ExaminatoriumZivilrecht

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Examenskurs Schwerpunktbereich 3
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EXAMENSKURS
Schwerpunktbereich 3
Kursbegleitendes
Skript
donnerstags, 10 - 12 Uhr – SR 406 (Paradeplatz)
Sommersemester 2015
Björn Becker, Annalena Scholl, Markus Welzenbach
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Vorlesungsplan
Datum
Thema
Referent
16.4.
Einführung, Schiedsgerichtsbarkeit
Becker
23.4.
KartR I – Kartellverbot
Becker
30.4.
KartR II – privater Rechtschutz
Becker
7.5.
KartR III - Missbrauchsverbot
Welzenbach
14.5.
Frei
21.5.
KartR IV - Gemeinschaftsunternehmen
Welzenbach
28.5.
Rechtsvergleichung: Störung der Geschäftsgrundlage
Becker
4.6.
Frei
11.6.
IZVR I
Scholl
18.6.
IPR II
Scholl
25.6.
IPR
Scholl
2.7.
UN-Kaufrecht
Welzenbach
9.7.
UN-Kaufrecht II
Welzenbach
16.7.
Fragen- und Wiederholungsstunde
Becker, Scholl, Welzenbach
Sommersemester 2015
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B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach
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A. Schiedsgerichtsbarkeit: Wiederholung der Grundlagen
I. Allgemeines
-
Rechtsgrundlage in Deutschland: §§ 1025 ff. ZPO
(abweichende Regelungen im Schiedsvertrag möglich)
-
Privates Gerichtsverfahren zur Beilegung von Streitigkeiten
 Einsetzung durch vertragliche Abrede der Parteien (Schiedsvereinbarung)
 Schiedsspruch ist für beide Parteien bindend und darf von staatlichen Gerichten
für vollstreckbar erklärt werden, § 1055 ZPO
 Vergleich möglich, § 1053 ZPO
II. Formen von Schiedsgerichten
-
Gelegenheitsschiedsgericht (Ad-hoc-Schiedsgericht):
 Wird gezielt für einzelne Entscheidungen gebildet
 Organisation der Schiedsrichterbenennung und des Verfahrens durch die Parteien
-
Institutionelles Schiedsgericht:
 Von bestimmten (Wirtschafts-)verbänden gebildet
 Auf bestimmte Art von Streitigkeiten spezialisiert
 Eigene Verfahrensregeln, Unterstützung bei der Schiedsrichterwahl
III.
-
Die Schiedsvereinbarung
Privatrechtlicher Vertrag mit Schiedsklausel oder selbstständige Vereinbarung
(Schiedsabrede), § 1029 Abs. 2 ZPO
-
Grds. Schriftform, § 1031 ZPO
 Anderer Nachweis möglich
 Weites Verständnis
 Auch nachträglich abschließbar
-
Zulässiger Vertragsgegenstand: § 1030 Abs. 1 ZPO
Sommersemester 2015
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B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach
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IV.
-
Das Schiedsgericht
Zusammensetzung des Schiedsgerichts wird von Parteien bestimmt
 Meist Dreierschiedsgericht: Je ein Schiedsrichter pro Partei, die zusammen einen Vorsitzenden (Obmann) bestimmen, vgl. § 1034, 1035 Abs. 3 S. 2 ZPO
 Kann sich nicht auf einen Obmann geeinigt werden, wird dieser durch eine Ernennungsstelle bestimmt
-
§ 1036 Abs. 2 ZPO: Ablehnung eines Schiedsrichters durch die andere Partei möglich,
bei
 Zweifel an Unparteilichkeit oder Unabhängigkeit
 Nichtentsprechen der von den Parteien vereinbarten Vss.
V. Vorteile einer Schiedsvereinbarung
-
Faires Verfahren
 Vermeidung von ggf. korrupten Gerichten am Schieds-/Vollstreckungsort
 Neutralität der Schiedsrichter in internationalen Streitfällen (z.T. „fremdenfeindliche“ Entscheidungen mancher nationaler Gerichte)
-
Spezielle Sachkunde der Schiedsrichter
 Auswahl der Schiedsrichter obliegt Parteien
 Parteien können Experten als Schiedsrichter bestimmen (Ingenieure, Architekten, Schiedsrichter mit besonderen Sprachkenntnissen etc.)
-
Diskretion
 Schiedsverfahren sind nicht öffentlich und werden i. d. R. nicht publiziert
 Ausnahme: abweichende Parteivereinbarung
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B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach
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-
Verfahrensgestaltung
 Parteien sind in Verfahrensgestaltung frei
 Insbes. bei internationalen Verfahren können Zustellungen und Beweisaufnahmen ohne die Beachtung der diplomatischen Wege oder Staatsverträge
 Grenze: rechtsstaatliches Verfahren
-
Verfahrensdauer?
 Prinzipiell als schnelleres Verfahren konzeptioniert
 Aber z. T. Verzögerung durch Vollstreckbarerklärungsverfahren (s.u.)
-
Kosten?
 Schiedsverfahren nicht selten kostspieliger als Verfahren vor den staatlichen
Gerichten
 Vergütungsvereinbarungen der einzelnen institutionellen Schiedsgerichte differieren erheblich
VI.
-
Nachteile einer Schiedsvereinbarung
Erhöhung der Gefahr von Fehlentscheidungen
 i. d. R. nur eine Instanz
 Fehlentscheidungen sind kaum korrigierbar
 Stark eingeschränkte Kontrolle durch staatliche Gerichte (s.u.)
-
Keine eigenen staatlichen Zwangsmittel
 Schiedsgerichte benötigen bei der zwangsmäßigen Ladung von Zeugen Unterstützung durch staatliche Gerichte
 Zusätzliche Gefahr der Verfahrensverzögerung
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B. Schiedsgerichtsbarkeit: Kontrolle und Durchsetzung von
Schiedssprüchen durch die staatlichen Gerichte
I. Überblick
Die Kontrollmöglichkeit von Schiedssprüchen ist verfassungsrechtlich geboten, siehe Art. 19
Abs. 4 GG, Art. 6 Abs. 1 EMRK.
Grundsatz: Keine sog. Révision au fond, sondern nur ordre public-Kontrolle
 Nur Kontrolle auf Verstöße gegen Prinzipien von grundsätzlicher Bedeutung
Eine gerichtliche Kontrolle ist in zwei Verfahren möglich:
(1) Aufhebungsverfahren:
nur für inländische Schiedssprüche, § 1059 ZPO
Bsp.: Schweizer Gerichte sind zuständig für Aufhebung (syn.: Anfechtung) eines
Schiedsspruchs, der von einem Schweizer Schiedsgericht erlassen wurde.
(2) Vollstreckbarerklärungsverfahren
auch für ausländische Schiedssprüche, §§ 1060, 1061 ZPO; Gültigkeit nur im Land, in
dem der Schiedsspruch für vollstreckbar erklärt wird
Bsp.: Wenn der erfolgreiche Kläger aus dem Schiedsspruch des Schweizer Schiedsgerichts Vollstreckungsmaßnahmen in Deutschland durchführen möchte, so muss er von
dem zuständigen deutschen staatlichen Gericht die Anerkennung und Vollstreckbarerklärung erreichen.
Enge Verzahnung von Aufhebungsgründen und Vollstreckungshindernissen:
Keine Vollstreckbarerklärung, soweit Aufhebungsgrund vorliegt
Für inländische Schiedssprüche siehe §§ 1060 Abs. 2, § 1059 ZPO
Für ausländische Schiedssprüche siehe § 1061 Abs. 1 ZPO i. V. m. Art. V UNÜ1
1
New Yorker Übereinkommen über die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Schiedssprüche v.
10.6.1958, BGBl. 1961 II, S. 121, abrufbar unter www.newyorkconvention.org/userfiles/documenten/nyctexts/25_german.pdf.
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II. Aufhebungsgründe/Vollstreckungshindernisse im Einzelnen
1. Unwirksamkeit der Schiedsvereinbarung, § 1059 Abs. 2 Nr. 1 lit. a ZPO
bzw. Art. V Abs. 1 lit. a UNÜ
-
Aufhebungsgrund/Vollstreckungshindernis bei Fehlen, Unwirksamkeit oder Erlöschen
der Schiedsvereinbarung
-
Vollständige Überprüfung des staatlichen Gerichts, ob Schiedsvereinbarung besteht
und die fragliche Streitigkeit erfasst
 Kontrolle auch zulässig gegen einen Schiedsspruch, durch den das Schiedsgericht
seine Zuständigkeit verneint, siehe BGH v. 13.1.2005, NJW 2005, S. 1125:
„Im Schiedsverfahren befindet zwar zunächst das Schiedsgericht selbst über seine
Zuständigkeit, und zwar entweder durch einen seine Zuständigkeit bejahenden
Zwischenentscheid (§ 1040 ZPO Abs. 3 S. 1 ZPO) sowie ausnahmsweise im verfahrensabschließenden Schiedsspruch oder negativ durch einen die Schiedsklage
als unzulässig abweisenden Prozessschiedsspruch […]. Das letzte Wort hat jedoch
bezüglich des Zwischenentscheids im Verfahren nach § 1040 Abs. 3 S. 2 ZPO, bezüglich des Schiedsspruchs und des Prozessschiedsspruchs im Aufhebungsverfahren nach § 1059 ZPO das staatliche Gericht“
2. Versagung rechtlichen Gehörs, § 1059 Abs. 2 Nr. 1 lit. b ZPO bzw. Art. V
Abs. 1 lit. b UNÜ
-
Aufhebungsgrund/Vollstreckungshindernis, wenn eine Partei vom Verfahren nicht gehörig in Kenntnis gesetzt worden ist oder aus einem anderen Grund seine Angriffsoder Verteidigungsmittel nicht hat geltend machen können
-
Darüber hinaus auch jede andere Verletzung des Grundsatzes des rechtlichen Gehörs,
jedenfalls nach § 1059 Abs. 2 Nr. 2 Buchst. b ZPO (ordre public, s.u.)
