS Schwerpunktbereich 3 Kursbegleitendes Skript donnerstags, 10 - 12 Uhr – SR 406 (Paradeplatz) Sommersemester 2015 Björn Becker, Annalena Scholl, Markus Welzenbach Examinatorium Zivilrecht Skript Vorlesungsplan Datum Thema Referent 16.4. Einführung, Schiedsgerichtsbarkeit Becker 23.4. KartR I – Kartellverbot Becker 30.4. KartR II – privater Rechtschutz Becker 7.5. KartR III - Missbrauchsverbot Welzenbach 14.5. Frei 21.5. KartR IV - Gemeinschaftsunternehmen Welzenbach 28.5. Rechtsvergleichung: Störung der Geschäftsgrundlage Becker 4.6. Frei 11.6. IZVR I Scholl 18.6. IPR II Scholl 25.6. IPR Scholl 2.7. UN-Kaufrecht Welzenbach 9.7. UN-Kaufrecht II Welzenbach 16.7. Fragen- und Wiederholungsstunde Becker, Scholl, Welzenbach Sommersemester 2015 -2- B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach Examinatorium Zivilrecht Skript A. Schiedsgerichtsbarkeit: Wiederholung der Grundlagen I. Allgemeines - Rechtsgrundlage in Deutschland: §§ 1025 ff. ZPO (abweichende Regelungen im Schiedsvertrag möglich) - Privates Gerichtsverfahren zur Beilegung von Streitigkeiten Einsetzung durch vertragliche Abrede der Parteien (Schiedsvereinbarung) Schiedsspruch ist für beide Parteien bindend und darf von staatlichen Gerichten für vollstreckbar erklärt werden, § 1055 ZPO Vergleich möglich, § 1053 ZPO II. Formen von Schiedsgerichten - Gelegenheitsschiedsgericht (Ad-hoc-Schiedsgericht): Wird gezielt für einzelne Entscheidungen gebildet Organisation der Schiedsrichterbenennung und des Verfahrens durch die Parteien - Institutionelles Schiedsgericht: Von bestimmten (Wirtschafts-)verbänden gebildet Auf bestimmte Art von Streitigkeiten spezialisiert Eigene Verfahrensregeln, Unterstützung bei der Schiedsrichterwahl III. - Die Schiedsvereinbarung Privatrechtlicher Vertrag mit Schiedsklausel oder selbstständige Vereinbarung (Schiedsabrede), § 1029 Abs. 2 ZPO - Grds. Schriftform, § 1031 ZPO Anderer Nachweis möglich Weites Verständnis Auch nachträglich abschließbar - Zulässiger Vertragsgegenstand: § 1030 Abs. 1 ZPO Sommersemester 2015 -3- B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach Examinatorium Zivilrecht Skript IV. - Das Schiedsgericht Zusammensetzung des Schiedsgerichts wird von Parteien bestimmt Meist Dreierschiedsgericht: Je ein Schiedsrichter pro Partei, die zusammen einen Vorsitzenden (Obmann) bestimmen, vgl. § 1034, 1035 Abs. 3 S. 2 ZPO Kann sich nicht auf einen Obmann geeinigt werden, wird dieser durch eine Ernennungsstelle bestimmt - § 1036 Abs. 2 ZPO: Ablehnung eines Schiedsrichters durch die andere Partei möglich, bei Zweifel an Unparteilichkeit oder Unabhängigkeit Nichtentsprechen der von den Parteien vereinbarten Vss. V. Vorteile einer Schiedsvereinbarung - Faires Verfahren Vermeidung von ggf. korrupten Gerichten am Schieds-/Vollstreckungsort Neutralität der Schiedsrichter in internationalen Streitfällen (z.T. „fremdenfeindliche“ Entscheidungen mancher nationaler Gerichte) - Spezielle Sachkunde der Schiedsrichter Auswahl der Schiedsrichter obliegt Parteien Parteien können Experten als Schiedsrichter bestimmen (Ingenieure, Architekten, Schiedsrichter mit besonderen Sprachkenntnissen etc.) - Diskretion Schiedsverfahren sind nicht öffentlich und werden i. d. R. nicht publiziert Ausnahme: abweichende Parteivereinbarung Sommersemester 2015 -4- B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach Examinatorium Zivilrecht Skript - Verfahrensgestaltung Parteien sind in Verfahrensgestaltung frei Insbes. bei internationalen Verfahren können Zustellungen und Beweisaufnahmen ohne die Beachtung der diplomatischen Wege oder Staatsverträge Grenze: rechtsstaatliches Verfahren - Verfahrensdauer? Prinzipiell als schnelleres Verfahren konzeptioniert Aber z. T. Verzögerung durch Vollstreckbarerklärungsverfahren (s.u.) - Kosten? Schiedsverfahren nicht selten kostspieliger als Verfahren vor den staatlichen Gerichten Vergütungsvereinbarungen der einzelnen institutionellen Schiedsgerichte differieren erheblich VI. - Nachteile einer Schiedsvereinbarung Erhöhung der Gefahr von Fehlentscheidungen i. d. R. nur eine Instanz Fehlentscheidungen sind kaum korrigierbar Stark eingeschränkte Kontrolle durch staatliche Gerichte (s.u.) - Keine eigenen staatlichen Zwangsmittel Schiedsgerichte benötigen bei der zwangsmäßigen Ladung von Zeugen Unterstützung durch staatliche Gerichte Zusätzliche Gefahr der Verfahrensverzögerung Sommersemester 2015 -5- B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach Examinatorium Zivilrecht Skript B. Schiedsgerichtsbarkeit: Kontrolle und Durchsetzung von Schiedssprüchen durch die staatlichen Gerichte I. Überblick Die Kontrollmöglichkeit von Schiedssprüchen ist verfassungsrechtlich geboten, siehe Art. 19 Abs. 4 GG, Art. 6 Abs. 1 EMRK. Grundsatz: Keine sog. Révision au fond, sondern nur ordre public-Kontrolle Nur Kontrolle auf Verstöße gegen Prinzipien von grundsätzlicher Bedeutung Eine gerichtliche Kontrolle ist in zwei Verfahren möglich: (1) Aufhebungsverfahren: nur für inländische Schiedssprüche, § 1059 ZPO Bsp.: Schweizer Gerichte sind zuständig für Aufhebung (syn.: Anfechtung) eines Schiedsspruchs, der von einem Schweizer Schiedsgericht erlassen wurde. (2) Vollstreckbarerklärungsverfahren auch für ausländische Schiedssprüche, §§ 1060, 1061 ZPO; Gültigkeit nur im Land, in dem der Schiedsspruch für vollstreckbar erklärt wird Bsp.: Wenn der erfolgreiche Kläger aus dem Schiedsspruch des Schweizer Schiedsgerichts Vollstreckungsmaßnahmen in Deutschland durchführen möchte, so muss er von dem zuständigen deutschen staatlichen Gericht die Anerkennung und Vollstreckbarerklärung erreichen. Enge Verzahnung von Aufhebungsgründen und Vollstreckungshindernissen: Keine Vollstreckbarerklärung, soweit Aufhebungsgrund vorliegt Für inländische Schiedssprüche siehe §§ 1060 Abs. 2, § 1059 ZPO Für ausländische Schiedssprüche siehe § 1061 Abs. 1 ZPO i. V. m. Art. V UNÜ1 1 New Yorker Übereinkommen über die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Schiedssprüche v. 10.6.1958, BGBl. 1961 II, S. 121, abrufbar unter www.newyorkconvention.org/userfiles/documenten/nyctexts/25_german.pdf. Sommersemester 2015 -6- B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach Examinatorium Zivilrecht Skript II. Aufhebungsgründe/Vollstreckungshindernisse im Einzelnen 1. Unwirksamkeit der Schiedsvereinbarung, § 1059 Abs. 2 Nr. 1 lit. a ZPO bzw. Art. V Abs. 1 lit. a UNÜ - Aufhebungsgrund/Vollstreckungshindernis bei Fehlen, Unwirksamkeit oder Erlöschen der Schiedsvereinbarung - Vollständige Überprüfung des staatlichen Gerichts, ob Schiedsvereinbarung besteht und die fragliche Streitigkeit erfasst Kontrolle auch zulässig gegen einen Schiedsspruch, durch den das Schiedsgericht seine Zuständigkeit verneint, siehe BGH v. 13.1.2005, NJW 2005, S. 1125: „Im Schiedsverfahren befindet zwar zunächst das Schiedsgericht selbst über seine Zuständigkeit, und zwar entweder durch einen seine Zuständigkeit bejahenden Zwischenentscheid (§ 1040 ZPO Abs. 3 S. 1 ZPO) sowie ausnahmsweise im verfahrensabschließenden Schiedsspruch oder negativ durch einen die Schiedsklage als unzulässig abweisenden Prozessschiedsspruch […]. Das letzte Wort hat jedoch bezüglich des Zwischenentscheids im Verfahren nach § 1040 Abs. 3 S. 2 ZPO, bezüglich des Schiedsspruchs und des Prozessschiedsspruchs im Aufhebungsverfahren nach § 1059 ZPO das staatliche Gericht“ 2. Versagung rechtlichen Gehörs, § 1059 Abs. 2 Nr. 1 lit. b ZPO bzw. Art. V Abs. 1 lit. b UNÜ - Aufhebungsgrund/Vollstreckungshindernis, wenn eine Partei vom Verfahren nicht gehörig in Kenntnis gesetzt worden ist oder aus einem anderen Grund seine Angriffsoder Verteidigungsmittel nicht hat geltend machen können - Darüber hinaus auch jede andere Verletzung des Grundsatzes des rechtlichen Gehörs, jedenfalls nach § 1059 Abs. 2 Nr. 2 Buchst. b ZPO (ordre public, s.u.) - Weitere Voraussetzung: Entscheidungserheblichkeit des Verstoßes (kein absoluter Aufhebungsgrund) Dazu BGH v. 8.10.1959, NJW 1959, S. 2213: „Es genügt jedoch, wenn der Spruch auf dem Verstoß beruhen kann.“ (Leitsatz c) ) 3. Überschreiten der Grenzen der Schiedsvereinbarung, § 1059 Abs. 2 Nr. 1 lit. c ZPO, Art. V Abs. 1 lit. c UNÜ Sommersemester 2015 -7- B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach Examinatorium Zivilrecht Skript - Fallgruppe fällt regelmäßig bereits unter § 1059 Abs. 2 Nr. 1 lit. a ZPO bzw. Art. V Abs. 1 lit. 1 UNÜ - Unterfällt ein Anspruch der Schiedsvereinbarung nur teilweise, besteht ein Aufhebungsgrund/Vollstreckungshindernis nur für den Teil, der nicht durch die Schiedsvereinbarung gedeckt ist; Voraussetzung: Teilbarkeit des Anspruchs 4. (Schwere) Verfahrensverstöße, § 1059 Abs. 2 Nr. 1 lit. b, d ZPO, Art. V Abs. 1 lit. b, d UNÜ - Aufhebungsgrund/Vollstreckungshindernis bei Verletzung des anwendbaren Verfahrensrechts bzw. der zulässigen Parteivereinbarungen - Weitere Voraussetzung: Entscheidungserheblichkeit des Verstoßes Schiedsspruch muss auf Verfahrensverstoß beruhen (strengerer Maßstab als bei Verletzung des rechtlichen Gehörs, s.o.) - Präklusion möglich, § 1027 S. 1 ZPO Bereits im Schiedsverfahren muss der Verfahrensfehler erfolglos gerügt worden sein Ausnahme: Mangelnde Kenntnis, § 1027 S. 2 ZPO 5. Mangelnde objektive Schiedsfähigkeit des Anspruchs, § 1059 Abs. 2 Nr. 2 lit. a ZPO, Art. V Abs. 2 lit. a UNÜ - Geringe praktische Bedeutung, da objektive Schiedsfähigkeit sehr weit gefasst ist - Objektiv schiedsfähig sind grds.: • Alle vermögensrechtlichen Ansprüche • Nichtvermögensrechtliche Ansprüche, soweit die Parteien berechtigt sind, über den Streitgegenstand einen Vergleich zu schließen, §§ 1030 Abs. 1 S. 2 ZPO - Nicht schiedsfähig sind z.B. Ehesachen, Kindschaftssachen, Betreuungsangelegenheiten etc. Sommersemester 2015 -8- B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach Examinatorium Zivilrecht Skript 6. Der Ordre-public § 1059 Abs. 2 Nr. 2 lit. b ZPO, Art. V Abs. 2 lit. b UNÜ = Verstoß gegen wesentliche fundamentale Normen und Rechtsgrundsätze a) Materiell-rechtlicher ordre public - Erforderlich ist eine offensichtliche Verletzung elementarer Grundlagen der Rechtsordnung, d. h., gegen Normen, die die Grundlage des staatlichen oder wirtschaftlichen Lebens sowie die elementaren Gerechtigkeitsvorstellungen berühren (Grundrechte, gute Sitten etc.) Dazu BGH v. 28.1.2014, NJW 2014, S. 1597 - Bsp.: Verurteilung zur Zahlung von Spiel- und Wettschulden (OLG Hamburg v. 1.10.1954, NJW 1955, 390), Verurteilung zu einem gegen kartellrechtliche Bestimmungen verstoßenden Verhalten (BGH v. 23.4.1959, NJW 1959, S. 1438), Erwirkung des Schiedsspruchs durch Betrug (beachte auch § 581 Abs. 1 ZPO), - Ordre public-Einwand greift nur in extremen Ausnahmefällen (keine grundsätzliche Überprüfung der sachlichen Richtigkeit von Schiedssprüchen, s.o. I.) - Nach BGH gilt für inländische Schiedssprüche ein weniger großzügiger Maßstab (ordre public interne) als für ausländische Schiedssprüche (ordre public international) - Problematisch: Verletzung des Willkürverbots • Verletzung des ordre public wohl (+). • Problematisch ist aber, dass die Feststellung von Willkür eine Auseinandersetzung mit der Richtigkeit des Schiedsspruchs voraussetzt und so mit einer inhaltlichen Überprüfung des Schiedsspruchs einhergehen kann, die nach dem Grundsatz des Verbots der révision au fond grundsätzlich unzulässig ist. b) Verfahrensrechtlicher ordre public - Erforderlich ist ein Abweichen von Grundprinzipien des deutschen Verfahrensrechts in solchem Maße, dass die Entscheidung nach der deutschen Rechtsordnung nicht als in einem geordneten rechtsstaatlichen Verfahren angesehen werden kann - Bsp.: Schiedsspruch spricht einer Partei etwas zu, was diese nicht beantragt hat oder übergeht einen Antrag Sommersemester 2015 -9- B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach Examinatorium Zivilrecht Skript c) Beachte: unterschiedliche nationale Maßstäbe - Ordre public bezieht sich immer auf die individuelle Rechtsordnung eines Staates/Staatenverbundes - Maßstab des ordre public in Deutschland ist möglicherweise ein anderer als in anderen Vertragsstaaten des UNÜ - Zwei Fallgruppen möglich: (1) Aufhebungsantrag in Deutschland (Schiedsort) hat Erfolg In diesem Fall kann der Schiedsspruch in keinem Vertragsstaat des UNÜ vollstreckt werden, Art. V Abs. 1 lit. e UNÜ. (2) Aufhebungsantrag in Deutschland (Schiedsort) hat keinen Erfolg Maßgeblich für die Vollstreckung ist der ordre public im Vollstreckungsstaat, Art. V Abs. 2 lit. b UNÜ. Eine Gerichtsentscheidung am Schiedsort, die den Aufhebungsantrag abweist, weil der ordre public am Schiedsort gewahrt wurde, trifft aber keine Aussage darüber, ob auch der ordre public im Vollstreckungsstaat gewahrt wurde. Ein entsprechender Einwand kann daher im Vollstreckungsverfahren auch dann erhoben werden, wenn ein Gericht am Schiedsort einen Aufhebungsantrag abgelehnt hat. 7. Restitutionsgründe, § 580 ZPO - Grds. beachtliche Einwendungen gegen Schiedssprüche - Aber letztlich nur Teil des ordre public (s.o.) - Daher geringe praktische Bedeutung 8. Vollstreckungshindernis bei aufgehobenem Schiedsspruch, Art. V Abs. 1 lit. e UNÜ i.V.m. § 1061 Abs. 1 ZPO - Schuldner kann der Vollstreckung in Deutschland entgegenhalten, dass der Schiedsspruch vom Gericht des Schiedsortes aufgehoben wurde - Abweichende Regelungen möglich, Art. VII UNÜ (z.B. Art. IX Abs. 2 EuÜ: Aufhebung des Schiedsspruchs wegen Verletzung des ordre public entfaltet nur Wirkung am Schiedsort, nicht in anderen Konventionsstaaten) III. Aufhebungsverfahren Sommersemester 2015 - 10 - B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach Examinatorium Zivilrecht Skript - Zuständigkeit des OLG, § 1062 Abs. 1 Nr. 4 ZPO - Beschlussverfahren, § 1063 ZPO - Einleitung nur auf Antrag, § 1059 Abs. 1 ZPO - Antragsfrist: 3 Monate, § 1059 Abs. 3 ZPO - Rechtsschutzinteresse erforderlich (regelmäßig bei der im Schiedsverfahren ganz oder teilweise unterlegenen Partei vorhanden) - Ausschluss des Aufhebungsverfahrens durch bereits wirksame Vollstreckbarkeitserklärung, § 1059 Abs. 3 S. 3 ZPO IV. - Wirkung der Aufhebung Wiederaufleben der Schiedsvereinbarung nach Aufhebung des Schiedsspruchs „im Zweifel“, § 1059 Abs. 5 ZPO - Abweichende Regelung durch Parteien in der Schiedsvereinbarung möglich Auch Beachtung eines stillschweigenden Parteiwillens möglich: Oft werden die Parteien nach der Aufhebung eines Schiedsspruchs kein Vertrauen mehr in die Schiedsvereinbarung haben, sondern lieber vor die ordentlichen Gerichte ziehen wollen. - Zurückverweisung durch OLG ans Schiedsgericht „in geeigneten Fällen“ möglich, § 1059 Abs. 4 ZPO • Vss: Anhörung der vor OLG unterlegenen Partei • Kein geeigneter Fall bei Widerspruch gegen die Rückverweisung durch die vor dem OLG unterlegene Partei Sommersemester 2015 - 11 - B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach Examinatorium Zivilrecht Skript C. Europäisches und deutsches Kartellrecht I. Kartellverbot, Art. 101 AEUV 1. Sachverhalt (aus studienabschließender Klausur im Wintersemester 2011/2012) Das Unternehmen P stellt u. a. Kosmetika und Körperpflegeprodukte her. Zu den von P vertriebenen Marken gehören u. a. die Produkte Klorane, Ducray, Galénic und Avène. Sie werden im Rahmen eines selektiven Vertriebssystems hauptsächlich über Apotheken auf dem französischen und dem europäischen Markt vertrieben. Der Anteil von P am französischen Markt für diese Produkte beträgt 20 %. In den übrigen Mitgliedsstaaten, in denen P die genannten Produkte vertreibt, beträgt der Marktanteil zwischen 10 und 15 %. In den Vertriebsvereinbarungen für die genannten Produkte der Marken Klorane, Ducray, Galénic und Avène ist vorgesehen, dass der Verkauf ausschließlich in einem physischen Raum und in Anwesenheit eines diplomierten Pharmazeuten erfolgen darf. Für den Fall eines Verstoßes sieht die Vereinbarung eine Vertragsstrafe in Höhe von … vor, die P von dem jeweiligen Vertriebshändler verlangen kann. P begründet seine Vertriebsbedingungen mit der Art der betreffenden Produkte. Diese seien auf besondere Hautprobleme, wie z.B. überempfindliche Haut, abgestimmt, bei denen das Risiko einer allergischen Reaktion bestehe. Die physische Anwesenheit eines diplomierten Pharmazeuten gewährleiste, dass ein Kunde den auf einer direkten Untersuchung seiner Haut, Haare oder Kopfhaut fundierten Rat eines Fachmanns jederzeit einholen könne. Auch werde das Risiko des Trittbrettfahrens durch andere Apotheker vermindert. Der zugelassene Vertriebshändler V vertreibt die Kosmetika des P über das Internet. P sieht dies als Verstoß gegen seine Vertriebsbedingungen an und verlangt von V Zahlung einer Vertragsstrafe. V verweigert jedoch die Zahlung. Er ist der Ansicht, dass die Vertriebsbedingungen gegen europäisches Wettbewerbsrecht verstoßen und somit nichtig seien. Insbesondere handele es sich um eine Kernbeschränkung im Sinne des Art. 4 lit. c der Vertikal-GVO (Verordnung Nr. 330/2010), da Endverbrauchern die Möglichkeit genommen werde, die Produkte des P über das Internet zu erwerben. Auch sei die in Art. 4 lit. c enthaltene Ausnahme nicht einschlägig, Sommersemester 2015 - 12 - B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach Examinatorium Zivilrecht Skript da eine Internetseite nicht mit einer „nicht zugelassenen Niederlassung“ gleichzusetzen sei. Der Internetvertrieb sei nämlich kein Vertriebsort, sondern vielmehr ein alternativer Vertriebsweg. Kann P von V Zahlung einer Vertragsstrafe verlangen? 2. Lösungsvorschlag P könnte gegen V einen Anspruch auf Zahlung einer Vertragsstrafe aus Art. 1.1/1.2. der allgemeinen Vertriebs- und Verkaufsbedingungen haben. Dies setzt jedoch deren Wirksamkeit voraus. Art. 101 Abs. 2 AEUV könnte hier als Wirksamkeitshindernis entgegenstehen: Nichtigkeit gemäß Art. 101 Abs. 2 AEUV? I. Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 AEUV? 1. Vereinbarung zwischen Unternehmen Adressaten des Kartellverbots sind Unternehmen und Unternehmensvereinigungen. Als Unternehmen gelten unabhängig ihrer Rechtsform alle Einheiten, die wirtschaftlich selbstständig tätig sind. Sowohl P als auch die Händler, die von der Vertriebsvereinbarung betroffen sind erfüllen diese Voraussetzung unproblematisch. Vereinbarungen i.S.d. Art. 101 Abs. 1 AEUV können in Form von Verträgen oder auch eines bloßen gentlement’s agreements geschlossen werden. Die Vertriebsvereinbarung ist eine direkte vertragliche Abrede zwischen P und seinen Händlern und stellt damit eine Vereinbarung i.S.d. Art. 101 Abs. 1 AEUV dar.2 2. Wettbewerbsbeschränkung: Beschränkung der Handlungsfreiheit der Apotheker (Einzelhändler) Die Vertriebsvereinbarung müsste „eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs“ bezwecken oder bewirken. Wenn feststeht, dass eine Vereinbarung einen wettbewerbswidrigen Zweck verfolgt, brauchen ihre Auswirkungen auf den Wettbewerb nicht 2 Da es sich um einen unproblematischen Fall handelt, sind längere Ausführungen zum funktionalen Unternehmensbegriff und zur Definition der Vereinbarung entbehrlich. Sommersemester 2015 - 13 - B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach Examinatorium Zivilrecht Skript geprüft zu werden.3 Der wettbewerbsbeschränkende Zweck ist aus dem Inhalt der Vereinbarung und den objektiven Zielen, die sie zu erreichen sucht, zu ermitteln, nicht nach den subjektiven Vorstellungen der Parteien.4 Die in Rede stehende Vertriebsvereinbarung (Verkauf in einem physischen Raum in Anwesenheit eines diplomierten Pharmazeuten) führt für die Vertriebshändler de facto zu einem Verbot sämtlicher Verkaufsformen über das Internet. Dadurch wird die Möglichkeit der Vertriebshändler, die Produkte auch außerhalb ihres Tätigkeitsbereichs zu verkaufen, und damit einhergehend die (wettbewerbliche) Handlungsfreiheit erheblich eingeschränkt. 3. Zwischenstaatlichkeit: Geeignetheit und Spürbarkeit Der zwischenstaatliche Handel ist aufgrund des gemeinschaftsweiten Vertriebsnetzes spürbar berührt. 4. Erheblichkeitsschwelle (de minimis) Bei der in Rede stehenden Vertriebsvereinbarung handelt es sich um eine Vertikalvereinbarung. Bezugnehmend auf die Bagatell-Bekanntmachung5 der Kommission ist die Spürbarkeitsgrenze daher dann nicht überschritten, wenn die Marktanteile aller an der Vereinbarung beteiligten Unternehmen auf allen betroffenen relevanten Märkten unter 15 % liegen. Hier sind die Spürbarkeitsschwellen jedenfalls überschritten. P hat auf dem französischen Markt bereits einen Marktanteil von 20 %. der Kommission überschritten. Vom Überschreiten der Erheblichkeitsschwelle ist daher auszugehen. 3 EuGH, 13.7.1966, Grundig/Consten, Slg. 1966, 321, 390 f) 4 EuGH, 20.11.2008, BIDS, WuW/E EU-R 1509, 1511 Rn 21. 5 Bekanntmachung der Kommission vom 22.12.2001 über Vereinbarungen von geringer Bedeutung, die den Wettbewerb gemäß Artikel 81 Abs. 1 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft nicht spürbar beschränken, ABl. 2001 C 368/07, vgl. insbesondere Rz. 7 lit. b. Sommersemester 2015 - 14 - B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach Examinatorium Zivilrecht Skript II. Freistellung gemäß Art. 101 Abs. 3 AEUV? 1. Gruppenfreistellungsverordnung?6 Nach Art. 101 Abs. 3 AEUV können Gruppen von Vereinbarungen vom Verbot des Art. 101 Abs. 1 AEUV freigestellt werden (Gruppenfreistellungsverordnungen). In Betracht kommt hier eine Freistellung nach Art. 2 Abs. 1 der VO 330/2010 (sog. Vertikal-GVO)7. a. Sachlicher Anwendungsbereich, Art. 1 Abs. 1 lit. a, b VertikalGVO (Vertikalvereinbarung und -beschränkung, keine vorrangig anwendbaren Verordnungen) Dafür müsste zunächst der Anwendungsbereich der Vertikal-GVO eröffnet sein. Grundsätzlich erfasst die Vertikal-GVO sämtliche Vereinbarungen im Vertikalverhältnis, Art. 1 Abs. 1 lit. a Vertikal-GVO. Die Vertriebsvereinbarungen bestehen zwischen P und dessen Händlern, und damit zwischen Unternehmen, die auf unterschiedlichen Stufen der Produktions- und Vertriebskette tätig sind. Sie betreffen zudem die Bedingungen, zu denen die Händler die Waren verkaufen und weiterverkaufen müssen. Damit handelt es sich um eine vertikale Vereinbarung. Diese vertikale Vereinbarung enthält auch eine vertikale Beschränkung i.S.d. Art. 1 Abs. 1 lit b Vertikal-GVO. Der Anwendungsbereich ist damit eröffnet. Vorrangige Verordnungen sind nicht einschlägig, Art. 2 Abs. 5 GVO. b. Marktanteilsschwellen, Art. 3 Abs. 1 GVO (bis zu 30 % Marktanteil) Die Schwellenwerte des Art. 3 Abs. 1 Vertikal-GVO sind nicht überschritten, da weder P noch dessen Abnehmer einen Marktanteil von über 30 % an dem relevanten Markt haben. 6 Beachte: Bevor auf eine Einzelfreistellung nach Art. 101 Abs. 3 AEUV eingegangen wird, ist in der Klausur immer zunächst zu untersuchen, ob eine Gruppenfreistellung nach einer GruppenfreistellungsVO in Betracht kommt. 7 Verordnung (EU) Nr. 330/2010 der Kommission vom 20.4.2010 über die Anwendung von Artikel 101 Absatz 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf Gruppen von vertikalen Vereinbarungen und abgestimmten Verhaltensweisen. Sommersemester 2015 - 15 - B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach Examinatorium Zivilrecht Skript c. Zwischenergebnis Die Vertriebsvereinbarung ist damit grundsätzlich freigestellt. d. Keine Kernbeschränkung gemäß Art. 4 und 5 GVO? Es könnte jedoch eine Ausnahmebestimmung gem. Art. 4 oder 5 Vertikal-GVO eingreifen.8 In Betracht kommt insbesondere Art. 4 lit. c, wonach Beschränkungen des aktiven oder passiven Verkaufs an Endverbraucher durch auf der Einzelhandelsstufe tätige Mitglieder eines selektiven Vertriebssystems eine Kernbeschränkung darstellen und damit nicht freistellungsfähig sind. Durch das in der Vertriebsvereinbarung enthaltene Verbot des Internetvertriebs wird zumindest die Beschränkung des passiven Verkaufs9 an Endverbraucher beschränkt, die über das Internet kaufen möchten und außerhalb des physischen Einzugsgebiets der jeweiligen zum Vertriebsnetz zugehörigen Apotheke ansässig sind. Das Verbot des Internetvertriebes ist auch nicht mit einem Verbot, Geschäfte nicht von einer nicht zugelassenen Niederlassung aus zu betreiben, vergleichbar. Denn der Begriff „zugelassene Niederlassungen“ erfasst nur Verkaufsstellen, in denen Direktverkäufe vorgenommen werden. Insofern gilt auch nicht die Ausnahme des Art. 4 lit. c Hs. 2. Hier: Schwarze Klausel („Kernbeschränkung“) gemäß Art. 4 c Vertikal-GVO erfüllt. 2. Einzelfreistellung? Die Vertriebsvereinbarung könnte aber im Wege der Einzelfreistellung gem. Art. 101 Abs. 3 AEUV vom Verbot des Art. 101 Abs. 1 AEUV auszunehmen sein. Fraglich ist, ob eine Kernbeschränkung überhaupt in den Genuss einer Einzelfreistellung kommen kann. Dies ist jedoch zu bejahen, da die Gruppenfreistellungsverordnung ansonsten 8 Die fünf Kernbeschränkungen des Art. 4 Vertikal-GVO beschränken den Wettbewerb jeweils so stark, dass bei ihrem Vorliegen die gesamte Vereinbarung unwirksam ist. Art. 5 Vertikal-GVO enthält demgegenüber die sogenannten „grauen Klauseln“. Im Unterschied zu den schwarzen Klauseln des Art. 4 Vertikal-GVO können diese von der zugrunde liegenden Vereinbarung abgetrennt werden, sodass nur der von Art. 5 Vertikal-GVO betroffene Teil einer Vereinbarung unwirksam ist. Der nichtbetroffene Teil der Vereinbarung kann grds. nach der Vertikal-GVO freigestellt werden. 