-
Weitere Voraussetzung: Entscheidungserheblichkeit des Verstoßes (kein absoluter
Aufhebungsgrund)
Dazu BGH v. 8.10.1959, NJW 1959, S. 2213: „Es genügt jedoch, wenn der Spruch auf
dem Verstoß beruhen kann.“ (Leitsatz c) )
3. Überschreiten der Grenzen der Schiedsvereinbarung, § 1059 Abs. 2 Nr. 1
lit. c ZPO, Art. V Abs. 1 lit. c UNÜ
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-
Fallgruppe fällt regelmäßig bereits unter § 1059 Abs. 2 Nr. 1 lit. a ZPO bzw. Art. V
Abs. 1 lit. 1 UNÜ
-
Unterfällt ein Anspruch der Schiedsvereinbarung nur teilweise, besteht ein Aufhebungsgrund/Vollstreckungshindernis nur für den Teil, der nicht durch die Schiedsvereinbarung gedeckt ist; Voraussetzung: Teilbarkeit des Anspruchs
4. (Schwere) Verfahrensverstöße, § 1059 Abs. 2 Nr. 1 lit. b, d ZPO, Art. V
Abs. 1 lit. b, d UNÜ
-
Aufhebungsgrund/Vollstreckungshindernis bei Verletzung des anwendbaren Verfahrensrechts bzw. der zulässigen Parteivereinbarungen
-
Weitere Voraussetzung: Entscheidungserheblichkeit des Verstoßes
 Schiedsspruch muss auf Verfahrensverstoß beruhen (strengerer Maßstab als bei
Verletzung des rechtlichen Gehörs, s.o.)
-
Präklusion möglich, § 1027 S. 1 ZPO
 Bereits im Schiedsverfahren muss der Verfahrensfehler erfolglos gerügt worden
sein
 Ausnahme: Mangelnde Kenntnis, § 1027 S. 2 ZPO
5. Mangelnde objektive Schiedsfähigkeit des Anspruchs, § 1059 Abs. 2 Nr. 2
lit. a ZPO, Art. V Abs. 2 lit. a UNÜ
-
Geringe praktische Bedeutung, da objektive Schiedsfähigkeit sehr weit gefasst ist
-
Objektiv schiedsfähig sind grds.:
• Alle vermögensrechtlichen Ansprüche
• Nichtvermögensrechtliche Ansprüche, soweit die Parteien berechtigt sind, über
den Streitgegenstand einen Vergleich zu schließen, §§ 1030 Abs. 1 S. 2 ZPO
-
Nicht schiedsfähig sind z.B. Ehesachen, Kindschaftssachen, Betreuungsangelegenheiten etc.
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6. Der Ordre-public § 1059 Abs. 2 Nr. 2 lit. b ZPO, Art. V Abs. 2 lit. b UNÜ
= Verstoß gegen wesentliche fundamentale Normen und Rechtsgrundsätze
a) Materiell-rechtlicher ordre public
-
Erforderlich ist eine offensichtliche Verletzung elementarer Grundlagen der Rechtsordnung, d. h., gegen Normen, die die Grundlage des staatlichen oder wirtschaftlichen
Lebens sowie die elementaren Gerechtigkeitsvorstellungen berühren (Grundrechte,
gute Sitten etc.)
Dazu BGH v. 28.1.2014, NJW 2014, S. 1597
-
Bsp.: Verurteilung zur Zahlung von Spiel- und Wettschulden (OLG Hamburg v.
1.10.1954, NJW 1955, 390), Verurteilung zu einem gegen kartellrechtliche Bestimmungen verstoßenden Verhalten (BGH v. 23.4.1959, NJW 1959, S. 1438), Erwirkung
des Schiedsspruchs durch Betrug (beachte auch § 581 Abs. 1 ZPO),
-
Ordre public-Einwand greift nur in extremen Ausnahmefällen (keine grundsätzliche
Überprüfung der sachlichen Richtigkeit von Schiedssprüchen, s.o. I.)
-
Nach BGH gilt für inländische Schiedssprüche ein weniger großzügiger Maßstab (ordre public interne) als für ausländische Schiedssprüche (ordre public international)
-
Problematisch: Verletzung des Willkürverbots
• Verletzung des ordre public wohl (+).
• Problematisch ist aber, dass die Feststellung von Willkür eine Auseinandersetzung mit der Richtigkeit des Schiedsspruchs voraussetzt und so mit einer inhaltlichen Überprüfung des Schiedsspruchs einhergehen kann, die nach dem
Grundsatz des Verbots der révision au fond grundsätzlich unzulässig ist.
b) Verfahrensrechtlicher ordre public
-
Erforderlich ist ein Abweichen von Grundprinzipien des deutschen Verfahrensrechts
in solchem Maße, dass die Entscheidung nach der deutschen Rechtsordnung nicht als
in einem geordneten rechtsstaatlichen Verfahren angesehen werden kann
-
Bsp.: Schiedsspruch spricht einer Partei etwas zu, was diese nicht beantragt hat oder
übergeht einen Antrag
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B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach
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c) Beachte: unterschiedliche nationale Maßstäbe
-
Ordre public bezieht sich immer auf die individuelle Rechtsordnung eines Staates/Staatenverbundes
-
Maßstab des ordre public in Deutschland ist möglicherweise ein anderer als in anderen
Vertragsstaaten des UNÜ
-
Zwei Fallgruppen möglich:
(1) Aufhebungsantrag in Deutschland (Schiedsort) hat Erfolg
In diesem Fall kann der Schiedsspruch in keinem Vertragsstaat des UNÜ vollstreckt werden, Art. V Abs. 1 lit. e UNÜ.
(2) Aufhebungsantrag in Deutschland (Schiedsort) hat keinen Erfolg
Maßgeblich für die Vollstreckung ist der ordre public im Vollstreckungsstaat, Art.
V Abs. 2 lit. b UNÜ. Eine Gerichtsentscheidung am Schiedsort, die den Aufhebungsantrag abweist, weil der ordre public am Schiedsort gewahrt wurde, trifft
aber keine Aussage darüber, ob auch der ordre public im Vollstreckungsstaat gewahrt wurde. Ein entsprechender Einwand kann daher im Vollstreckungsverfahren
auch dann erhoben werden, wenn ein Gericht am Schiedsort einen Aufhebungsantrag abgelehnt hat.
7. Restitutionsgründe, § 580 ZPO
-
Grds. beachtliche Einwendungen gegen Schiedssprüche
-
Aber letztlich nur Teil des ordre public (s.o.)
-
Daher geringe praktische Bedeutung
8. Vollstreckungshindernis bei aufgehobenem Schiedsspruch, Art. V Abs. 1
lit. e UNÜ i.V.m. § 1061 Abs. 1 ZPO
-
Schuldner kann der Vollstreckung in Deutschland entgegenhalten, dass der Schiedsspruch vom Gericht des Schiedsortes aufgehoben wurde
-
Abweichende Regelungen möglich, Art. VII UNÜ (z.B. Art. IX Abs. 2 EuÜ: Aufhebung des Schiedsspruchs wegen Verletzung des ordre public entfaltet nur Wirkung am
Schiedsort, nicht in anderen Konventionsstaaten)
III.
Aufhebungsverfahren
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B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach
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Zuständigkeit des OLG, § 1062 Abs. 1 Nr. 4 ZPO
-
Beschlussverfahren, § 1063 ZPO
-
Einleitung nur auf Antrag, § 1059 Abs. 1 ZPO
-
Antragsfrist: 3 Monate, § 1059 Abs. 3 ZPO
-
Rechtsschutzinteresse erforderlich (regelmäßig bei der im Schiedsverfahren ganz oder
teilweise unterlegenen Partei vorhanden)
-
Ausschluss des Aufhebungsverfahrens durch bereits wirksame Vollstreckbarkeitserklärung, § 1059 Abs. 3 S. 3 ZPO
IV.
-
Wirkung der Aufhebung
Wiederaufleben der Schiedsvereinbarung nach Aufhebung des Schiedsspruchs „im
Zweifel“, § 1059 Abs. 5 ZPO
-
Abweichende Regelung durch Parteien in der Schiedsvereinbarung möglich
 Auch Beachtung eines stillschweigenden Parteiwillens möglich: Oft werden die
Parteien nach der Aufhebung eines Schiedsspruchs kein Vertrauen mehr in die
Schiedsvereinbarung haben, sondern lieber vor die ordentlichen Gerichte ziehen
wollen.
-
Zurückverweisung durch OLG ans Schiedsgericht „in geeigneten Fällen“ möglich, §
1059 Abs. 4 ZPO
• Vss: Anhörung der vor OLG unterlegenen Partei
• Kein geeigneter Fall bei Widerspruch gegen die Rückverweisung durch die vor
dem OLG unterlegene Partei
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B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach
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C. Europäisches und deutsches Kartellrecht
I. Kartellverbot, Art. 101 AEUV
1. Sachverhalt (aus studienabschließender Klausur im Wintersemester 2011/2012)
Das Unternehmen P stellt u. a. Kosmetika und Körperpflegeprodukte her. Zu den von P vertriebenen Marken gehören u. a. die Produkte Klorane, Ducray, Galénic und Avène. Sie werden im Rahmen eines selektiven Vertriebssystems hauptsächlich über Apotheken auf dem
französischen und dem europäischen Markt vertrieben.
Der Anteil von P am französischen Markt für diese Produkte beträgt 20 %. In den übrigen
Mitgliedsstaaten, in denen P die genannten Produkte vertreibt, beträgt der Marktanteil zwischen 10 und 15 %.
In den Vertriebsvereinbarungen für die genannten Produkte der Marken Klorane, Ducray,
Galénic und Avène ist vorgesehen, dass der Verkauf ausschließlich in einem physischen
Raum und in Anwesenheit eines diplomierten Pharmazeuten erfolgen darf. Für den Fall eines
Verstoßes sieht die Vereinbarung eine Vertragsstrafe in Höhe von … vor, die P von dem jeweiligen Vertriebshändler verlangen kann.
P begründet seine Vertriebsbedingungen mit der Art der betreffenden Produkte. Diese seien
auf besondere Hautprobleme, wie z.B. überempfindliche Haut, abgestimmt, bei denen das
Risiko einer allergischen Reaktion bestehe. Die physische Anwesenheit eines diplomierten
Pharmazeuten gewährleiste, dass ein Kunde den auf einer direkten Untersuchung seiner Haut,
Haare oder Kopfhaut fundierten Rat eines Fachmanns jederzeit einholen könne. Auch werde
das Risiko des Trittbrettfahrens durch andere Apotheker vermindert.