9 Siehe auch die Begriffsbestimmung in den Vertikal-Leitlinien der Kommission (vom 19.5.2010, Abl. Nr. C 130 S. 1) Tz. 50: „Erledigung unaufgeforderter Bestellungen einzelner Kunden“, d. h. ohne gezielte Ansprache dieser Kunden. Sommersemester 2015 - 16 - B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach Examinatorium Zivilrecht Skript indirekt den Charakter einer Gruppenverbotsverordnung erlangen würde, die das europäische Recht nicht kennt. a. Verbesserung der Warenerzeugung oder -verteilung oder Förderung des technischen Fortschritts (vgl. „Geeignetheit“) Voraussetzung einer Freistellung im Wege der Einzelbeurteilung ist zunächst, dass die wettbewerbsbeschränkende Vereinbarung zur Verbesserung der Warenerzeugung oder -verteilung oder zur Förderung des technischen oder wirtschaftlichen Fortschritts beiträgt. Die in der Vertriebsvereinbarung enthaltene Verpflichtung, dass in den Verkaufsstellen mindestens eine Person mit einem ausgestellten oder anerkannten Apothekerdiplom ständig physisch anwesend ist, begründet die P mit der Art ihrer Produkte, die eine fachliche Beratung erfordere. Die Produkte seien auf besondere Hautprobleme, wie z.B. überempfindliche Haut, abgestimmt, bei denen das Risiko einer allergischen Reaktion bestehe. Die Verpflichtung führt demnach zu einer besser auf die Bedürfnisse des Kunden abgestimmten Verkaufs der jeweiligen Produkte und steigert allgemein das Serviceniveau. Dies stellt einen typischen Effizienzvorteil dar, wie ihn auch die Leitlinien zur Anwendung von Art. 81 Abs. 3 EG-Vertrag (jetzt: Art. 101 Abs. 3 AEUV) im Auge hatten.10 Zugleich wird einer Verminderung dieses Serviceniveaus infolge von Trittbrettfahrern entgegengewirkt. Auch dies stellt (zumindest mittelbar) einen Effizienzvorteil dar. Trittbrettfahrer treten typischerweise bei Dienstleistungen auf, die ein Händler vor Vertragsschluss erbringt und deren Inanspruchnahme nicht in Rechnung gestellt wird. In solchen Fällen könnte der Kunde die intensive Beratung z.B. im vorliegenden Fall durch einen Apotheker in Anspruch nehmen und danach das Produkt von einem günstigeren Anbieter ohne Serviceleistung erwerben. Folge wäre, dass preisorientierte Anbieter von den absatzfördernden Vertriebsleistungen serviceorientierter Anbieter profitieren, ohne dass diese für ihre Leistung entgolten werden. Dies kann wiederum dazu führen, dass die serviceorientierten Anbieter ihre Serviceleistungen reduzieren, womit das Serviceniveau allgemein verschlechtert würde. Auch im vorliegenden Fall scheint die Gefahr von Trittbrettfahrern nicht ausgeschlossen. So könnte der Kunde sich in einer Apotheker fachkundig beraten lassen, um danach das empfoh- 10 Vgl. Leitlinien zur Anwendung von Artikel 81 Absatz 3 EG-Vertrag, Rz. 72. Sommersemester 2015 - 17 - B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach Examinatorium Zivilrecht Skript lene Produkt günstiger über das Internet zu bestellen. Andererseits wird ein Apotheker auch bei Auftreten von Trittbrettfahrern weiterhin eine umfassende Beratung für alle von ihm anebotenen Produkte leisten. Ein Apotheker wird bei seiner Beratung letztlich auch nur schwer differenzieren können. Verkauft sich das Produkt allerdings nicht mehr (weil Kunden das Produkt nun über das Internet bestellen), so besteht die Gefahr, dass Apotheker das Produkt aus ihrem Sortiment herausnehmen. Im Ergebnis führt dies zu einem kompletten Wegfall der Beratung. Anm.: Gegen die hier dargestellten Effizienzvorteile könnte vorgebracht werden, dass die Sicherung von Beratungsleistungen bzw. die Steigerung des allgemeinen Serviceniveaus nur als positiver Effekt gewertet werden kann, wenn es sich um Waren handelt, bei denen zusätzliche Beratungsleistungen aus Sicht der Konsumenten wünschenswert sind. Bearbeiter könnten anführen, dass aufgrund des massenhaften Angebots solcher Pflegeprodukte in anderen Verkaufsstellen (z.B. Drogeriemärkten u.a.) eine Beratung typischerweise vom Kunden nicht mehr erwartet wird. Dem lässt sich jedoch entgegenhalten, dass es sich vorliegend um Pflegeprodukte für spezielle Hautprobleme handelt. Der Kunde also doch zumindest anfangs (z.B. beim ersten Kauf eines solchen Produkts) einer Beratung bedarf und sie auch erwartet. Gegen die Annahme einer Gefahr durch Trittbrettfahrer könnte von Bearbeitern angeführt werden, dass aufgrund der Kosten, die mit Einrichtung und Betrieb einer Website auf hohem Niveau verbunden sind, die Internethändler sich die Investitionen, die von Verkaufsstellen unterhaltenden Vertriebshändlern getätigt wurden, nicht als Trittbrettfahrer zunutze machen. Es ist allerdings davon auszugehen, dass die Kosten des Betreibens einer Website langfristig deutlich geringer sein dürften, als die der Serviceleistung in Form der fachkundigen Beratung. b. Unerlässlichkeit der den beteiligten Unternehmen auferlegten Beschränkungen für die Zielverwirklichung (vgl. „Erforderlichkeit“) Ferner müssten die Beschränkungen unerlässlich sein für die Erzielung der Effizienzgewinne. Es geht dabei um die Frage, ob die Effizienzgewinne nicht auch mit weniger wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarungen erzielt werden können. Zu denken wäre u.a. an detaillierte Kundeninformationen (in Form von Texten, Bildern, interaktiven Elementen u.a.), die eine Internetseite bereithalten könnte. Dies ist jedoch mit der Sommersemester 2015 - 18 - B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach Examinatorium Zivilrecht Skript konkret auf den einzelnen Kunden zugeschnittenen und unmittelbaren Beratung eines Apothekers nicht gleichzusetzen. Denkbar ist aber auch eine vertragliche Lösung: P könnte die Apotheken im Wege eines Servicevertrages dazu verpflichten, die gewünschten Beratungsleistungen zu erbringen, und sie dafür durch Rabatte o.ä. direkt entlohnen. Dies würde ein entsprechendes Serviceniveau gewährleisten. Da dieses Mittel bei gleicher Effektivität als weniger einschneidend zu beurteilen ist, ist das in den Vertriebsbedingungen enthaltene faktische Internetvertriebsverbot nicht als unerlässlich anzusehen. Anm.: Bei guter Argumentation sind andere Ansichten gut vertretbar. c. Angemessene Beteiligung der Verbraucher am Gewinn (vgl. „Verhältnismäßigkeit i. e. S.) Die Verbraucher11 müssen zudem eine angemessene Beteiligung an den durch die beschränkende Vereinbarung entstehenden Effizienzgewinn erhalten. „Angemessene Beteiligung“ bedeutet dabei, dass die Weitergabe der Vorteile die tatsächlichen oder voraussichtlichen negativen Auswirkungen mindestens ausgleicht, die durch die Wettbewerbsbeschränkung gem. Art. 101 Abs. 1 AEUV entstehen. Die oben dargestellten Effizienzvorteile sind demnach mit den sich aus der Vertriebsvereinbarung ergebenden Nachteilen abzuwägen. Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass die Verpflichtung zur physischen Anwesenheit eines Apothekers de facto zu einem Verbot des Internetvertriebes führt. Der Internetvertrieb kann jedoch erhebliche Vorteile mit sich bringen, denn er eröffnet dem Kunden die Möglichkeit, die Produkte von zu Hause aus zu bestellen, ohne sich dafür an einen anderen Ort begeben zu müssen. Ferner eröffnet es den Händlern die Möglichkeit die Produkte auch außerhalb ihres unmittelbaren Tätigkeitsbereichs zu vertreiben. Diese Nachteile überwiegen die genannten Effizienzvorteile. Denn der Ausschluss einer ganzen Vertriebsform (Internetvertrieb) ist stärker zu gewichten als ein teilweiser Anstieg in der 11 Verbraucher i.S.d. Art. 101 Abs. 3 AEUV sind nicht nur Verbraucher i.S.d. § 13 BGB, sondern alle unmittelbaren und mittelbaren Nutzer der Produkte, auf die sich die Vereinbarung bezieht. Das können neben Endkunden sein: Produzenten, die die Ware als Vorprodukt benötigen; Großhändler und Einzelhändler. Sommersemester 2015 - 19 - B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach Examinatorium Zivilrecht Skript Beratungsqualität. Zu berücksichtigen ist dabei, dass auch bei Zulassung des Internetvertriebs davon ausgegangen werden kann, dass Kunden Beratungsleistungen sowohl in Apotheken als auch bei Ärzten in Anspruch werden nehmen können. Eine Beratung ist somit nicht gänzlich ausgeschlossen. Anm.: Ein anderes Ergebnis der Abwägung ist hier durchaus vertretbar. e. Keine Ermöglichung der Ausschaltung des Wettbewerbs für einen wesentlichen Teil der betreffenden Waren. Durch das faktische Internetverbot könnte für einen wesentlichen Teil der betreffenden Waren die Ausschaltung des Wettbewerbs ermöglicht werden. Hierfür spricht, dass ein kompletter Vertriebsweg ausgeschaltet wird, was zusätzlichen Wettbewerb erheblich einschränkt. Gegen die Annahme einer möglichen Ausschaltung des Wettbewerbs spricht aber, das P lediglich einen geringen Marktanteil innehat und reger Interbrand-Wettbewerb vorherrscht. III. Ergebnis Die in der Vertriebsvereinbarung enthaltene Klausel ist gem. Art. 101 Abs. 2 AEUV nichtig. P hat gegen V somit keinen Anspruch auf Zahlung einer Vertragsstrafe. Sommersemester 2015 - 20 - B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach Examinatorium Zivilrecht Skript [Exkurs 1: Kartellbehördliche Verfügungen 1. Abstellungsverfügungen, Art. 7 VO 1/2003 bzw. § 32 GWB 2. Bußgeldentscheidungen, Art. 23 VO 1/2003 bzw. §§ 81 f. GWB 3. Verpflichtungszusagenentscheidungen Art. 9 VO 1/2003 bzw. § 32 b GWB 4. Einstweilige Maßnahmen Art. 8 VO 1/2003 bzw. § 32a GWB 5. Feststellung der Nichtanwendbarkeit Art. 10 VO 1/2003/ Kein Anlass zum Tätig werden § 32c GWB Exkurs 2: Verpflichtungszusagen und Verhältnismäßigkeit: Die Alrosa-Rechtsprechung Verfahrensgang o EuG, Urteil v. 11.7.2007, T-170/06 – Alrosa, WuW EU-R S. 1284, 1291 o EuGH, Urteil v. 29.6.2010, C-441/07 P - Alrosa, Slg. I-2010, S. 6012, 6033 Problem: Verhältnismäßigkeitsmaßstab bei Verpflichtungszusagenentscheidungen nach Art. 9 VO 1/2003? o EuG: Gleicher Umfang wie Abstellungsverfügungen nach Art. 7 VO 1/2003 o EuGH: Deutlich großzügigerer Maßstab als bei Abstellungsverfügungen nach Art. 7 VO 1/2003 Arg.: Freiwilligkeit der Verpflichtungszusagen CONTRA: Erpressungspotential, Rechtsstaatlichkeit, Drittinteressen] Sommersemester 2015 - 21 - B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach Examinatorium Zivilrecht Skript II. Private Schadensersatzklagen wegen Verstoßes gegen das Kartellrecht 3. Sachverhalt (aus studienabschließender Klausur WS 2011/12) P, die ihren Sitz in Frankreich hat, produziert neben Kosmetika das (nichtverschreibungspflichtige) Medikament M, mit dem sich Akne behandeln lässt. Die Europäische Kommission hat in einer Entscheidung festgestellt, dass P im Zeitraum Februar 2008 – Februar 2010 zusammen mit sämtlichen anderen europäischen Herstellern die Preise für Akneprodukte bei einem Treffen der Vorstände in Luxemburg kartellrechtswidrig abgesprochen hat. P hat gegen die Entscheidung der Kommission Klage vor dem Gericht erster Instanz eingelegt. Der in Würzburg ansässige Apotheker A will wissen, vor welchem Gericht er mit welcher Aussicht auf Erfolg von P Schadensersatz verlangen kann. A, der neben dem Akneprodukt des P außerdem dasjenige eines Konkurrenten des P, X, verkauft, macht wahrheitsgemäß geltend, die im Februar 2008 erfolgten Preiserhöhungen in Höhe von 20 Prozent seien von seinem in Frankfurt ansässigen Pharmagroßhändler eins zu eins an den Einzelhandel weitergegeben worden. Er selbst habe es nicht gewagt, seine Ladenpreise entsprechend zu erhöhen. Insgesamt habe er nur die Hälfte der Mehrbelastung an seine Kunden weitergegeben. Dies sei ihm nur möglich gewesen, weil insgesamt das Preisniveau für Akneprodukte im Einzelhandel entsprechend gestiegen sei. Es ist zu unterstellen, dass das französische Kartelldeliktsrecht dem deutschen entspricht. Hat eine Klage des A Aussicht auf Erfolg? Sommersemester 2015 - 22 - B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach Examinatorium Zivilrecht Skript 4. Lösungsvorschlag 1. Internationale Zuständigkeit: a. Anwendungsbereich der EuGVVO Der Anwendungsbereich der EuGVVO ist eröffnet (sachlich, zeitlich, räumlich-persönlich), Art. 1 Abs. 1, Abs. 2, Art. 4 EuGVVO) b. Allgemeiner Gerichtsstand Allgemeiner Gerichtsstand der P ist nach Art. 2 Abs. 1, Art. 60 lit. a) EuGVVO Frankreich. c. Besonderer Gerichtsstand der unerlaubten Handlung nach Art. 5 Nr. 3 EuGVVO i. Meinungsstand Ferner kommt der besondere Gerichtsstand der unerlaubten Handlung nach Art. 5 Nr. 3 EuGVVO in Betracht. Ein Kartellverstoß ist eine unerlaubte Handlung i.S.d. Art. 5 Nr. 3 EuGVVO.12 Damit ist der Ort des schädigenden Ereignisses Gerichtsstand. In Betracht kommen grundsätzlich eine Anknüpfung an den Handlungsort als auch eine an den Erfolgsort. Es ergeben sich im Kartelldeliktsrecht aber erhebliche Schwierigkeiten diese Orte zu bestimmen.13 Von den Bearbeitern ist insofern eine Auseinandersetzung mit den möglichen Lösungen zu erwarten. Die spezifischen Probleme der Anknüpfung im Kartellrecht sollten zumindest den Grundzügen an Hand der Auslegungsgrundsätze zu den besonderen Gerichtsständen der EuGVVO diskutiert und gelöst werden:14 (1) Handlungsortanknüpfung: a) e.A.: Ort der kartellrechtswidrigen Absprache: Eine Ansicht knüpft an den Ort der kartellrechtswidrigen Absprache als Handlungsort, hier Luxemburg, an. Dagegen spricht aber, dass er weder dem Kriterium der Sach- und Beweisnä- 12 Rauscher, EuZPR/ EuIPR 2011, Brüssel I VO, Art. 5 EUGVO, Rn. 79 m.w.N.. 13 Siehe hierzu Maier, Marktortanknüpfung im internationalen Kartelldeliktsrecht, 2011, S. 124 ff. 14 Vgl. auch Erwägungsgründe 11 und 12 der EuGVVO. Sommersemester 2015 - 23 - B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach Examinatorium Zivilrecht Skript he entspricht noch für den (potentiell) Kartellgeschädigten vorhersehbar ist. Außerdem würde den Kartellanten die Möglichkeit eröffnet, einen für sie günstigen Handlungsort zu wählen. b) a.A.: Ort der Durchführung der kartellrechtswidrigen Absprache:15 Andere sehen den Ort der Durchführung der kartellrechtswidrigen Absprache als sinnvollen Anknüpfungspunkt an. Nach dieser Meinung könnte Frankreich als Durchführungsort angenommen werden, da hier der überhöhte Kartellpreis durch P festgelegt wurde. Gegen eine Anknüpfung an den Ort der Durchführung der kartellrechtswidrigen Absprache als Handlungsort spricht aber, dass gerade bei der Schadensersatzklage des mittelbaren Abnehmers keine besondere Sach- und Beweisnähe in Bezug auf den entstandenen Schaden besteht. Außerdem ist der Ort der Umsetzung nicht hinreichend sicher zu bestimmen.16 Schließlich ist zu bedenken, dass die Durchführung eines Preiskartells notwendigerweise ein konzertiertes Vorgehen voraussetzt. Insofern müssten alle zu Kartellpreisen erfolgten Angebote aller beteiligten Kartellanten als Durchsetzungsorte angenommen werden. Wegen dieser Abgrenzungsprobleme ist diese Meinung abzulehnen. c) a.A.: Ort des Sitzes der Beklagten:17 Eine wiederum andere Ansicht knüpft am Sitz der Beklagten an, hier Frankreich. Wenngleich die Anknüpfung an den Ort des Sitzes des Beklagten geeignet ist, einer Multiplikation der Gerichtsstände entgegenzuwirken, ist auch er als Handlungsort abzulehnen. Zum einen ist er mit dem allgemeinen Gerichtsstand identisch, zum anderen weist er mindestens hier keine besondere Sach- und Beweisnähe auf, da der Schaden des A erst durch den Vertragsschluss mit dem Großhändler entstanden ist. 15 eine solche Anknüpfung erwägt auch Mäsch, Vitamine für Kartellopfer – Forumshopping im europäischen Kartelldeliktsrecht, IPrax 2005, 509, 514. 16 Maier, a.a.O., S.133 ff. 17 Geimer, in: Zöller, 28. Aufl., Anh I, Art. 5, Rn. 27; Mäsch, Vitamine für Kartellopfer – Forumshopping im europäischen Kartelldeliktsrecht, IPrax 2005, 509, 515. Sommersemester 2015 - 24 - B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach Examinatorium Zivilrecht Skript d) a.A.: Marktortanknüpfung: In Bezug auf den Handlungsort ist Marktort der Ort, auf dessen Markt die Handlung des Kartellanten ausgerichtet ist. Während bei unmittelbar Kartellgeschädigten regelmäßig ein Gleichlauf des Marktortes der schädigenden Handlung mit dem des Erfolgs vorliegt, 18 ist dies bei mittelbar Geschädigten wie dem A nicht notwendigerweise der Fall. Insofern muss hier zur Bestimmung des für die Handlung maßgebenden Markts auf den Markt abgestellt werden, auf dem sich der Frankfurter Großhändler und P begegnen. Hier hat P die kartellrechtswidrigen Preise schon beim Vertragsschluss mit dem Großhändler durchgesetzt. Es lässt sich jedoch nicht klären, auf welchem nationalen Markt sich die P und der Großhändler zum Geschäftsabschluss begegnet sind. In Betracht kommen insofern lediglich der deutsche und der französische Markt. (2) Erfolgsortanknüpfung in Form der Marktortanknüpfung:19 Beim Anknüpfen am Erfolgsort ist der Ort gemeint, dessen Markt bei der Umsetzung des Kartells betroffen ist (Auswirkungsprinzip). Die Preisabsprache wirkt sich vorliegend nicht alleine auf den deutschen Markt, sondern auf alle nationalen Märkte des Absatzgebietes von P und X aus. Daher ist vorliegend auf den Markt abzustellen, auf dem der Geschädigte tätig ist. Es ist also festzustellen, welchem Markt der Vertragsschluss zwischen A und dem Großhändler zuzuordnen ist, da erst durch den Vertragsschluss die Preisabsprache sich schädigend für A ausgewirkt hat. Dies ist der deutsche Markt, da beide Vertragspartner davon ausgehen, dass sie ein Geschäft in Bezug auf den deutschen Absatzmarkt tätigen. Die Marktortanknüpfung als Erfolgsortsanknüpfung erscheint vorzugswürdig, da sie den Gerichtsstand für die Beteiligten vorhersehbar macht und die größtmögliche Sach- und Beweisnähe garantiert.20 Zwar birgt die Marktortanknüpfung das Problem der Bestimmung eines nationalen Marktes. Welcher nationale Absatzmarkt betroffen ist lässt sich aber durch die Geschäftsbeziehungen der Geschädigten und die näheren Umstände im Einzelfall hinreichend bestimmt und vorhersehbar klären. 18 Maier, a.a.O., S. 138. 19 Vgl. Maier, a.a.O., S. 144 ff. 20 Maier a.a.O., S. 152 ff; so im Ergebnis auch Geimer, ebd. Sommersemester 2015 - 25 - B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach Examinatorium Zivilrecht Skript Ob eine gesonderte Anknüpfung an den Marktort der schädigenden Handlung sinnvoll ist, ist zumindest deswegen fraglich, weil zu dem Markt, auf dem sich der Großhändler und P treffen, im Verhältnis zwischen A und P keine besondere Beziehung besteht. Außerdem ist fraglich, ob eine solche Anknüpfung tatsächlich eine Beweiserleichterung bedeuten würde, da ein Zwischenhändler selbst ein wirtschaftliches Interesse an den erhöhten Kartellpreisen haben kann. Der Zwischenhändler ist in solchen Fällen eher dem Lager der Kartellanten zuzurechnen. Eine Entscheidung kann hier aber offen bleiben, da ersichtlich entweder der deutsche oder der französische Markt in Betracht kommen, also entweder ein Gleichlauf mit dem allgemeinen Gerichtsstand Frankreich oder dem des Erfolgsortes i.S.d. Marktortes des Absatzes an den A Deutschland vorliegt. ii. Zwischenergebnis Besonderer Gerichtsstand nach Art. 5 Nr. 3 EuGVVO ist Deutschland. d. Ergebnis International zuständig sind somit französische sowie deutsche Gerichte. 2. Anwendbares Recht: a. Vertragliche Anspruchsgrundlagen (Anwendbarkeit Rom I-VO) Vertragliche Anspruchsgrundlagen kommen nicht in Betracht. A und P sind allein durch eine Vertragskette, nicht aber durch einen Vertrag miteinander verbunden. b. Deliktischer Anspruch (Anwendbarkeit Rom II-VO) i. Anwendbarkeit der Rom II-VO, Art. 1 Rom II-VO Vorliegend handelt es sich um einen deliktischen Anspruch, im Rahmen dessen eine Verbindung des deutschen und des französischen Rechts gegeben ist, Art. 1 Rom II-VO. Ein Ausnahmefall nach Art. 1 Abs. 1 S. 2, Abs. 2 Rom II-VO kommt nicht in Betracht. Die Rom IIVO ist damit anwendbar. Sommersemester 2015 - 26 - B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach Examinatorium Zivilrecht Skript ii. Anwendung des richtigen nationalen Rechts, Art. 6 Rom II-VO Die Kartellabsprache ist ein den Wettbewerb einschränkendes Verhalten i. S. d. Art. 6 Abs. 3 Rom II-VO. Entsprechend dem Auswirkungsprinzip21 ist das Recht des Staates anzuwenden, dessen Wettbewerb beeinträchtigt ist. Hier ist zumindest auch der deutsche Markt beeinträchtigt, da sich die Kartellabsprache gerade in der Preisbildung im Einzelhandel, der Apotheke des A, auswirkt. Nach Art. 6 Abs. 3 lit. b) EuGVVO kann A, wenn er in Frankreich klagt, allerdings verlangen, dass französisches Kartelldeliktsrecht zur Anwendung kommt. Dies macht im Ergebnis keinen Unterschied, da laut Bearbeitervermerk zu unterstellen ist, dass das französische Recht dem deutschen entspricht. 3. Anwendung des deutschen Rechts a. Anspruchsgrundlage: § 33 Abs. 3 GWB In Anwendung des deutschen Rechts kommt vorliegend ein kartelldeliktsrechtlicher Schadensersatzanspruch nach § 33 GWB in Betracht. i. Problem: Anspruchsberechtigung indirekter Abnehmer: Fraglich ist zunächst, ob A als bloßer mittelbarer Abnehmer überhaupt anspruchsberechtigt ist. Der Bearbeiter sollte sich an diesem Punkt mit der Rechtsprechung des BGH zu dieser Problematik auseinandersetzen (BGH, Urt. v. 28.06.2011, KZR 75/10 „ORWI“); Streitentscheid unter Abwägung u.a. folgender Argumente: (1) e.A.: nur der unmittelbaren Marktgegenseite steht ein Schadensersatzanspruch zu (Rz. 20) Nach einer Ansicht steht nur der unmittelbaren Marktgegenseite ein Schadensersatzanspruch zu. Hier könnte dann nur der Großhändler gegenüber P einen Schaden geltend machen. Zur 21 Rauscher, EuIZVR/ EuIPR 2010, Rom I/ Rom II, Art. 6 Rom II-VO, Rn. 50; vgl. auch Erwägungsgrund 22 zu Rom II-VO. Sommersemester 2015 - 27 - B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach Examinatorium Zivilrecht Skript Begründung weisen die Vertreter dieser Ansicht darauf hin, dass andernfalls die Zahl der möglichen Anspruchsberechtigten vervielfacht würde. So bestünde die Gefahr einer unverhältnismäßigen Inanspruchnahme des Schädigers (Rz. 27). Außerdem würde – eine Verweigerung des Abwälzungseinwands (passing on-defense) vorausgesetzt – die Schadensberechnung praktikabler werden. Ferner entspreche es dem Präventionsgedanken des Kartellrechts „die Schadensersatzansprüche beim Direktabnehmer zu konzentrieren, der den besten Zugang zu den für die Substantiierung der Klage erforderlichen Informationen habe und am ehesten das verbotene Verhalten und die Höhe von Preisaufschlägen beweisen könne.“ (vgl. Rz. 28) (2) a.A.: Auch Folgeabnehmern steht als Kartellgeschädigten ein Anspruch zu (Rz. 21) Nach einer anderen Ansicht steht dagegen auch Folgeabnehmern als Kartellgeschädigten ein Schaden zu. So blieben die schädlichen Wirkungen eines Kartells häufig nicht auf die unmittelbare Marktgegenseite beschränkt(Tz. 26). Indirekte Abnehmer generell von der Anspruchsberechtigung auszunehmen hätte zur Folge, gerade jenen Ansprüche zu verwehren, die häufig in erster Linie durch Kartelle oder verbotene Verhaltensweisen geschädigt werden (Rz. 26). Eine unzumutbare Inanspruchnahme des Geschädigten könne über die Grundsätze der Vorteilsausgleichung bei den einzelnen Geschädigten vermieden werden, wenn die unmittelbar Geschädigten die Preiserhöhung tatsächlich an die mittelbar Geschädigten weitergeben konnten (Rz. 27). Ebenfalls denkbar sei ein Innenausgleich zwischen den Geschädigten (Rz. 22). Angesichts der Bedeutung des Kartellverbots für die Wirtschaftsordnung sei es außerdem geboten, denjenigen gesetzestreuen Marktteilnehmern deliktsrechtlichen Schutz zu gewähren, auf deren Kosten ein kartellrechtlich verbotenes Verhalten praktiziert wird (Rz. 25). Einem Geschädigten dürfe ein Schadensersatzanspruch nicht von vornherein mit der Begründung verwehrt werden, dass ein Nachweis seiner Voraussetzungen Schwierigkeiten bereitet (Rz. 27). Schließlich würden die direkten Abnehmer nicht selten wenig oder kein Interesse daran haben, Schadensersatz von ihren kartellangehörigen Lieferanten zu verlangen (Rz. 30) (langjährige Geschäftsbeziehungen; eigene wirtschaftliche Vorteile etc. vgl. Rz. 33). Nach Art. 12 Abs. 1 der neuen Richtlinie zu Kartellschadensersatzklagen22 haben die Mitgliedstaaten sicherzustellen, dass auch mittelbare Abnehmer eines Kartellanten Schadensersatz verlangen 22 Richtlinie 2014/104/EU v. 26.11.2014, Abl. L 349/1, abrufbar u.a. unter http://kartellblog.de/wordpress/wpcontent/uploads/richtlinie-schadensersatz-deutsch.pdf. Sommersemester 2015 - 28 - B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach Examinatorium Zivilrecht Skript können. Die Richtlinie ist bis zum 27.12.2016 ins deutsche nationale Recht umzusetzen. Die Anerkennung eines Schadensersatzanspruchs mittelbarer Abnehmer im Kartellrecht entspricht aber bereits jetzt der Rechtsprechung des BGH in Sachen ORWI. Nach alldem ist auch indirekten Abnehmern eine Anspruchsberechtigung im Rahmen des § 33 Abs. 3 GWB einzuräumen. ii. Kartellverstoß Ein Kartellverstoß nach Art. 101 AEUV bzw. § 1 GWB liegt vor. Zwar folgt eine Bindungswirkung der Entscheidung der Kommission nicht aus § 33 Abs. 4 GWB, da diese Vorschrift die Bestandkraft der kartellbehördlichen Entscheidung voraussetzt. Hier ist eine Klage der P gegen die Kommissionsentscheidung vor dem EuG anhängig. Jedoch ergibt sich eine Bindungswirkung an den in der Entscheidung festgestellten Kartellrechtsverstoß aus Art. 16 VO 1/2003. Für Art. 16 VO 1/2003 kommt es auf Bestandskraft gerade nicht an.23 In der Praxis würde ein nationaler Richter allerdings das Verfahren aussetzen und die Bestandskraft der Kommissionsentscheidung abwarten. iii. Verschulden der P: Vorsatz iv. Schaden des A, § 249 ff BGB: Die Schadensberechnung erfolgt auch im Kartelldeliktsrecht grundsätzlich nach der Differenzhypothese, jedoch ist die Ermittlung der hypothetischen Vermögensmasse des Geschädigten praktisch mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden. Regelmäßig muss der Schaden nach § 287 ZPO vom Gericht geschätzt werden. In der Praxis üblich ist die Berechnung/Schätzung des Schadens über die Preisüberhöhung: a. Preisüberhöhungsschaden (damnum emergens) i. Schadensentstehung Der Schaden liegt im Vertragsschluss Großhändler – Einzelhändler (A) zu einem überhöhten Preis. Die Differenz zwischen tatsächlich verlangtem (Kartell)preis und hypothetischem 23 Siehe nur die Nachweise bei Schneider, in MükoWettbR EG, Art. 16 VO 1/2003, Rz. 10 Sommersemester 2015 - 29 - B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach Examinatorium Zivilrecht Skript Wettbewerbspreis wird als Schaden angenommen. Der hypothetische Wettbewerbspreis wird durch die Betrachtung eines vergleichbaren Marktes ermittelt (zeitlicher, sachlicher oder räumlicher Vergleichsmarkt). Hier: Zeitlicher Vergleichsmarkt, Betrachtung des Marktes vor der Kartellabsprache. ii. Kausalität zwischen Schaden und Kartellabsprache Die Kartellabsprache müsste kausal für einen entstanden Schaden gewesen sein. Nach der Rechtsprechung des BGH kann eine Kausalität grundsätzlich nicht vermutet werden, wenn Kartellabsprache und Preiserhöhung zeitlich miteinander korrespondieren (vgl. ORWI-Urteil, Rz. 45). Anmerkung:24 Hinsichtlich der Regelungen zur Beweislast für eine Weitergabe kartellbedingter Preiserhöhungen weicht die Richtlinie von der ORWI-Rechtsprechung des BGH ab. Nach Auffassung des BGH ist der Nachweis einer Preiserhöhung auf dem Sekundärmarkt25 vom Kläger, d. h. vom mittelbaren Abnehmer zu erbringen. Aus dem zeitlichen Aufeinandertreffen von Kartellabsprache und Preiserhöhung könne keine Vermutung hinsichtlich der Kausalität gefolgert werden. Auch darüber hinaus existieren nach der BGH-Rechtsprechung kaum Beweiserleichterungen hinsichtlich der Darlegungslast für den Kläger. Die Richtlinie statuiert demgegenüber in Art. 14 Abs. 2 eine Vermutung der Weitergabe der Preiserhöhung an den mittelbaren Abnehmer, wenn der Kläger beweisen kann, dass (1.) der Beklagte gegen Wettbewerbsrecht verstoßen hat, (2.) die Zuwiderhandlung einen Preisaufschlag für den unmittelbaren Abnehmer zur Folge hatte und (3.) der mittelbare Abnehmer Waren oder Dienstleistungen erworben hat, die Gegenstand der Zuwiderhandlung waren, oder sie aus solchen Waren oder Dienstleistungen hervorgingen oder sie enthielten. Diese Vermutung kann nur widerlegt werden, wenn der Beklagte glaubhaft macht, dass der Preisaufschlag nicht oder nicht vollständig 24 Siehe dazu A. Petrasincu: Anspruchsberechtigung mittelbarer Abnehmer, kartellblog.de v. 11.2.2015, abrufbar unter http://kartellblog.de/2015/02/11/alex-petrasincu-anspruchsberechtigung-mittelbarer-abnehmer/ 25 Der Markt, auf dem der mittelbare Abnehmer tätig ist. Sommersemester 2015 - 30 - B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach Examinatorium Zivilrecht Skript weitergegeben wurde. Damit geht die Richtlinie weit über die ORWI-Rechtsprechung des BGH hinaus, sodass an dieser insoweit nicht mehr festgehalten werden kann. Für den Beklagten hat dies zur Folge, dass er erheblich mehr belastet ist, als das durch die ORWI-Rechtsprechung der Fall war: Er trägt erstens die Beweislast für die passing on-defense und hat zweitens die Vermutung für die Weitergabe kartellbedingter Preiserhöhungen an mittelbare Abnehmer gegen sich. Im schlechtesten Fall kann dies dazu führen, dass Kartellanten mehrfach in Anspruch genommen werden. Art. 15 der Richtlinie bürdet die Lösung dieses Problems den Mitgliedstaaten auf, indem Gerichte Schadensersatzklagen von Klägern auf anderen Vertriebsstufen gebührend zu berücksichtigen haben. Die Mitgliedstaaten müssen die entsprechenden Regelungen erlassen. Aus Beklagtensicht ist diese Lösung sicher nicht optimal, da damit eine nicht unerhebliche Rechtsunsicherheit einhergeht. Auf Grund der wohl drohenden mehrfachen Inanspruchnahme der Kartellanten sind die entsprechenden Regelungen aus Beklagtensicht zwar nachteilhaft. Andererseits verstärken sie den Abschreckungseffekt von privaten Schadensersatzklagen und erhöhen somit die Durchsetzbarkeit des Kartellrechts im privaten Bereich.26 Hier ist der Nachweis durch A aber gelungen. Die Kausalität entfällt auch nicht durch die eigenverantwortliche Preiserhöhung durch A. Ebenfalls entfällt die Kausalität auch nicht aus dem Grund, dass der Umsatzrückgang des A auch auf der Preiserhöhung von X beruht, denn dieses Verhalten muss sich P nach § 830 Abs. 1 S. 1 BGB zurechnen lassen. Es besteht insofern eine gesamtschuldnerische Haftung des P für gemeinsam mit X verursachten Kartellschaden, §§ 830 Abs. 1 S. 1, 840 Abs. 1 BGB. Auch auf das kartellrechtswidrige Verhalten der anderen Kartellanten ist nach Art. 6 Abs. 3 lit a) Rom II-VO deutsches kartelldeliktsrecht anwendbar, da sich zumindest mittelbar auch die Handlungen der andern Kartellanten auf den deutschen Markt auswirken. 26 Siehe hierzu auch Weißbuch „Schadensersatzklagen wegen Verletzung des EG-Wettbewerbsrecht“ v. 2.4.2008, KOM(2008) 165, S. 4. Sommersemester 2015 - 31 - B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach Examinatorium Zivilrecht Skript b. Vorteilsausgleichung 1. Schadensabwälzung an Endverbraucher durch Erhöhung des Ladenpreises Problematisch ist, dass A die Hälfte der Mehrbelastung durch den erhöhten Einkaufspreis an seine Kunden weitergeben konnte. In diesem Fall ist die Anwendbarkeit der Grundsätze der Vorteilsausgleichung gegeben (vgl. ORWI, Rz. 57). Der Zweck des Kartelldeliktsrechts steht diesem Ergebnis nicht entgegen. Auch der Effektivitätsgrundsatz des Unionsrechts schließt eine Vorteilsanrechnung nicht grundsätzlich aus. Vielmehr begründet der auch im Unionsrecht geltende Grundsatz der Vermeidung von ungerechtfertigten Vermögensverschiebungen, dass dem Geschädigten auch im Kartelldeliktsrecht kein Vorteil erwachsen darf. Mit der Vorteilsausgleichung wird auch sichergestellt, dass der Kartellschaden insgesamt nur einmal geltend gemacht werden kann. Anmerkung:27 Auch Art. 13 der neuen Richtlinie zu Kartellschadensersatzklagen statuiert den Einwand der Schadensweiterwälzung (passing on-defense). Dabei liegt die Beweislast nach Art. 13 S. 2 der Richtlinie beim Beklagten, der allerdings „in angemessener Weise“ Offenlegungen vom Kläger oder Dritten verlangen kann. Nach der Richtlinie ist eine tatsächliche Schadensweiterwälzung erforderlich. Die Ausführungen des BGH in Sachen ORWI konnten demgegenüber noch so verstanden werden, als würde bereits die bloße Möglichkeit der Schadensweiterwälzung ausreichen. Nach der ORWI-Rechtsprechung des BGH war eine Schadensweiterwälzung dann ausgeschlossen, wenn die Preiserhöhung einen Nachfragerückgang zur Folge hatte. Diese Überlegung trug dem Umstand Rechnung, dass in diesem Fall die Preiserhöhung zwar grundsätzlich weitergegeben wurde, durch geringere Umsätze aber dennoch eine Gewinneinbuße möglich ist. Faktisch stellte dies eine Beweislastumkehr da: Den Beklagten trafen Darlegungs- und Beweislast dafür, dass es zu keinem Nachfragerückgang gekommen ist. In Art. 12 Abs. 3 der Richtlinie findet sich keine solche Beweislastumkehr. Die Vorschrift stellt lediglich klar, dass ein Geschädigter, der seinen Preisaufschlag weitergegeben hat, dennoch Ersatz des entgangenen Gewinns for- 27 Siehe dazu A. Petrasincu: passing-on defense, kartellblog.de http://kartellblog.de/2015/02/06/alex-petrasincu-passing-on-defense/ Sommersemester 2015 - 32 - v. 6.2.2015, abrufbar unter B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach Examinatorium Zivilrecht Skript dern kann. Auch insoweit wird die ORWI-Rechtsprechung des BGH nicht mehr mit der Richtlinie vereinbar sein. 2. Voraussetzungen der Vorteilsausgleichung Hier waren die mögliche Preiserhöhung des A und der damit gesteigerte Gewinn adäquat kausal für den Schaden, da nur aufgrund des insgesamt gestiegenen Preisniveaus eine Erhöhung möglich war. In der Anrechnung des von A weitergegebenen Schadens liegt auch keine unbillige Begünstigung der P als Schädigerin, da die entsprechende Schadensposition von den Abnehmern des A geltend gemacht werden können. Sommersemester 2015 - 33 - B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach Examinatorium Zivilrecht Skript III. Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung, Art. 102 AEUV 1. Sachverhalt 1 British Airways (BA) ist das größte Luftfahrtunternehmen im Vereinigten Königreich. Im Jahr 1998 erzielte British Airways bei den über Reisevermittlern getätigten Verkäufen im Vereinigten Königreich einen Anteil von 39,7%, während der nächstgrößere Konkurrent Virgin auf einen Anteil von 5,5% kam. Der BA-Anteil belief sich im Jahr 1998 auf mehr als das 2,2fache des Anteils seiner vier größten Konkurrenten zusammengenommen. Dieser Marktanteil ist über mehrere Jahre im Wesentlichen unverändert geblieben. Auf dem britischen Inlandsflugmarkt hält BA einen Anteil von ca. 50%. 2 Um den Verkauf von BA-Flugscheinen zu fördern, ersann BA verschiedene vertragliche Anreize für die Reisevermittler im Vereinigten Königreich. So vereinbarte BA mit den britischen Reisevermittlern u. a. die Geltung einer „Performance Reward Scheme“ genannten Prämienregelung. Nach dieser Regelung erhielt jeder Reisevermittler eine Basisprovision für jeden verkauften BA-Flugschein in Höhe von 7 % des Verkaufspreises. Zusätzlich zu dieser Basisprovision bestand für jeden Reisevermittler die Möglichkeit, eine Zusatzprovision von bis zu 1 % zu erhalten. Die Höhe dieser variablen Zusatzprovision hing von der Entwicklung der Ergebnisse des Vermittlers beim Verkauf von BA-Flugscheinen ab. Relevant war der Grad der Verbesserung im Vergleich zum entsprechenden Monat des Vorjahrs. Das zusätzliche variable Element wurde geschuldet, wenn das Verhältnis zwischen den Erlösen aus dem betreffenden Zeitraum und denen aus dem Referenzzeitraum 95 % betrug. Mit jedem über den Ergebnisrichtwert von 95% hinausgehenden Prozentpunkt verdiente der Reisevermittler zu seiner Standardprovision von 7% ein variables Element in Höhe von 0,1% hinzu. Das konkurrierende Luftfahrtunternehmen Virgin hielt dieses Anreizsystem von BA für kartellrechtswidrig und beschwerte sich bei der EG-Kommission. Liegt ein Verstoß gegen das in Art. 102 AEUV normierte Verbot des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung vor? 1 Nachgebildet der Entscheidung des EuGH, Urteil v. 15. März 2007, Rs. C-95/04 P – British Airways. Siehe ergänzend vor allem die angefochtene Entscheidung der EG-Kommission v. 14. Juli 1999, Fall 34.780 – Virgin/British Airways, Tz. 69 ff. 2 Siehe Komm. v. 14.7.1999, COMP/34.780 Virgin/British Airways, ABl.EG 2000 Nr. L 30/1 ff., Rdn. 88. Sommersemester 2015 - 34 - B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach Examinatorium Zivilrecht Skript 2. Lösung Voraussetzungen von Art. 102 EG 1. Adressat der Vorschrift: BA ist ein Unternehmen i. S. d. Art. 102 AEUV. Vertiefungshinweis: Unternehmen = Jede Einheit, die eine selbständige wirtschaftliche Tätigkeit im weitesten Sinne ausübt – und zwar unabhängig von ihrer Rechtsform, dem Vorliegen oder Fehlen einer Gewinnerzielungsabsicht, dem Umfang der Tätigkeit oder der Art ihrer Finanzierung Wirtschaftliche Tätigkeit = Jede selbständige Tätigkeit, die darauf ausgerichtet ist, Güter oder Dienstleistungen auf einem bestimmten Markt anzubieten oder nachzufragen Beachte: Funktionaler Unternehmensbegriff (Eine Einheit kann in einem bestimmten Bereich Unternehmen sein, in anderen Bereichen aber nicht!) 2. Marktbeherrschende Stellung (Kling/Thomas, Kartellrecht, § 5 Rn. 11 ff.) a) Marktabgrenzung Kommission, Bekanntmachung über die Definition des relevanten Marktes im Sinne des Wettbewerbsrechts der Gemeinschaft (ABl. C 372 vom 3.12.1997, S. 5): „Der sachlich relevante Markt umfasst sämtliche Erzeugnisse und/oder Dienstleistungen, die von den Verbrauchern hinsichtlich ihrer Eigenschaften, Preise und ihres vorgesehenen Verwendungszwecks als austauschbar oder substituierbar angesehen werden. […] Der geographisch relevante Markt umfasst das Gebiet, in dem die beteiligten Unternehmen die relevanten Produkte oder Dienstleistungen anbieten, in dem die Wettbewerbsbedingungen hinreichend homogen sind und das sich von benachbarten Gebieten durch spürbar unterschiedliche Wettbewerbsbedingungen unterscheidet.“ (Hervorhebung vom Verf.) (1) Zum Fall: Sachlich relevanter Markt 3: Markt für Luftverkehrsvermittlerdienste. Komm., 14.7.1999, COMP/34.780 - Virgin/BA, ABl. 2000 Nr. L 30/1 ff., Rdn. 71ff.: (a) Der Vertrieb von Flugscheinen gehört neben dem Marketing u. a. zu den von Fluggesellschaften nachgefragten Dienstleistungen. Fluggesellschaften greifen hierbei auf die Leistungen von Reisevermittlern zurück. Mittlerweile bemühen sich die 3 Synonym: Produktmarkt. Sommersemester 2015 - 35 - B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach Examinatorium Zivilrecht Skript Gesellschaften darum, diese Leistungen verstärkt auch selbst anzubieten (interne Abwicklung). Dennoch bleibt es bei einem abgegrenzten Markt. (b) Der Vertrieb von Charterflügen ist nicht in den sachlichen Markt miteinzubeziehen. Charterflüge sind keine echte Alternative im Vereinigten Königreich, da sie fast nur für Reiseveranstalter angeboten werden, die den Flug im Gesamtpaket zusammen mit einer Unterkunft anbieten. Zu Überschneidungen kommt es daher nur bei seat-onlyAngeboten. Überdies fliegen Charterfluggesellschaften nur bestimmte Ziele an. (c) Für die Vermittlung von Hotelzimmern und Mietwagen, die ebenfalls von Reisevermittlern übernommen wird, liegt auch keine Angebotssubstituierbarkeit vor. Die Vermittlung von Hotelzimmern oder Mietwagen ist daher nicht in die Marktabgrenzung aufzunehmen. Anders als im Schulfall der Papierherstellung, für die kennzeichnend ist, dass die auf dem Markt auftretenden Papierfabriken in der Lage sind, sehr unterschiedliche Papierqualitäten herzustellen, obwohl sie tatsächlich nur eine Art Papier produzieren, können Reisevermittler sich nicht beliebig auf das eine oder andere Geschäft spezialisieren und wählen, ob sie anstelle von Flugreisen lieber Hotels anbieten wollen. Vielmehr liegt es in der Natur ihres Geschäftsmodells, dass sie diese Dienste in ihrer Gesamtheit anbieten. (2) Zum Fall: Räumlich relevanter Mark: Vereinigtes Königreich Kunden erwerben ihre Flugscheine üblicherweise im Land ihres Wohnsitzes. Das hat Rückwirkungen auf den Markt für Flugreisevermittlung. Die Abrechnung zwischen den nachfragenden Fluggesellschaften und den die Flugscheinvermittlung anbietenden Reisevermittlern erfolgt in GBP. Auch wenn einige Reisevermittler, mit denen BA arbeitet, in mehr als einem Mitgliedsstaat tätig sind, so ist BA doch imstande, ihren Erwerb von Luftverkehrsvermittlerdiensten im Vereinigten Königreich unter anderen Bedingungen durchzuführen als andernorts. BA wendet tatsächlich auch andere Bedingungen an. So gelten etwa die hier zu untersuchenden PRS Rabatte nur im Vereinigten Königreich, dort aber einheitlich. b) Marktbeherrschende Stellung Grundlegend zum Begriff der beherrschenden Stellung ist das Urteil des EuGH i.S. Sommersemester 2015 - 36 - B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach Examinatorium Zivilrecht Skript Hoffmann-LaRoche 4: „Mit der beherrschenden Stellung im Sinne des Artikels 86 EWG-Vertrag [jetzt Art. 102 AEUV, Verf.] ist die wirtschaftliche Machtstellung eines Unternehmens gemeint, die dieses in die Lage versetzt, die Aufrechterhaltung eines wirksamen Wettbewerbs auf dem relevanten Markt zu verhindern, indem sie ihm die Möglichkeit verschafft, sich seinen Wettbewerbern, seinen Abnehmern und letztlich den Verbrauchern gegenüber unabhängig zu verhalten. Eine solche Stellung schließt im Gegensatz zu einem Monopol oder einem Quasi-Monopol einen gewissen Wettbewerb nicht aus, versetzt aber die begünstigte Firma in die Lage, die Bedingungen, unter denen sich dieser Wettbewerb entwickeln kann, zu bestimmen oder merklich zu beeinflussen, jedenfalls aber weitgehend in ihrem Verhalten hierauf keine Rücksicht nehmen zu müssen, ohne dass es ihr zum Schaden gereichte.“ Faktoren einer marktbeherrschenden Stellung: Vgl. § 18 III GWB Wichtigstes Kriterium Marktanteil (siehe sogleich) (1) Marktanteil (a) Allgemeines Die Rspr. der Gemeinschaftsgerichte und die Praxis der Kommission haben dazu – allerdings nicht starr anzuwendende – Richtwerte entwickelt: - Ab einem Marktanteil von deutlich über 40 % (z.T.: ab 50 %) wird von der Rspr. auf eine beherrschende Stellung des Unternehmens geschlossen. - Zwischen 25 % und 40 % bedarf es für die Annahme einer marktbeherrschenden Stellung im Grundsatz zusätzlich eines entsprechenden Abstandes zum nächstliegenden Wettbewerber, wobei an dieses Erfordernis um so höhere Anforderungen zu stellen sind, je niedriger der Marktanteil ist. - Unterhalb von 25 % Marktanteil ist die Annahme einer marktbeherrschenden Stellung regelmäßig sehr fernliegend; bei Marktanteilen unter 10 % ist diese Annahme praktisch ausgeschlossen. 4 EuGH v. 13. 2. 1979 – Rs. 85/76, Slg. 1949, 461 LS 4 – Hoffmann-LaRoche und Co. AG/Kommission. Sommersemester 2015 - 37 - B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach Examinatorium Zivilrecht Skript (b) Zum Fall Komm., 14.7.1999, COMP/34.780 - Virgin/BA, aaO, Rdn. 88: BA ist auf dem britischen Markt für Luftverkehrsvermittlerdienste der beherrschende Nachfrager. Im Jahr 1998 erzielte British Airways bei den über Reisevermittlern getätigten Verkäufen im Vereinigten Königreich einen Anteil von 39,7%, während der nächstfolgende Konkurrent Virgin auf einen Anteil von 5,5% kam. Der BA-Anteil belief sich im Jahr 1998 auf mehr als das 2,2fache des Anteils seiner vier größten Konkurrenten zusammengenommen. Diese Stellung ist über mehrere Jahre unverändert geblieben. 5 (2) Sonstige, die Marktstellung von BA verstärkende Faktoren 6 (a) BA bietet bedeutend mehr Strecken nach und aus dem Vereinigten Königreich an als jede andere Fluggesellschaft. (b) BA hält 38% der Slots des Flughafen Heathrow, der nächste Verfolger nur 14%, die in der Rangfolge hinter BA liegenden Wettbewerber kommen zusammen auf nur 27%. Hinzu kommt, dass das von Heathrow praktizierte System der Slotvergabe eine Besitzstandsregelung ist, die es Konkurrenten erschwert, Slots zu erhalten. 5 Im Jahr 1992 lag der BA-Anteil bei 46,3%, während der Zweitplatzierte nur auf 3,6% kam. Damit betrug der BAAnteil das 3,9fache des Anteils seiner vier größten Konkurrenten zusammengenommen. 6 Nicht im Sachverhalt mitgeteilt. Sommersemester 2015 - 38 - B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach Examinatorium Zivilrecht Skript c) Missbräuchliche Verhaltensweise (1) Allgemeines zum Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung Bei der missbräuchlichen Ausnutzung handelt es sich um einen objektiven Begriff. Er erfasst alle Verhaltensweisen von marktbeherrschenden Unternehmen, welche die Struktur eines Marktes beeinflussen können, auf dem der Wettbewerb gerade wegen der Anwesenheit des fraglichen Unternehmens bereits geschwächt ist, und die den noch bestehenden (Rest-)Wettbewerb durch die Verwendung von Mitteln behindern, die außerhalb eines normalen Produkt- oder Dienstleistungswettbewerbs auf der Grundlage der Leistungen der Wirtschaftsteilnehmer liegen. Nach der Rspr. sind Verhaltensweisen eines marktbeherrschenden Unternehmens auf einem Markt, dessen Struktur allein durch das Vorhandensein dieses Unternehmens geschwächt ist, schon dann missbräuchlich, wenn sie zu einer zusätzlichen Beschränkung dieser Wettbewerbsstruktur führen. Eine Absicht des marktbeherrschenden Unternehmens, die Struktur des Wettbewerbs zu beeinflussen und auf den relevanten Markt einzuwirken, ist nicht erforderlich. Wird jedoch eine solche Absicht festgestellt, so vereinfacht dies den Nachweis eines objektiv missbräuchlichen Verhaltens. Sommersemester 2015 - 39 - B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach Examinatorium Zivilrecht Skript Exkurs: Überblick zu den verschiedenen Missbrauchsmöglichkeiten: 1. Die Regelbeispiele des Art. 102 Abs. 2 AEUV: a) Unangemessene Preise/Bedingungen Ausbeutung der Marktgegenseite b) Einschränkung der Erzeugung/des Absatzes/der Entwicklung c) Diskriminierung von Handelspartnern d) Koppelungsgeschäfte 2. Beachte: Art. 102 Abs. 1 AEUV als Generalklausel! 3. Allgemeine Unterteilung der verschiedenen Missbrauchsmöglichkeiten in: • Ausbeutungsmissbrauch (Art. 102 Abs. 2 lit. a AEUV) • Behinderungsmissbrauch a) - Nicht-preisbezogener Behinderungsmissbrauch - Preisbezogener Behinderungsmissbrauch Ausbeutungsmissbrauch, Art. 102 Abs. 2 lit. a AEUV - Ziel: insbesondere Schutz der Verbraucher vor überhöhten Preisen - Unangemessener Preis? Kosten-Preis-Anayse (verschiedene Konzepte) b) Behinderungsmissbrauch - Ziel: v.a. Schutz des Restwettbewerbs (und damit indirekt der Verbraucher) - Schutz der Wettbewerber vor Verdrängung aus dem Markt Sommersemester 2015 - 40 - B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach Examinatorium Zivilrecht Skript (1) Nicht-preisbezogene Maßnahmen des Behinderungsmissbrauchs: Geschäftsverweigerung (Vss.: Marktbeherrscher verfügt über notwendigen Input für Wettbewerber auf nachgelagerten Märkten, z. B. Rohmilch, Netzwerke etc.) „Essential facilities“ Ausschließlichkeitsbindungen (Verpflichtung, bestimmte Waren einzig und allein vom Marktbeherrscher zu beziehen) Koppelung und Bündelung (Art. 102 Abs. 2 lit. d AEUV, Gefahr der Marktmachtübertragung zwischen benachbarten Märkten leveraging, Bsp.: Technische Koppelung, Fall Microsoft/Windows Media Player) (2) Preisbezogene Maßnahmen des Behinderungsmissbrauchs: Kampfpreise Missbräuchliche Rabattsysteme Kosten-Preis-Schere (margin squeeze) o Vss.: Vertikal integriertes Unternehmen o Marktbeherrschung im vorgelagerten Markt o Beschneidung der Gewinnmargen der Wettbewerber durch Erhöhung der Vorleistungspreise, durch Senkung der Endkundenpreise oder durch eine Kombination der beiden Maßnahmen Sommersemester 2015 - 41 - B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach Examinatorium Zivilrecht Skript (2) Im BA-Fall: Missbräuchliches Rabattsystem? Im Zusammenhang mit Rabattsystemen zu prüfende Missbrauchstatbestände (MünchKommEUWettbR-Eilmansberger/Bien, 2015, Art. 102 AEUV Rdn. 555 ff.): (a) Unangemessene bzw. unbillige Geschäftsbedingungen (Art. 102 Abs. 2 lit. a AEUV), insbesondere wegen deren Intransparenz (vgl. Michelin II), (b) den Wettbewerb zwischen den Unternehmen der Marktgegenseite verfälschende Diskriminierung (Art. 102 Abs. 2 lit. c AEUV, siehe sogleich unten British Airways), (c) Behinderung durch Marktabschottung (siehe sogleich unten British Airways), (d) Verstoß gegen das Kopplungsverbot, insbesondere, wenn die Gewährung des Rabatts davon abhängig gemacht wird, dass die Marktgegenseite Produkte bezieht, die auf anderen Märkten angeboten werden (Art. 102 Abs. 2 lit. d AEUV, vgl. HoffmannLaRoche). (3) Zum Missbrauchstatbestand der Marktabschottung insbesondere (Kling/Thomas, Kartellrecht, § 5 Rn. 109 ff.) (a) Reine Mengenrabatte sind grundsätzlich unbedenklich. (b) Reine Treuerabatte haben wirtschaftlich dieselbe Funktion wie Ausschließlichkeitsvereinbarungen. Ihre Gewährung setzt voraus, dass der Abnehmer unabhängig vom jeweiligen Umfang der getätigten Geschäfte entweder den gesamten Bedarf oder aber einen wesentlichen Teil desselben bei dem marktbeherrschenden Lieferanten deckt (grds. verboten). (c) Zielrabatte sollen dem Abnehmer ebenfalls Anreize dafür liefern, seinen Bedarf ganz oder mindestens überwiegend bei dem marktbeherrschenden Unternehmen zu decken (problematisch). Mit Art. 102 AEUV unvereinbar wäre daher ein Zielrabatt, der daran anknüpft, dass der Abnehmer sein Vorjahresergebnis übertrifft (vgl. die Vereinbarung im vorliegenden Fall). (d) Funktionsrabatte werden dem Abnehmer vom Lieferanten dafür gewährt, dass er dem Lieferanten bestimmte Aufgaben, z.B. im Zusammenhang mit der Markteinführung eines Produkts oder im Bereich des Service gegenüber den Endkunden, abnimmt und Sommersemester 2015 - 42 - B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach Examinatorium Zivilrecht Skript auf diese Weise eine wirtschaftliche Leistung für ihn erbringt sind. Sie sind grundsätzlich unproblematisch. (e) Problem: „Intelligente“ Rabattsysteme sind komplex und lassen sich nicht auf den ersten Blick den unzulässigen Treue- oder den problematischen Zielrabatten zuordnen. Daher ist folgende Überlegung zur Beurteilung der Missbräuchlichkeit zweckmäßig: - Setzt das Rabatt-/Prämiensystem Anreize, die nicht lediglich Skaleneffekte beim Lieferanten abbilden, sondern allein den Zweck haben können, eine Belieferung durch andere Anbieter zu verhindern? - Die Schwierigkeit der Abgrenzung liegt darin, dass jede Maßnahme im geschäftlichen Verkehr darauf abzielt, den Kunden zu binden, also auch Rabatte und sonstige Anreizsysteme. Solche Maßnahmen müssen auch Marktbeherrschern gestattet sein. Es kommt daher gleichsam auf den „Schwerpunkt“ der Maßnahme an. Geht es im Kern nur darum, ein Abwandern des Kunden mit Mitteln zu verhindern, welche die nicht marktbeherrschenden Konkurrenten nicht anbieten können, ist die Missbräuchlichkeit oft gegeben. - Lange Berechnungsintervalle für Rabatte etc. sind daher grundsätzlich problematischer als kurze. Große Sprünge in den Rabattstafeln sind grundsätzlich problematischer als eng gestufte Systeme (vgl. Treue- und Zielrabatte). d) Zum Fall: Tatbestand der Marktverschließung Beachte: BA tritt vorliegend als Nachfrager auf dem Markt für Flugreisevermittlungsdienste auf. Dementsprechend geht es nicht um die Gewährung von Rabatten im eigentlichen Sinne. Sie würden eine Ermäßigung des Preises bedeuten. Vielmehr stellt BA seinen Vertragspartnern, den Reisevermittlern, Prämien dafür in Aussicht, dass sie ihre Dienste im Wesentlichen an BA und damit nicht oder nur in geringem Maße an Wettbewerber verkaufen. EuGH v. 15. März 2007, Rs. C-95/04 P – British Airways Tz. 68: „Daher ist für die Feststellung des eventuellen missbräuchlichen Charakters einer Regelung über Rabatte oder Prämien eines Unternehmens in beherrschender Stellung, bei denen es sich weder um Mengenrabatte oder -prämien noch um Treuerabatte oder -prämien im Sinne des Urteils Hoffmann-La Roche/Kommission handelt, zunächst zu prüfen, ob diese Rabatte oder Prämien eine Verdrängungswirkung entfalten können, d. h., ob sie geeignet Sommersemester 2015 - 43 - B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach Examinatorium Zivilrecht Skript sind, den Wettbewerbern des Unternehmens in beherrschender Stellung den Zugang zum Markt und darüber hinaus seinen Vertragspartnern die Wahl zwischen mehreren Bezugsquellen oder Handelspartnern zu erschweren oder sogar unmöglich zu machen.“ (Hervorhebung vom Verf.) Tz. 73: „Aus der Rechtsprechung folgt auch, dass die Bindung der Vertragspartner an das Unternehmen in beherrschender Stellung und der auf sie ausgeübte Druck in der Regel besonders stark sind, wenn ein Rabatt oder eine Prämie sich nicht nur auf den Umsatzzuwachs aus Käufen oder Verkäufen der Produkte dieses Unternehmens, die von seinen Vertragspartnern im berücksichtigten Zeitraum getätigt wurden, bezieht, sondern sich auch auf den gesamten Umsatz aus diesen Käufen oder Verkäufen erstreckt. Auf diese Weise können auch schon verhältnismäßig geringe Veränderungen – gleichviel, ob nach oben oder nach unten – im Umsatz mit Produkten des Unternehmens in beherrschender Stellung überproportionale Auswirkungen für die Vertragspartner haben.“ (Hervorhebung vom Verf.) Tz. 75: „Schließlich hat der Gerichtshof ausgeführt, dass der Druck, der von einem Unternehmen in beherrschender Stellung, das Rabatte mit solchen Merkmalen gewährt, auf die Händler ausgeübt wird, noch verstärkt wird, wenn dieses Unternehmen sehr viel höhere Marktanteile hält als seine Wettbewerber (vgl. in diesem Sinne Urteil Michelin/Kommission, Randnr. 82). Er hat entschieden, dass es unter diesen Umständen besonders schwierig für die Wettbewerber dieses Unternehmens ist, die am gesamten Umsatzvolumen orientierten Rabatte oder Prämien zu überbieten. Aufgrund seines deutlich höheren Marktanteils ist das Unternehmen in beherrschender Stellung in der Regel ein unumgänglicher Handelspartner auf dem Markt. Die von einem solchen Unternehmen gewährten, am Gesamtumsatz orientierten Rabatte oder Prämien werden in absoluten Zahlen regelmäßig stärker ins Gewicht fallen als selbst die großzügigeren Angebote seiner Wettbewerber. Um die Vertragspartner des Unternehmens in beherrschender Stellung auf ihre Seite zu ziehen oder von ihnen jedenfalls ein ausreichendes Auftragsvolumen zu erhalten, müssten diese Wettbewerber ihnen deutlich höhere Rabatte oder Prämien anbieten.“ Komm., 14.7.1999, COMP/34.780 - Virgin/BA, ABl.EG 2000 Nr. L 30/1 ff., Rdn. 88: „Dieser [marktverschließende, Verf.] Effekt der BA-Provisionsregelungen soll anhand eines Beispiels veranschaulicht werden. Angenommen, ein Reisevermittler hat im Bezugsjahr Flugscheine für insgesamt 100.000 GBP verkauft. Verkauft der Reisevermittler Sommersemester 2015 - 44 - B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach Examinatorium Zivilrecht Skript monatlich internationale BA-Flugscheine im Wert von 100.000 GBP, so erhält er die Grundprovision von 7 % und eine Ergebnisvergütung von 0,5 % ((100 minus 95) × 0,1 %), was Gesamteinnahmen aus Provisionen für verkaufte Flugscheine von 7 000 GBP [richtig: 7 500 GBP, Verf.] ergibt (100.000 × (7% + 0,5 %)). Hat der Reisevermittler 1% der Flugscheine für einen Mitbewerber von BA verkauft, so würde seine Ergebnisvergütung auf 0,4% ((99 minus 95) × 0,1 %) sinken, und dieser geringere Satz würde dann für alle Verkäufe von BA-Flugscheinen dieses Vermittlers gelten. Seine Provisionseinkünfte aus dem Verkauf von BA-Flugscheinen würden auf 7.326 GBP (99 000 × (7% + 0,4 %)) zurückgehen. Eine Verminderung von 1.000 GBP bei den Verkäufen von BA-Flugscheinen hat einen Rückgang von 174 GBP bei den Provisionseinnahmen zur Folge. Der Grenzprovisionssatz. kann mit 17,4% angegeben werden. In der Praxis bedeutet dies, dass ein BA-Konkurrent, der in der Lage wäre Flüge anzubieten, die 1.000 GBP der Verkäufe von BA-Flugscheinen des Reisevermittlers ersetzen könnten, eine Provision von 17,4% auf diese Flugscheine anbieten müsste, um das Reisebüro für die entgangenen BAProvisionseinkünfte zu entschädigen. Zwar muss auch BA diesen hohen Grenzprovisionssatz anbieten, um den Verkauf seiner Flugscheine zu erhöhen, doch befindet sich diese Gesellschaft gegenüber dem neuen Akteur im Vorteil, der diesen hohen Provisionssatz für alle seine Buchungen zahlen muss.