Der zugelassene Vertriebshändler V vertreibt die Kosmetika des P über das Internet. P sieht
dies als Verstoß gegen seine Vertriebsbedingungen an und verlangt von V Zahlung einer Vertragsstrafe.
V verweigert jedoch die Zahlung. Er ist der Ansicht, dass die Vertriebsbedingungen gegen
europäisches Wettbewerbsrecht verstoßen und somit nichtig seien. Insbesondere handele es
sich um eine Kernbeschränkung im Sinne des Art. 4 lit. c der Vertikal-GVO (Verordnung Nr.
330/2010), da Endverbrauchern die Möglichkeit genommen werde, die Produkte des P über
das Internet zu erwerben. Auch sei die in Art. 4 lit. c enthaltene Ausnahme nicht einschlägig,
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B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach
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da eine Internetseite nicht mit einer „nicht zugelassenen Niederlassung“ gleichzusetzen sei.
Der Internetvertrieb sei nämlich kein Vertriebsort, sondern vielmehr ein alternativer Vertriebsweg.
Kann P von V Zahlung einer Vertragsstrafe verlangen?
2. Lösungsvorschlag
P könnte gegen V einen Anspruch auf Zahlung einer Vertragsstrafe aus Art. 1.1/1.2. der allgemeinen Vertriebs- und Verkaufsbedingungen haben.
Dies setzt jedoch deren Wirksamkeit voraus. Art. 101 Abs. 2 AEUV könnte hier als Wirksamkeitshindernis entgegenstehen:
Nichtigkeit gemäß Art. 101 Abs. 2 AEUV?
I. Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 AEUV?
1. Vereinbarung zwischen Unternehmen
Adressaten des Kartellverbots sind Unternehmen und Unternehmensvereinigungen. Als Unternehmen gelten unabhängig ihrer Rechtsform alle Einheiten, die wirtschaftlich selbstständig
tätig sind. Sowohl P als auch die Händler, die von der Vertriebsvereinbarung betroffen sind
erfüllen diese Voraussetzung unproblematisch. Vereinbarungen i.S.d. Art. 101 Abs. 1 AEUV
können in Form von Verträgen oder auch eines bloßen gentlement’s agreements geschlossen
werden. Die Vertriebsvereinbarung ist eine direkte vertragliche Abrede zwischen P und seinen Händlern und stellt damit eine Vereinbarung i.S.d. Art. 101 Abs. 1 AEUV dar.2
2. Wettbewerbsbeschränkung: Beschränkung der Handlungsfreiheit der Apotheker (Einzelhändler)
Die Vertriebsvereinbarung müsste „eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des
Wettbewerbs“ bezwecken oder bewirken. Wenn feststeht, dass eine Vereinbarung einen wettbewerbswidrigen Zweck verfolgt, brauchen ihre Auswirkungen auf den Wettbewerb nicht
2
Da es sich um einen unproblematischen Fall handelt, sind längere Ausführungen zum funktionalen Unternehmensbegriff und zur Definition der Vereinbarung entbehrlich.
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geprüft zu werden.3 Der wettbewerbsbeschränkende Zweck ist aus dem Inhalt der Vereinbarung und den objektiven Zielen, die sie zu erreichen sucht, zu ermitteln, nicht nach den subjektiven Vorstellungen der Parteien.4
Die in Rede stehende Vertriebsvereinbarung (Verkauf in einem physischen Raum in Anwesenheit eines diplomierten Pharmazeuten) führt für die Vertriebshändler de facto zu einem
Verbot sämtlicher Verkaufsformen über das Internet. Dadurch wird die Möglichkeit der Vertriebshändler, die Produkte auch außerhalb ihres Tätigkeitsbereichs zu verkaufen, und damit
einhergehend die (wettbewerbliche) Handlungsfreiheit erheblich eingeschränkt.
3. Zwischenstaatlichkeit: Geeignetheit und Spürbarkeit
Der zwischenstaatliche Handel ist aufgrund des gemeinschaftsweiten Vertriebsnetzes spürbar
berührt.
4. Erheblichkeitsschwelle (de minimis)
Bei der in Rede stehenden Vertriebsvereinbarung handelt es sich um eine Vertikalvereinbarung. Bezugnehmend auf die Bagatell-Bekanntmachung5 der Kommission ist die Spürbarkeitsgrenze daher dann nicht überschritten, wenn die Marktanteile aller an der Vereinbarung
beteiligten Unternehmen auf allen betroffenen relevanten Märkten unter 15 % liegen. Hier
sind die Spürbarkeitsschwellen jedenfalls überschritten. P hat auf dem französischen Markt
bereits einen Marktanteil von 20 %. der Kommission überschritten. Vom Überschreiten der
Erheblichkeitsschwelle ist daher auszugehen.
3
EuGH, 13.7.1966, Grundig/Consten, Slg. 1966, 321, 390 f)
4
EuGH, 20.11.2008, BIDS, WuW/E EU-R 1509, 1511 Rn 21.
5
Bekanntmachung der Kommission vom 22.12.2001 über Vereinbarungen von geringer Bedeutung, die den
Wettbewerb gemäß Artikel 81 Abs. 1 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft nicht spürbar
beschränken, ABl. 2001 C 368/07, vgl. insbesondere Rz. 7 lit. b.
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II. Freistellung gemäß Art. 101 Abs. 3 AEUV?
1. Gruppenfreistellungsverordnung?6
Nach Art. 101 Abs. 3 AEUV können Gruppen von Vereinbarungen vom Verbot des Art. 101
Abs. 1 AEUV freigestellt werden (Gruppenfreistellungsverordnungen). In Betracht kommt
hier eine Freistellung nach Art. 2 Abs. 1 der VO 330/2010 (sog. Vertikal-GVO)7.
a.
Sachlicher Anwendungsbereich, Art. 1 Abs. 1 lit. a, b VertikalGVO (Vertikalvereinbarung und -beschränkung, keine vorrangig anwendbaren Verordnungen)
Dafür müsste zunächst der Anwendungsbereich der Vertikal-GVO eröffnet sein. Grundsätzlich erfasst die Vertikal-GVO sämtliche Vereinbarungen im Vertikalverhältnis, Art. 1 Abs. 1
lit. a Vertikal-GVO. Die Vertriebsvereinbarungen bestehen zwischen P und dessen Händlern,
und damit zwischen Unternehmen, die auf unterschiedlichen Stufen der Produktions- und
Vertriebskette tätig sind. Sie betreffen zudem die Bedingungen, zu denen die Händler die Waren verkaufen und weiterverkaufen müssen. Damit handelt es sich um eine vertikale Vereinbarung.
Diese vertikale Vereinbarung enthält auch eine vertikale Beschränkung i.S.d. Art. 1 Abs. 1 lit
b Vertikal-GVO. Der Anwendungsbereich ist damit eröffnet.
Vorrangige Verordnungen sind nicht einschlägig, Art. 2 Abs. 5 GVO.
b.
Marktanteilsschwellen, Art. 3 Abs. 1 GVO (bis zu 30 % Marktanteil)
Die Schwellenwerte des Art. 3 Abs. 1 Vertikal-GVO sind nicht überschritten, da weder P
noch dessen Abnehmer einen Marktanteil von über 30 % an dem relevanten Markt haben.
6
Beachte: Bevor auf eine Einzelfreistellung nach Art. 101 Abs. 3 AEUV eingegangen wird, ist in der Klausur
immer zunächst zu untersuchen, ob eine Gruppenfreistellung nach einer GruppenfreistellungsVO in Betracht
kommt.
7
Verordnung (EU) Nr. 330/2010 der Kommission vom 20.4.2010 über die Anwendung von Artikel 101 Absatz
3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf Gruppen von vertikalen Vereinbarungen und
abgestimmten Verhaltensweisen.
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c.
Zwischenergebnis
Die Vertriebsvereinbarung ist damit grundsätzlich freigestellt.
d.
Keine Kernbeschränkung gemäß Art. 4 und 5 GVO?
Es könnte jedoch eine Ausnahmebestimmung gem. Art. 4 oder 5 Vertikal-GVO eingreifen.8
In Betracht kommt insbesondere Art. 4 lit. c, wonach Beschränkungen des aktiven oder passiven Verkaufs an Endverbraucher durch auf der Einzelhandelsstufe tätige Mitglieder eines
selektiven Vertriebssystems eine Kernbeschränkung darstellen und damit nicht freistellungsfähig sind.
Durch das in der Vertriebsvereinbarung enthaltene Verbot des Internetvertriebs wird zumindest die Beschränkung des passiven Verkaufs9 an Endverbraucher beschränkt, die über das
Internet kaufen möchten und außerhalb des physischen Einzugsgebiets der jeweiligen zum
Vertriebsnetz zugehörigen Apotheke ansässig sind.
Das Verbot des Internetvertriebes ist auch nicht mit einem Verbot, Geschäfte nicht von einer
nicht zugelassenen Niederlassung aus zu betreiben, vergleichbar. Denn der Begriff „zugelassene Niederlassungen“ erfasst nur Verkaufsstellen, in denen Direktverkäufe vorgenommen
werden. Insofern gilt auch nicht die Ausnahme des Art. 4 lit. c Hs. 2.
Hier: Schwarze Klausel („Kernbeschränkung“) gemäß Art. 4 c Vertikal-GVO erfüllt.
2. Einzelfreistellung?
Die Vertriebsvereinbarung könnte aber im Wege der Einzelfreistellung gem.
Art. 101 Abs. 3 AEUV vom Verbot des Art. 101 Abs. 1 AEUV auszunehmen sein.
Fraglich ist, ob eine Kernbeschränkung überhaupt in den Genuss einer Einzelfreistellung
kommen kann. Dies ist jedoch zu bejahen, da die Gruppenfreistellungsverordnung ansonsten
8
Die fünf Kernbeschränkungen des Art. 4 Vertikal-GVO beschränken den Wettbewerb jeweils so stark, dass bei
ihrem Vorliegen die gesamte Vereinbarung unwirksam ist. Art. 5 Vertikal-GVO enthält demgegenüber die sogenannten „grauen Klauseln“. Im Unterschied zu den schwarzen Klauseln des Art. 4 Vertikal-GVO können diese
von der zugrunde liegenden Vereinbarung abgetrennt werden, sodass nur der von Art. 5 Vertikal-GVO betroffene Teil einer Vereinbarung unwirksam ist. Der nichtbetroffene Teil der Vereinbarung kann grds. nach der Vertikal-GVO freigestellt werden.