“ Zwischenergebnis: Missbrauch iFd Marktabschottung ist zu bejahen. e) Zum Fall: Tatbestand der Diskriminierung Komm., 14.7.1999, COMP/34.780 - Virgin/BA, ABl.EG 2000 Nr. L 30/1 ff., Rdn. 119: „Die Verpflichtung eines Unternehmens in beherrschender Stellung, nicht diskriminierend zu handeln, bedeutet, dass es bei gleichartigen Transaktionen mit verschiedenen Kunden keine unterschiedlichen Bedingungen anwenden und so einen Kunden in eine unvorteilhafte Wettbewerbsposition bringen darf. Die geschilderten […] PRS-Regelungen werden sich genau in dieser Weise auswirken. Zwei Reisevermittler, die die gleiche Anzahl von BAFlugscheinen bearbeiten und BA genau den gleichen Umfang an Diensten zur Verfügung stellen, werden unterschiedliche Provisionen erhalten, d. h. einen unterschiedlichen Preis für ihre Luftverkehrsvermittlerdienste, wenn ihre Verkäufe von BA-Flugscheinen im Vorjahr unterschiedlich hoch ausgefallen sind. Im entgegengesetzten Fall könnten zwei Reisevermittler, die unterschiedliche Mengen von BA-Flugscheinen verkaufen und BA einen Sommersemester 2015 - 45 - B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach Examinatorium Zivilrecht Skript unterschiedlichen Umfang an Diensten zur Verfügung stellen, den gleichen Provisionssatz verdienen, d. h. von BA zum gleichen Preis bezahlt werden, wenn ihr Verkaufsvolumen von BA-Flugscheinen, gemessen am Vorjahr, um den gleichen Prozentsatz gestiegen ist.“ f) Nachweis eines konkreten Verbraucherschadens ist nicht erforderlich EuGH v. 15.3.2007, Rdn. 103ff. „[…] die von einem Unternehmen in beherrschender Stellung gewährten Rabatte und Prämien [können] selbst dann gegen Art. 82 EG [jetzt: 102 AEUV] verstoßen, wenn sie keines der dort in Abs. 2 genannten Regelbeispiele erfüllen. Zudem bezieht sich Art. 102 AEUV, wie der Gerichtshof bereits in Randnr. 26 des Urteils Europemballage und Continental Can/ Kommission festgestellt hat, nicht nur auf Verhaltensweisen, durch die den Verbrauchern ein unmittelbarer Schaden erwachsen kann, sondern auch auf solche, die ihnen durch einen Eingriff in die Struktur des tatsächlichen Wettbewerbs, von dem in Art. 3 Abs. 1 Buchst. g EG [jetzt: Protokoll (Nr. 27) zum EUV und AEUV über den Binnenmarkt und den Wettbewerb] die Rede ist, Schaden zufügen. Dem Gericht ist daher kein Rechtsfehler unterlaufen, als es in den Randnrn. 294 und 295 des angefochtenen Urteils, anstatt zu prüfen, ob das Verhalten von BA den Verbrauchern einen Schaden im Sinne von Art. 82 Abs. 2 Buchst. b EG zugefügt hat [jetzt: Art.- 102 Abs. 2 Buchts. B AEUV], untersucht hat, ob die fraglichen Prämienregelungen eine beschränkende Wirkung auf den Wettbewerb gehabt haben, und befunden hat, dass das Vorliegen einer solchen Wirkung von der Kommission in der streitigen Entscheidung nachgewiesen worden ist.“ g) Effizienzeinwand bzw. Ökonomische Rechtfertigung der Verhaltensweise? EuGH, 15.3.2007, Rs. C-95/04 P – British Airways, Tz. 69 und 84 ff.: Erstmals anerkennt der Gerichtshof die grundsätzliche Möglichkeit der Rechtfertigung einer an sich verbotenen Verhaltensweise im Rahmen eines so genannten Effizienzeinwandes: „Es ist zu ermitteln, ob die für den Wettbewerb nachteilige Verdrängungswirkung einer solchen Regelung durch Effizienzvorteile ausgeglichen oder sogar übertroffen werden kann, die auch dem Verbraucher zugutekommen. Steht die Verdrängungswirkung dieser Regelung in keinem Zusammenhang mit Vorteilen für den Markt und die Verbraucher oder geht sie über dasjenige hinaus, was zur Erreichung solcher Vorteil erforderlich ist, so ist diese Regelung als missbräuchlich anzusehen.“ BA hatte sich auf die im Flugverkehr erhöhten Fixkosten und das Ziel einer besseren Kapazitätsauslastung seiner Maschinen berufen. Die Kommission und das EuG hatten eine wirtschaftliche Rechtfertigung der von BA gewährten Rabatte im konkreten Fall jedoch Sommersemester 2015 - 46 - B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach Examinatorium Zivilrecht Skript verneint. Eine Überprüfung der Tatsachen- und Beweiswürdigung des Gerichts wies der EuGH als unzulässig zurück. Zur Vertiefung: More economic approach im EU-Wettbewerbsrecht Nach den Vorstellungen der Europäischen Kommission soll die Wettbewerbspolitik der Union nicht mehr dem Schutz des Wettbewerbs als solchem dienen, sondern am Wohl des Verbrauchers ausgerichtet werden (consumer welfare). Die Aufrechterhaltung wirksamen Wettbewerbs ist dagegen lediglich Mittel zum Zweck. Ob Wettbewerber vom Markt verdrängt werden, ist nur von Bedeutung, wenn mit der Verdrängung effizienterer oder innovativerer Konkurrenten nachteilige Folgen für den Verbraucher einhergehen. Damit eng verbunden ist das ebenfalls im Rahmen des More economic approach propagierte Auswirkungsprinzip, wonach auf die Auswirkungen wettbewerbsrelevanter Vorgänge im Einzelfall abzustellen ist. Ein und derselbe Sachverhalt kann damit je nach den Bedingungen des Marktes nachteilige oder vorteilhafte Folgen für die Konsumentenwohlfahrt haben. Effizienzvorteile eines Verhaltens können dessen nachteilige Wirkungen auf den Wettbewerb in den Hintergrund treten lassen. Daher gilt es, die tatsächlichen Effekte anhand der Besonderheiten des Einzelfalls zu untersuchen ("effects-based approach"). Zur zuverlässigen Feststellung der jeweiligen Auswirkungen finden ökonomische Theorien und Analyseverfahren Anwendung. Gegenbegriff ist der bislang im Wettbewerbsrecht vorherrschende so genannte "form-based approach", der den Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung anhand von struktur-, verhaltens- bzw. absichtsbezogenen Tatbestandsmerkmalen feststellt. Sie sind von den Auswirkungen des untersuchten Verhaltens im Einzelfall grundsätzlich unabhängig. In der Mitteilung der Kommission vom 9.2.2009 „Erläuterungen zu den Prioritäten der Kommission bei der Anwendung von Artikel 82 des EG-Vertrags auf Fälle von Behinderungsmissbrauch durch marktbeherrschende Unternehmen (K(2009)864 endgültig) – „Priority-Paper“ – findet sich unter den Rdn. 23ff. eine Erläuterung des so genannten as efficient competitor-Tests. Danach will die Kommission bei preisbezogenen Behinderungsmissbräuchen „nur noch dann tätig werden, um wettbewerbsbeschränkende Marktverschließungen zu verhindern, wenn das fragliche Verhalten andere, genauso effiziente Wettbewerber wie das marktbeherrschende Unternehmen (as efficient competitor) daran hindert bzw. bereits gehindert hat, am Wettbewerb teilzunehmen. […] Um klären zu können, ob selbst ein hypothetischer, ebenso effizienter Wettbewerb durch das betreffende Verhalten vom Markt ausgeschlossen werden könnte, prüft die Kommission Wirtschaftsdaten zu den Sommersemester 2015 - 47 - B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach Examinatorium Zivilrecht Skript Kosten und Verkaufspreisen und insbesondere, ob das marktbeherrschende Unternehmen nicht kostendeckende Preise praktiziert.“ Bezogen auf den Fall British Airways würde das voraussetzen, dass die Kommission zunächst den Preis bestimmt, welchen ein Wettbewerber von BA dem Reisevermittler anbieten müsste, um diesen dafür zu entschädigen, dass er einen Teil seiner Flugvermittlerdienste nicht an BA, sondern einem Wettbewerber verkauft. In dem auf Seite 7 oben zur Illustration angeführten Beispiel betrug diese Prämie 174 GBP für einen bestreitbaren Teil des Angebots in Höhe von 1.000 GBP. Nach Ansicht der Autoren des Priority Paper ist in einem zweiten Schritt zu untersuchen, ob diese Prämienzahlung von den durchschnittlichen Einnahmen von BA noch gedeckt wird. Ist das der Fall, „wäre ein ebenso effizienter Wettbewerb normalerweise trotz des Rabatts in der Lage, auf dem Markt gewinnbringend zu konkurrieren. Unter diesen Umständen kann der Rabatt [bzw. die Prämie, Verf.] in der Regel keine wettbewerbswidrige Marktverschließung bewirken.“ (Kommission, Priority Paper, Rdn. 43). Es ist bemerkenswert, dass die Kommission in ihrer jüngsten Entscheidung zu einem als missbräuchlich eingestuften Rabattsystem, der INTEL-Entscheidung vom 13.5.2009 (COMP/37.990) eine Prüfung des as efficient competitor-Test zwar auf 150 Seiten (Rz. 1002 - 1576) durchführt und die Missbräuchlichkeit auch unter diesem Gesichtspunkt bejaht, gleichzeitig aber klarstellt, dass dieses Kriterium keine Voraussetzung für die Missbräuchlichkeit ist (Rz. 925). Des Nachweises einer marktverschließenden Wirkung bedarf es ihrer Ansicht nach nicht (Rn. 922). h) Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels Das Rabattsystem benachteiligt auch Fluggesellschaften, die außerhalb des Vereinigten Königreichs in der EG ansässig sind und die Flüge zwischen dem Vereinigten Königreich und anderen MS anbieten. Damit beeinträchtigt das Prämiensystem den zwischenstaatlichen Handel. 3. Gesamtergebnis Das von BA praktizierte Prämiensystem erfüllt den Tatbestand des Missbrauchs sowohl in Form der Marktabschottung als auch der Diskriminierung. Es verstößt also gegen Art. 102 AEUV. Sommersemester 2015 - 48 - B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach Examinatorium Zivilrecht Skript IV. Kartellrecht in transnationalen Fällen (aus studienabschließender Klausur WS 14/15) Fall 1: Die beiden Konkurrenten A und B, ein russisches und ein brasilianisches Unternehmen, vereinbaren einen Mindestpreis für Waren, die sie nach Deutschland exportieren. Andere Mitgliedsstaaten der EU sind nicht von dem Kartell betroffen. A und B halten mit dem kartellierten Produkt in Deutschland einen gemeinsamen Marktanteil von 50 Prozent. Fragen: (1) Welche europäischen Kartellrechtsordnungen sind anwendbar? (2) Welche europäischen Kartellbehörden sind für die Anwendung zuständig? (3) In welchem Verhältnis stehen die anwendbaren Kartellrechtsordnungen zueinander? Fall 2: Die beiden großen US-amerikanischen Flugzeughersteller C und D wollen fusionieren (gemeinsamer weltweiter Umsatz: 20 Milliarden EUR/Jahr). Beide verkaufen Flugzeuge unter anderem an die Deutsche Lufthansa, an Air France und an British Airways. Allein die Deutsche Lufthansa kauft jedes Jahr sowohl bei C als auch bei D mindestens vier Flugzeuge pro Jahr zum Preis von 80 Millionen EUR pro Stück. Fragen: (1) Welche europäische Kartellrechtsordnung ist anwendbar? (2) Welche europäische Kartellbehörde ist für die Anwendung zuständig? Lösungsvorschlag: Fall 1: Die beiden Konkurrenten A und B, ein russisches und ein brasilianisches Unternehmen, vereinbaren einen Mindestpreis für Waren, die sie nach Deutschland exportieren. Andere Sommersemester 2015 - 49 - B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach Examinatorium Zivilrecht Skript Mitgliedsstaaten der EU sind nicht von dem Kartell betroffen. A und B erzielen mit dem kartellierten Produkt in Deutschland einen Marktanteil von 50 Prozent. (1) Anwendbare europäische Kartellrechtsordnungen (a) Deutschland: hier gilt gemäß § 130 Abs. 2 GWB 7 das sog. Auswirkungsprinzip Deutsches Kartellrecht anwendbar. (b) EU: Hier gilt Entsprechendes, wenngleich der EuGH eine eindeutige Festlegung bislang vermeidet und wenigstens formal am Territorialitätsprinzip festhält. Im praktischen Ergebnis besteht kein Unterschied, da er nicht auf den Ort der Absprache, sondern der Ausführung abstellt (sog. „implementation doctrine“). 8 Als weitere Voraussetzung für die Anwendbarkeit des EU-Rechts bedarf es noch einer Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels (Art. 101 AEUV). Dieses Tatbestandsmerkmal wird weit ausgelegt. Es genügt bereits, wenn sich ein Kartell wie vorliegend auf das gesamte Gebiet eines großen Mitgliedsstaates wie Deutschland erstreckt, weil das Kartell „seinem Wesen nach die Wirkung [hat], die Abschottung der Märkte auf nationaler Ebene zu verfestigen“. 9 Die Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels muss jedoch auch spürbar sein (ungeschriebene TB-Voraussetzung!). Die Europäische Kommission (Bekanntmachung 2004/C 101/07) verneint eine spürbare Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels in der EU, wenn: • die Parteien auf keinem der von der Vereinbarung betroffenen relevanten Märkte innerhalb der EU einen gemeinsamen Marktanteil von mind. 5 % erreichen und • (bei horizontalen Vereinbarungen) der durchschnittliche Jahresumsatz der Parteien mit den von der Vereinbarung erfassten Waren innerhalb der EU nicht den Betrag von 40 Mio. EUR überschreitet 7 „Dieses Gesetz findet Anwendung auf alle Wettbewerbsbeschränkungen, die sich im Geltungsbereich dieses Gesetzes auswirken, auch wenn sie außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes veranlasst werden.“ 8 EuGH, Urt. v. 27.9.1988 - Rs 89/85, Slg. 1988, 5193 = NJW 1988, 3086 – Zellstoffhersteller: „1. Art. 85 EWGV [jetzt Art. 101 AEUV] ist auf Unternehmen mit Sitz außerhalb der Europäischen Gemeinschaft anwendbar, wenn diese sich über die Preise für ihre in der Gemeinschaft ansässigen Kunden abstimmen und tatsächlich zu den koordinierten Preisen verkaufen, weil diese Abstimmung eine Einschränkung des Wettbewerbs innerhalb des gemeinsamen Marktes bezweckt oder bewirkt (Wirkungsprinzip). 2. Die Anwendung des Art. 85 EWG [jetzt Art. 101 AEUV] auf ein derartiges Preiskartell ist durch das Territorialitätsprinzip gedeckt und verstößt deshalb nicht gegen das Völkerrecht, weil das Preiskartell innerhalb des gemeinsamen Marktes durchgeführt wird. […]“ 9 EuGH v. 13. 7. 1966 – Rs. 56/64 und 58/64, Slg. 1966, 321, 389 – Consten und Grundig. Sommersemester 2015 - 50 - B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach Examinatorium Zivilrecht Skript Hier ist von der Spürbarkeit der Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels auszugehen. A und B haben auf den betroffenen Märkten einen Marktanteil von 50 %. Von einem Umsatz über 40 Mio. € ist hier auszugehen. Beachte: 2 verschiedene Arten der Spürbarkeit i.R.d. Art. 101 AEUV • Spürbare Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels • Spürbarkeit der Wettbewerbsbeschränkung (De-minimis-Grenze) o (ebenfalls) ungeschriebenes TBM o Spürbarkeit (-), wenn Marktanteil < 10 % bei Horizontalvereinbarungen Marktanteil < 15 % bei Vertikalvereinbarungen Angesichts des hohen Marktanteils von A und B (50 Prozent) liegt hier auch eine spürbare Wettbewerbsbeschränkung vor. Ergebnis: Auch EU-Kartellrecht ist anwendbar. (2) Zuständigkeit für die Anwendung: Hinweis: Hier sind 2 verschiedene Kartellrechtsordnungen anwendbar (Deutsches und Europäisches Kartellrecht). Deshalb muss man hier auch differenzieren zwischen der Zuständigkeit bei der Anwendung des deutschen und des europäischen Rechts. a) Für das deutsche Recht: Nach § 48 Abs. 2 GWB ist bei fehlender Spezialzuweisung grundsätzlich das Bundeskartellamt zuständig, soweit die Auswirkungen des Verstoßes die Grenzen eines Bundeslandes überschreiten. Für die Anwendung des deutschen Rechts ist hier nach § 48 GWB also allein das Bundeskartellamt zuständig (und keine Landeskartellbehörden). b) Für das EU-Recht: Sommersemester 2015 - 51 - B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach Examinatorium Zivilrecht Skript Zuständig für die Anwendung des EU-Kartellrechts sind die Kommission und die nationalen Kartellbehörden (hier: Bundeskartellamt) gemäß Art. 4 bzw. 5 VO 1/2003 sowie §§ 48, 50 GWB. Bei Einleitung eines Verfahrens durch die Kommission entfällt gem. Art. 11 Abs. 6 VO 1/2003 die Zuständigkeit der nationalen Behörden. Sommersemester 2015 - 52 - B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach Examinatorium Zivilrecht Skript (3) Verhältnis der beiden Rechtsordnungen zueinander Vorliegend steht ein Kartellverstoß in Rede (Art. 101 AEUV). Das deutsche Kartellrecht (§ 1 GWB) kann trotz der Anwendbarkeit des EU-Rechts angewandt werden. Das Bundeskartellamt ist gem. Art. 3 Abs. 1 S. 1 VO 1/2003 allerdings zur parallelen Anwendung von Art. 101 AEUV verpflichtet (Hinweis: Dies gilt selbstverständlich nur dann, wenn - wie hier - die Zwischenstaatlichkeit vorliegt). Die Anwendung von § 1 GWB darf gem. Art. 3 Abs. 2 S. 1 VO 1/2003 nicht zu abweichenden Ergebnissen der Beurteilung aus Art. 101 AEUV führen (vgl. im deutschen Recht auch § 22 GWB). Insbesondere darf kein Verhalten von Unternehmen auf nationaler Ebene untersagt werden, welches auf europäischer Ebene erlaubt wäre. Nationales (hier: deutsches) und Unionskartellrecht müssen in diesen Fällen exakt so angewendet werden wie das Unionskartellrecht. Vertiefungshinweis: Liegt keine Zwischenstaatlichkeit vor, ist Art. 101 AEUV nicht anwendbar und die Frage nach dem Verhältnis der Rechtsordnungen stellt sich nicht. Sommersemester 2015 - 53 - B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach Examinatorium Zivilrecht Skript Fall 2: Die beiden großen US-amerikanischen Flugzeughersteller C und D wollen fusionieren (gemeinsamer weltweiter Umsatz: 20 Milliarden EUR/Jahr). Beide verkaufen Flugzeuge unter anderem an die Deutsche Lufthansa, an Air France und an British Airways. Allein die Deutsche Lufthansa kauft jedes Jahr sowohl bei C als auch bei D mindestens vier Flugzeuge pro Jahr zum Preis von 80 Millionen EUR pro Stück. (1) Anwendbares Recht a) Anwendbarkeit der europäischen FKVO Entscheidend für die Anwendbarkeit der europäischen FKVO ist das Merkmal der gemeinschaftsweiten Bedeutung des Zusammenschlusses (Art. 1 Abs. 1 FKVO). Ein Zusammenschluss im Sinne des Art. 3 FKVO liegt hier unproblematisch vor. Das Merkmal der gemeinschaftsweiten Bedeutung bestimmt sich objektiv anhand des Umsatzes der beteiligten Unternehmen (sog. Aufgreifkriterien). Nach Art. 1 Abs. 2 FKVO muss der weltweite Gesamtumsatz aller beteiligten Unternehmen zusammen mehr als 5 Mrd. EUR betragen und der gemeinschaftsweite Gesamtumsatz von mindestens zwei beteiligten Unternehmen muss jeweils mehr als 250 Mio. EUR betragen. Darüber hinaus dürfen die Unternehmen nicht jeweils mehr als zwei Drittel ihres gemeinschaftsweiten Gesamtumsatzes in ein und demselben Mitgliedstaat erzielen. Da im vorliegenden Fall der weltweite Gesamtumsatz der beiden Unternehmen C und D 20 Milliarden EUR/Jahr beträgt und die Unternehmen C und D außerdem jeweils mehr als 250 Millionen EUR/Jahr in der Europäischen Union erwirtschaften (4 x 80 Millionen EUR/Jahr), greift gem. Art. 1 Abs. 1, 2 FKVO die europäische Fusionskontrolle ein. Von dem Eingreifen der Ausnahme des Art. 1 Abs. 2 Hs. 2 FKVO ist hier nicht auszugehen. Dass der vorliegend in Rede stehende Zusammenschluss der Unternehmen C und D in den USA und damit außerhalb Europas vollzogen werden soll, steht der Anwendbarkeit europäischen Rechts nicht entgegen. Entscheidend ist allein der Umstand, dass (erhebliche) Umsätze im Gebiet der EU erzielt werden. Vertiefungshinweis: Sofern ein Zusammenschluss die Schwellenwerte des Art. 1 Abs. 2 FKVO nicht erreicht, kann er aber auch nach Art. 1 Abs. 3 FKVO gemeinschaftsweite Bedeutung erlangen. Sommersemester 2015 - 54 - B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach Examinatorium Zivilrecht Skript b) Ebenfalls Anwendbarkeit von nationalem Fusionskontrollrecht? Die Anwendbarkeit des nationalen Fusionskontrollrechts (z. B. des deutschen, französischen und britischen) ist daneben ausgeschlossen, Art. 21 Abs. 3 FKVO (vgl. auch § 35 Abs. 3 GWB). Man spricht vom Prinzip des one stop shop. Die Anwendbarkeit des mitgliedsstaatlichen Fusionskontrollrechts kommt allerdings in Betracht, wenn eine entsprechende Verweisung erfolgt (siehe unten). Vertiefungshinweise: Die Aufgreifkriterien des deutschen Fusionskontrollrechts sind in § 35 GWB geregelt. Sollten die Schwellenwerte des Art. 1 FKVO nicht erreicht werden, ist ggf. eine parallele Prüfung des Zusammenschlusses durch mehrere Wettbewerbsbehörden verschiedener Mitgliedstaaten möglich. Sommersemester 2015 - 55 - B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach Examinatorium Zivilrecht Skript (2) Zuständigkeit Gem. Art. 21 Abs. 2 FKVO ist für die Anwendung des EU-Rechts ausschließlich die EUKommission zuständig. Anders als im Bereich des Kartellverbots (Art. 101 AEUV) und des Verbots des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung (Art. 102 AEUV) ist das Bundeskartellamt zur Anwendung des EU-Fusionskontrollrechts nicht befugt. Allerdings ist eine Verweisung von der Kommission zu einer nationalen Behörde möglich (mit der Folge der Anwendbarkeit des nationalen Rechts). Dies kann auf Antrag der Beteiligten (Art. 4 Abs. 4 FKVO) oder auf Antrag eines Mitgliedsstaats erfolgen (Art. 9 FKVO). Vertiefungshinweis: Im Falle einer fehlenden gemeinschaftsweiten Bedeutung ist unter Umständen auch eine Verweisung von einem MS an die Kommission möglich, vgl. Art. 22 FKVO. Abschließender Hinweis zu Fall 1 und 2: Keine Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 3 Rom II VO/ EuGVVO! • Hier: Kartellverwaltungsrecht, keine privatrechtlichen Streitigkeiten • Hier steht kein privater Schadensersatzprozess in Rede Sommersemester 2015 - 56 - B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach Examinatorium Zivilrecht Skript V. Privater Rechtsschutz (Vertiefung): Die Kronzeugenregelung 1. Rechtsfolgen bei einem Verstoß gegen das Kartellverbot • Strafrechtlich: v.a. Submissionsbetrug (§ 298 StGB) und Betrug (§ 263 StGB) • Verwaltungsrechtlich o Abstellungsverfügungen, Art. 7 VO 1/2003, § 32 GWB o Verpflichtungszusagen, Art. 9 VO 1/2003, § 32 b GWB o Einstweilige Maßnahmen, Art. 8 VO 1/2003, § 32 a GWB o Feststellung der Nichtanwendbarkeit, Art. 10 VO 1/2003 • Bußgeldrechtlich o EU-Recht: Art. 23 VO 1/2003: Bußgeld nur gegen Unternehmen, nicht gegen natürliche Personen o Deutschland: § 81 GWB: Bußgeld auch gegen natürliche Personen möglich (Abs. 4) • Zivilrechtlich o Nichtigkeit, Art. 101 Abs. 2 AEUV, § 1 GWB iVm § 134 BGB o Beseitigungsanspruch, § 33 Abs. 1 GWB o Unterlassungsanspruch, § 33 Abs. 1 GWB o Schadensersatzanspruch, § 33 Abs. 3 GWB o Anspruch aus § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB für Kartellgeschädigten? umstr., Anfechtbarkeit des Folgevertrages gem. § 123 Abs. 1 Alt. 1 BGB? Sommersemester 2015 - 57 - B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach Examinatorium Zivilrecht Skript 2. Das Bonusprogramm des Bundeskartellamts Hinweis: Die nachfolgenden Ausführungen sollen einen Überblick über die Kronzeugenregelung und die damit verbundenen Problematiken verschaffen. Wichtig ist, dass Sie die (haftungsrechtlichen) Vor- und Nachteile für Kronzeugen kritisch beleuchten können. Vertiefte Detailkenntnisse über die verschiedenen Vorschläge zur haftungsrechtlichen Privilegierung der Kronzeugen werden im Rahmen einer Leistungskontrolle grundsätzlich nicht erwartet. Zu den Problemen infolge der Kronzeugenregelung und den Vorschlägen einer haftungsrechtlichen Privilegierung vgl. auch Bien, Überlegungen zu einer haftungsrechtlichen Privilegierung des Kartellkronzeugen, in: EuZW 2011, 889. a) Überblick über das Bonusprogramm und die Problematik • Möglichkeit eines Kartellanten, als Kronzeuge das Kartell aufzudecken • Vorteil für Kartellanten bei Kooperation mit dem Bundeskartellamt: Teilweiser bis vollständiger Erlass des Bußgeldes (mittlerweile u. U. sehr hohe Bußgelder) • Vorteil für Behörde: Kartelle sind einfacher aufzudecken • Nachteil für Kronzeuge: o Kein Schutz gegenüber privaten Schadensersatzklagen o Einräumung eines Kartellverstoßes: Erstes Ziel für private SE-Klagen Gefährdung der Attraktivität des Kronzeugenprogrammes, wenn drohende Nachteile durch private SE-Klagen die Vorteile des Bußgelderlasses minimieren bzw. übersteigen Exkurs: Lösung USA einfacher statt dreifacher SE gegen Kronzeugen • Weiteres Problem: Das Pfleiderer-Urteil des EuGH (14.6.2011) 10 Nach dieser Rspr. besteht das Risiko, dass der Geschädigte nach § 406 e StPO11 nicht nur in die Verfahrensakten, sondern auch in den Kronzeugenantrag Einsicht nehmen kann 10 EuGH, 14.6.2011, Rs. C-360/09 - Pfleiderer, EuZW 2011, 598 = NJW 2011, 2946. 11 § 406 e StPO: „(1) Für den Verletzen kann ein Rechtsanwalt die Akten, die dem Gericht vorliegen oder diesem im Falle der Erhebung der öffentlichen Klage vorzulegen wären, einsehen sowie amtlich verwahrte Beweisstücke besichtigen, soweit er hierfür ein berechtigtes Interesse darlegt. […] Sommersemester 2015 - 58 - B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach Examinatorium Zivilrecht Skript b) Zwischenergebnis • Private und behördliche Kartellrechtsdurchsetzung stehen oftmals im Widerspruch • Je einfacher die Durchsetzung privater Schadensersatzklagen ist, desto unattraktiver wird das Kronzeugenprogramm • Im Pfleiderer-Urteil scheint der EuGH der privaten Kartellrechtsdurchsetzung den Vorrang einzuräumen • Wird das Kronzeugenprogramm infolge der Pfleiderer-Rspr. tatsächlich unattraktiv? o Vielfach so vertreten o Bien, EuZW 2011, 889: Einsicht in Kronzeugenantrag ist für private SE-Klage nicht so entscheidend • Problematisch bleibt aber, dass der Kronzeugenantrag das Haftungsrisiko erheblich steigert: o Kartellverstoß wurde vom Kronzeugen eingeräumt o Mitkartellanten können Rechtsmittel einlegen, in diesem Fall erwächst die behördliche Entscheidung nicht in Bestandskraft Keine Bindungswirkung nach § 33 Abs. 4 GWB o Folge: Zunächst kann (nur) der Kronzeuge in Anspruch genommen werden, er haftet gesamtschuldnerisch gegenüber allen Kartellgeschädigten (2) Die Einsicht in die Akten ist zu versagen, soweit überwiegende schutzwürdige Interessen des Beschuldigten oder anderer Personen entgegenstehen. […]“. Sommersemester 2015 - 59 - B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach Examinatorium Zivilrecht Skript c) Überlegungen zur haftungsrechtlichen Privilegierung des Kronzeugen • Konsequenz aus der oben beschriebenen Problematik • In der Vergangenheit wurden verschiedene Vorschläge diskutiert: (1) Entlassung des Kronzeugen aus der gesamtschuldnerischen Haftung (2) Haftung des Kronzeugen nur gegenüber seinen unmittelbaren und mittelbaren Vertragspartnern (3) Beschränkung der Haftung des Kronzeugen entsprechend seinem Marktanteil Problem: Privilegierung der Kronzeugen auf Kosten der Geschädigten (4) Unbeschränkte Schadensersatzansprüche der Geschädigten, aber vollständiger Regress des Kronzeugen bei den anderen Kartellanten (Gesamtschuldnerausgleich) Problem: Mitkartellanten haften für Kronzeugen, Haftung der Mitkartellanten übersteigt den eigenen Verursachungsbeitrag (5) Vorschlag Bien, EuZW 2011, 889, 890: Erstattungsanspruch des Kronzeugen gegenüber der Staatskasse Vorteil: Privilegierung weder auf Kosten der Geschädigten noch auf Kosten der Mitkartellanten Voraussetzungen des Anspruchs: • Kronzeuge muss Geschädigten alle notwendigen Informationen zur Verfügung stellen/Unterstützung der privaten Kläger bei der Durchsetzung der SE-Ansprüche • Von Mitkartellanten eingenommenes Bußgeld als Obergrenze des Erstattungsanspruches Keine Finanzierung der Kronzeugen durch Steuereinnahmen d) Die Regelung in der neuen EU-Richtlinie über private Kartellschadensersatzklagen (2014) Sommersemester 2015 - 60 - B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach Examinatorium Zivilrecht Skript Art. 11: „Gesamtschuldnerische Haftung“: (1) Die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass Unternehmen, die durch gemeinschaftliches Handeln gegen das Wettbewerbsrecht verstoßen haben, gesamtschuldnerisch für den durch diese Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht verursachten Schaden haften, mit der Wirkung, dass jedes dieser Unternehmen zum vollständigen Ersatz des Schadens verpflichtet ist, und der Geschädigte das Recht hat, von jedem von ihnen vollständigen Schadensersatz zu verlangen, bis der Schaden vollständig ersetzt ist. (4) Abweichend von Absatz 1 gewährleisten die Mitgliedstaaten, dass ein Kronzeuge gesamtschuldnerisch haftbar ist a) gegenüber seinen unmittelbaren oder mittelbaren Abnehmern oder Lieferanten und b) gegenüber anderen Geschädigten nur dann, wenn von den anderen Unternehmen, die an derselben Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht beteiligt waren, kein vollständiger Schadensersatz erlangt werden kann. Lösung des Haftungsproblems in der SE-RL: • Privilegierte Stellung der Kronzeugen bei der gesamtschuldnerischen Haftung in Art. 11 Abs. 4 lit. b) • Subsidiäre Haftung gegenüber anderen Geschädigten als den unmittelbaren und mittelbaren Abnehmern Sommersemester 2015 - 61 - B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach Examinatorium Zivilrecht Skript Bewertung dieser Regelung: PRO: • Große Bedeutung der Kronzeugen für die Aufdeckung von Kartellen • Schutz der Kronzeugen dient dem Erfolg der Kartellverfolgung CONTRA: • Beschränkung der Rechte der Geschädigten, keine freie Wahl des Anspruchsgegners • Möglicherweise sinkt die Hemmschwelle, ein Kartell einzugehen, wenn Unternehmen Bußgeldern und SE-Ansprüchen durch Kronzeugenregelung entgehen können ERGEBNIS (Vorschlag): • Konsequente Privilegierung des Kronzeugen (um Attraktivität des Bonusprogramms zu erhalten) • Rechte der Geschädigten werden nicht zu stark beschränkt, subsidiär können sie gegen Kronzeugen vorgehen/unmittelbare und mittelbare Abnehmer können immer gegen Kronzeugen direkt vorgehen Sommersemester 2015 - 62 - B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach Examinatorium Zivilrecht Skript _______________________________________________________ Prof. Dr. Florian Bien, Universität Würzburg Examenskurs SPB 3 im SoSe 2015 D. Traditions-, Separations- und Abstraktionsprinzip versus Konsensund Einheitsprinzip 1. Definitionen a/I Traditionsprinzip (Principe de tradition) Voraussetzung für die Übereignung beweglicher Sachen ist grundsätzlich die Übergabe. b/II Konsens- bzw. Vertrags- bzw. Einigungsprinzip (Principe du consensualisme) Für die Übereignung einer Sache bedarf es lediglich der Willensübereinstimmung der Parteien. Ein zusätzlicher förmlicher Akt (Übergabe o. ä.) ist entbehrlich. b/I Separations- bzw. Trennungsprinzip (Principe de séparation) Zwischen Verpflichtungsgeschäft (Planung) und dinglicher Rechtsänderung (Durchführung) ist zu unterscheiden. Es bedarf je eines eigenen Rechtsgeschäfts. b/II Einheitsprinzip (Principe d’unité) Schuldrechtliche Verpflichtung und Übereignung fallen in einem Rechtsgeschäft zusammen. c/I Abstraktionsprinzip (Principe d’abstraction) Die Wirksamkeit des Verfügungsgeschäfts ist unabhängig von der Wirksamkeit des zugrunde liegenden Verpflichtungsgeschäfts (und umgekehrt). c/II Kausalprinzip Abhängigkeit der Wirksamkeit des Verfügungs- von der Wirksamkeit des Verpflichtungsgeschäfts. 2. Überblick über mögliche Kombinationen Traditions- Separations- Abstraktions- Beispiele Prinzip prinzip Prinzip nein nein nein ja nein nein nein ja nein - § 1372 österr. ABGB: Forderungsübertragung nein nein ja logisch ausgeschlossen - Art. 711, 1138, 1583 Code civil (bewegl. Sachen) - Sec. 18 Rule 1 Sale of Goods Act (Vereinigtes Königreich) - Allg. Preußisches Landrecht - §§ 26 I und 139 III ZGB der DDR - (Hand-)Schenkung im italienischen (Art. 783 Codice civile) und französischen Recht (Rspr.) 1 Examinatorium Zivilrecht Skript _______________________________________________________ ja nein nein ja ja Ja ja ja Nein Art. 714 schweizerisches OR; vgl. auch § 425 österr. ABGB und Art. 165 I schweiz. OR: Forderungsabtretung ja ja Ja - § 929 S. 1 BGB - §§ 398ff., 413 BGB: Übertragung von Forderungen und sonstigen Rechten - § 2 I deutsches SchiffsregG 3. Diskussion a. Separationsprinzip – Einheitsprinzip (a) Vorteil: Separationsprinzip kann ein zeitliches Auseinanderfallen von Entstehen der Pflicht zur Übergabe und Übereignung und der Rechtsfolge des Eigentumsübergangs besser erklären. (b) Nachteil: Separationsprinzip wirkt bei einfachen Sachverhalten (Brezelkauf) gekünstelt. (c) „Durchbrechungen“ des Trennungsprinzips im französischen Recht - Gattungskauf (vgl. Art.1583 C. civ.: Konkretisierung ist erforderlich für Eigentumsübergang) - Verkauf zukünftiger Sachen (ist möglich, Art. 1130 Abs. 1 C. civ., Herstellung ist aber erforderlich für Eigentumsübergang) - Verkauf einer einem Dritten gehörenden Sache (Nichtigkeitssanktion gemäß 1593 C. civ. greift nur, wenn sich der – unwissende! – Käufer darauf beruft) ist möglich, der Erwerb der Sache durch den Verkäufer aber erforderlich, damit Eigentum auf Käufer übergehen kann - Verkauf unter EBV (von Rechtsprechung und Gesetzgeber mittlerweile anerkannt, nicht aber kompliziertere Formen wie verlängerter EBV oder Verarbeitungsklauseln) (d) Durchbrechungen des Separationsprinzips im deutschen Recht? - § 285 BGB: h. M. gewährt Anspruch auf das den Wert (Schaden) übersteigende sog. commodum ex negotiatione - Im Fall der Schenkung eines belasteten Grundstücks an einen Minderjährigen hatte der BGH sich früher (vorsichtig) für eine „Gesamtbetrachtung“ von Verpflichtungs- und Verfügungsgeschäft als insgesamt rechtlich nachteilig iSv § 107 BGB ausgesprochen. Heute ganz h. M.: teleologische Reduktion von § 181 BGB. b. Abstraktionsprinzip – Kausalprinzip Vorteile – Nachteile – Durchbrechungen (insbes. § 181 BGB, Doppelmangel, Bedingung) c. Traditionsprinzip – Konsensprinzip (1) Traditionsprinzip (a) Vorteil: Publizität gegenüber Dritten, aber auch im Verhältnis der Parteien untereinander (Bsp.: Whistler-Fall der Cour de Cassation) (b) Nachteil: Formalismus (c) Durchbrechungen im deutschen Recht, z. B. - § 929 S. 2 (Bsp.: gemietetes Klavier wird vom Mieter gekauft) - § 930 (Besitzkonstitut, Sicherungsübereignung) - § 931 BGB (Abtretung des Herausgabeanspruchs gegen dritten Besitzer) (d) Durchbrechungen im französischen Recht 2 Examinatorium Zivilrecht Skript _______________________________________________________ - Doppelverkauf (Art. 1141 CC: Eigentümer ist derjenige Käufer, der als erster im Besitz der Sache ist.) - Gutgläubiger Erwerb vom Nichtberechtigten erfordert der Erwerb des Besitzes an der Sache (Art. 2276 CC) *** Materialien: Vorschriften zum rechtsgeschäftlichen Eigentumsübergang Code civil (Frankreich, 1807) Art. 711 La propriété des biens s'acquiert et se transmet par succession, par donation entre vifs ou testamentaire, et par l'effet des obligations. Eigentum an Sachen lässt sich erwerben, und kann auf andere übergehen, durch Erbfolge, durch Schenkung unter Lebenden oder auf den Todesfall, und durch die Wirkung der Verbindlichkeiten. Art. 1130 al. 1er Les choses futures peuvent être l'objet d'une obligation. Zukünftige Sachen können der Gegenstand einer Verpflichtung sein. Art. 1138 L'obligation de livrer la chose est parfaite par le seul consentement des parties contractantes. Elle rend le créancier propriétaire et met la chose à ses risques dès l'instant où elle a dû être livrée, encore que la tradition n'en ait point été faite […]. Die Verpflichtung, eine Sache zu überliefern, wird durch die bloße Einwilligung der Kontrahenten vollkommen begründet. Sie macht den Berechtigten zum Eigentümer und überträgt auf ihn die Gefahr der Sache von dem Augenblick an, wo sie überliefert werden sollte, obgleich ihre Übergabe nicht geschehen ist. Art. 1141 Si la chose qu'on s'est obligé de donner ou de livrer à deux personnes successivement est purement mobilière, celle des deux qui en a été mise en possession réelle est préférée et en demeure propriétaire, encore que son titre soit postérieur en date, pourvu toutefois que la possession soit de bonne foi. Ist die Sache, die man zu geben oder zu überliefern sich gegen zwei Personen nacheinander verbunden hat, eine bloß bewegliche Sache, so wird diejenige unter beiden vorgezogen, die in den wirtschaftlichen Besitz gesetzt worden ist, und sie bleibt Eigentümer davon, wenn schon ihre Erwerbungsurkunde von einem späteren Datum ist, vorausgesetzt jedoch, dass der Besitz ein redlicher sei. 3 Examinatorium Zivilrecht Skript _______________________________________________________ Art. 1583 [La vente] est parfaite entre les parties, et la propriété est acquise de droit à l'acheteur à l'égard du vendeur, dès qu'on est convenu de la chose et du prix, quoique la chose n'ait pas encore été livrée ni le prix payé. [Der Verkauf] ist unter den Kontrahenten vollkommen, und in Hinsicht der Verkäufers geht das Eigentum kraft des Gesetzes auf den Käufer über, sobald man über die Sache und den Preis einig geworden ist, wenn schon die Sache noch nicht überliefert, und der Preis nich nicht gezahlt worden ist. Art. 1599 La vente de la chose d'autrui est nulle : elle peut donner lieu à des dommages-intérêts lorsque l'acheteur a ignoré que la chose fût à autrui. Der Verkauf einer fremden Sache ist ungültig; er kann gleichwohl eine Klage auf vollständigen Schadensersatz begründe, wenn der Käufer nicht wusste, dass die Sache einem anderen zugehörte. Art. 2276 En fait de meubles, la possession vaut titre. Néanmoins, celui qui a perdu ou auquel il a été volé une chose peut la revendiquer pendant trois ans à compter du jour de la perte ou du vol, contre celui dans les mains duquel il la trouve ; sauf à celuici son recours contre celui duquel il la tient. Bei Mobilien gilt der Besitz als Titel. [Ausnahme: Verlust oder Diebstahl] The Civil Code of the State of Louisiana (1808) Art. 518. Voluntary transfer of the ownership of a movable (1) The ownership of a movable is voluntarily transferred by a contract between the owner and the transferee that purports to transfer the ownership of the movable. Unless otherwise provided, the transfer of ownership takes place as between the parties by the effect of the agreement and against third persons when the possession of the movable is delivered to the transferee. (2) When possession has not been delivered, a subsequent transferee to whom possession is delivered acquires ownership provided he is in good faith. […] 4 Examinatorium Zivilrecht Skript _______________________________________________________ Allgemeines Landrecht für die preußischen Staaten – ALR (Preußen, 1794) Zehnter Titel § 1 Die mittelbare Erwerbung des Eigenthums einer Sache erfordert, außer dem dazu nothigen Titel, auch die wirkliche Uebergabe derselben. (Tit. VII. §. 58. Tit. IX. §. 2-6.) § 2 Der Titel zur mittelbaren Erwerbung des Eigenthums kann durch Willenserklärungen, durch Gesetze und rechtliches Erkenntniß begründet werden. Zivilgesetzbuch – ZGB (DDR, 1975) § 26 ZGB (1) Der Übergang des Eigentums an einer Sache auf Grund eines Vertrages erfolgt mit der Übergabe der Sache, soweit in diesem Gesetz oder in anderen Rechtsvorschriften nichts anderes bestimmt ist. […] (2) Das Eigentum an Grundstücken […] § 139 ZGB (3) Das Eigentum geht mit Übergabe der Ware und Zahlung des Kaufpreises auf den Käufer über, soweit nichts anderes vereinbart ist. Codice civile (Italien, 1942) Art. 783 La donazione di modico valore che ha per oggetto beni mobili è valida anche se manca l'atto pubblico, purché vi sia stata la tradizione. La modicità deve essere valutata anche in rapporto alle condizioni economiche del donante. Sale of Goods Act (Großbritannien, 1893/1979) Sec. 17 Property passes when intended to pass (1) Where there is a contract for the sale of specific or ascertained goods the property in them is transferred to the buyer at such time as the parties to the contract intend it to be transferred. Sec. 18 Rules for ascertaining intention Unless a different intention appears, the following are rules for ascertaining the intention of the parties as to the time at which the property in the goods is to pass to the buyer. Rule 1.— Where there is an unconditional contract for the sale of specific goods in a deliverable state the property in the goods passes to the buyer when the contract is made, and it is immaterial whether the time of payment or the time of delivery, or both, be postponed. […] Uniform Commercial Code (USA, 1972) § 2-401 (1) […] title to goods passes from the seller to the buyer in any manner on any condition explicitly agreed on by the parties. 5 Examinatorium Zivilrecht Skript _______________________________________________________ (2) Unless otherwise explicitly agreed title passes to the buyer at the time and place at which the seller completes his performance with reference to the physical delivery of the goods […] The Civil Code of the State of California (1872) Art. 1039 Transfer is an act of the parties, or of the law, by which the title to property is conveyed from one living person to another. Art. 1040 A voluntary transfer is an executed contract, subject to all rules of law concerning contracts in general; except that a consideration is not necessary to its validity. Schiffsregistergesetz (Deutschland, 1940) §2 (1) Zur Übertragung des Eigentums an einem im Seeschiffsregister eingetragenen Schiff ist erforderlich und genügend, dass der Eigentümer und der Erwerber darüber einig sind, dass das Eigentum auf den Erwerber übergehen soll. Obligationenrecht, fünfter Teil des ZGB (Schweiz, 1912) Art. 13 Ein Vertrag, für den die schriftliche Form gesetzlich vorgeschrieben ist, muss die Unterschriften aller Personen tragen, die durch ihn verpflichtet werden sollen. Art. 165 (1) Die Abtretung bedarf zu ihrer Gültigkeit der schriftlichen Form. (2) Die Verpflichtung zum Abschluss eines Abtretungsvertrages kann formlos begründet werden. Art. 714 (1) Zur Übertragung des Fahrniseigentums bedarf es des Überganges des Besitzes auf den Erwerber. Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch - ABGB (Österreich, 1812) § 425 Der bloße Titel gibt noch kein Eigentum. Das Eigentum und alle dingliche Rechte überhaupt können, außer den in dem Gesetze bestimmten Fällen, nur durch die rechtliche Übergabe und Übernahme erworben werden. 6 Examinatorium Zivilrecht Skript _______________________________________________________ Bürgerliches Gesetzbuch - BGB (Deutschland, 1900) § 929 Zur Übertragung des Eigentums an einer beweglichen Sache ist erforderlich, dass der Eigentümer die Sache dem Erwerber übergibt und beide darüber einig sind, dass das Eigentum übergehen soll. […] 7 Examinatorium Schwerpunktbereich 3 Skript ______________________________________________________________________________________ Überblick IZVR Worum geht es im IZVR? Normen, die in Zivilrechtsfällen mit Auslandsbezug Verfahrensfragen regeln, va. zur internationalen Zuständigkeit wie Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Entscheidungen. Die internationale Zuständigkeit bestimmt den Ausgang des Verfahrens häufig, weil zunächst Bestimmung des zuständigen Gerichts; daraufhin wendet das Gericht sein eigenes IPR an. Vor der Frage des anwendbaren Rechts Ermittlung des zuständigen Gerichts, wovon Auswahl der für die Bestimmung des anwendbaren Rechts herangezogen Kollisionsnormen abhängt (lex fori-Grundsatz). Internationale Zuständigkeit von Amts wegen zu prüfen. - jedes Gericht wendet sein eigenes IZVR an (Arg.: Praktikabilität, Vorhersehbarkeit) Bevor man (deutsches) IVZR anwendet: besteht überhaupt dt. Gerichtsbarkeit? VR Grenzen der Gerichtsgewalt – Staatenimmunität - - Abgrenzung int. Zuständigkeit (dt. oder ausl. Gerichte zuständig?) vs. Bestehen dt. Gerichtsbarkeit (VR Grundsätze, die Austragung des Prozesses vor dt. Gericht verhindern) Immunität ausl. Staaten und ihrer Vertreter Staaten: Staatenimmunität Völkergewohnheitsrecht; UN-Konvention 2004 verabschiedet, aber noch nicht in Kraft; - früher: absolute Staatenimmunität: kein Verklagen, keine Vollstreckung in ausl. Staatenvermögen im Inland (Souveränität) heute: Lehre von der relativen Staatenimmunität (funktional begrenzte Immunität) • hoheitl. Handeln (acta iure imperii) • nicht hoheitl. Handeln (acta iure gestionis) – z.B. National Iranian Oil Company o bei Vollstreckungsverfahren in das Vermögen eines Staates: Zweckbindung des Vermögens (hoheitl.?) Botschaftskonto ist immun in Konto für Wirtschaftstransaktionen kann vollstreckt werden o wichtigste Ausnahme von Staatenimmunität: Grundstücke o jur. Pers. haben nicht Teil an Staatenimmunität (str) persönl. Immunität o WDÜ/WKÜ, vgl. §§ 18-20 GVG (Verweis) o Dtl. verzichtet hier auf Gegenseitigkeit (wird angewendet, auch wenn andere Partei nicht Vertragsstaat ist) o gilt für ausl. Staatsgäste, Diplomaten, Familienangehörige ausgeschlossen von Zivilgerichtsbarkeit _____________________________________________________________________________________________________________________ Sommersemester 2015 Björn Becker, Annalena Scholl, Markus Welzenbach Examinatorium Schwerpunktbereich 3 Skript _____________________________________________________ - o Ausnahmen: Art. 31 WDÜ (v.a. c)), Art. 32 III WDÜ räumlich-gegenständliche Immunität o Archive, Diplomatenwohnungen, Kuriergepäck, Botschaftsgebäude, etc. Internationale Organisationen o i.d.R. Immunitäts-Abkommen mit Sitzstaaten Die EuGVVO – Anwendbarkeit sachliche Anwendbarkeit - - Art. 1 I GVO: Zivil- und Handelssachen o auch: Individualarbeitsvertrag (Art. 18f.), Unterhaltssachen o Staatshaftung (-), Leistungsverwaltung im Privatrecht (+) Ausnahmen: Personenstand (Ehescheidung, Ehesachen EheVO), Familienrecht, Erbrecht, Konkursvergleich, Schiedsgerichtsbarkeit, etc. räumlich-persönliche Anwendbarkeit - - Räumlich: o eigentliches Ziel: Binnenmarkts-Förderung o aber: Erwägungsgrund Nr. 8 und EuGH (Owusu/Jackson): es genügt [Bezug zu einem MS], Art. 2 I GVO persönlich: Art. 4 I GVO: Wohnsitz des Beklagten entscheidet über int. Zust. o Voraussetzungen für Anwendbarkeit der GVO müssen aus Zust.vorschriften herausgelesen werden o allg. Regel des Art. 6 I i.V.m. 4 I GVO (Grundregel) Wohnsitz des Beklagten innerhalb eines EU-MS GVO anwendbar vorbehaltlich Art. 24, 25 GVO ggf. Art. 6 I, 62, 63 GVO - Problem: exorbitante Zuständigkeiten (e.g. „transient rule“) o keine Sach-/Rechtsnähe vorausgesetzt dient dem Vorteil eigener Staatsangehöriger „minimal contacts“ genügen für Zuständigkeit o z.B. § 23 ZPO darf nicht geltend gemacht werden, wenn GVO anwendbar ist o Art. 4 GVO: exorbitante Zuständigkeiten in der EU (für MS untereinander) abgeschafft o Art. 5 II GVO: verstärkt exorbitante Zuständigkeit (gegenüber Drittstaaten) zeitliche Anwendbarkeit - Art. 66, 81 für den Zeitraum vor 10.1.2015 EuGVVO alt, davor EuGVÜ wenn EuGVVO nicht anwendbar ist: entweder VR Vertrag oder autonomes dt. Recht (ZPO – Doppelfunktionalität, örtl. Zuständigkeit indiziert internationale) allgemeiner Gerichtsstand allgemeiner Gerichtsstand für alle Klagen - Grundsatz für Ort des allgemeinen Gerichtsstands o actor sequitur forum rei („der Kläger folgt dem Gerichtsstand der Sache“) _____________________________________________________________________________________________________________________ Sommersemester 2015 -2- B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach Examinatorium Schwerpunktbereich 3 Skript _____________________________________________________ - - o der Kläger muss also beim Beklagten klagen allg. Gerichtsstand nach GVO: Art. 4 I GVO o allg. Gerichtsstand = Wohnsitz des Beklagten allg. Gerichtsstand nach autonomem dt. Recht (wenn GVO nicht anwendbar ist): o § 12 ZPO (doppelfunktional!): „Def.“ des allg. Gerichtsstandes o wo? §§ 12ff. ZPO §§ 12, 13 ZPO gegen eine Person an ihrem Wohnsitz klagen, das gilt auch für int. Zuständigkeit Wo ist der Wohnsitz? o GVO: keine Regelung/Def. o nat. Recht: jeweils eigene Def. anwenden § 7 BGB für nat. Pers. o Gesellschaften: Art. 4 I GVO Art. 63 GVO definiert Wohnsitz bei Ges. • 3 alternative Kriterien: Satzungssitz / HauptVw / HauptNL • dadurch mehrere allg. Gerichtsstände möglich! § 17 I 2 ZPO VwSitz II meint Satzungssitz, sonst Ort der Vw Besondere Gerichtsstände Vertragsrecht: Art. 7, 8 GVO Klagen aus Vertrag: Gerichtsstand des Erfüllungsortes - - EuGVO: Art. 7 Nr. 1 GVO o Einleitungssatz enthält Vss. Art. 4 I GVO Wohnsitz in GVO-MS Tatbestandsmerkmale des Art. 5 Nr. 1 GVO o Vertragsbegriff (s.u.) o Erfüllungsort (s.u.) wo erfüllt wurde bzw. hätte erfüllt werden müssen hier kann geklagt werden! typische Fragen: o was ist ein Vertrag? o freiwillige Verpflichtung zweier Personen zu einer Leistung o Grenzfälle: c.i.c., Gewinnmitteilung autonome oder nat. Auslegung der GVO? st. Rspr. EuGH: autonom! (z.B. Tacconi) Fall 1: Tacconi Tacconi benötigt eine Maschine, die von der deutschen Firma HWS hergestellt wird. Daher schließt T mit Zustimmung von HWS einen Leasingvertrag über eine solche Maschine mit dem italienischen Leasingunternehmen BN Commercio e Finanza SpA. Allerdings kommt der Kaufvertrag zwischen HWS und BN nicht zustande, T erhält die Maschine nicht. T meint, die HWS habe den Verkauf an BN ungerechtfertigt verweigert und damit gegen ihre Pflicht, nach Treu und Glauben zu handeln, verstoßen. T verlangt daher von HWS Schadensersatz und hält die italienischen Gerichts für zuständig, da der Schaden in Perugia eingetreten sei. HWS verweist hingegen auf Art. 7 Nr. 1 EuGVVO. (EuGH vom 17.09.2002, Rs. C 334/00 (Fonderie Officine ./. MeccanicheTacconi)) Bearbeitervermerk: Ist das italienische Gericht international zuständig? _____________________________________________________________________________________________________________________ Sommersemester 2015 -3- B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach Examinatorium Schwerpunktbereich 3 Skript _____________________________________________________ I. Anwendbarkeit der EuGVVO? • Sachlich, Art. 1 Abs. 1 (+) • Räumlich-persönlich, Art. 4 Abs. 1 i.V.m. 63 EuGVVO (+) • Zeitlich (+) II. Ausschließlicher Gerichtsstand? (-) • Art. 24 EuGVVO? (-) • Art. 18 Abs. 2 i. V. m. Art. 17 Abs. 1 EuGVVO? (-), da Tacconi nicht verklagt wird und kein Verbraucher ist III. Allgemeiner Gerichtsstand nach Art. 4 Abs. 1, 6 Abs. 1 EuGVVO: Deutschland IV. Besonderer Gerichtsstand? • Art. 7 EuGVVO • Problem: Zuständigkeit nach Art. 7 Nr. 1 (vertraglich) oder Nr. 2 (deliktisch) EuGVVO zu beurteilen? • EuGH: vertragliche Zuständigkeit nach Art. 7 Nr. 1 EuGVVO setzt „freiwillige Verpflichtung einer Partei gegenüber einer anderen, nicht dagegen den Abschluß eines Vertrags“ voraus • • Hier lag ein Fall vorvertraglicher Haftung (Abbruch von Verhandlungen) vor, es bestand jedoch noch keine freiwillige Verpflichtung Deshalb: gesetzliche/außervertragliche Haftung, Zuständigkeit nach Art. 7 Nr. 2! • Ubiquitätsprinzip: Erfolgs- bzw. Handlungsort V. Ergebnis: Zuständigkeit des italienischen Gerichts (+) [Anmerkung: Vorliegend handelt es sich um Leasing im Dreiecksverhältnis: Bei einem Dreiecksverhältnis schließt der Kunde (künftiger Leasingnehmer) einen Kaufvertrag über einen Gegenstand mit einem Lieferanten ab und anschließend einen Leasingvertrag über den Gegenstand mit einem LeasingUnternehmer. Damit der Leasing-Unternehmer das Eigentum an dem Gegenstand erlangt, tritt er in den Kaufvertrag zwischen dem Kunden und dem Lieferanten ein. Die Sachverhalte sind verkürzt wiedergegeben, für ein umfassendes Verständnis empfiehlt sich die Lektüre des EuGH-Urteils.] - was ist die maßgebliche Verpflichtung? EuGH: Tessili / de Bloos/Bouyer-Rspr. o o es kommt auf die konkret streitige Verpflichtung an wo ist der Erfüllungsort für diese Verpflichtung? Art. 7 Nr. 1 a) Erfüllungsort ist nach Tessili/de Bloos-Rspr. nach der lex causae für die jeweils streitige Verpflichtung zu bestimmen _____________________________________________________________________________________________________________________ Sommersemester 2015 -4- B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach Examinatorium Schwerpunktbereich 3 Skript - - - _____________________________________________________ b) bietet eine autonome Def. des Erfüllungsortes, die in den meisten Fällen praktisch greift (autonome Def. und Auslegung) • z.B. „Verkauf bewegl. Sachen“ Lieferungsort • z.B. „Erbringen von Dienstleistungen“ (weiter als BGB-Dienstverh.) c) falls b) nicht anwendbar ist, via c) zurück zu a) (also wieder lex causaeErfüllungsort der maßgeblichen Verpflichtung) o damit ist die Lösung einheitlich (nicht mehr „maßgebliche Verpflichtung“-abhängig) neben dem allg. Gerichtsstand des Beklagten kann der Kläger auch am Ort der Sache klagen (praktisch sinnvoll, z.B. in Augenscheinnahme) Art. 5 Nr. 1 lit b) GVO: Erfüllungsorte o Kauf und Dienstleistungen: o „Verkauf beweglicher Sachen“ = KV auch Werklieferungsverträge etc. eingeschlossen nur Waren! nicht Rechte, Forderungen beachte: besteht ggf. besonderer Verbrauchergerichtsstand? o Dienstleistungen Art. 50 EGV: weit zu verstehen alle Leistungen, die gegen Entgelt erbracht werden, z.B. Freiberufler, Werkvertrag, Frachtvertrag, etc. o Erfüllungsort ist der Ort in einem MS, an den geliefert wurde/hätte werden sollen Problem: was, wenn an mehrere Orte zu liefern ist? o EuGH „Color Drack“: zwar alle Orte innerhalb eines MS, aber Art. 7 GVO bestimmt auch örtl. Zuständigkeit o EuGH: Lieferort = Ort der Hauptleistung (Schwerpunktbetrachtung nach wirtschaftlichen Kriterien) o allerdings Vorbehalt, bei Orten in mehreren MS anders zu entscheiden andere Fallgruppen o Anwaltsdienste (Kanzlei in A, Verhandlung in B) hier: Schwerpunkt = Vorbereitungszeit (idR), also Kanzleiort BGH verletzte Vorlagepflicht, denn Color Drack hatte ausdrücklich offengelassen! o Flug (Rehder Air Baltic): Vorlagebeschluss vom 22.4.2008 Dienstleistung: wo hätte sie erbracht werden müssen? BGH: entweder „Wahl innerhalb des MS“ (Color Drack) übertragen, dann Wahl des Klägers ODER Schwerpunktbetrachtung mit dem Schwerpunkt am Abflugort (Bereitstellung der Maschine) eher Schwerpunktbetrachtung, aber auch etwas fraglich Verbrauchersachen, Art. 17ff. GVO - - - Art. 17ff. EuGVO: passt nicht direkt ins Schema allg./bes. Gerichtsstand o für Verbraucher wird bes. Gerichtsstand als Wahlmöglichkeit begründet, für den Unternehmer wird ein ausschließlicher Gerichtsstand begründet Art. 17 GVO: Definition Art. 18 GVO: Vorschriften über Gerichtsstände / Zuständigkeiten (gespalten) o Wahlrecht für Verbraucher-Kläger o ausschließlicher Gerichtsstand für Unternehmer-Kläger Art. 19 GVO: Einschränkungen für Gerichtsstands-Vereinbarungen _____________________________________________________________________________________________________________________ Sommersemester 2015 -5- B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach Examinatorium Schwerpunktbereich 3 Skript _____________________________________________________ Art. 15, 16 GVO können NICHT durch Gerichtsstandsvereinbarung abbedungen werden! Ziel: Schutz des Verbrauchers (schwächerer Vertragspartner) o soll Gerichtsstand im eigenen Staat haben (Ausnahme von allg. Regel) o dies soll nicht durch Gerichtsstandsvereinbarung eingeschränkt werden o Absicht: Stärkung des Vertrauens in den Binnenmarkt Art. 17 I GVO: „oder“-Verknüpfung o Verbrauchersachen schrittweise erweitert, c) erst in GVO TeilzahlungsKV RatenkreditV alle VerbraucherV umfassender! • Def. entsprechend Art. 6 Rom I-VO! Ziel: Zuständigkeit und anwendbares matR sollen parallel laufen (EuGVO/Rom I) • Unternehmertätigkeit in dem Staat, wo Verbraucher seinen Wohnsitz hat, ausgeübt oder ausgerichtet • Problem: „Uferlosigkeit“ des Art. 17 I c) GVO o weite Fassung wurde in Rom I übernommen, Erwägungsgrund 24 Problem: „Ausrichten“ und Werbung mit dann „mobilem“ Verbraucher? o Werbung, z.B. Flyer, und danach begibt sich Verbraucher an Geschäftssitz des Gewerbetreibenden? Ort des Vertragsschlusses ist unerheblich, Ausrichten (+), damit Verbrauchergerichtsstand Schutz des „aktiven“ Verbrauchers! Problem: Internet-Fälle und „ausrichten“? o Zugänglichkeit einer Website reicht noch nicht, es muss Vertragsschluss im Fernabsatz erfolgen nur Info über Web/Prospekte bzw. Werbung/Angebot genügt nicht (sonst weltweite Ausdehnung) Vgl. aktive vs. Passive Website (Pammer/Schlüter bzw. Alpenhof/Heller) „Vertragsschluss auf ausschließlich elektronischem Wege zu Stande kommt“; nicht aber „bloße Abrufbarkeit“ o - - - - Fall 2: Das „fernabgesetzte“ Wohnmobil (siehe BGH-Vorlagebeschluss vom 1.2.2012, EuZW 6/2012, 236 m.Anm. Sujecki) Tourist T aus den Niederlanden hat sich auf der Website eines in Deutschland ansässigen WohnmobilVermieters W (die u.a. eine Anfahrtsskizze aus den Niederlanden, niederländische Flaggen sowie den Hinweis „Wij spreken Nederlands!