9
Siehe auch die Begriffsbestimmung in den Vertikal-Leitlinien der Kommission (vom 19.5.2010, Abl. Nr. C 130
S. 1) Tz. 50: „Erledigung unaufgeforderter Bestellungen einzelner Kunden“, d. h. ohne gezielte Ansprache dieser
Kunden.
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indirekt den Charakter einer Gruppenverbotsverordnung erlangen würde, die das europäische
Recht nicht kennt.
a.
Verbesserung der Warenerzeugung oder -verteilung oder Förderung des technischen Fortschritts (vgl. „Geeignetheit“)
Voraussetzung einer Freistellung im Wege der Einzelbeurteilung ist zunächst, dass die wettbewerbsbeschränkende Vereinbarung zur Verbesserung der Warenerzeugung oder -verteilung
oder zur Förderung des technischen oder wirtschaftlichen Fortschritts beiträgt.
Die in der Vertriebsvereinbarung enthaltene Verpflichtung, dass in den Verkaufsstellen mindestens eine Person mit einem ausgestellten oder anerkannten Apothekerdiplom ständig physisch anwesend ist, begründet die P mit der Art ihrer Produkte, die eine fachliche Beratung
erfordere. Die Produkte seien auf besondere Hautprobleme, wie z.B. überempfindliche Haut,
abgestimmt, bei denen das Risiko einer allergischen Reaktion bestehe.
Die Verpflichtung führt demnach zu einer besser auf die Bedürfnisse des Kunden abgestimmten Verkaufs der jeweiligen Produkte und steigert allgemein das Serviceniveau. Dies stellt
einen typischen Effizienzvorteil dar, wie ihn auch die Leitlinien zur Anwendung von Art. 81
Abs. 3 EG-Vertrag (jetzt: Art. 101 Abs. 3 AEUV) im Auge hatten.10
Zugleich wird einer Verminderung dieses Serviceniveaus infolge von Trittbrettfahrern entgegengewirkt. Auch dies stellt (zumindest mittelbar) einen Effizienzvorteil dar. Trittbrettfahrer
treten typischerweise bei Dienstleistungen auf, die ein Händler vor Vertragsschluss erbringt
und deren Inanspruchnahme nicht in Rechnung gestellt wird. In solchen Fällen könnte der
Kunde die intensive Beratung z.B. im vorliegenden Fall durch einen Apotheker in Anspruch
nehmen und danach das Produkt von einem günstigeren Anbieter ohne Serviceleistung erwerben. Folge wäre, dass preisorientierte Anbieter von den absatzfördernden Vertriebsleistungen
serviceorientierter Anbieter profitieren, ohne dass diese für ihre Leistung entgolten werden.
Dies kann wiederum dazu führen, dass die serviceorientierten Anbieter ihre Serviceleistungen
reduzieren, womit das Serviceniveau allgemein verschlechtert würde.
Auch im vorliegenden Fall scheint die Gefahr von Trittbrettfahrern nicht ausgeschlossen. So
könnte der Kunde sich in einer Apotheker fachkundig beraten lassen, um danach das empfoh-
10
Vgl. Leitlinien zur Anwendung von Artikel 81 Absatz 3 EG-Vertrag, Rz. 72.
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lene Produkt günstiger über das Internet zu bestellen. Andererseits wird ein Apotheker auch
bei Auftreten von Trittbrettfahrern weiterhin eine umfassende Beratung für alle von ihm anebotenen Produkte leisten. Ein Apotheker wird bei seiner Beratung letztlich auch nur schwer
differenzieren können. Verkauft sich das Produkt allerdings nicht mehr (weil Kunden das
Produkt nun über das Internet bestellen), so besteht die Gefahr, dass Apotheker das Produkt
aus ihrem Sortiment herausnehmen. Im Ergebnis führt dies zu einem kompletten Wegfall der
Beratung.
Anm.: Gegen die hier dargestellten Effizienzvorteile könnte vorgebracht werden, dass die
Sicherung von Beratungsleistungen bzw. die Steigerung des allgemeinen Serviceniveaus nur
als positiver Effekt gewertet werden kann, wenn es sich um Waren handelt, bei denen zusätzliche Beratungsleistungen aus Sicht der Konsumenten wünschenswert sind. Bearbeiter könnten anführen, dass aufgrund des massenhaften Angebots solcher Pflegeprodukte in anderen
Verkaufsstellen (z.B. Drogeriemärkten u.a.) eine Beratung typischerweise vom Kunden nicht
mehr erwartet wird. Dem lässt sich jedoch entgegenhalten, dass es sich vorliegend um Pflegeprodukte für spezielle Hautprobleme handelt. Der Kunde also doch zumindest anfangs (z.B.
beim ersten Kauf eines solchen Produkts) einer Beratung bedarf und sie auch erwartet.
Gegen die Annahme einer Gefahr durch Trittbrettfahrer könnte von Bearbeitern angeführt
werden, dass aufgrund der Kosten, die mit Einrichtung und Betrieb einer Website auf hohem
Niveau verbunden sind, die Internethändler sich die Investitionen, die von Verkaufsstellen
unterhaltenden Vertriebshändlern getätigt wurden, nicht als Trittbrettfahrer zunutze machen.
Es ist allerdings davon auszugehen, dass die Kosten des Betreibens einer Website langfristig
deutlich geringer sein dürften, als die der Serviceleistung in Form der fachkundigen Beratung.
b.
Unerlässlichkeit der den beteiligten Unternehmen auferlegten
Beschränkungen für die Zielverwirklichung (vgl. „Erforderlichkeit“)
Ferner müssten die Beschränkungen unerlässlich sein für die Erzielung der Effizienzgewinne.
Es geht dabei um die Frage, ob die Effizienzgewinne nicht auch mit weniger wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarungen erzielt werden können.
Zu denken wäre u.a. an detaillierte Kundeninformationen (in Form von Texten, Bildern, interaktiven Elementen u.a.), die eine Internetseite bereithalten könnte. Dies ist jedoch mit der
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konkret auf den einzelnen Kunden zugeschnittenen und unmittelbaren Beratung eines Apothekers nicht gleichzusetzen.
Denkbar ist aber auch eine vertragliche Lösung: P könnte die Apotheken im Wege eines Servicevertrages dazu verpflichten, die gewünschten Beratungsleistungen zu erbringen, und sie
dafür durch Rabatte o.ä. direkt entlohnen. Dies würde ein entsprechendes Serviceniveau gewährleisten. Da dieses Mittel bei gleicher Effektivität als weniger einschneidend zu beurteilen
ist, ist das in den Vertriebsbedingungen enthaltene faktische Internetvertriebsverbot nicht als
unerlässlich anzusehen.
Anm.: Bei guter Argumentation sind andere Ansichten gut vertretbar.
c.
Angemessene Beteiligung der Verbraucher am Gewinn (vgl.
„Verhältnismäßigkeit i. e. S.)
Die Verbraucher11 müssen zudem eine angemessene Beteiligung an den durch die beschränkende Vereinbarung entstehenden Effizienzgewinn erhalten. „Angemessene Beteiligung“
bedeutet dabei, dass die Weitergabe der Vorteile die tatsächlichen oder voraussichtlichen negativen Auswirkungen mindestens ausgleicht, die durch die Wettbewerbsbeschränkung gem.
Art. 101 Abs. 1 AEUV entstehen.
Die oben dargestellten Effizienzvorteile sind demnach mit den sich aus der Vertriebsvereinbarung ergebenden Nachteilen abzuwägen. Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass die
Verpflichtung zur physischen Anwesenheit eines Apothekers de facto zu einem Verbot des
Internetvertriebes führt. Der Internetvertrieb kann jedoch erhebliche Vorteile mit sich bringen,
denn er eröffnet dem Kunden die Möglichkeit, die Produkte von zu Hause aus zu bestellen,
ohne sich dafür an einen anderen Ort begeben zu müssen. Ferner eröffnet es den Händlern die
Möglichkeit die Produkte auch außerhalb ihres unmittelbaren Tätigkeitsbereichs zu vertreiben.
Diese Nachteile überwiegen die genannten Effizienzvorteile. Denn der Ausschluss einer ganzen Vertriebsform (Internetvertrieb) ist stärker zu gewichten als ein teilweiser Anstieg in der
11
Verbraucher i.S.d. Art. 101 Abs. 3 AEUV sind nicht nur Verbraucher i.S.d. § 13 BGB, sondern alle unmittelbaren und mittelbaren Nutzer der Produkte, auf die sich die Vereinbarung bezieht. Das können neben Endkunden
sein: Produzenten, die die Ware als Vorprodukt benötigen; Großhändler und Einzelhändler.
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Beratungsqualität. Zu berücksichtigen ist dabei, dass auch bei Zulassung des Internetvertriebs
davon ausgegangen werden kann, dass Kunden Beratungsleistungen sowohl in Apotheken als
auch bei Ärzten in Anspruch werden nehmen können. Eine Beratung ist somit nicht gänzlich
ausgeschlossen.
Anm.: Ein anderes Ergebnis der Abwägung ist hier durchaus vertretbar.
e.
Keine Ermöglichung der Ausschaltung des Wettbewerbs für einen wesentlichen Teil der betreffenden Waren.
Durch das faktische Internetverbot könnte für einen wesentlichen Teil der betreffenden Waren
die Ausschaltung des Wettbewerbs ermöglicht werden. Hierfür spricht, dass ein kompletter
Vertriebsweg ausgeschaltet wird, was zusätzlichen Wettbewerb erheblich einschränkt.
Gegen die Annahme einer möglichen Ausschaltung des Wettbewerbs spricht aber, das P lediglich einen geringen Marktanteil innehat und reger Interbrand-Wettbewerb vorherrscht.
III. Ergebnis
Die in der Vertriebsvereinbarung enthaltene Klausel ist gem. Art. 101 Abs. 2 AEUV nichtig.
P hat gegen V somit keinen Anspruch auf Zahlung einer Vertragsstrafe.