“ enthält) über die Mietmöglichkeiten für ein Wohnmobil informiert. Anschließend tauschen die Parteien mehrere E-Mails aus; W faxt T einen Reservierungsantrag, den T unterschreibt und W zurückfaxt. Auf der Rückseite dieses Antrags waren Ws AGB für Wohnmobil-Mietverträge abgedruckt, deren Nr. 19 enthält eine Gerichtsstandsvereinbarung, die für alle Streitigkeiten im Zusammenhang mit dem Vertrag den Sitz des Vermieters festlegt, soweit der Mieter keinen allgemeinen Gerichtsstand im Inland hat. Später leistet T in den Räumen der W die Anzahlung, dort wird dann auch der Mietvertrag geschlossen. Allerdings gibt T das Wohnmobil erst nach Ablauf der Mietzeit zurück, er begründet dies mit technischen Defekten. W bestreitet die Defekte und macht Schadensersatz wegen verspäteter Rückgabe geltend. Bearbeitervermerk: Sind die deutschen Gerichte international zuständig? _____________________________________________________________________________________________________________________ Sommersemester 2015 -6- B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach Examinatorium Schwerpunktbereich 3 Skript _____________________________________________________ I. Anwendbarkeit der EuGVVO? 1. Sachlich, Art. 1 Abs. 1 EuGVVO? (+) 2. Räumlich-persönlich, Art. 4 Abs. 1 EuGVVO? (+) 3. Zeitlich (+) II. Ausschließlicher Gerichtsstand? 1. Art. 18 Abs. 2 EuGVVO? a. Prüfung des Art. 17 Abs. 1 EuGVVO 1) Anhaltspunkte, dass Gewerbetreibender Geschäfte mit Verbrauchern tätigen will, die in anderen MS wohnhaft sind (im Sinne von: zu einem Vertragsschluss mit diesen bereit) – z.B. internationaler Charakter der Tätigkeit, Anfahrtsbeschreibungen aus anderen MS, Verwendung anderer Sprache oder Währung, Möglichkeit der Buchung/Bestätigung in anderer Sprache 2) aber: ist ZUSÄTZLICH nötig, dass der Vertrag mit Fernabsatzmitteln geschlossen wird? a) teils: Art. 17 Abs. 1 lit. c) EuGVVO NUR bei Fernabsatz-Vertrag b) A.A.: Vertrag muss nicht zwingend im Fernabsatz geschlossen werden, es genügt, wenn Internetauftritt zumindest ursächlich für Vertragsschluss war c) BGH: „Ausrichten“ erfordert, dass Verbraucher durch Website zumindest zum Vertragsschluss motiviert wurde – Kausalzusammenhang genügt / NICHT aber, wenn Website zwar „ausgerichtet“, aber Verbraucher keine Kenntnis hatte (dann ist Schutzzweck nicht erfüllt…) BGH: hier Annahme einer Verbrauchersache – „Denn im vorliegenden Fall sind die Parteien bereits vor der Unterzeichnung des Mietvertrags mit Mitteln des Fernabsatzes eine vertragliche Bindung eingegangen, die unmittelbar in den eigentlichen Abschluss des Mietvertrags mündete“ d) EuGH: „Die Anwendbarkeit von Art. 15 Abs. 1 lit. c [jetzt Art. 17 Abs. 1 lit.c ]EuGVVO setzt nicht voraus, dass der Vertrag zwischen Verbraucher und Unternehmer mit Mitteln des Fernabsatzes geschlossen wurde.“ 3) Ergebnis: Vertrag muss nicht im Fernabsatz geschlossen sein b. Ergebnis: Ein Ausrichten auf die Niederlande liegt vor. 2. Abweichung durch Gerichtsstandsvereinbarung, Art. 25 EuGVVO a. Art. 25 Abs. 4 EuGVVO verweist auf Art. 19 EuGVVO b.Voraussetzungen des Art. 19 EuGVVO erfüllt? (-) c. Ergebnis: Gerichtsstandsvereinbarung ist unwirksam [Exkurs: Art. 25 Abs. 1 EuGVVOneu setzt anders als Art. 23 Abs. 1 EuGVVO nicht mehr voraus, dass mindestens eine der Parteien ihren Wohnsitz in einem Mitgliedstaat hat. Hinzutritt daneben, dass das gewählte Gericht zuständig ist, sofern die Gerichtsstandsvereinbarung nicht nach dem Rechts dieses Mitgliedstaats materiell nichtig ist.] 3. Ergebnis: Die niederländischen Gerichte sind international ausschließlich zuständig. III. Ergebnis: Die niederländischen Gerichte sind international ausschließlich zuständig. _____________________________________________________________________________________________________________________ Sommersemester 2015 -7- B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach Examinatorium Schwerpunktbereich 3 Skript _____________________________________________________ [Anmerkung: Die Gerichtsstandsvereinbarung kann auch zuerst geprüft werden, dann muss aber inzident geprüft werden, ob eine Verbrauchersache gem. Art. 17 I EuGVO vorliegt, da nur dann Anwendbarkeit des Art. 19 EuGVO – dieser Lösungsweg ist also insgesamt verschachtelter.] Gerichtsstand der unerlaubten Handlung - - - was ist unerlaubte Handlung? o autonome Auslegung des EuGH: Schadenshaftung des Beklagten kein Vertrag iSd Art. 7 Nr. 1 (keine freiwillige Verpflichtung) „stur“ alles, was nicht auf Vertrag beruht auch Fälle, die nach dt. Recht z.B. BerR oder GoA sein könnten! auch Gefährdungshaftung auch Unterlassungsklagen wegen Eigentumsbeeinträchtigung (z.B. § 1004 BGB) o es genügt ein zukünftig drohender Schadenseintritt (vorbeugende Unterlassungsklage) Art. 7 Nr. 2 EuGVO o „Ort“: auch örtliche Zuständigkiet o „schädigendes Ereignis“: Handlung oder RG-Verletzung? wo ist Ort der unerlaubten Handlung? o Handlungsort (z.B. Herstellung) o Erfolgsort (Rechtsgutsverletzung) o EuGH (Rheinverschmutzungsfall): beides sind Orte iSd Art. 7 Nr. 2 GVO! o Wahlrecht des Klägers!!! o Sonderfälle: Vermögensdelikte: laut EuGH geht es um Beweisnähe, also ist Gerichtsstand nur dort, wo Vermögen konkret geschädigt ist Fall Nr. 3: „Holz-Ente“ Spielzeughersteller S mit Sitz in China verkauft bunt lackiertes Holzspielzeug. Da der Lack hinsichtlich einiger chemischer Substanzen nicht den EU-Grenzwerten entspricht, werden die Spielsachen nicht in der EU angeboten; S vertreibt sie aber unter anderem in China, Brasilien und Russland. Der Inhaber einer portugiesischen Kaufhauskette, P, kauft in Brasilien günstig einen großen Posten des Holzspielzeugs und importiert es nach Portugal, wo er es in den Spielwarenabteilungen seiner Kaufhäuser anbietet. Oma Ottilie, wohnhaft in Rendsburg, sieht beim Urlaub in Portugal eine „entzückende“ Holzente, die sie „ganz reizend“ findet und daher als Mitbringsel für ihre Enkelin Emmy kauft. Die kleine Emmy lutscht begeistert an der Ente und hat leichte Vergiftungserscheinungen, die ihre Eltern im Krankenhaus behandeln lassen. Bearbeitervermerk: Die Eltern möchten nun wissen: Wo können sie P auf Schadensersatz verklagen? I. Anwendbarkeit der EuGVVO? (+) II. Ausschließlicher Gerichtsstand? (-) III. Gerichtsstandsvereinbarung? (-) IV. Allgemeiner Gerichtsstand nach Art. 4 Abs. 1 EuGVVO: Portugal V. besonderer Gerichtsstand? _____________________________________________________________________________________________________________________ Sommersemester 2015 -8- B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach Examinatorium Schwerpunktbereich 3 Skript _____________________________________________________ 1. Art. 7 Nr. 1 EuGVVO vertraglich (bzw. nach Art. 17 ff. Verbrauchersachen) (-), da hier Vertrag zwischen O und P geschlossen 2. Art. 7 Nr. 2 EuGVVO – unerlaubte Handung Ort des schädigenden Ereignisses: Handlungsort oder Erfolgsort. Ubiquitätsprinzip: Wahlrecht! 1) Handlungsort: Der Ort, an welchem der Schädiger gehandelt hat. Verkauf in Portugal 2) Erfolgsort: Der Schadenseintrittsort liegt dort, wo das haftungsauslösende Ereignis den unmittelbar Betroffenen direkt geschädigt hat.Vergiftungserscheinungen in Deutschland VI. Ergebnis: Wahlrecht zwischen Portugal und Deutschland Fall Nr. 4: Vertrag oder Delikt? (nach EuGH, Urteil vom 13.03.2014 (Brogsitter); Wendenburg, Albrecht/Schneider, Maximilian, Vertraglicher Gerichtsstand bei Ansprüchen aus Delikt?, NJW 2014, 1633 ff.) Die in Frankreich ansässige B entwickelte für den in Krefeld (Deutschland) ansässigen K hochwertige Uhrwerke. Grundlage dafür war ein Entwicklungsvertrag, der nach Lesart des K auch eine Exklusivitätsabrede enthält. Die B baute sodann – parallel zu den vom K finanzierten Entwicklungsarbeiten – eigene Uhrwerke und bewarb sie, auch in Deutschland. Der K sieht darin unter anderem eine unerlaubte Handlung unter den Gesichtspunkten der Vorlagenfreibeuterei, des Eingriffs in seinen Gewerbebetrieb, des Betrugs und der Untreue. Er klagt daher vor dem LG Krefeld auf Unterlassung und Schadensersatz. Bearbeitervermerk: Ist das LG Krefeld international zuständig? I. Anwendbarkeit der EuGVVO 1. Sachlich, Art. 1 Abs. 1 EuGVVO (+) 2. Räumlich-persönlich, Art. 4 Abs. 1 i. V. m. Art. 6 Abs. 1 EuGVVO (i. V. m. Art. 63 EuGVVO) 3. Zeitlich, Art. 66, 81 EuGVVO II. Internationaler Gerichtsstand? 1. Ausschließlicher Gerichtsstand? a. Art. 24 EuGVVO? (-) b.Gerichtsstandsvereinbarung, Art. 25 Abs. 1 EuGVVO? (-) 2. Allgemeiner Gerichtsstand, Art. 4 Abs. 1 EuGVVO? -> forum domicilii: Frankreich 3. Besonderer Gerichtsstand? a. Art. 7 EuGVVO? 1) Nr. 1: forum contractus: Frankreich 2) Nr. 2: forum delicti: Deutschland? a) LG Krefeld: Nein, hier vertraglicher und kein deliktischer Gerichtsstand: Vertrag über Uhrwerk „stelle den Rahmen dar, von dem auch die deliktischen Ansprüche ummantelt sind“ _____________________________________________________________________________________________________________________ Sommersemester 2015 -9- B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach Examinatorium Schwerpunktbereich 3 Skript _____________________________________________________ b) OLG Düsseldorf: wettbewerbsrechtlicher Anspruch aus Vorlagenfreibeuterei -> deliktischer Anspruch -> forum delicti c) Vorlage des LG Krefeld an den EuGH d) EuGH: „unerlaubte Handlung“ im Sinne des Art. 7 Nr. 2 EuGVVO: Ansprüche, die nicht an einen „Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag“ i. S. v. Art. 7 Nr. 1 lit a) EuGVVO anknüpfen i. Aber Vorliegen einer vertraglichen Beziehung zwischen den Parteien alleine nicht ausreichend ii. Anknüpfung an einen Vertrag: wenn eine Auslegung des Vertrags „unerlässlich erscheint, um zu klären, ob das … vorgeworfene Verhalten rechtmäßig oder vielmehr widerrechtlich ist“, soll die Anknüpfung „grundsätzlich“ bestehen • Grundsätzlich = ohne Ausnahme iii. Folglich zwei Vss.: • Kläger macht einen Ersatzanspruch geltend • das vorgeworfene Verhalten ist zugleich ein Verstoß gegen einen zwischen den Parteien bestehenden Vertrag e) Ergebnis: Art. 7 Nr. 2 EuGVVO ist nicht einschlägig. III. Endergebnis: Das LG Krefeld ist nicht international zuständig. 1) EuGH bisher: „Mosaikbetrachtung“ (Shevill-Rechtsprechung) – bei diversen Erfolgsorten Klage zwar überall möglich, aber jeweils nur proportional der Schaden einklagbar, der dem Anteil der verkauften Zeitungen entspricht 2) EuGH vom 25.10.2011: Einschränkung der Shevill-Rechtsprechung – neben dem regulären Beklagtengerichtsstand (hier England) nicht nur der besondere Gerichtsstand des Handlungs- und Erfolgsortes, sondern auch Schadensersatz-Klage am Interessensmittelpunkt des Geschädigten möglich Ausschließliche Gerichtsstände Ausschließliche Gerichtsstände zwingend, auch bei Gerichtsstandsvereinbarung oder rügeloser Einlassung. Bestimmungen wegen Ausnahmecharakter eher eng auszulegen. Beklagter auch in Drittstaat, „ohne Rücksicht auf Wohnsitz“ Art. 24 EuGVO Verbraucherrecht (insb. Nr. 1), Art. 20 GVO Arbeitsrecht, Art. 10 ff. Versicherung _____________________________________________________________________________________________________________________ Sommersemester 2015 - 10 - B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach Examinatorium Schwerpunktbereich 3 Skript _____________________________________________________ Gerichtsstandsvereinbarungen Art. 25 GVO (§§ 38, 40 ZPO) Vorteil: Rechtssicherheit Zuständigkeit in Vertragsklausel gewählt; AGB? - - - - - Prorogation: ausschließliche Bestimmung eines Gerichtsstands o gewählter Gerichtsstand (forum prorogatum) – positiv festgesetzt Derogation: Abwählen potentieller Gerichtsstände o abgewählter Gerichtsstand = forum derogatum o liegt implizit in jeder Prorogation Art. 25 GVO: Anwendungsbereich/Anwendbarkeit o zeitlichen und sachlichen Anwendungsbereich für Art. 25 GVO wie bei anderen Vorschriften prüfen o persönlichen Anwendungsbereich: Art. 25 GVO definiert für sich selbst seinen eigenen Anwendungsbereich (von Art. 6 GVO ausgenommen) o Anwendungsvoraussetzungen des Art. 23 GVO: „unabhängig von Wohnsitz“ – neu! vereinbartes (prorogiertes) Gericht muss Gericht eines MS sein Problem: wenn beide Parteien den Sitz im selben MS haben und dort auch Zuständigkeit vereinbaren o GVO nur bei grenzüberschreitendem Bezug o Sinn und Zweck der GVO: Funktionieren des Binnenmarktes (Kompetenznorm für VO!!!) o hier ist einziger grenzüberschreitender Bezug zu einem Nicht-MS! e.A.: einschränkende Interpretation des Art. 25 GVO (nicht anwendbar) a.A: Art. 23 GBO nur anwendbar, wenn die Zuständigkeitsordnung der GVO berührt ist: prorogiertes und derogiertes Gericht müssen in MS liegen EuGH tendenziell eher großzügig Voraussetzungen des Art. 25 GVO für eine wirksame Gerichtsstandsvereinbarung o Willenseinigung (autonom auslegen!) o Formerfordernisse, Art. 25 I a-c GVO (ALTERNATIV!) Wirkungen einer Gerichtsstandsvereinbarung o Inhalt der Vereinbarung international, örtlich, etc. o ausschließlicher oder zusätzlicher Gerichtsstand? Auslegungsregel Art. 25 I 2 GVO: im Zweifel ausschließliche Zust. Gerichtsstandsvereinbarung nach autonomem Recht Art. 38 ZPO, wenn beide Parteien in Drittstaat oder Zuständigkeit nicht MS-Gericht vereinbart. Art. 23 EuGVO <> §§ 38, 40 ZPO (JH Nr. 170) ZPO: Unterscheidung zwischen Kaufleuten und Nicht-Kaufleuten, keine Form vorgesehen. _____________________________________________________________________________________________________________________ Sommersemester 2015 - 11 - B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach Examinatorium Schwerpunktbereich 3 Skript _____________________________________________________ Anders in der EuGVO: hier immer Formerfordernis Räumlicher Anwendungsbereich des Art. 23 I: Voraussetzungen: 1. Wohnsitz einer Partei in einem Mitgliedstaat (egal ob Kläger oder Beklagter) 2. Zuständigkeit eines Gerichts in einem Mitgliedstaat vereinbart. Wenn eine Voraussetzung nicht erfüllt, dann §§ 38, 40 ZPO (bzw. nationales Recht) Rügelose Einlassung Art. 26 GVO § 39 ZPO wenn Gericht unzuständig ist - - Beklagter merkt es und rügt es o Folge: Klageabweisung durch Prozessurteil Beklagter lässt sich zur Sache ein und rügt es nicht o kann ggf. zuständigkeitsbegründende rügelose Einlassung sein o Gedanke: nicht eine konkludente Gerichtsstandsvereinbarung, sondern Präklusion „rügelose“ Einlassung o Einlassung: Beklager lässt sich auf Verfahren ein, macht also Ausführungen zur Zulässigkeit/Begründetheit o rügelos: ohne die (fehlende) Zuständigkeit zu rügen o NICHT: wenn Einlassung nur hilfsweise stattfindet NEU nach Reform: Informationspflichten gem. Art. 26 II Belehrung für Verbraucher/Versicherten/ArbN - Grenze: Art. 22 GVO ausschließliche Zuständigkeit kann nicht umgangen werden! Forum non conveniens - - Korrektiv zur exorbitanten Zuständigkeit der transient rule Problem: Ermessensspielraum des Richters o kann sich für unzuständig erklären Schwäche des forum non conveniens o Gericht kann sich für unzuständig erklären, ohne dass ein anderes Gericht zuständig ist! EuGH: Owusu/Jackson o unter GVO hat forum non conveniens-Lehre keine Anwendung! ausnahmsweise doch forum non conveniens: Art. 15 EheGVO II o nur in eingeschränkten Fällen EheGVO II (Brüssel IIa) sachlicher Anwendungsbereich: - Art. 1 I lit. a EheGVO II: Ehesachen _____________________________________________________________________________________________________________________ Sommersemester 2015 - 12 - B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach Examinatorium Schwerpunktbereich 3 Skript _____________________________________________________ Scheidung Ungültigerklärung Nichtigerklärung/Aufhebung bei Verstoß gegen Eheverbote Trennung ohne Auflösung des Ehebandes Scheidung nicht möglich (Malta) registrierte Trennung vor Scheidung (z.B. Italien) Art. 1 I lit. b EheGVO II: elterliche Verantwortung (Sorgerecht – „neu“) Art. 1 II EheGVO II: nicht abschließende Aufzählung Art. 1 III EheGVO II: Ausnahmen vom sachlichen Anwendungsbereich o Unterhaltspflichten UnthVO! o o o - zeitlicher Anwendungsbereich: - Verfahren nach dem 1. 3. 2005 ( Art. 64, 72 EheGVO II) räumlich-persönlicher Anwendungsbereich: - alle MS-Gerichte gebunden o Ausnahme: keine Ausdehnung auf Dänemark! Zuständigkeit - - zuständigkeitsbegründende Vorschriften o Art. 3 EheGVO II: Kernvorschrift Aufzählung mit abnehmender Intensität letzter Spiegelstrich wegen Anknüpfung an StAng wohl Verstoß gegen Art. 12 EGV Spiegelstrich-Aufzählung erinnert an Anknüpfungsleiter (Art. 14 EGBGB) • bei Art. 3 EheGVO II besteht aber reale Wahlmöglichkeit/Alternative • KEINE Rangfolge/Reihenfolge! klass. Problem: was, wenn die 12 Monate (Spiegelstrich 5) bei Antragstellung noch nicht abgelaufen sind? • idR wird gewartet und nach Ablauf der 12 Monate zugestellt o Art. 6 EheGVO II (!! irreführende Überschrift!!) Ausschluß exorbitanter Zuständigkeiten Problem: wenn dt. Gericht nach § 606a ZPO zuständig ist, nicht aber nach Art. 3 EheGVO II „sperrt“ die EheGVO II den § 606a ZPO? • Art. 6 EheGVO II: Verfahren in anderen MS nur nach Art. 3, 4, 5 EheGVO möglich! ggf. „Sperrung“! • autonomes Recht ist bis zur Grenze des Art. 6 EheGVO II anwendbar (Ausschluß exorbitanter Zuständigkeiten) Grünbuch (KollisionsR/VerfahrensR) „Rom III“ zum IPR!!! Verhältnis zum Haager KSÜ: Art. 61! (problematisch) Fall 5 (nach Prof. Remiens IZVR-Folien) Cristina aus Chile und Walter aus Würzburg lernen sich auf einer Studiosus-Reise in Griechenland kennen und lieben. Sie heiraten einige Zeit später romantisch in einer kleinen Kapelle in Cornwall und ziehen sodann gemeinsam nach Brüssel, wo sie lukrative Anstellungen bei der Europäischen Kommission finden. Den Belastungen des binnenmarktlichen Alltags hält ihre Ehe jedoch auf Dauer nicht stand und sie gehen wieder getrennte Wege. Cristina zieht 1) tief enttäuscht von Europa zurück nach Santiago _____________________________________________________________________________________________________________________ Sommersemester 2015 - 13 - B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach Examinatorium Schwerpunktbereich 3 Skript _____________________________________________________ 2) nach Bordeaux, um sich mit Rotwein zu trösten Walter dagegen a) b) c) d) bleibt zunächst in Brüssel, bis ihm die Miete zu teuer wird erhält eine noch lukrativere Anstellung bei der EZB in Frankfurt am Main wird von der Kommission nach Kopenhagen versetzt lässt Europa endgültig hinter sich und wechselt zu einem Consulting-Unternehmen in Melbourne. Wo kann, wenn einer der beiden eine neue große Liebe findet, jeweils ein Scheidungsverfahren durchgeführt werden? 1a (Santiago/Brüssel): - Sp. 2 (letzter gem. gew. A, wo einer noch ist): Belgien Sp. 3: gew. A des Antragsgegners: wenn W Antrag stellt (-), wenn C Antrag stellt: Belgien Sp. 4: gemeinsamer Antrag – gew Aufenthalt von W: Belgien Sp. 5: gew A von Antragsteller W: Belgien (seit mehr als 1 Jahr) 1b (Santiago/Frankfurt): - Sp. 3: gew. A des Antragsgegners: wenn W Antrag stellt (-), wenn C Antrag stellt: Deutschland Sp. 4: gemeinsamer Antrag – gew Aufenthalt von W: Deutschland Sp. 5: gew A von Antragsteller W: Deutschland (seit mehr als 1 Jahr) Sp. 6: gew A von Antragsteller W seit 6 Mon. UND Staatsangehörigkeit: Deutschland o Art. 7: FamFG (wenn W Antrag stellt vor Ablauf 1 Jahr/6 Monate) 1c (Santiago/Kopenhagen): - Sp. 3: gew. A des Antragsgegners: wenn W Antrag stellt (-), wenn C Antrag stellt: Dänemark fällt nicht unter EuEheVO!!! (Erw. 31, Art. 2 Nr. 3) Sp. 4: gemeinsamer Antrag – gew Aufenthalt von W: Dänemark!!! Sp. 5: gew A von Antragsteller W: Dänemark (seit mehr als 1 Jahr)!!! 1d (Santiago/Melbourne): - autonomes Recht, Art. 7 (Chile/Australien) 2a (Bordeaux/Brüssel): - Sp. 2 (letzter gem. gew. A, wo einer noch ist): Belgien Sp. 3: gew. A des Antragsgegners: wenn W Antrag stellt: Frankreich, wenn C Antrag stellt: Belgien Sp. 4: gemeinsamer Antrag – gew Aufenthalt von W: Belgien oder gew Aufenthalt von C: Frankreich Sp. 5: gew A von Antragsteller W: Belgien (seit mehr als 1 Jahr) / gew A von Antragsteller C: Frankreich (seit mehr als 1 Jahr) 2b (Bordeaux/Frankfurt): - Sp. 3: gew. A des Antragsgegners: wenn W Antrag stellt: Frankreich, wenn C Antrag stellt: Deutschland Sp. 4: gemeinsamer Antrag – gew Aufenthalt von W: Deutschland oder gew Aufenthalt von C: Frankreich Sp. 5: gew A von Antragsteller W: Deutschland (seit mehr als 1 Jahr) / gew A von Antragsteller C: Frankreich (seit mehr als 1 Jahr) _____________________________________________________________________________________________________________________ Sommersemester 2015 - 14 - B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach Examinatorium Schwerpunktbereich 3 Skript _____________________________________________________ - Sp. 6: gew A von Antragsteller W seit 6 Mon. UND Staatsangehörigkeit: Deutschland 2c (Bordeaux/Kopenhagen): - Sp. 3: gew. A des Antragsgegners: wenn W Antrag stellt: Frankreich, wenn C Antrag stellt: Dänemark fällt nicht unter EuEheVO!!! (Erw. 31, Art. 2 Nr. 3) Sp. 4: gemeinsamer Antrag – gew Aufenthalt von W: Dänemark!!! Oder gew Aufenthalt von C: Frankreich Sp. 5: gew A von Antragsteller W: Dänemark (seit mehr als 1 Jahr) !!! / gew A von Antragsteller C: Frankreich (seit mehr als 1 Jahr) 2d (Bordeaux/Melbourne): - Sp. 3: gew. A des Antragsgegners: wenn W Antrag stellt: Frankreich, wenn C Antrag stellt (-) Sp. 4: gemeinsamer Antrag – gew Aufenthalt von C: Frankreich Sp. 5: gew A von Antragsteller C: Frankreich (seit mehr als 1 Jahr) o vor Ablauf des Jahres: Art. 7, autonomes Recht _____________________________________________________________________________________________________________________ Sommersemester 2015 - 15 - B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach UN-Kaufrecht I. II. Allgemeine Hinweise UN Convention on Contracts for the International Sale of Goods Ausgearbeitet von UNCITRAL (Spezialisierte Behörde der UN, die sich mit dem Handel beschäftigt) Zur Zeit 83 Vertragsstaaten CISG ist völkerrechtliches Übereinkommen Teil der nationalen Rechtsordnung Beachte: Unvollständigkeit der Regelungsbereichs: Art. 4 CISG o Geregelt: Abschluss des KV, Rechte und Pflichten aus KV o Nicht geregelt: Wirksamkeit des KV, Eigentumsfragen o Vgl. auch Art. 5 CISG Vorrang der CISG (vgl. Art. 25 Rom I-VO bzw. Art. 3 Nr. 2 EGBGB) Systematik der CISG Teil I: Anwendungsbereich und allgemeine Bestimmungen (Art. 1-13 CISG) Teil II: Abschluss des Vertrages (Art. 14-24 CISG) Teil III: Warenkauf (Art. 25-88 CISG) Kapitel I: Allgemeine Bestimmungen (Art. 25-29 CISG) Kapitel II: Pflichten des Verkäufers (Art. 30-52 CISG) Kapitel III: Pflichten des Käufers (Art. 53-65 CISG) … Kapitel V: Gemeinsame Bestimmungen über die Pflichten des Verkäufers und des Käufers (Art. 71-88 CISG) Teil IV: Schlussbestimmungen (Art. 89-101 CISG) III. Anwendungsvoraussetzungen der CISG (Art. 1-6 CISG) 1. Sachlich: Warenkaufvertrag, Art. 1 I CISG (auch Werklieferungsvertrag, Art. 3 I CISG) 2. Räumlich-persönlich: Niederlassung in verschiedenen Staaten, Art. 1 I, 10 CISG 1 Beide Staaten sind Vertragsstaaten, Art. 1 I lit. a CISG Nach IPR-Regeln ist Recht eines Vertragsstaates anwendbar, Art. 1 I lit. b CISG Beachte: Vorbehalt gem. Art. 95 CISG möglich Beachte: Staatsangehörigkeit/Kaufmannseigenschaft unerheblich, Art. 1 III CISG 3. Zeitlich: Art. 100 CISG 4. Kein Ausschluss: Art. 2 (insb. Verbrauchsgüterkauf), 6 CISG IV. Beispielsfälle zu Art. 1 I lit. b CISG: Fall a): Die Unternehmen A und B schließen einen Kaufvertrag. Der Verkäufer A ist ein deutsches Unternehmen, das Unternehmen B ist ein englisches Unternehmen. International zuständig sind die deutschen Gerichte. Die Parteien haben keine Rechtswahl getroffen. Ist CISG anwendbar? Art. 1 I lit. a CISG (-), UK ist kein Vertragsstaat Art. 1 I lit. b CISG? Deutsches Gericht wendet Art. 4 I a) Rom I-VO an, danach ist deutsches Recht anwendbar (Verkäufer A hat seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland) Deutschland ist Vertragsstaat der CISG CISG ist anwendbar Fall b) Die Unternehmen A und B schließen einen Kaufvertrag. Der Verkäufer A ist ein englisches Unternehmen, das Unternehmen B ist ein deutsches Unternehmen. International zuständig sind die deutschen Gerichte. Die Parteien haben keine Rechtswahl getroffen. Ist CISG anwendbar? V. Art. 1 I lit. a CISG (-), UK ist kein Vertragsstaat Art. 1 I lit. b CISG? Deutsches Gericht wendet Art. 4 I a) Rom I-VO an, danach ist UK-Recht anwendbar (Verkäufer A hat seinen gewöhnlichen Aufenthalt in UK; Hinweis: hier keine nähere Präzisierung bezügl. Teilrechtsordnungen) UK ist kein Vertragsstaat der CISG CISG ist nicht anwendbar Rechtsbehelfe des Käufers bei Vertragsverletzung Art. 45 I lit. a, 46 I CISG: Erfüllung: Lieferung Art. 45 I lit. a, 46 II CISG: Ersatzlieferung (Vss.: wesentliche Vertragsverletzung, Art. 25 CISG) Art. 45 I lit. a, 46 III CISG: Nachbesserung Art. 45 I lit. a, 49, 81, 26 CISG: Vertragsaufhebung Art. 45 I lit. a, 50 CISG: Herabsetzung des Preises Art. 45 I lit. b, 74 ff. CISG: Schadensersatz 2 VI. Rechtsbehelfe des Verkäufers bei Vertragsverletzung VII. Art. 61 I lit. a, 62 CISG: Erfüllung: Zahlung, Abnahme Art. 61 I lit. a, 64, 81, 26 CISG: Vertragsaufhebung Art. 61 I lit. b, 74 ff. CISG: Schadensersatz Allgemeines Prüfschema 1. Anwendbarkeit der CISG 2. Rechtslage hinsichtlich des Anspruchs a) Allgemeine Rechtsbehelfsvoraussetzungen Wirksamer Vertragsschluss, Art. 14 ff. CISG Pflichtverletzung des Käufers bzw. des Verkäufers Beachte bei Anspruch des Käufers: Keine Möglichkeit der Berufung auf die Vertragswidrigkeit nach Art. 38, 39 CISG? b) Besondere Rechtsbehelfsvoraussetzungen (Vss. der Vertragsaufhebung/des SE etc.) VIII. IX. Besonderheiten bei der Vertragsaufhebung nach CISG (Art. 45 I lit. a, 49 bzw. Art. 61 I lit. a, 64 CISG): Aufhebungserklärung erforderlich, Art. 26 CISG Recht zur Vertragsaufhebung: o Wesentliche Vertragsverletzung, Art. 25 CISG, Art. 49 Ilit. a/Art. 64 I lit. a CISG o Erfolgloser Ablauf einer Nachfrist bei Nichtlieferung, Art. 49 I lit. b/Art. 64 I lit. b CISG o Keine aufhebungsermöglichende Nachfristsetzung bei mangelhafter Leistung möglich (anders: BGB!) Vertragsaufhebung als ultima ratio, BGH restriktiv bezügl. Merkmal der wesentlichen Vertragsverletzung, z.B. (-) bei aliud-Lieferung/wenn andere Verwertung möglich Aufhebungsfrist wenn bereits Sache/Kaufpreis erhalten : Art. 49 II/64 II CISG Ausschluss des Aufhebungsrechts nach Art. 82 I CISG, aber Ausnahmen nach Art. 82 II CISG Wirkungen der Aufhebung: Art. 81 CISG o Art. 81 I CISG: Befreiung von Leistungspflichten (Ausnahme: Schadensersatzpflichten) o Art. 81 II CISG: Anspruch auf Rückgewährung wenn Vertrag bereits erfüllt (Leistungen Zug um Zug) Besonderheiten beim Schadensersatzanspruch nach CISG AGL ist Art. 45 I lit. b bzw. Art. 61 I lit. b CISG, nicht Art. 74 CISG! Wesentliche Vertragsverletzung nicht erforderlich, Anspruch bei jeder Vertragsverletzung Verschulden nicht erforderlich: Verschuldensunabhängige Garantiehaftung 3 ABER: Befreiungsmöglichkeit nach Art. 79, 80 CISG Bemessung des SE-Anspruchs: Art. 74 ff. CISG Konkurrenz zu anderen Ansprüchen: Art. 45 II, 61 II CISG: SE-Anspruch neben anderen Rechten 4 Fall 1 (aus studienabschließender Klausur im SPB 3 WS 14/15) Die in Amsterdam wohnhafte Grietje de Grot (G) ist begeisterte Hobby-Ornithologin. Für eine geplante Exkursion nach Neuseeland möchte sie sich ein neues, hochwertigeres Fernglas kaufen. Grietje entscheidet sich für das Modell „Victory HT 10x54“ von Zeiss, welches maximale Helligkeit für längere Beobachtungen bis in die Dunkelheit erlaubt. Der Listenpreis beträgt 2.345 €. Beim wöchentlichen Stammtisch der niederländischen Vogelfreunde gelingt es Grietje, nvier weitere Hobby-Ornithologen anlässlich der Neuseeland-Exkursion für das brandneue Modell zu begeistern. Einziger Wermutstropfen ist der hohe Preis des Fernglases. Einer der Anwesenden weiß jedoch, dass es in Aalen einen Werksverkauf von Zeiss gibt. Er schlägt vor, dass Grietje als alleinige Bestellerin auftritt und auf diesem Wege versucht, einen möglichst günstigen Preis zu verhandeln. Er gibt ihr die Telefonnummer des Geschäftsführers der „Werksverkauf Aalen GmbH“ (W-GmbH). Über eine Website verfügt die W-GmbH nicht. Gleich am nächsten Morgen, am 5.1.2015, nimmt Grietje telefonisch Kontakt zur W-GmbH in Aalen auf. Sie tritt als die alleinige Bestellerin der 5 Ferngläser auf und verhandelt mit dem Geschäftsführer der W-GmbH einen Sonderpreis von 2.000 € je Fernglas. Aufgrund ihrer Flirtkünste schafft Grietje es sogar, den Geschäftsführer der W-GmbH dazu zu bewegen, ihr die Ferngläser zuzuschicken. Vereinbart wird, dass die Ferngläser am 1.2.2015 abgeschickt werden und der Kaufpreis innerhalb von 14 Tagen nach Erhalt der Ware gezahlt werden soll. Die W-GmbH schickt Grietje noch am selben Tag ein Bestätigungsschreiben mit dem ausgehandelten Vertragsinhalt und den AGB der W-GmbH. Diese enthalten unter anderem folgende Klauseln: 4. Gerichtsstand und Erfüllungsort ist Ellwangen. 