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[Exkurs 1: Kartellbehördliche Verfügungen
1. Abstellungsverfügungen, Art. 7 VO 1/2003 bzw. § 32 GWB
2. Bußgeldentscheidungen, Art. 23 VO 1/2003 bzw. §§ 81 f. GWB
3. Verpflichtungszusagenentscheidungen Art. 9 VO 1/2003 bzw. § 32 b GWB
4. Einstweilige Maßnahmen Art. 8 VO 1/2003 bzw. § 32a GWB
5. Feststellung der Nichtanwendbarkeit Art. 10 VO 1/2003/
Kein Anlass zum Tätig werden § 32c GWB
Exkurs 2: Verpflichtungszusagen und Verhältnismäßigkeit: Die Alrosa-Rechtsprechung

Verfahrensgang
o
EuG, Urteil v. 11.7.2007, T-170/06 – Alrosa, WuW EU-R S. 1284, 1291
o EuGH, Urteil v. 29.6.2010, C-441/07 P - Alrosa, Slg. I-2010, S. 6012, 6033

Problem: Verhältnismäßigkeitsmaßstab bei Verpflichtungszusagenentscheidungen
nach Art. 9 VO 1/2003?
o EuG: Gleicher Umfang wie Abstellungsverfügungen nach Art. 7 VO 1/2003
o EuGH: Deutlich großzügigerer Maßstab als bei Abstellungsverfügungen nach
Art. 7 VO 1/2003
Arg.: Freiwilligkeit der Verpflichtungszusagen
CONTRA: Erpressungspotential, Rechtsstaatlichkeit, Drittinteressen]
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II.
Private Schadensersatzklagen wegen Verstoßes gegen das Kartellrecht
3. Sachverhalt (aus studienabschließender Klausur WS 2011/12)
P, die ihren Sitz in Frankreich hat, produziert neben Kosmetika das (nichtverschreibungspflichtige) Medikament M, mit dem sich Akne behandeln lässt. Die Europäische Kommission
hat in einer Entscheidung festgestellt, dass P im Zeitraum Februar 2008 – Februar 2010 zusammen mit sämtlichen anderen europäischen Herstellern die Preise für Akneprodukte bei
einem Treffen der Vorstände in Luxemburg kartellrechtswidrig abgesprochen hat. P hat gegen
die Entscheidung der Kommission Klage vor dem Gericht erster Instanz eingelegt.
Der in Würzburg ansässige Apotheker A will wissen, vor welchem Gericht er mit welcher
Aussicht auf Erfolg von P Schadensersatz verlangen kann. A, der neben dem Akneprodukt
des P außerdem dasjenige eines Konkurrenten des P, X, verkauft, macht wahrheitsgemäß geltend, die im Februar 2008 erfolgten Preiserhöhungen in Höhe von 20 Prozent seien von seinem in Frankfurt ansässigen Pharmagroßhändler eins zu eins an den Einzelhandel weitergegeben worden. Er selbst habe es nicht gewagt, seine Ladenpreise entsprechend zu erhöhen.
Insgesamt habe er nur die Hälfte der Mehrbelastung an seine Kunden weitergegeben. Dies sei
ihm nur möglich gewesen, weil insgesamt das Preisniveau für Akneprodukte im Einzelhandel
entsprechend gestiegen sei.
Es ist zu unterstellen, dass das französische Kartelldeliktsrecht dem deutschen entspricht.
Hat eine Klage des A Aussicht auf Erfolg?
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4. Lösungsvorschlag
1. Internationale Zuständigkeit:
a. Anwendungsbereich der EuGVVO
Der Anwendungsbereich der EuGVVO ist eröffnet (sachlich, zeitlich, räumlich-persönlich),
Art. 1 Abs. 1, Abs. 2, Art. 4 EuGVVO)
b. Allgemeiner Gerichtsstand
Allgemeiner Gerichtsstand der P ist nach Art. 2 Abs. 1, Art. 60 lit. a) EuGVVO Frankreich.
c. Besonderer Gerichtsstand der unerlaubten Handlung nach Art. 5 Nr. 3 EuGVVO
i. Meinungsstand
Ferner kommt der besondere Gerichtsstand der unerlaubten Handlung nach Art. 5 Nr. 3
EuGVVO in Betracht. Ein Kartellverstoß ist eine unerlaubte Handlung i.S.d. Art. 5 Nr. 3
EuGVVO.12 Damit ist der Ort des schädigenden Ereignisses Gerichtsstand. In Betracht kommen grundsätzlich eine Anknüpfung an den Handlungsort als auch eine an den Erfolgsort.
Es ergeben sich im Kartelldeliktsrecht aber erhebliche Schwierigkeiten diese Orte zu bestimmen.13
Von den Bearbeitern ist insofern eine Auseinandersetzung mit den möglichen
Lösungen zu erwarten. Die spezifischen Probleme der Anknüpfung im Kartellrecht sollten zumindest den Grundzügen an Hand der Auslegungsgrundsätze zu den besonderen Gerichtsständen der EuGVVO diskutiert und gelöst
werden:14
(1) Handlungsortanknüpfung:
a) e.A.: Ort der kartellrechtswidrigen Absprache:
Eine Ansicht knüpft an den Ort der kartellrechtswidrigen Absprache als Handlungsort, hier
Luxemburg, an. Dagegen spricht aber, dass er weder dem Kriterium der Sach- und Beweisnä-
12
Rauscher, EuZPR/ EuIPR 2011, Brüssel I VO, Art. 5 EUGVO, Rn. 79 m.w.N..
13
Siehe hierzu Maier, Marktortanknüpfung im internationalen Kartelldeliktsrecht, 2011, S. 124 ff.
14
Vgl. auch Erwägungsgründe 11 und 12 der EuGVVO.
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he entspricht noch für den (potentiell) Kartellgeschädigten vorhersehbar ist. Außerdem würde
den Kartellanten die Möglichkeit eröffnet, einen für sie günstigen Handlungsort zu wählen.
b) a.A.: Ort der Durchführung der kartellrechtswidrigen Absprache:15
Andere sehen den Ort der Durchführung der kartellrechtswidrigen Absprache als sinnvollen
Anknüpfungspunkt an. Nach dieser Meinung könnte Frankreich als Durchführungsort angenommen werden, da hier der überhöhte Kartellpreis durch P festgelegt wurde.
Gegen eine Anknüpfung an den Ort der Durchführung der kartellrechtswidrigen Absprache
als Handlungsort spricht aber, dass gerade bei der Schadensersatzklage des mittelbaren Abnehmers keine besondere Sach- und Beweisnähe in Bezug auf den entstandenen Schaden besteht. Außerdem ist der Ort der Umsetzung nicht hinreichend sicher zu bestimmen.16 Schließlich ist zu bedenken, dass die Durchführung eines Preiskartells notwendigerweise ein konzertiertes Vorgehen voraussetzt. Insofern müssten alle zu Kartellpreisen erfolgten Angebote aller
beteiligten Kartellanten als Durchsetzungsorte angenommen werden. Wegen dieser Abgrenzungsprobleme ist diese Meinung abzulehnen.
c) a.A.: Ort des Sitzes der Beklagten:17
Eine wiederum andere Ansicht knüpft am Sitz der Beklagten an, hier Frankreich.
Wenngleich die Anknüpfung an den Ort des Sitzes des Beklagten geeignet ist, einer Multiplikation der Gerichtsstände entgegenzuwirken, ist auch er als Handlungsort abzulehnen. Zum
einen ist er mit dem allgemeinen Gerichtsstand identisch, zum anderen weist er mindestens
hier keine besondere Sach- und Beweisnähe auf, da der Schaden des A erst durch den Vertragsschluss mit dem Großhändler entstanden ist.
15
eine solche Anknüpfung erwägt auch Mäsch, Vitamine für Kartellopfer – Forumshopping im europäischen
Kartelldeliktsrecht, IPrax 2005, 509, 514.
16
Maier, a.a.O., S.133 ff.
17
Geimer, in: Zöller, 28. Aufl., Anh I, Art. 5, Rn. 27; Mäsch, Vitamine für Kartellopfer – Forumshopping im
europäischen Kartelldeliktsrecht, IPrax 2005, 509, 515.
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d) a.A.: Marktortanknüpfung:
In Bezug auf den Handlungsort ist Marktort der Ort, auf dessen Markt die Handlung des Kartellanten ausgerichtet ist. Während bei unmittelbar Kartellgeschädigten regelmäßig ein
Gleichlauf des Marktortes der schädigenden Handlung mit dem des Erfolgs vorliegt, 18 ist dies
bei mittelbar Geschädigten wie dem A nicht notwendigerweise der Fall. Insofern muss hier
zur Bestimmung des für die Handlung maßgebenden Markts auf den Markt abgestellt werden,
auf dem sich der Frankfurter Großhändler und P begegnen. Hier hat P die kartellrechtswidrigen Preise schon beim Vertragsschluss mit dem Großhändler durchgesetzt. Es lässt sich jedoch nicht klären, auf welchem nationalen Markt sich die P und der Großhändler zum Geschäftsabschluss begegnet sind. In Betracht kommen insofern lediglich der deutsche und der
französische Markt.
(2) Erfolgsortanknüpfung in Form der Marktortanknüpfung:19
Beim Anknüpfen am Erfolgsort ist der Ort gemeint, dessen Markt bei der Umsetzung des
Kartells betroffen ist (Auswirkungsprinzip). Die Preisabsprache wirkt sich vorliegend nicht
alleine auf den deutschen Markt, sondern auf alle nationalen Märkte des Absatzgebietes von P
und X aus. Daher ist vorliegend auf den Markt abzustellen, auf dem der Geschädigte tätig ist.
Es ist also festzustellen, welchem Markt der Vertragsschluss zwischen A und dem Großhändler zuzuordnen ist, da erst durch den Vertragsschluss die Preisabsprache sich schädigend für
A ausgewirkt hat. Dies ist der deutsche Markt, da beide Vertragspartner davon ausgehen,
dass sie ein Geschäft in Bezug auf den deutschen Absatzmarkt tätigen.
Die Marktortanknüpfung als Erfolgsortsanknüpfung erscheint vorzugswürdig, da sie den
Gerichtsstand für die Beteiligten vorhersehbar macht und die größtmögliche Sach- und Beweisnähe garantiert.20 Zwar birgt die Marktortanknüpfung das Problem der Bestimmung eines nationalen Marktes. Welcher nationale Absatzmarkt betroffen ist lässt sich aber durch die
Geschäftsbeziehungen der Geschädigten und die näheren Umstände im Einzelfall hinreichend
bestimmt und vorhersehbar klären.
18
Maier, a.a.O., S. 138.