5. Alle im Zusammenhang mit diesem Vertrag entstehenden Ansprüche unterliegen deutschem Recht. Am 20.1.2015 teilt der Geschäftsführer der W-GmbH Grietje mit, dass die bestellten Ferngläser leider erst am 20.2.2015 geschickt werden können. Grietje reagiert darauf zunächst nicht. Als jedoch am 1.2.2015 der Leiter der Neuseeland-Exkursion unerwartet verstirbt und die Exkursion abgesagt wird, beginnt Grietje an der Notwendigkeit eines neuen Fernglases zu zweifeln. Auch die anderen HobbyOrnithologen möchten nach den aktuellen Geschehnissen lieber Abstand nehmen vom Kauf eines so teuren Fernglases. Die Begeisterung vom Stammtischabend ist verflogen. Am 10.2.2015 erklärt Grietje der W-GmbH schriftlich den Rücktritt vom Kaufvertrag. Der Geschäftsführer der B-GmbH antwortet postwendend, dass er auf der Einhaltung des Kaufvertrages bestehe. Die Ferngläser werden am 20.2.2015 abgeschickt, sie treffen am 21.2.2015 bei Grietje ein, die sie umgehend wieder an die W-GmbH zurückschickt. Den Kaufpreis bezahlt sie in der kommenden Zeit nicht. Die W-GmbH möchte nun am Landgericht Ellwangen Klage auf Zahlung von 10.000 € zuzüglich Zinsen seit 7.3.2014 in Höhe von 8 Prozentpunkten über dem Basiszins der EZB Zug um Zug gegen Übergabe der 5 Ferngläser erheben. 5 Sofern Bestimmungen einer ausländischen Rechtsordnung anzuwenden sind, ist zu unterstellen, dass diese dem deutschen Recht entsprechen. 1.) Bestimmen Sie das anwendbare Recht für den behaupteten Kaufpreisanspruch! 2.) Nach welchem Recht ist das Bestehen und die Höhe des behaupteten Zinsanspruchs zu beurteilen ? Lösungsskizze Fall 1 1.) Bestimmen Sie das anwendbare Recht für den behaupteten Kaufpreisanspruch! Blickwinkel eines niederländischen Gerichts Vorrangiges völkervertragliches Einheitsrecht: CISG (Niederlande Vertragsstaat) a) abbedungen durch Rechtswahl („Alle im Zusammenhang mit diesem Vertrag entstehenden Ansprüche unterliegen deutschem Recht“) ? Möglich nach Art. 6 CISG; dann wäre die Wirksamkeit der Rechtswahl hier nach der Rom I-VO zu prüfen; aber grundsätzlich ist CISG von Rechtswahl „deutsches Recht“ umfasst, da Bestandteil, es sei denn es ergibt sich gegenteiliger Wille (wäre bei Wahl des BGB der Fall); also kein Ausschluss des CISG nach Art. 6 CISG b) Anwendungsvoraussetzungen CISG: sachlich: Art. 1 I: Warenkauf (+) räumlich-persönlich: Art. 1 I lit. a Niederlassung bzw. gewöhnlicher Aufenthalt (Art. 10 lit. b CISG) in verschiedenen Vertragsstaaten (+) zeitlich: maßgeblich Zeitpunkt des Angebotes und Vertragsschlusses (Art. 100 CISG) Ausschluss nach Art. 2 I lit. a, wenn G die Ferngläser für den persönlichen Gebrauch gekauft hat? Objektiv zweifelhaft; einerseits vorrangig Abgrenzung zum geschäftlichen Gebrauch, der hier nicht vorliegt; andererseits könnte man auch argumentieren, dass der Kauf zum privaten Gebrauch Dritter nur dann Art. 2 I lit. a ohne Zweifel unterfällt, wenn die Ware vom Käufer verschenkt wird, da im Verschenken sein eigener Gebrauch zu sehen wäre. Genauso lässt sich aber auch die Privatheit des Gebrauchs (verdeckte Stellvertretung der anderen Hobby-Ornithologen, die jeweils das Kriterium des Art. 2 I lit. a CISG selbst erfüllen) vertreten. 6 ABER: Wissen oder Wissenmüssen nach Art. 2 I lit. a 2. Hs CISG? Positive Kenntnis (-) Erkennbarkeit nach Umständen (-) (zwar keine Ware, die typischerweise für geschäftliche und berufliche Zwecke gekauft wird, sondern sog. neutrale Ware; aber Menge (5 identische Ferngläser) legt Gewerblichkeit nahe CISG anwendbar c) Reichweite der CISG: Abschluss des KV, Rechte und Pflichten aus KV (vgl. Art. 4 CISG) Anspruch auf Kaufpreiszahlung beurteilt sich nach CISG 2.) Nach welchem Recht ist das Bestehen und die Höhe des behaupteten Zinsanspruches zu beurteilen? CISG grundsätzlich anwendbar, s.o. aber Reichweite des CISG: nur Abschluss des Kaufvertrags, Rechte und Pflichten aus dem Kaufvertrag, nicht Gültigkeit (Art. 4 CISG), sowie Lücken im Anwendungsbereich, Art. 7 II CISG (Lückenfüllung durch allgemeine Grundsätze bzw. Recht, das nach den Regeln des IPR anwendbar ist) - ob ein Zinsanspruch besteht, ist im CISG geregelt: Art. 78 CISG Höhe? o Ausdrückliche Regelung im CISG (-) o Art. 7 II CISG i.V.m. general principles o Art. 4, 78 CISG: Zinsen im Anwendungsbereich des CISG (+) o General principles ermittelbar (-) o Also gem. Art. 7 II CISG nach den Regeln des IPR zu bestimmen: Vertragsstatut neben CISG: Wirksame Rechtswahl? Anwendbarkeit Rom I-VO (+) ausdrückliche Rechtswahl Art. 3 I Rom I-VO: Zustandekommen von Rechtswahl nach gewähltem Recht (Art. 3 V, 10 I Rom I-VO), also deutschem Recht Nach § 305 II BGB keine wirksame Einbeziehung der AGB Keine wirksame Rechtswahl Verbrauchervertragsstatut Art. 6 I Rom I-VO? G ist objektiv Verbraucher 7 W-GmbH kontrahiert im Rahmen ihrer gewerblichen Tätigkeit Aber Abschlusssituationen (-), Kriterien des Art. 6 Rom I VO entsprechen Art. 17 VO 1215/2012 Vertragsstatut: Art. 4 Rom I-VO Art. 4 I lit. a Kaufvertrag über bewegliche Sachen, also gewöhnlicher Aufenthalt Verkäufer, hier deutsches Recht Art. 4 III engere Verbindung? (-) Zinsen vom Geltungsbereich gem. Art. 12 I c Rom I VO erfasst die Höhe der Zinsen bestimmt sich nach deutschem Recht Fall 2 (aus studienabschließender Klausur SS 2013) V ist Eigentümer des französischen Spitzenweinguts Château Le Fit-Schwarzschild. Der bekannte, europaweit tätige Würzburger Weinhändler K bestellt bei V sämtliche zehn noch vorhandenen Flaschen des herausragenden Jahrgangs 1953 zum Preis von 3.000 EUR pro Flasche. Die Lieferung soll nach Würzburg erfolgen. K will die Flaschen von dort selbst an seinen in München ansässigen Kunden A weiterschicken. A, der an seinem nahenden 60ten Geburtstag keine böse Überraschung erleben möchte, testet den Wein unmittelbar nach Eingang der 10 Flaschen. Erschrocken stellt er fest, dass der Wein einen essigähnlichen Geschmack aufweist und nicht mehr genießbar ist. Ursache war ein Fehler in der Lagerung bei V. Der Wein ist infolgedessen wertlos. A teilt dies dem K sofort mit. K, der am folgenden Tag in den Urlaub aufbricht, meldet sich erst zwei Wochen später bei V und verweigert die Kaufpreiszahlung. Er fühle sich infolge der erheblichen Mangelhaftigkeit des Weines nicht mehr an den Vertrag gebunden. V sieht die anders. Er ist der Ansicht, die Mängelrüge des K sei verspätet, zumal K die Ware schon in Würzburg hätte untersuchen müssen. Er verlangt Kaufpreiszahlung von K i. H. v. 30.000 EUR. Zu Recht? Lösungshinweise V könnte gegen K einen Anspruch auf Kaufpreiszahlung i. H. v. 30.000 EUR aus Art. 53 Alt. 1 CISG haben. I. Anwendungsvoraussetzungen der CISG a. Warenkaufvertrag i. S. v. Art. 1 Abs. 1 CISG bzw. Werklieferungsvertrag nach Art. 3 Abs. 1 CISG? (+) 8 b. Parteiniederlassung in verschiedenen Staaten: Frankreich und Deutschland (+) c. Frankreich und Deutschland sind Vertragsstaaten i. S. d. Art. 1 Abs. 1 lit. a CISG. d. Ein Anwendungsausschluss nach Art. 2 oder Art. 6 CISG kommt nicht in Betracht. Die allgemeinen Voraussetzungen für die Anwendung der CISG liegen somit vor. II. Regelungsbereich der CISG V macht einen Kaufpreiszahlungsanspruch geltend, beruft sich also auf seine Rechte aus dem Kaufvertrag. Folglich ist der Regelungsbereich der CISG betroffen, vgl. Art. 4 CISG. III. Anspruch entstanden? Zwischen V und K ist ein Kaufvertrag über die Lieferung der Weinflaschen zum Preis von 30.000 EUR vereinbart worden, vgl. Art. 14 ff. CISG. Ein Kaufpreiszahlungsanspruch i. H. v. 30.000 EUR ist demnach entstanden. IV. Anspruch erloschen? Der Anspruch könnte jedoch infolge einer Vertragsaufhebung gem. Art. 81 Abs. 1 CISG erloschen sein. Dafür müssten (1.) die allgemeinen Rechtsbehelfs- und (2.) die besonderen Aufhebungsvoraussetzungen erfüllt sein. 1. Allgemeine Rechtsbehelfsvoraussetzungen a. Wirksamer Vertragsschluss (s. o. ) b. Pflichtverletzung durch V (vgl. Art. 45 CISG): Die von V gelieferten Weine sind zum Verzehr nicht mehr geeignet. V hat damit die Pflicht aus Art. 35 Abs. 1, Abs. 2 lit. a CISG verletzt, Ware zu liefern, die sich für die Zwecke eignet, für die Ware der gleichen Art gewöhnlich gebraucht wird. c. Die Pflichtverletzung könnte für den V jedoch unschädlich sein, wenn K die Berufung auf die Vertragswidrigkeit der Ware gem. Art. 39 Abs. 1 CISG verwehrt ist. Dies ist dann der Fall, wenn K dem V die Vertragswidrigkeit nicht innerhalb einer angemessenen Frist nach dem Zeitpunkt, in dem er sie hätte feststellen müssen, angezeigt hat. (1) Rechtzeitigkeit der Untersuchung Fraglich ist daher zunächst, wann K die Vertragswidrigkeit hätte feststellen müssen. Dies hängt maßgeblich von der Reichweite seiner 9 Untersuchungsobliegenheit aus Art. 38 CISG ab. Gem. Art. 38 Abs. 1 CISG hat der Käufer die Ware grundsätzlich innerhalb einer so kurzen Frist zu untersuchen, wie es die Umstände erlauben. Diese Frist beginnt gem. Art. 38 Abs. 2 CISG regelmäßig mit der Warenübergabe an den Käufer. I. v. F. ist aber die Ausnahmevorschrift des Art. 38 Abs. 3 CISG einschlägig: (a) Weiterversendung des Weines durch den Käufer (+) (b) Kenntnis des Verkäufers (+), da es sich bei K um einen Händler handelt. (c) Keine ausreichende Gelegenheit zur Untersuchung der Ware? Eine ausreichende Untersuchungsgelegenheit gem. Art. 38 Abs. 3 CISG ist nur gegeben, wenn genügend Zeit für eine Untersuchung bleibt und die Untersuchung mit (wirtschaftlich) zumutbaren Aufwand erfolgen kann. Nach diesen Grundsätzen fehlte es im Verhältnis zwischen V und K an einer ausreichenden Untersuchungsgelegenheit in Würzburg. Eine Überprüfung des Weines wäre infolge der erforderlichen Öffnung einer der Flaschen mit unverhältnismäßigen Kosten (3.000 EUR je Flasche) verbunden gewesen. Hinzu kommt, dass die Lieferung ohnehin nur eine kleine Menge Wein umfasste und diese dadurch zu Lasten des A noch zusätzlich geschmälert worden wäre. Die Untersuchungsfrist für K begann daher erst mit Eintreffen des Weines bei A zu laufen. Da die Weine gleich nach ihrer Ankunft in Italien kontrolliert wurden, ist die Untersuchungsfrist gewahrt. Dass K die Überprüfung nicht selbst vorgenommen hat, ist gem. Art. 38 Abs. 1 CISG unerheblich. (2) Rechtzeitigkeit der Rüge Fraglich ist weiterhin, ob die Rüge zwei Wochen nach Kenntnis noch „angemessen“ ist. Zwar wird man grundsätzlich von einer kurzen Rügefrist ausgehen müssen. Auch bedarf K vorliegend keiner Überlegungsfrist. Auf der anderen Seite ist allerdings zugunsten des K zu berücksichtigen, dass das Interesse des V, schnell von dem Mangel zu erfahren, gering ist. Der Wein ist wertlos. Daher besteht für V weder Anlass noch Möglichkeit, die Flaschen anderweitig weiterzuverkaufen. Aspekte wie Verderblichkeit, Saisongebundenheit oder schwankende Marktpreise spielen für V daher keine Rolle. Aus demselben Grund entfällt auch das Risiko, dass K auf Kosten des V mit der Ware spekuliert. Deshalb sind hier die zwei Wochen noch als angemessen zu bewerten. 10 (3) K kann sich folglich weiterhin auf die Vertragswidrigkeit berufen. d. Die Allgemeinen Rechtsbehelfsvoraussetzungen liegen somit vor. 2. Besondere Vertragsaufhebungsvoraussetzungen a. Wesentliche Vertragsverletzung i. S. v. Art. 25 CISG (+). Insbesondere kommen vorliegend weder Nachbesserung noch Neulieferung in Betracht. Letzteres deshalb, weil keine anderen Flaschen des Jahrgangs mehr vorhanden sind. b. Da V die Weinflaschen bereits an K geliefert hat, ist die Aufhebungsfrist nach Art. 49 Abs. 2 CISG zu berücksichtigen. Einschlägig ist hier Art. 49 Abs. 2 lit. b, i). Sie ist aus denselben Gründen gewahrt wie die Rügefrist (siehe oben). c. Nach Art. 82 Abs. 1 CISG kann der Käufer nicht die Aufhebung des Vertrages verlangen, wenn es ihm unmöglich ist, die Ware im Wesentlichen in dem Zustand zurückzugeben, in dem er sie erhalten hat. Vorliegend hat A eine Flasche geöffnet und probiert. Hinsichtlich dieser Flasche ist es K nicht möglich, sie in dem ursprünglichen Zustand zurückzugeben. Hier kommen aber sowohl Art. 82 Abs. 2 lit. b als auch lit. c als einschlägige Ausnahmeregelungen in Betracht. I. E. ist es daher unschädlich, dass K nicht alle Flaschen ungeöffnet zurückgeben kann. d. K hat gegenüber V die Vertragsaufhebung erklärt, Art. 26 CISG. Die Voraussetzungen einer Vertragsaufhebung liegen somit vor. Kaufpreiszahlungsanspruch des V ist folglich gem. Art. 81 Abs. 1 CISG erloschen. Der Gesamtergebnis: V kann von K keine Kaufpreiszahlung verlangen. 11 Fall 3: „Frust und Schokolade“1 Die Choco Chérie (C) ist ein als GmbH eingetragenes, im Schwarzwald ansässiges Unternehmen, das Süßwaren – vornehmlich Schokoladenspezialitäten – herstellt und in aller Welt vertreibt. Zum Valentinstag stellt die C traditionell in rotes Stanniolpapier verpackte Herzen aus Zartbitter- und Milchschokolade in verschiedenen Größen her. Das Einwickelpapier bezog sie dabei stets von einem im Nachbarort ansässigen Familienbetrieb; dieser schließt jedoch im Sommer 2011 seine Pforten. Die C lässt sich daher für das Jahr 2012 von der in Frankreich ansässigen Emballage S.a.r.l. (E) ein Angebot über vergleichbares rotes Stanniolpapier machen; sie bestellt sodann schriftlich – unter Bezug auf das Angebot – die benötigte Menge Stanniolpapier. Die Bestellung wird von der E bearbeitet, die einen Vertrag sendet, auf dessen Rückseite ihre AGB abgedruckt sind; dieser wird von der Geschäftsführerin der C unterschrieben und zurückgesandt. Der Vertrag enthält die folgende Bestimmung: „Alle im Zusammenhang mit diesem Vertrag entstehenden Ansprüche unterliegen deutschem Recht.“ Das Papier wird Mitte Januar 2012 geliefert und von C bezahlt. Wie gewohnt verpackt die C sodann die Schokoladenherzen in dem roten Papier und liefert sie an ihre Kunden aus. Kurze Zeit darauf erfolgen jedoch die ersten Beschwerden der Abnehmer: das rote Papier ist nicht farb- und lebensmittelecht und hat die darin eingewickelte Schokolade gänzlich verdorben. Die Händler, die die Herzen von der C erworben hatten, können bzw. dürfen sie dementsprechend nicht verkaufen und verlangen Rückzahlung des Kaufpreises sowie Schadensersatz wegen des entgangenen Gewinns von der C. Als dieser Sachverhalt der C bekannt wird, teilt sie ihn umgehend der E mit und verlangt ihrerseits Rückzahlung des Kaufpreises für das Stanniolpapier sowie Schadensersatz. Die E lehnt diese Ansprüche ab: zum einen sei in ihren AGB die folgende Klausel enthalten: „Bei Mängeln der gelieferten Sache ist der Käufer auf Nachlieferungsansprüche beschränkt; Schadensersatzansprüche sind ausgeschlossen, insbesondere für Schäden, die durch Weiterverarbeitung der Kaufsache an anderen Rechtsgütern des Käufers oder Dritter entstehen.“ Zum anderen käme die C zu spät, da sie nicht sofort nach Lieferung das Papier untersucht und den Mangel gerügt habe. Die C wendet (zutreffend) ein, weder bei einer Untersuchung des Papiers noch bei der Verarbeitung sei der Mangel erkennbar gewesen – vielmehr sei er erst zutage getreten, nachdem die Schokolade mehrere Tage darin eingewickelt war, was aber die C (die die produzierte Ware sofort frisch ausliefert) nicht mehr habe erkennen können bzw. müssen. Sie weist im Übrigen darauf hin, dass sie – was stimmt – bei der Bestellung ausdrücklich darauf hingewiesen habe, dass das Stanniolpapier zum Einwickeln von Schokolade dienen solle. Bereits kurze Zeit später naht das Ostergeschäft. Die C produziert zierliche Schokoladenosterhasen, für die sie zahlreiche auch internationale Bestellungen erhält. Unter anderem erhält sie Aufträge über je 20 Paletten mit Schokoladenhasen aus den Niederlanden, Spanien und Italien, die für das Ostergeschäft bis zum 23.3.2012 geliefert werden sollen.2 Die niederländische Supermarktkette S, der C am 22.3.2012 einen großen Posten Schokohasen nach Amsterdam geliefert hat, ruft sofort nach der Lieferung an und beschwert sich, fast alle Hasen seien zerbrochen geliefert worden. Da sie in diesem Zustand nicht verkäuflich sind, will sich S vom Kaufvertrag mit C lösen und verlangt darüber hinaus Schadensersatz. Wie eine nähere Untersuchung ergibt, waren die Hasen durch Unachtsamkeiten der Lageristen der C nicht ordnungsgemäß verpackt, 1 2 Fall und Lösung von Frau Carolin Rupp. Hinweis: Im Jahr 2012 war Ostersonntag am 8. April. 12 weswegen der Schaden auf dem Transport eingetreten ist. C will jedoch den Vertrag mit S aufrechterhalten, zumal sie noch viele Schokoladenhasen auf Lager hat; sie bietet daher der C an, ihr innerhalb von 48 Stunden Ersatz zu liefern. Da die Auslieferungskapazitäten der C beschränkt sind, arbeitet sie bei internationalen Bestellungen teilweise mit Transportunternehmen zusammen. So schließt sie einen Vertrag mit der Transports Reliable (T) ab, dass diese die Auslieferung für das Ostergeschäft auf dem spanischen und italienischen Markt übernehmen soll. Die T ist eine nach dem Recht von Delaware, USA, als Ltd. inkorporierte Gesellschaft, unterhält jedoch in Delaware nur einen Briefkasten und einen Anrufbeantworter; die tatsächliche Geschäftstätigkeit findet von Charleroi (Belgien) aus statt. Leider erweist sich die T als nicht wirklich zuverlässig: sie übernimmt von C am 21.3.2012 je 20 Paletten mit Schokoladenhasen im Wert von je 10.000 € für den italienischen und spanischen Markt; entsprechende Frachtbriefe werden ausgestellt. Die Ware soll laut Transportvertrag am 23.3.2012 in Florenz bzw. Salamanca eintreffen. Dazu kommt es jedoch nicht: zunächst bringt die T die Schokoladenhasen in ihre Zentrale nach Charleroi. Dort wird ein Transporter der T wird mit den Schokoladenhasen für Spanien beladen, der am 22.3. frühmorgens losfährt. Als der Fahrer am späten Abend eine Ruhepause einlegen will, befindet er sich bereits tief in den Pyrenäen; ein bewachter Parkplatz ist weit und breit nicht zu finden. Er fährt daher auf einen unbewachten Parkplatz. Dort wird er im Morgengrauen von drei mit Schusswaffen bewaffneten Männern überfallen, die die gesamte Fracht, darunter auch die Schokoladenhasen, rauben. Die Schokolade für Italien bleibt dagegen durch ein Versehen bei der T zwei Wochen lang in Charleroi liegen. Dies fällt erst am 5.4.2012 auf. T bemüht sich daraufhin so rasch wie möglich um einen Transport nach Florenz, wo die Hasen jedoch feiertagsbedingt erst am 10.4.2012 eintreffen. Der italienische Großhändler Giovanni (G) weist die Ware erbost zurück: nach den Osterfeiertagen seien Schokoladenosterhasen für ihn unverkäuflich und damit wertlos. Stattdessen ruft er bei C an und verlangt Vertragsaufhebung sowie Schadensersatz. Ein anderes Problem stellt sich bei einer weiteren Auslandslieferung der C. Diese hatte vom Großhändler Radomir (R) aus dem Land Ruritanien eine Großbestellung über „Schwarzwälder-KirschKugeln“, eine deutsche Spezialität, erhalten. Im Verkaufsprospekt der C (auf den der Vertrag mit R Bezug nimmt) und auf der Verpackung werden diese als „mit hochwertigem Alkohol mit Kirschgeschmack gefüllt“ angepriesen. Traditionell verwendet die C dafür Kirschlikör (20% Alkoholgehalt). Aufgrund eines Lieferengpasses beim Likör füllt sie die Kugeln für die neue Großbestellung stattdessen jedoch mit Kirschwasser (40% Alkoholgehalt), was die Qualität und den Geschmack der Ware eher verbessert. Kurz nach der Lieferung erhält sie jedoch einen Anruf von R: die Kugeln wurden von der Lebensmittelbehörde von Ruritanien untersucht und mit einem Verkaufsverbot belegt. Hintergrund ist, dass nach den lebensmittelrechtlichen Bestimmungen in Ruritanien Süßwaren nur Alkoholika bis zu 30% Alkoholgehalt enthalten dürfen. R verlangt daher von C Rücknahme der Ware und Rückzahlung des Kaufpreises. C dagegen wendet ein, sie habe erstens vertragsgemäße Ware geliefert, die sogar hochwertiger sei; zweitens gingen die lebensmittelrechtlichen Bestimmungen in Ruritanien sie nichts an, R hätte dies im Vertrag genauer spezifizieren müssen; und drittens sei es R ja unbenommen, die Ware außerhalb von Ruritanien weiterzuverkaufen. 13 Bearbeitervermerk: 1) 2) 3) 4) 5) Hat die C gegen die E einen Anspruch auf Rückzahlung des Kaufpreises? Kann sie Schadensersatz verlangen? Kann sich die S vom Kaufvertrag mit der C lösen? Kann sie Schadensersatz verlangen? Kann die C von der T Ersatz für die geraubte Schokolade verlangen? Wie sieht es mit Schadensersatz für den entgangenen Gewinn aus? Hat G einen Anspruch gegen C wegen der verspäteten Lieferung? Kann C ihrerseits Ansprüche gegen T geltendmachen? Welche Gerichte sind international für diese Ansprüche zuständig? Kann R sich vom Vertrag mit C lösen? Hinweis: Es ist zu unterstellen, dass Ruritanien Mitglied des CISG ist. 14 CMR – Auszüge Art. 1 [Anwendungsbereich] (1) Dieses Übereinkommen gilt für jeden Vertrag über die entgeltliche Beförderung von Gütern auf der Straße mittels Fahrzeugen, wenn der Ort der Übernahme des Gutes und der für die Ablieferung vorgesehene Ort, wie sie im Vertrage angegeben sind, in zwei verschiedenen Staaten liegen, von denen mindestens einer ein Vertragsstaat ist. Dies gilt ohne Rücksicht auf den Wohnsitz und die Staatsangehörigkeit der Parteien. (2) Im Sinne dieses Übereinkommens bedeuten ”Fahrzeuge” Kraftfahrzeuge, Sattelkraftfahrzeuge, Anhänger und Sattelanhänger, wie sie in Artikel 4 des Abkommens über den Straßenverkehr vom 19. September 1949 umschrieben sind. (3) Dieses Übereinkommen gilt auch dann, wenn in seinen Geltungsbereich fallende Beförderungen von Staaten oder von staatlichen Einrichtungen oder Organisationen durchgeführt werden. (4) Dieses Übereinkommen gilt nicht a) für Beförderungen, die nach den Bestimmungen internationaler Postübereinkommen durchgeführt werden; b) für die Beförderung von Leichen; c) für die Beförderung von Umzugsgut. (5) Die Vertragsparteien werden untereinander keine zwei oder mehrseitigen Sondervereinbarungen schließen, die Abweichungen von den Bestimmungen dieses Übereinkommens enthalten; ausgenommen sind Sondervereinbarungen unter Vertragsparteien, nach denen dieses Übereinkommen nicht für ihren kleinen Grenzverkehr gilt, oder durch die für Beförderungen, die ausschließlich auf ihrem Staatsgebiet durchgeführt werden, die Verwendung eines das Gut vertretenden Frachtbriefes zugelassen wird. Art. 3 [Haftung für Gehilfen] Der Frachtführer haftet, soweit dieses Übereinkommen anzuwenden ist, für Handlungen und Unterlassungen seiner Bediensteten und aller anderen Personen, deren er sich bei Ausführung der Beförderung bedient, wie für eigene Handlungen und Unterlassungen, wenn diese Bediensteten oder anderen Personen in Ausübung ihrer Verrichtungen handeln. Art. 12 [Verfügungsrecht] (1) Der Absender ist berechtigt, über das Gut zu verfügen. Er kann insbesondere verlangen, daß der Frachtführer das Gut nicht weiterbefördert, den für die Ablieferung vorgesehenen Ort ändert oder das Gut einem anderen als dem im Frachtbrief angegebenen Empfänger abliefert. (2) Dieses Recht erlischt, sobald die zweite Ausfertigung des Frachtbriefes dem Empfänger übergeben ist oder dieser sein Recht nach Artikel 13 Absatz 1 geltend macht. Von diesem Zeitpunkt an hat der Frachtführer den Weisungen des Empfängers nachzukommen. (3) Das Verfügungsrecht steht jedoch dem Empfänger bereits von der Ausstellung des Frachtbriefes an zu, wenn der Absender einen entsprechenden Vermerk in den Frachtbrief eingetragen hat. […] Art. 17 [Haftung des Frachtführers; Haftungsausschlüsse] (1) Der Frachtführer haftet für gänzlichen oder teilweisen Verlust und für Beschädigung des Gutes, sofern der Verlust oder die Beschädigung zwischen dem Zeitpunkt der Übernahme des Gutes und dem seiner Ablieferung eintritt, sowie für Überschreitung der Lieferfrist. 15 (2) Der Frachtführer ist von dieser Haftung befreit, wenn der Verlust, die Beschädigung oder die Überschreitung der Lieferfrist durch ein Verschulden des Verfügungsberechtigten, durch eine nicht vom Frachtführer verschuldete Weisung des Verfügungsberechtigten, durch besondere Mängel des Gutes oder durch Umstände verursacht worden ist, die der Frachtführer nicht vermeiden und deren Folgen er nicht abwenden konnte. (3) Um sich von seiner Haftung zu befreien, kann sich der Frachtführer weder auf Mängel des für die Beförderung verwendeten Fahrzeuges noch gegebenenfalls auf ein Verschulden des Vermieters des Fahrzeuges oder der Bediensteten des Vermieters berufen. (4) Der Frachtführer ist vorbehaltlich des Artikels 18 Absatz 2 bis 5 von seiner Haftung befreit, wenn der Verlust oder die Beschädigung aus den mit einzelnen oder mehreren Umständen der folgenden Art verbundenen besonderen Gefahren entstanden ist: a) Verwendung von offenen, nicht mit Planen gedeckten Fahrzeugen, wenn diese Verwendung ausdrücklich vereinbart und im Frachtbrief vermerkt worden ist; b) Fehlen oder Mängel der Verpackung, wenn die Güter ihrer Natur nach bei fehlender oder mangelhafter Verpackung Verlusten oder Beschädigungen ausgesetzt sind; c) Behandlung, Verladen, Verstauen oder Ausladen des Gutes durch den Absender, den Empfänger oder Dritte, die für den Absender oder Empfänger handeln; d) natürliche Beschaffenheit gewisser Güter, derzufolge sie gänzlichem oder teilweisem Verlust oder Beschädigung, insbesondere durch Bruch, Rost, inneren Verderb, Austrocknen, Auslaufen, normalen Schwund oder Einwirkung von Ungeziefer oder Nagetieren, ausgesetzt sind; e) ungenügende oder unzulängliche Bezeichnung oder Numerierung der Frachtstücke; f) Beförderung von lebenden Tieren. (5) Haftet der Frachtführer auf Grund dieses Artikels für einzelne Umstände, die einen Schaden verursacht haben, nicht, so haftet er nur in dem Umfange, in dem die Umstände, für die er auf Grund dieses Artikels haftet, zu dem Schaden beigetragen haben. Art. 19 [Lieferfrist, Überschreitung] Eine Überschreitung der Lieferfrist liegt vor, wenn das Gut nicht innerhalb der vereinbarten Frist abgeliefert worden ist oder, falls keine Frist vereinbart worden ist, die tatsächliche Beförderungsdauer unter Berücksichtigung der Umstände, bei teilweiser Beladung insbesondere unter Berücksichtigung der unter gewöhnlichen Umständen für die Zusammenstellung von Gütern zwecks vollständiger Beladung benötigten Zeit, die Frist überschreitet, die vernünftigerweise einem sorgfältigen Frachtführer zuzubilligen ist. Art. 23 [Haftungsumfang; Höchstbeträge] (1) Hat der Frachtführer auf Grund der Bestimmungen dieses Übereinkommens für gänzlichen oder teilweisen Verlust des Gutes Schadenersatz zu leisten, so wird die Entschädigung nach dem Wert des Gutes am Ort und zur Zeit der Übernahme zur Beförderung berechnet. (2) Der Wert des Gutes bestimmt sich nach dem Börsenpreis, mangels eines solchen nachdem Marktpreis oder mangels beider nach dem gemeinen Wert von Gütern gleicher Art und Beschaffenheit. (3) Die Entschädigung darf jedoch 8,33 Rechnungseinheiten für jedes fehlende Kilogramm des Rohgewichts nicht übersteigen. (4) Außerdem sind - ohne weiteren Schadenersatz - Fracht, Zölle und sonstige aus Anlaß der Beförderung des Gutes entstandene Kosten zurückzuerstatten, und zwar im Falle des gänzlichen Verlustes in voller Höhe, im Falle des teilweisen Verlustes anteilig. 