19
Vgl. Maier, a.a.O., S. 144 ff.
20
Maier a.a.O., S. 152 ff; so im Ergebnis auch Geimer, ebd.
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Ob eine gesonderte Anknüpfung an den Marktort der schädigenden Handlung sinnvoll ist, ist
zumindest deswegen fraglich, weil zu dem Markt, auf dem sich der Großhändler und P treffen, im Verhältnis zwischen A und P keine besondere Beziehung besteht. Außerdem ist fraglich, ob eine solche Anknüpfung tatsächlich eine Beweiserleichterung bedeuten würde, da ein
Zwischenhändler selbst ein wirtschaftliches Interesse an den erhöhten Kartellpreisen haben
kann. Der Zwischenhändler ist in solchen Fällen eher dem Lager der Kartellanten zuzurechnen. Eine Entscheidung kann hier aber offen bleiben, da ersichtlich entweder der deutsche
oder der französische Markt in Betracht kommen, also entweder ein Gleichlauf mit dem allgemeinen Gerichtsstand Frankreich oder dem des Erfolgsortes i.S.d. Marktortes des Absatzes
an den A Deutschland vorliegt.
ii. Zwischenergebnis
Besonderer Gerichtsstand nach Art. 5 Nr. 3 EuGVVO ist Deutschland.
d. Ergebnis
International zuständig sind somit französische sowie deutsche Gerichte.
2. Anwendbares Recht:
a. Vertragliche Anspruchsgrundlagen (Anwendbarkeit Rom I-VO)
Vertragliche Anspruchsgrundlagen kommen nicht in Betracht. A und P sind allein durch eine
Vertragskette, nicht aber durch einen Vertrag miteinander verbunden.
b. Deliktischer Anspruch (Anwendbarkeit Rom II-VO)
i. Anwendbarkeit der Rom II-VO, Art. 1 Rom II-VO
Vorliegend handelt es sich um einen deliktischen Anspruch, im Rahmen dessen eine Verbindung des deutschen und des französischen Rechts gegeben ist, Art. 1 Rom II-VO. Ein Ausnahmefall nach Art. 1 Abs. 1 S. 2, Abs. 2 Rom II-VO kommt nicht in Betracht. Die Rom IIVO ist damit anwendbar.
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ii. Anwendung des richtigen nationalen Rechts, Art. 6 Rom II-VO
Die Kartellabsprache ist ein den Wettbewerb einschränkendes Verhalten i. S. d. Art. 6 Abs. 3
Rom II-VO. Entsprechend dem Auswirkungsprinzip21 ist das Recht des Staates anzuwenden,
dessen Wettbewerb beeinträchtigt ist. Hier ist zumindest auch der deutsche Markt beeinträchtigt, da sich die Kartellabsprache gerade in der Preisbildung im Einzelhandel, der Apotheke
des A, auswirkt.
Nach Art. 6 Abs. 3 lit. b) EuGVVO kann A, wenn er in Frankreich klagt, allerdings verlangen, dass französisches Kartelldeliktsrecht zur Anwendung kommt. Dies macht im Ergebnis
keinen Unterschied, da laut Bearbeitervermerk zu unterstellen ist, dass das französische Recht
dem deutschen entspricht.
3. Anwendung des deutschen Rechts
a. Anspruchsgrundlage: § 33 Abs. 3 GWB
In Anwendung des deutschen Rechts kommt vorliegend ein kartelldeliktsrechtlicher Schadensersatzanspruch nach § 33 GWB in Betracht.
i. Problem: Anspruchsberechtigung indirekter Abnehmer:
Fraglich ist zunächst, ob A als bloßer mittelbarer Abnehmer überhaupt anspruchsberechtigt
ist.
Der Bearbeiter sollte sich an diesem Punkt mit der Rechtsprechung des BGH
zu dieser Problematik auseinandersetzen (BGH, Urt. v. 28.06.2011, KZR 75/10
„ORWI“); Streitentscheid unter Abwägung u.a. folgender Argumente:
(1) e.A.: nur der unmittelbaren Marktgegenseite steht ein Schadensersatzanspruch zu (Rz. 20)
Nach einer Ansicht steht nur der unmittelbaren Marktgegenseite ein Schadensersatzanspruch
zu. Hier könnte dann nur der Großhändler gegenüber P einen Schaden geltend machen. Zur
21
Rauscher, EuIZVR/ EuIPR 2010, Rom I/ Rom II, Art. 6 Rom II-VO, Rn. 50; vgl. auch Erwägungsgrund 22 zu
Rom II-VO.
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Begründung weisen die Vertreter dieser Ansicht darauf hin, dass andernfalls die Zahl der
möglichen Anspruchsberechtigten vervielfacht würde. So bestünde die Gefahr einer unverhältnismäßigen Inanspruchnahme des Schädigers (Rz. 27). Außerdem würde – eine Verweigerung des Abwälzungseinwands (passing on-defense) vorausgesetzt – die Schadensberechnung praktikabler werden. Ferner entspreche es dem Präventionsgedanken des Kartellrechts
„die Schadensersatzansprüche beim Direktabnehmer zu konzentrieren, der den besten Zugang
zu den für die Substantiierung der Klage erforderlichen Informationen habe und am ehesten
das verbotene Verhalten und die Höhe von Preisaufschlägen beweisen könne.“ (vgl. Rz. 28)
(2) a.A.: Auch Folgeabnehmern steht als Kartellgeschädigten ein Anspruch
zu (Rz. 21)
Nach einer anderen Ansicht steht dagegen auch Folgeabnehmern als Kartellgeschädigten ein
Schaden zu. So blieben die schädlichen Wirkungen eines Kartells häufig nicht auf die unmittelbare Marktgegenseite beschränkt(Tz. 26). Indirekte Abnehmer generell von der Anspruchsberechtigung auszunehmen hätte zur Folge, gerade jenen Ansprüche zu verwehren, die häufig
in erster Linie durch Kartelle oder verbotene Verhaltensweisen geschädigt werden (Rz. 26).
Eine unzumutbare Inanspruchnahme des Geschädigten könne über die Grundsätze der Vorteilsausgleichung bei den einzelnen Geschädigten vermieden werden, wenn die unmittelbar
Geschädigten die Preiserhöhung tatsächlich an die mittelbar Geschädigten weitergeben konnten (Rz. 27). Ebenfalls denkbar sei ein Innenausgleich zwischen den Geschädigten (Rz. 22).
Angesichts der Bedeutung des Kartellverbots für die Wirtschaftsordnung sei es außerdem
geboten, denjenigen gesetzestreuen Marktteilnehmern deliktsrechtlichen Schutz zu gewähren,
auf deren Kosten ein kartellrechtlich verbotenes Verhalten praktiziert wird (Rz. 25). Einem
Geschädigten dürfe ein Schadensersatzanspruch nicht von vornherein mit der Begründung
verwehrt werden, dass ein Nachweis seiner Voraussetzungen Schwierigkeiten bereitet (Rz.
27). Schließlich würden die direkten Abnehmer nicht selten wenig oder kein Interesse daran
haben, Schadensersatz von ihren kartellangehörigen Lieferanten zu verlangen (Rz. 30) (langjährige Geschäftsbeziehungen; eigene wirtschaftliche Vorteile etc. vgl. Rz. 33). Nach Art. 12
Abs. 1 der neuen Richtlinie zu Kartellschadensersatzklagen22 haben die Mitgliedstaaten sicherzustellen, dass auch mittelbare Abnehmer eines Kartellanten Schadensersatz verlangen
22
Richtlinie 2014/104/EU v. 26.11.2014, Abl. L 349/1, abrufbar u.a. unter http://kartellblog.de/wordpress/wpcontent/uploads/richtlinie-schadensersatz-deutsch.pdf.
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können. Die Richtlinie ist bis zum 27.12.2016 ins deutsche nationale Recht umzusetzen. Die
Anerkennung eines Schadensersatzanspruchs mittelbarer Abnehmer im Kartellrecht entspricht
aber bereits jetzt der Rechtsprechung des BGH in Sachen ORWI.
Nach alldem ist auch indirekten Abnehmern eine Anspruchsberechtigung im Rahmen des §
33 Abs. 3 GWB einzuräumen.
ii. Kartellverstoß
Ein Kartellverstoß nach Art. 101 AEUV bzw. § 1 GWB liegt vor. Zwar folgt eine Bindungswirkung der Entscheidung der Kommission nicht aus § 33 Abs. 4 GWB, da diese Vorschrift
die Bestandkraft der kartellbehördlichen Entscheidung voraussetzt. Hier ist eine Klage der P
gegen die Kommissionsentscheidung vor dem EuG anhängig. Jedoch ergibt sich eine Bindungswirkung an den in der Entscheidung festgestellten Kartellrechtsverstoß aus Art. 16 VO
1/2003. Für Art. 16 VO 1/2003 kommt es auf Bestandskraft gerade nicht an.23 In der Praxis
würde ein nationaler Richter allerdings das Verfahren aussetzen und die Bestandskraft der
Kommissionsentscheidung abwarten.
iii. Verschulden der P: Vorsatz
iv. Schaden des A, § 249 ff BGB:
Die Schadensberechnung erfolgt auch im Kartelldeliktsrecht grundsätzlich nach der Differenzhypothese, jedoch ist die Ermittlung der hypothetischen Vermögensmasse des Geschädigten praktisch mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden. Regelmäßig muss der Schaden
nach § 287 ZPO vom Gericht geschätzt werden. In der Praxis üblich ist die Berechnung/Schätzung des Schadens über die Preisüberhöhung:
a. Preisüberhöhungsschaden (damnum emergens)
i. Schadensentstehung
Der Schaden liegt im Vertragsschluss Großhändler – Einzelhändler (A) zu einem überhöhten
Preis. Die Differenz zwischen tatsächlich verlangtem (Kartell)preis und hypothetischem
23
Siehe nur die Nachweise bei Schneider, in MükoWettbR EG, Art. 16 VO 1/2003, Rz. 10
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Wettbewerbspreis wird als Schaden angenommen. Der hypothetische Wettbewerbspreis wird
durch die Betrachtung eines vergleichbaren Marktes ermittelt (zeitlicher, sachlicher oder
räumlicher Vergleichsmarkt). Hier: Zeitlicher Vergleichsmarkt, Betrachtung des Marktes vor
der Kartellabsprache.
ii. Kausalität zwischen Schaden und Kartellabsprache
Die Kartellabsprache müsste kausal für einen entstanden Schaden gewesen sein. Nach der
Rechtsprechung des BGH kann eine Kausalität grundsätzlich nicht vermutet werden, wenn
Kartellabsprache und Preiserhöhung zeitlich miteinander korrespondieren (vgl. ORWI-Urteil,
Rz. 45).
Anmerkung:24 Hinsichtlich der Regelungen zur Beweislast für eine Weitergabe kartellbedingter Preiserhöhungen weicht die Richtlinie von der ORWI-Rechtsprechung
des BGH ab.
Nach Auffassung des BGH ist der Nachweis einer Preiserhöhung auf dem Sekundärmarkt25 vom Kläger, d. h. vom mittelbaren Abnehmer zu erbringen. Aus dem zeitlichen Aufeinandertreffen von Kartellabsprache und Preiserhöhung könne keine Vermutung hinsichtlich der Kausalität gefolgert werden. Auch darüber hinaus existieren
nach der BGH-Rechtsprechung kaum Beweiserleichterungen hinsichtlich der Darlegungslast für den Kläger.
Die Richtlinie statuiert demgegenüber in Art. 14 Abs. 2 eine Vermutung der Weitergabe der Preiserhöhung an den mittelbaren Abnehmer, wenn der Kläger beweisen
kann, dass (1.) der Beklagte gegen Wettbewerbsrecht verstoßen hat, (2.) die Zuwiderhandlung einen Preisaufschlag für den unmittelbaren Abnehmer zur Folge hatte und
(3.) der mittelbare Abnehmer Waren oder Dienstleistungen erworben hat, die Gegenstand der Zuwiderhandlung waren, oder sie aus solchen Waren oder Dienstleistungen
hervorgingen oder sie enthielten. Diese Vermutung kann nur widerlegt werden, wenn
der Beklagte glaubhaft macht, dass der Preisaufschlag nicht oder nicht vollständig
24
Siehe dazu A. Petrasincu: Anspruchsberechtigung mittelbarer Abnehmer, kartellblog.de v. 11.2.2015, abrufbar
unter
http://kartellblog.de/2015/02/11/alex-petrasincu-anspruchsberechtigung-mittelbarer-abnehmer/
25
Der Markt, auf dem der mittelbare Abnehmer tätig ist.
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weitergegeben wurde. Damit geht die Richtlinie weit über die ORWI-Rechtsprechung
des BGH hinaus, sodass an dieser insoweit nicht mehr festgehalten werden kann.
Für den Beklagten hat dies zur Folge, dass er erheblich mehr belastet ist, als das durch
die ORWI-Rechtsprechung der Fall war: Er trägt erstens die Beweislast für die passing
on-defense und hat zweitens die Vermutung für die Weitergabe kartellbedingter Preiserhöhungen an mittelbare Abnehmer gegen sich. Im schlechtesten Fall kann dies dazu
führen, dass Kartellanten mehrfach in Anspruch genommen werden. Art. 15 der Richtlinie bürdet die Lösung dieses Problems den Mitgliedstaaten auf, indem Gerichte
Schadensersatzklagen von Klägern auf anderen Vertriebsstufen gebührend zu berücksichtigen haben. Die Mitgliedstaaten müssen die entsprechenden Regelungen erlassen.
Aus Beklagtensicht ist diese Lösung sicher nicht optimal, da damit eine nicht unerhebliche Rechtsunsicherheit einhergeht. Auf Grund der wohl drohenden mehrfachen Inanspruchnahme der Kartellanten sind die entsprechenden Regelungen aus Beklagtensicht
zwar nachteilhaft. Andererseits verstärken sie den Abschreckungseffekt von privaten
Schadensersatzklagen und erhöhen somit die Durchsetzbarkeit des Kartellrechts im
privaten Bereich.26
Hier ist der Nachweis durch A aber gelungen. Die Kausalität entfällt auch nicht durch die
eigenverantwortliche Preiserhöhung durch A. Ebenfalls entfällt die Kausalität auch nicht aus
dem Grund, dass der Umsatzrückgang des A auch auf der Preiserhöhung von X beruht, denn
dieses Verhalten muss sich P nach § 830 Abs. 1 S. 1 BGB zurechnen lassen. Es besteht insofern eine gesamtschuldnerische Haftung des P für gemeinsam mit X verursachten Kartellschaden, §§ 830 Abs. 1 S. 1, 840 Abs. 1 BGB. Auch auf das kartellrechtswidrige Verhalten
der anderen Kartellanten ist nach Art. 6 Abs. 3 lit a) Rom II-VO deutsches kartelldeliktsrecht
anwendbar, da sich zumindest mittelbar auch die Handlungen der andern Kartellanten auf den
deutschen Markt auswirken.
26
Siehe hierzu auch Weißbuch „Schadensersatzklagen wegen Verletzung des EG-Wettbewerbsrecht“ v.
2.4.2008, KOM(2008) 165, S. 4.
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b. Vorteilsausgleichung
1. Schadensabwälzung an Endverbraucher durch Erhöhung des Ladenpreises
Problematisch ist, dass A die Hälfte der Mehrbelastung durch den erhöhten Einkaufspreis an
seine Kunden weitergeben konnte. In diesem Fall ist die Anwendbarkeit der Grundsätze der
Vorteilsausgleichung gegeben (vgl. ORWI, Rz. 57). Der Zweck des Kartelldeliktsrechts steht
diesem Ergebnis nicht entgegen. Auch der Effektivitätsgrundsatz des Unionsrechts schließt
eine Vorteilsanrechnung nicht grundsätzlich aus. Vielmehr begründet der auch im Unionsrecht geltende Grundsatz der Vermeidung von ungerechtfertigten Vermögensverschiebungen,
dass dem Geschädigten auch im Kartelldeliktsrecht kein Vorteil erwachsen darf. Mit der Vorteilsausgleichung wird auch sichergestellt, dass der Kartellschaden insgesamt nur einmal geltend gemacht werden kann.
Anmerkung:27 Auch Art. 13 der neuen Richtlinie zu Kartellschadensersatzklagen statuiert den Einwand der Schadensweiterwälzung (passing on-defense). Dabei liegt die
Beweislast nach Art. 13 S. 2 der Richtlinie beim Beklagten, der allerdings „in angemessener Weise“ Offenlegungen vom Kläger oder Dritten verlangen kann. Nach der
Richtlinie ist eine tatsächliche Schadensweiterwälzung erforderlich. Die Ausführungen des BGH in Sachen ORWI konnten demgegenüber noch so verstanden werden,
als würde bereits die bloße Möglichkeit der Schadensweiterwälzung ausreichen.
Nach der ORWI-Rechtsprechung des BGH war eine Schadensweiterwälzung dann
ausgeschlossen, wenn die Preiserhöhung einen Nachfragerückgang zur Folge hatte.
Diese Überlegung trug dem Umstand Rechnung, dass in diesem Fall die Preiserhöhung zwar grundsätzlich weitergegeben wurde, durch geringere Umsätze aber dennoch eine Gewinneinbuße möglich ist. Faktisch stellte dies eine Beweislastumkehr da:
Den Beklagten trafen Darlegungs- und Beweislast dafür, dass es zu keinem Nachfragerückgang gekommen ist. In Art. 12 Abs. 3 der Richtlinie findet sich keine solche
Beweislastumkehr. Die Vorschrift stellt lediglich klar, dass ein Geschädigter, der seinen Preisaufschlag weitergegeben hat, dennoch Ersatz des entgangenen Gewinns for-
27
Siehe dazu A. Petrasincu: passing-on defense, kartellblog.de
http://kartellblog.de/2015/02/06/alex-petrasincu-passing-on-defense/
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v.
6.2.2015,
abrufbar
unter
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dern kann. Auch insoweit wird die ORWI-Rechtsprechung des BGH nicht mehr mit
der Richtlinie vereinbar sein.
2. Voraussetzungen der Vorteilsausgleichung
Hier waren die mögliche Preiserhöhung des A und der damit gesteigerte Gewinn adäquat kausal für den Schaden, da nur aufgrund des insgesamt gestiegenen Preisniveaus eine Erhöhung
möglich war. In der Anrechnung des von A weitergegebenen Schadens liegt auch keine unbillige Begünstigung der P als Schädigerin, da die entsprechende Schadensposition von den Abnehmern des A geltend gemacht werden können.
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III. Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung, Art. 102 AEUV
1. Sachverhalt 1
British Airways (BA) ist das größte Luftfahrtunternehmen im Vereinigten Königreich. Im Jahr
1998 erzielte British Airways bei den über Reisevermittlern getätigten Verkäufen im Vereinigten
Königreich einen Anteil von 39,7%, während der nächstgrößere Konkurrent Virgin auf einen
Anteil von 5,5% kam. Der BA-Anteil belief sich im Jahr 1998 auf mehr als das 2,2fache des
Anteils seiner vier größten Konkurrenten zusammengenommen. Dieser Marktanteil ist über
mehrere Jahre im Wesentlichen unverändert geblieben. Auf dem britischen Inlandsflugmarkt hält
BA einen Anteil von ca. 50%. 2
Um den Verkauf von BA-Flugscheinen zu fördern, ersann BA verschiedene vertragliche Anreize
für die Reisevermittler im Vereinigten Königreich. So vereinbarte BA mit den britischen
Reisevermittlern
u.
a.
die Geltung
einer
„Performance Reward
Scheme“
genannten
Prämienregelung. Nach dieser Regelung erhielt jeder Reisevermittler eine Basisprovision für jeden
verkauften BA-Flugschein in Höhe von 7 % des Verkaufspreises. Zusätzlich zu dieser
Basisprovision bestand für jeden Reisevermittler die Möglichkeit, eine Zusatzprovision von bis zu
1 % zu erhalten. Die Höhe dieser variablen Zusatzprovision hing von der Entwicklung der
Ergebnisse des Vermittlers beim Verkauf von BA-Flugscheinen ab. Relevant war der Grad der
Verbesserung im Vergleich zum entsprechenden Monat des Vorjahrs. Das zusätzliche variable
Element wurde geschuldet, wenn das Verhältnis zwischen den Erlösen aus dem betreffenden
Zeitraum und denen aus dem Referenzzeitraum 95 % betrug. Mit jedem über den Ergebnisrichtwert
von 95% hinausgehenden Prozentpunkt verdiente der Reisevermittler zu seiner Standardprovision
von 7% ein variables Element in Höhe von 0,1% hinzu.