16 (5) Wenn die Lieferfrist überschritten ist und der Verfügungsberechtigte beweist, daß daraus ein Schaden entstanden ist, hat der Frachtführer dafür eine Entschädigung nur bis zur Höhe der Fracht zu leisten. (6) Höhere Entschädigungen können nur dann beansprucht werden, wenn der Wert des Gutes oder ein besonderes Interesse an der Lieferung nach den Artikeln 24 und 26 angegeben worden ist. (7) Die in diesem Übereinkommen genannte Rechnungseinheit ist das Sonderziehungsrecht des Internationalen Währungsfonds. Der in Absatz 3 genannte Betrag wird in die Landeswährung des Staates des angerufenen Gerichts umgerechnet; die Umrechnung erfolgt entsprechend dem Wert der betreffenden Währung am Tag des Urteils oder an dem von den Parteien vereinbarten Tag. Der in Sonderziehungsrechten ausgedrückte Wert der Landeswährung eines Staates, der Mitglied des Internationalen Währungsfonds ist, wird nach der vom Internationalen Währungsfonds angewendeten Bewertungsmethode errechnet, die an dem betreffenden Tag für seine Operationen und Transaktionen gilt. Der in Sonderziehungsrechten ausgedrückte Wert der Landeswährung eines Staates, der nicht Mitglied des Internationalen Währungsfonds ist, wird auf eine von diesem Staat bestimmte Weise errechnet. (8) Dessen ungeachtet kann ein Staat, der nicht Mitglied des Internationalen Währungsfonds ist und dessen Recht die Anwendung des Absatzes 7 nicht zuläßt bei der Ratifikation des Protokolls zur CMR oder dem Beitritt zu jenem Protokoll oder jederzeit danach erklären, daß sich der in seinem Hoheitsgebiet geltende Haftungshöchstbetrag des Absatzes 3 auf 25 Werteinheiten beläuft. Die in diesem Absatz genannte Werteinheit entspricht 10/31 Gramm Gold von 900/1000 Feingehalt. Die Umrechnung des Betrags nach diesem Absatz in die Landeswährung erfolgt nach dem Recht des betreffenden Staates. (9) Die in Absatz 7 letzter Satz genannte Berechnung und die in Absatz 8 genannte Umrechnung erfolgen in der Weise, daß der Betrag nach Absatz 3, in der Landeswährung des Staates ausgedrückt, soweit wie möglich dem dort in Rechnungsheinheiten ausdrückten tatsächlichen Wert entspricht. Die Staaten teilen dem Generalsekretär der Vereinten Nationen die Art der Berechnung nach Absatz 7 oder das Ergebnis der Umrechnung nach Absatz 8 bei der Hinterlegung einer der in Artikel 3 des Protokolls zur CMR genannten Urkunden sowie immer dann mit, wenn sich die Berechnungsart oder das Umrechungsergebnis ändert. Art. 24 [Besondere Wertdeklaration] Der Absender kann gegen Zahlung eines zu vereinbarenden Zuschlages zur Fracht einen Wert des Gutes im Frachtbrief angeben, der den in Artikel 23 Absatz 3 bestimmten Höchstbetrag übersteigt; in diesem Fall tritt der angegebene Betrag an die Stelle des Höchstbetrages. Art. 26 [Besonderes Lieferinteresse] (1) Der Absender kann gegen Zahlung eines zu vereinbarenden Zuschlages zur Fracht für den Fall des Verlustes oder der Beschädigung und für den Fall der Überschreitung der vereinbarten Lieferfrist durch Eintragung in den Frachtbrief den Betrag eines besonderen Interesses an der Lieferung festlegen. (2) Ist ein besonderes Interesse an der Lieferung angegeben worden, so kann unabhängig von der Entschädigung nach den Artikeln 23, 24 und 25 der Ersatz des Weiteren bewiesenen Schadens bis zur Höhe des als Interesse angegebenen Betrages beansprucht werden. 17 Lösung 1) Hat die C gegen die E einen Anspruch auf Rückzahlung des Kaufpreises? Kann sie Schadensersatz verlangen? I. Anwendbares Recht? 1. Grds. Vertragsstatut nach IPR zu ermitteln; ggf. aber Vorrang völkerrechtlicher Verträge; hier aber: Rechtswahl durch Parteien! 2. Art. 3 Rom I-VO: Rechtswahl, hier wirksam, deshalb deutsches Rechts Umfang der Rechtswahl? CISG ist als völkerrechtlicher Vertrag Teil deutschen Rechts und vorrangig anwendbar! Rechtswahl als Ausschluss des CISG, Art. 6 CISG? (-), Ausschluss des CISG muss ausdrücklich/eindeutig erfolgen bzw. BGB gewählt werden damit also innerhalb des deutschen Rechts CISG (ggf.) anwendbar 3. Anwendbarkeit des CISG? Art. 1-6 CISG 1. Räumlich-persönlicher Anwendungsbereich? Art. 1 Abs. 1 lit. a): Parteien mit Niederlassung in verschiedenen Staaten (+), Deutschland/Frankreich beide Staaten Vertragsstaaten (+), D und F beides Vertragsstaaten 2. Sachlicher Anwendungsbereich? Art. 1 CISG: Warenkauf bzw. Werklieferungsvertrag nach Art. 3 I CISG (+), Kaufvertrag über Stanniolpapier 3. Zeitlicher Anwendungsbereich, Art. 100 CISG (+) 4. Ausnahmen? Art. 2 CISG (-), hier nichts einschlägig Art. 3 Abs. 1 Hs. 2 CISG (-) Art. 3 Abs. 2 CISG (-), nur Lieferung 5. Abwahl durch Rechtswahl/Ausschluss, Art. 6 CISG? (-), nichts ersichtlich II. Vertrag wirksam geschlossen? Art. 14ff. CISG Angebot? (+), Vertragsübersendung durch E Annahme (+), Unterschrift und Rücksendung durch C III. Rückzahlungsanspruch der C? Art. 81, 49, 26 CISG Art. 81 II 1 CISG: Anspruch auf Rückgabe des Geleisteten (hier: schon gezahlter Kaufpreis) bei Vertragsaufhebung liegt Vertragsaufhebung vor? Vertragsaufhebung durch C möglich? Aufhebung durch Käufer, Artt. 45, I lit. a, 49 I CISG o Voraussetzungen: 1. Nichterfüllung einer Verkäuferpflicht Art. 35 I CISG: Ware muss Vertragsanforderungen entsprechen 18 Konformität, Art. 35 II CISG? o Parteivereinbarung? ggf. schon in „Angebot über vergleichbares Papier“, Hinweis auf Verwendungszweck – allerdings keine zweiseitige Vereinbarung! o a) Eignung für gewöhnlichen Zweck hier geht es offensichtlich um Lebensmittel-Verpackungen; andererseits kann rotes Folienpapier auch anders verwendet werden o b) Eignung für bestimmten Zweck, der Verkäufer zur Kenntnis gebracht wurde, (+) C hat ausdrücklich auf Zweck hingewiesen und durfte auch vernünftigerweise auf Sachkenntnis der E vertrauen kein Ausschluss nach Art. 35 III CISG, C wusste nichts von Vertragswidrigkeit Haftung nach Art. 36 I CISG für Vertragswidrigkeit bei Gefahrübergang (Art. 66ff. CISG), auch wenn sie erst später offenbar wird hier also Haftung nicht dadurch ausgeschlossen, dass Mangel erst nach Verarbeitung zutage tritt damit also Nichterfüllung der Pflicht aus Art. 35 CISG! Recht verloren wegen Artt. 38, 39 CISG? o Untersuchungspflicht nach Art. 38 CISG (kurze Frist)? Untersuchung durch C gleich nach Lieferung? (?), aber: Mangel jedenfalls erst nach Verarbeitung erkennbar… o Rügepflicht: Anzeige innerhalb angemessener Frist nach Feststellung, (+) umgehende Mitteilung also kein Rechtsverlust der C 2. Nichterfüllung als wesentliche Vertragsverletzung i.S.d. Art. 25 CISG „dass ihr im Wesentlichen entgeht, was sie nach dem Vertrag hätte erwarten dürfen“ hier wohl (+): C wollte Stanniolpapier zum Einwickeln von Schokolade und durfte das auch erwarten – genau das hat sie aber nicht bekommen, hier wohl keine andere Verwendungsmöglichkeit, dieses Stanniolpapier eignet sich nicht für Süßwaren o Ausschluss des Aufhebungsrechts nach Art. 82 CISG? 1. Art. 82 I CISG: wenn Ware nicht im Lieferungszustand zurückgewährt werden kann hier (+), Stanniolpapier kann nicht zurückgegeben werden 2. Aber: Art. 82 II CISG: Abs. 1 nicht anwendbar? hier lit. c): C hat die Ware der normalen Verwendung entsprechend verändert (durch Einpacken der Schokolade), bevor die Vertragswidrigkeit entdeckt wurde/hätte entdeckt werden müssen 19 o Problem: Ausschluss des Aufhebungsrechts durch die AGB? (Beschränkung auf Nachlieferungsansprüche) 1. Einbeziehung der AGB? h.M.: historisch ist Einbeziehungsproblem („Frage des äußeren Konsenses“) eine Frage des Vertragsschlusses (Art. 14ff. CISG) damit unterfällt AGB-Einbeziehung dem CISG! Keine nationalen Einbeziehungsregelungen! o Wille zur Einbeziehung erkennbar? (auch aus Handelsbrauch, Art. 9 II CISG, möglich) hier: Angebot zum Vertragsschluss durch E, darin AGB enthalten; Annahme durch C inklusive der AGB (Art. 18 I CISG) AGB wirksam einbezogen 2. Wirksamkeit der AGB? Wirksamkeit oder Unwirksamkeit der einzelnen Klauseln nicht vom CISG geregelt nach von IPR berufenem nat.R zu beurteilen (für dt. Recht: § 305c I BGB zu überraschenden Klauseln ist Inhaltskontrolle und bleibt damit anwendbar; im Rahmen des § 307 BGB sind CISGWertungen zu berücksichtigen) o Nach IPR berufenes nat. Recht? Rom I-VO: Art. 3, Rechtswahl des deutschen Rechts o Klausel nach dt.. Recht wirksam? AGB-Inhaltskontrolle zwischen Unternehmern: § 307 BGB unter Heranziehung der Wertungen der §§ 308, 309 BGB (vgl. § 310 Abs. 1 BGB) Klausel, die auf Nacherfüllung beschränkt und kein Rücktrittsrecht einräumt, ist unwirksam! damit Klausel unwirksam unwirksame Klausel, damit nicht zu beachten, also kein wirksamer Ausschluss des Aufhebungsrechts also besteht ein Aufhebungsrecht der C Vorherige Nachfristsetzung erforderlich, Art. 47 II CISG? nicht erforderlich bei wesentlicher Vertragsverletzung Wirksame Geltendmachung des Aufhebungsrechts? o „erklären“ Art. 26 CISG: muss der anderen Partei mitgeteilt werden hier darin zu sehen, dass C Rückzahlung des Kaufpreises verlangt o Frist, Art. 49 II CISG Aufhebungserklärung innerhalb angemessener Frist nach Vertragsverletzungs-Kenntnis (b) i)), (+)umgehende Mitteilung => C steht ein Aufhebungsrecht zu, dies hat sie auch form- und fristgerecht geltend gemacht. Somit hat sie einen Anspruch auf Rückzahlung des bereits geleisteten Kaufpreises. IV. Schadensersatzanspruch der C? Artt. 45 I lit. b), 74-77 CISG 20 Vertragsverletzung: Nichterfüllung einer Verkäuferpflicht, Art. 35 CISG (+), s.o. o Kein Ausschluss nach Artt. 38, 39 CISG, s.o. o damit nach Art. 45 I lit. b) CISG Schadensersatzanspruch Umfang des Schadensersatzes, Art. 74ff. CISG: Art. 74 CISG: infolge der Vertragsverletzung entstandener (vorhersehbarer) Verlust hier: der C aus den Rückabwicklungs-/Schadensersatzansprüchen ihrer Händler entstandener Schaden, sowie der C entgangener Gewinn (in bei Vertragsabschluss vorhersehbarer Höhe) Befreiung der E, Art. 79 CISG? o nicht ersichtlich, warum E exkulpiert sein sollte!!! o i.Ü. müsste E beweisen, dass der Hinderungsgrund von ihr nicht zu beeinflussen war und man von ihr weder eine Berücksichtigung noch eine Vermeidung erwarten konnte Schadensersatzausschluss durch AGB-Klausel? o Wirksamkeit/Inhalt zu beurteilen nach dt. Recht, s.o. o hier: Klausel beschränkt auf Nacherfüllung und schließt Schadensersatz aus unwirksam, s.o. Anspruch auf Schadensersatz nicht ausgeschlossen durch Vertragsaufhebung, Art. 45 II CISG => C steht (neben dem Aufhebungsrecht) ein Anspruch auf Schadensersatz zu. 21 2) Kann sich die S vom Kaufvertrag mit der C lösen? Kann sie Schadensersatz verlangen? I. Anwendbares Recht? o Keine Rechtswahl o.ä., also vorrangig CISG zu prüfen o Anwendbarkeit des CISG? Art. 1-6 CISG Räumlich-persönlicher Anwendungsbereich? Art. 1 I lit. a): o Parteien mit Niederlassung in verschiedenen Staaten (+), Deutschland/Niederlande o beide Staaten Vertragsstaaten (+), D und N beides Vertragsstaaten Sachlicher Anwendungsbereich? Art. 1 CISG: Warenkauf/Werklieferungsvertrag, Art. 3 I CISG (+), Kaufvertrag über Schokoladenhasen Zeitlicher Anwendungsbereich, Art. 100 CISG (+) Keine Ausnahmen erkennbar, Art. 2 CISG Keine Abwahl durch Rechtswahl/Ausschluss, Art. 6 CISG II. Vertrag wirksam geschlossen? Art. 14ff. CISG Wirksamer Kaufvertragsschluss zu unterstellen III. Vertragsaufhebung durch S möglich? Artt. 49, 26 CISG o Voraussetzungen für Aufhebung nach Art. 49 I lit. a): Nichterfüllung einer Verkäuferpflicht Art. 35 I CISG: Ware muss Vertragsanforderungen entsprechen o Konformität, Art. 35 II CISG? zerbrochene Schokoladenfiguren zwar noch zum Verzehr geeignet; hier ist aber auf den gewöhnlichen (lit. a) bzw. bestimmten (lit. b) Weiterverkaufszweck abzustellen, für den sie nicht mehr geeignet sind! => damit hat C ihre Pflicht nicht erfüllt Untersuchungs- und Rügepflicht (Artt. 38, 39 CISG) gewahrt: sofortige Untersuchung und Mangelmitteilung nach Lieferung Nichterfüllung als wesentliche Vertragsverletzung i.S.d. Art. 25 CISG? „dass ihr im Wesentlichen entgeht, was sie nach dem Vertrag hätte erwarten dürfen“ so schwere Beeinträchtigung der berechtigten Vertragserwartungen der S, dass ihr Interesse an Vertragsdurchführung entfällt? Unzumutbarkeit anderer Rechtsbehelfe (Aufhebung als ultima ratio)? o Hier: zwar Interesse der S an (korrekter und rechtzeitiger) Vertragserfüllung schwerwiegend beeinträchtigt, da sie beinahe gänzlich mangelhafte Ware erhält – aber C bietet rasche Nachlieferung an, die für S kaum Aufwand bedeutet 22 (und S kann Schadensersatz für Zuspätlieferung verlangen). Wenn Mangel rasch und ohne Aufwand für die beeinträchtigte Partei nachgebessert werden kann und die vertragsbrüchige Partei dazu bereit ist, ist er (auch wenn er schwerwiegend ist) nicht „wesentlich“ i.S.d. Art. 25 CISG. => damit keine „wesentliche“ Vertragsverletzung, Aufhebung nach Art. 49 I lit. a) CISG nicht möglich o IV. Voraussetzungen für Aufhebung nach Art. 49 I lit. b): Nichtlieferung? hier: zwar mangelhafte Ware, aber es liegt eine Lieferung vor! Schlecht- und Falschlieferungen sind von lit. b) nicht erfasst – hier soll nur bei wesentlicher Vertragsverletzung nach lit. a) eine Aufhebung in Betracht kommen (keine aufhebungsermöglichende Nachfristsetzung bei mangelhafter Lieferung, anders als im BGB!) => S kann den Vertrag mit C nicht aufheben. Schadensersatzansprüche der S? Artt. 45 I lit. b), 74-77 CISG o Vertragsverletzung: Nichterfüllung einer Verkäuferpflicht, Art. 35 CISG (+), s.o. Kein Ausschluss nach Artt. 38, 39 CISG, s.o. damit nach Art. 45 I lit. b) CISG Schadensersatzanspruch o Umfang des Schadensersatzes, Art. 74ff. CISG: Art. 74 CISG: infolge der Vertragsverletzung entstandener (vorhersehbarer) Verlust hier: der der S aus der Lieferung mangelhafter Ware entstandene Verlust (z.B. durch vergeudetes Vorhalten von Lagerkapazität) sowie entgangener Gewinn (da sie ja erst zwei Tage später mit dem Verkauf der Saisonartikel beginnen kann) o Keine Befreiung der S nach Art. 79 CISG ersichtlich Ergebnis: SE-Anspruch der S (+) 23 3) Kann die C von der T Ersatz für die geraubte Schokolade verlangen? Wie sieht es mit Schadensersatz für den entgangenen Gewinn aus? 3 I. Anwendbares Recht? 1. hier: Straßengütertransport, also ggf. als völkerrechtlicher Vertrag CMR vorrangig 2. Anwendbarkeit des CMR, Art. 1 I CMR a. Vertrag über entgeltliche Beförderung von Gütern auf der Straße mittels Fahrzeugen (+) b. Übernahmeort und vorgesehener Ablieferungsort in zwei verschiedenen Staaten (+), Deutschland/Spanien c. Wenigstens einer der Staaten Vertragsstaat (+), sowohl Deutschland als auch Spanien sind CMR-Mitglieder d. unerheblich, wo Wohnsitz der Parteien ist! II. Schadensersatzanspruch der C wegen der geraubten Schokolade? Art. 17 I Var. 1 CMR 1. Art. 17 I Var. 1 CMR a. Verlust des Gutes (+), Schokolade gänzlich verschwunden b. Eintritt des Verlustes zwischen Übernahme und Ablieferung des Gutes (+), nach Übernahme der Schokolade bei C und vor Ablieferung in Salamanca c. grds. Haftung der T als Frachtführerin 2. Haftungsausschluss nach Art. 17 II CMR? a. Verlust durch Verschulden des Verfügungsberechtigten eingetreten (Var. 1)? 1) Verfügungsberechtigter, Art. 12 CMR: hier C; Raub nicht durch Verschulden der C b. Verlust durch nicht vom Frachtführer (T) verschuldete Weisung des Verfügungsberechtigten (Var. 2)? 1) Keine Weisung durch C, die zu Verlust geführt hätte c. Verlust durch besondere Mängel des Gutes (Var. 3)? 1) Hier (-) d. Verlust durch Umstände, die Frachtführer nicht vermeiden und deren Folgen er nicht abwenden konnte (Var. 4)? 1) Unvermeidbarkeit? wenn Schaden auch bei Anwendung der äußersten möglichen und zumutbaren Sorgfalt durch den Frachtführer nicht hätte vermieden werden können (Beweislast beim Frachtführer)3 2) Nach Art. 3 CMR haftet Frachtführer auch für seine Hilfspersonen – hier: Verhalten des Fahrers (unzweifelhaft Handeln „in Verrichtung“) Also hier unerheblich, ob der Parkplatz von T vorgegeben oder vom Fahrer gewählt wurde 3) Raub durch mögliche und zumutbare Sorgfalt vermeidbar gewesen? a. Zumindest leicht fahrlässig, auf unbewachtem Parkplatz zu parken – Wahl eines bewachten Parkplatzes / einer Route mit bewachtem Parkplatz wäre möglich und zumutbar gewesen BGH TranspR 1998, 250; BGH TranspR 1999, 59. 24 b. Besatzung des Fahrzeugs mit einem zweiten Fahrer als mögliche und zumutbare Alternative c. Alarmanlage am LkW d. … e. damit in Raub-Fällen kein Ausschluss nach Art. 17 II CMR! 3. Es besteht ein Schadensersatzanspruch der C gegen die T wegen der geraubten Schokolade 4. Haftungsumfang: Art. 23 CMR a. Wertersatzprinzip 1) Art. 23 I CMR: Ersatz für Wert der Schokolade (bei C am 21.3.2012, Wertbestimmung nach Art. 23 II, III CMR), 10.000 € 2) Art. 23 IV CMR: Erstattung der vollen Frachtkosten, da vollständiger Verlust b. Schadensersatz für entgangenen Gewinn? 1) Nach Art. 23 VI CMR höhere Entschädigung nur, wenn Wert des Gutes oder besonderes Interesse an Lieferung angegeben 2) Keine besondere Wertdeklaration nach Art. 24 CMR 3) Höherer Betrag wegen besonderen Lieferinteresses, Art. 26 CMR? Hier nicht ersichtlich, dass besonderes Lieferinteresse vereinbart (keine Eintragung im Frachtbrief, kein Zuschlag) III. damit nur Schadensersatzanspruch wegen der verschwundenen Schokolade und der Frachtkosten, aber kein Schadensersatzanspruch wegen entgangenen Gewinns 25 4) Hat G einen Anspruch gegen C wegen der verspäteten Lieferung? Kann C ihrerseits Ansprüche gegen T geltend machen? Welche Gerichte sind international für diese Ansprüche zuständig? I. Ansprüche des G gegen C 1. Anwendbares Recht? CISG Anwendbarkeit (+), Italien ebenfalls CISG-Vertragsstaat – s.o. 2. Vertrag wirksam geschlossen? Art. 14ff. CISG Wirksamer Kaufvertragsschluss zu unterstellen 3. Vertragsaufhebung durch G möglich? Artt. 49, 26 CISG a. Voraussetzungen für Aufhebung nach Art. 49 I lit. a): 1) Nichterfüllung einer Verkäuferpflicht a) Hier: Pflicht der C zur pünktlichen Lieferung 1)Art. 33 CISG: Lieferungszeitpunkt 2)hier lit. a) Zeitpunkt im Vertrag bestimmt, (bis zum) 23.3.2012 b) Pflicht durch Zuspätlieferung (am 10.4.2012) verletzt! 2) Nichterfüllung als wesentliche Vertragsverletzung i.S.d. Art. 25 CISG? Verspätete Lieferung ist nur selten wesentliche Vertragsverletzung (i.d.R. ist Nachfrist erforderlich, dann Aufhebung nach Art. 49 I lit. b CISG möglich) Hier aber: Fixgeschäft ausdrücklich vereinbart, Saisonware! – deshalb besonderes Interesse des G an rechtzeitiger Lieferung, hier möglicher sinnvoller Zeitraum verstrichen (Lieferung nach Ostern) wesentliche Vertragsverletzung (+) b. Kein Ausschluss des Aufhebungsrechts nach Art. 82 CISG, G kann die Hasen zurückgeben c. Wirksame Geltendmachung des Aufhebungsrechts? „erklären“ Mitteilung an andere Partei, Art. 26 CISG (+), Anruf des G bei C d. Frist, Art. 49 II lit. a) CISG Aufhebungserklärung innerhalb angemessener Frist, nachdem G von Lieferung erfährt (+), umgehender Anruf bei C 26 G kann sich durch Vertragsaufhebung vom Vertrag mit C lösen. 4. Schadensersatzansprüche? a. Wegen Pflichtverletzung der C (siehe eben) Schadensersatzanspruch des G nach Artt. 45 I lit. b), 74ff. CISG 1) Umfang: (voraussehbarer) Verlust und entgangener Gewinn des C 2) Exkulpation der C gemäß Art. 79 II CISG, weil sie die T eingeschaltet hat? a) Vss.: Doppelte Exkulpation: Befreiung der C selbst UND hypothetische Befreiung der T b) Hier: Hinderungsgrund außerhalb des Einflussbereichs und nicht vernünftigerweise in Betracht zu ziehen/zu vermeiden? wohl nicht für C (zwar nicht Cs Einflussbereich; aber nicht völlig abwegig, von Unachtsamkeit bei Spedition auszugehen – also insbes. bei Termingeschäften in Betracht zu ziehen, andererseits aber gerade für pünktliche Lieferung Spedition eingeschaltet…), jedenfalls aber nicht für T (der Fehler entstand ja gerade durch Versehen bei T!)! damit keine Exkulpation der C G kann von C auch Schadensersatz verlangen. II. Ansprüche der C gegen T 1. Anwendbares Recht? CMR a. Anwendungsbereich (+), auch Italien ist CMR-Vertragsstaat – s.o. 2. Schadensersatzanspruch der C wegen der verspäteten Lieferung? Art. 17 I Var. 3 CMR a. Lieferfristüberschreitung, Art. 19 CMR? 1) Hier (+), da Schokolade nicht in der vereinbarten Frist (Zeitraum bis zur vertragsgemäßen Ablieferung am 23.3.2012 in Florenz) abgeliefert wurde b. damit Schadensersatzanspruch der C c. Inhalt: Vermögensschaden wegen der verspäteten Ablieferung 1) Bei C wegen der Verspätung entstandener Schaden? der dem G zu zahlende Schadensersatz sowie der C entgangene Gewinn 2) Art. 23 V CMR: a) Beweispflicht für Schaden beim Verfügungsberechtigten 27 1)hier: es dürfte für C ohne weiteres möglich sein, den Schaden nachzuweisen b) bei Lieferfristüberschreitung grds. der Art nach uneingeschränkter Schadensersatz – alle adäquat kausal verursachten Schäden, also auch mittelbare/unmittelbare Folgeschäden, entgangener Gewinn ist hier (im Gegensatz zu Verlust/Beschädigung) ersatzfähig! c) Aber: Begrenzung der Schadenshöhe auf Höhe der Fracht 1)„Fracht“ ist die zwischen Frachtführer und Vertragspartner vereinbarte Vergütung, also das von C und T vereinbarte Entgelt d. C kann von T Schadensersatz wegen der verspäteten Lieferung verlangen. Allerdings ist der Anspruch in der Höhe begrenzt und kann maximal in Höhe des mit T vereinbarten Entgelts verlangt werden. III. Internationale Zuständigkeit für die Ansprüche? EuGVVO 1. Anwendbarkeit der EuGVVO? a. Sachlich, Art. 1 I EuGVVO (+), Zivil- und Handelssache b. Räumlich-persönlich, Art. 2 I EuGVVO [Art. 4 I EuGVVOneu]: 1) Für Ansprüche G gegen C: (+), C hat Wohnsitz in Deutschland 2) Für Ansprüche C gegen T: Wohnsitz der T nach Art. 60 EuGVVO [Art. 63 EuGVVOneu] entweder Delaware (lit. a)), oder Hauptverwaltung (lit. b), Belgien) also ebenfalls (+) c. Zeitlich, Art. 66, 76 EuGVVO (+) 2. Klage des G gegen C: a. Allgemeine Zuständigkeit, Art. 2 EuGVVO [Art. 4 EuGVVOneu]: Wohnsitz der C, Deutschland b. Besondere Zuständigkeit, Art. 5 lit. a), b) EuGVVO [Art. 7 EuGVVOneu]: Kaufvertrag zwischen C und G, damit Erfüllungsort = Lieferort, Italien c. G kann wahlweise in Deutschland oder Italien klagen 3. Klage der C gegen T: a. Allgemeine Zuständigkeit, Art. 2 EuGVVO [Art. 4 EuGVVOneu]: Wohnsitz der T, Belgien b. Besondere Zuständigkeit, Art. 5 lit. a), b) EuGVVO [Art. 7 EuGVVOneu]: 1) Transportvertrag von Art. 5 lit. b) erfasst (Dienstleistung), damit Erfüllungsort des Transportvertrags a) Problem: Schwerpunktbestimmung beim Transportvertrag? vgl. EuGH-Rspr. zum Beförderungsrecht (Rs. Rehder): Wahlrecht zwischen Übernahme- und Lieferort? m.E. bei Transportvertrag auch vertretbar, nur auf Lieferort abzustellen? gf. auch Deutschland c. C kann wahlweise in Belgien, Italien und je nach Ansicht auch in Deutschland klagen 28 5) Kann R sich vom Vertrag mit C lösen? I. Anwendbares Recht? CISG? Anwendbarkeit der CISG? Art. 1-6 CISG i. Räumlich-persönlicher Anwendungsbereich? Art. 1 I lit. a): a. Parteien mit Niederlassung in verschiedenen Staaten (+), Deutschland/Ruritanien b. beide Staaten Vertragsstaaten (+), D und Rur. beides Vertragsstaaten ii. Sachlicher Anwendungsbereich? Art. 1 I CISG: Warenkauf/Werklieferungsvertrag, Art. 3 I CISG (+), Kaufvertrag über „Schwarzwälder-Kirsch-Kugeln“ iii. Zeitlicher Anwendungsbereich, Art. 100 CISG (+) iv. Keine Ausnahmen erkennbar v. Abwahl durch Rechtswahl/Ausschluss? (-), nichts ersichtlich II. Vertrag wirksam geschlossen? Art. 14ff. CISG Wirksamer Kaufvertragsschluss zu unterstellen III. Vertragsaufhebung durch R möglich? Artt. 49, 26 CISG a) Voraussetzungen für Aufhebung nach Art. 49 I lit. a): i. Nichterfüllung einer Verkäuferpflicht Art. 35 I CISG: Ware muss Vertragsanforderungen entsprechen im Vertrag nichts spezifisches zum Alkoholgehalt vereinbart, nur „hochwertiger Alkohol mit Kirschgeschmack“ in Bezug genommen ii. Art. 35 II CISG: 1. Eignung für gewöhnlichen Gebrauch? hier wohl Weiterverkauf/Konsum a. Alkoholgehalt dafür maßgeblich? Nicht deutlich, dass „gewöhnliche“ Schokoladenkugeln nur mit Likör gefüllt sind (man denke z.B. am Williams-Christ- oder CognacOstereier…) – der gewöhnliche Gebrauch wird also grds. nicht beeinträchtigt b. Maßgeblichkeit der ruritanischen öffentlich-rechtlichen Vorgaben (dort nicht verkehrsfähig)? BGH: vom Verkäufer kann nicht erwartet werden, besondere öff.-rechtl. Vorschriften im Käufer-/Verwendungsstaat zu beachten; Teile der Lit.: Standard im Land des Verkäufers! 2. Eignung für bestimmten Zweck? 29 Kein Hinweis, dass R der C ausdrücklich oder anders zur Kenntnis gebracht hat, dass ruritanische Standards gelten müssen (nur Liefer-/Bestimmungsort genügt nicht); selbst wenn R den Zweck des Verkaufs angibt, ist sehr fraglich, ob er vernünftigerweise auf Sachkenntnis der C zum ruritanischen Lebensmittelrecht vertrauen durfte damit also keine Vertragswidrigkeit, keine Nichterfüllung einer Verkäuferpflicht! b) Nähme man eine Nichterfüllung an, müsste diese eine wesentliche Vertragsverletzung i.S.d. Art. 25 CISG sein i. R kann die Kugeln in Ruritanien nicht verkaufen – ihm entgeht also wesentlich das, was er nach dem Vertrag erwarten durfte ii. Aber: andere Verwertung (im Ausland) möglich) – BGH: keine wesentliche Vertragsverletzung! iii. Wenn man eine wesentliche Vertragsverletzung bejaht, hat R ein Aufhebungsrecht (kein Ausschluss nach Art. 82 CISG). Die Aufhebung hat er gegenüber C erklärt (Art. 26 CISG) und auch fristgerecht (Art. 49 II lit. b) i)) iv. Wenn man eine wesentliche Vertragsverletzung verneint, hat R kein Aufhebungsrecht nach Art. 49 I lit. a) CISG. Ein Aufhebungsrecht nach Art. 49 I lit. b) CISG kommt auch nicht in Betracht, da die Aliud-Lieferung eine Lieferung ist (vgl. oben). Je nach eingeschlagenem Lösungsweg kann R sich vom Vertrag lösen oder nicht. Anmerkung: vgl. Fälle „Neuseeländische Muscheln“ (BGH 08.03.1995, BGHZ 129, 75; s.a. BGH 02.03.2005, RIW 2005, 547) sowie Kobaltsulfat (BGH 03.04.1996, NJW 1996, 2364; CISG-online Nr. 135) 30 31