Das konkurrierende Luftfahrtunternehmen Virgin hielt dieses Anreizsystem von BA für
kartellrechtswidrig und beschwerte sich bei der EG-Kommission. Liegt ein Verstoß gegen das in
Art. 102 AEUV normierte Verbot des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung vor?
1
Nachgebildet der Entscheidung des EuGH, Urteil v. 15. März 2007, Rs. C-95/04 P – British Airways. Siehe
ergänzend vor allem die angefochtene Entscheidung der EG-Kommission v. 14. Juli 1999, Fall 34.780 – Virgin/British
Airways, Tz. 69 ff.
2
Siehe Komm. v. 14.7.1999, COMP/34.780 Virgin/British Airways, ABl.EG 2000 Nr. L 30/1 ff., Rdn. 88.
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2. Lösung
Voraussetzungen von Art. 102 EG
1.
Adressat der Vorschrift: BA ist ein Unternehmen i. S. d. Art. 102 AEUV.
Vertiefungshinweis:
Unternehmen = Jede Einheit, die eine selbständige wirtschaftliche Tätigkeit im weitesten Sinne
ausübt – und zwar unabhängig von ihrer Rechtsform, dem Vorliegen oder Fehlen einer
Gewinnerzielungsabsicht, dem Umfang der Tätigkeit oder der Art ihrer Finanzierung
Wirtschaftliche Tätigkeit = Jede selbständige Tätigkeit, die darauf ausgerichtet ist, Güter oder
Dienstleistungen auf einem bestimmten Markt anzubieten oder nachzufragen
Beachte: Funktionaler Unternehmensbegriff (Eine Einheit kann in einem bestimmten Bereich
Unternehmen sein, in anderen Bereichen aber nicht!)
2.
Marktbeherrschende Stellung (Kling/Thomas, Kartellrecht, § 5 Rn. 11 ff.)
a)
Marktabgrenzung
Kommission, Bekanntmachung über die Definition des relevanten Marktes im Sinne des
Wettbewerbsrechts der Gemeinschaft (ABl. C 372 vom 3.12.1997, S. 5):
„Der sachlich relevante Markt umfasst sämtliche Erzeugnisse und/oder Dienstleistungen,
die von den Verbrauchern hinsichtlich ihrer Eigenschaften, Preise und ihres vorgesehenen
Verwendungszwecks als austauschbar oder substituierbar angesehen werden. […]
Der geographisch relevante Markt umfasst das Gebiet, in dem die beteiligten Unternehmen
die relevanten Produkte oder Dienstleistungen anbieten, in dem die Wettbewerbsbedingungen hinreichend homogen sind und das sich von benachbarten Gebieten durch
spürbar unterschiedliche Wettbewerbsbedingungen unterscheidet.“
(Hervorhebung vom Verf.)
(1) Zum Fall: Sachlich relevanter Markt 3: Markt für Luftverkehrsvermittlerdienste.
Komm., 14.7.1999, COMP/34.780 - Virgin/BA, ABl. 2000 Nr. L 30/1 ff., Rdn. 71ff.:
(a) Der Vertrieb von Flugscheinen gehört neben dem Marketing u. a. zu den von
Fluggesellschaften nachgefragten Dienstleistungen. Fluggesellschaften greifen hierbei
auf die Leistungen von Reisevermittlern zurück. Mittlerweile bemühen sich die
3
Synonym: Produktmarkt.
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Gesellschaften darum, diese Leistungen verstärkt auch selbst anzubieten (interne
Abwicklung). Dennoch bleibt es bei einem abgegrenzten Markt.
(b) Der Vertrieb von Charterflügen ist nicht in den sachlichen Markt miteinzubeziehen.
Charterflüge sind keine echte Alternative im Vereinigten Königreich, da sie fast nur für
Reiseveranstalter angeboten werden, die den Flug im Gesamtpaket zusammen mit einer
Unterkunft anbieten. Zu Überschneidungen kommt es daher nur bei seat-onlyAngeboten. Überdies fliegen Charterfluggesellschaften nur bestimmte Ziele an.
(c) Für die Vermittlung von Hotelzimmern und Mietwagen, die ebenfalls von
Reisevermittlern übernommen wird, liegt auch keine Angebotssubstituierbarkeit vor.
Die Vermittlung von Hotelzimmern oder Mietwagen ist daher nicht in die
Marktabgrenzung aufzunehmen. Anders als im Schulfall der Papierherstellung, für die
kennzeichnend ist, dass die auf dem Markt auftretenden Papierfabriken in der Lage sind,
sehr unterschiedliche Papierqualitäten herzustellen, obwohl sie tatsächlich nur eine Art
Papier produzieren, können Reisevermittler sich nicht beliebig auf das eine oder andere
Geschäft spezialisieren und wählen, ob sie anstelle von Flugreisen lieber Hotels
anbieten wollen. Vielmehr liegt es in der Natur ihres Geschäftsmodells, dass sie diese
Dienste in ihrer Gesamtheit anbieten.
(2) Zum Fall: Räumlich relevanter Mark: Vereinigtes Königreich
Kunden erwerben ihre Flugscheine üblicherweise im Land ihres Wohnsitzes. Das hat
Rückwirkungen auf den Markt für Flugreisevermittlung. Die Abrechnung zwischen den
nachfragenden Fluggesellschaften und den die Flugscheinvermittlung anbietenden
Reisevermittlern erfolgt in GBP. Auch wenn einige Reisevermittler, mit denen BA arbeitet,
in mehr als einem Mitgliedsstaat tätig sind, so ist BA doch imstande, ihren Erwerb von
Luftverkehrsvermittlerdiensten im Vereinigten Königreich unter anderen Bedingungen
durchzuführen als andernorts. BA wendet tatsächlich auch andere Bedingungen an. So
gelten etwa die hier zu untersuchenden PRS Rabatte nur im Vereinigten Königreich, dort
aber einheitlich.
b)
Marktbeherrschende Stellung
Grundlegend zum Begriff der beherrschenden Stellung ist das Urteil des EuGH i.S.
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Hoffmann-LaRoche 4:
„Mit der beherrschenden Stellung im Sinne des Artikels 86 EWG-Vertrag [jetzt Art. 102
AEUV, Verf.] ist die wirtschaftliche Machtstellung eines Unternehmens gemeint, die dieses
in die Lage versetzt, die Aufrechterhaltung eines wirksamen Wettbewerbs auf dem
relevanten Markt zu verhindern, indem sie ihm die Möglichkeit verschafft, sich seinen
Wettbewerbern, seinen Abnehmern und letztlich den Verbrauchern gegenüber
unabhängig zu verhalten. Eine solche Stellung schließt im Gegensatz zu einem Monopol
oder einem Quasi-Monopol einen gewissen Wettbewerb nicht aus, versetzt aber die
begünstigte Firma in die Lage, die Bedingungen, unter denen sich dieser Wettbewerb
entwickeln kann, zu bestimmen oder merklich zu beeinflussen, jedenfalls aber weitgehend in
ihrem Verhalten hierauf keine Rücksicht nehmen zu müssen, ohne dass es ihr zum Schaden
gereichte.“
Faktoren einer marktbeherrschenden Stellung: Vgl. § 18 III GWB
Wichtigstes Kriterium Marktanteil (siehe sogleich)
(1) Marktanteil
(a)
Allgemeines
Die Rspr. der Gemeinschaftsgerichte und die Praxis der Kommission haben dazu –
allerdings nicht starr anzuwendende – Richtwerte entwickelt:
-
Ab einem Marktanteil von deutlich über 40 % (z.T.: ab 50 %) wird von der Rspr.
auf eine beherrschende Stellung des Unternehmens geschlossen.
-
Zwischen 25 % und 40 % bedarf es für die Annahme einer marktbeherrschenden
Stellung im Grundsatz zusätzlich eines entsprechenden Abstandes zum
nächstliegenden Wettbewerber, wobei an dieses Erfordernis um so höhere
Anforderungen zu stellen sind, je niedriger der Marktanteil ist.
-
Unterhalb von 25 % Marktanteil ist die Annahme einer marktbeherrschenden
Stellung regelmäßig sehr fernliegend; bei Marktanteilen unter 10 % ist diese
Annahme praktisch ausgeschlossen.
4
EuGH v. 13. 2. 1979 – Rs. 85/76, Slg. 1949, 461 LS 4 – Hoffmann-LaRoche und Co. AG/Kommission.
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(b)
Zum Fall
Komm., 14.7.1999, COMP/34.780 - Virgin/BA, aaO, Rdn. 88:
BA ist
auf dem
britischen
Markt
für Luftverkehrsvermittlerdienste der
beherrschende Nachfrager. Im Jahr 1998 erzielte British Airways bei den über
Reisevermittlern getätigten Verkäufen im Vereinigten Königreich einen Anteil von
39,7%, während der nächstfolgende Konkurrent Virgin auf einen Anteil von 5,5%
kam. Der BA-Anteil belief sich im Jahr 1998 auf mehr als das 2,2fache des Anteils
seiner vier größten Konkurrenten zusammengenommen. Diese Stellung ist über
mehrere Jahre unverändert geblieben. 5
(2) Sonstige, die Marktstellung von BA verstärkende Faktoren 6
(a) BA bietet bedeutend mehr Strecken nach und aus dem Vereinigten Königreich an als
jede andere Fluggesellschaft.
(b) BA hält 38% der Slots des Flughafen Heathrow, der nächste Verfolger nur 14%, die in
der Rangfolge hinter BA liegenden Wettbewerber kommen zusammen auf nur 27%.
Hinzu kommt, dass das von Heathrow praktizierte System der Slotvergabe eine
Besitzstandsregelung ist, die es Konkurrenten erschwert, Slots zu erhalten.
5
Im Jahr 1992 lag der BA-Anteil bei 46,3%, während der Zweitplatzierte nur auf 3,6% kam. Damit betrug der BAAnteil das 3,9fache des Anteils seiner vier größten Konkurrenten zusammengenommen.
6
Nicht im Sachverhalt mitgeteilt.
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c)
Missbräuchliche Verhaltensweise
(1) Allgemeines zum Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung
Bei der missbräuchlichen Ausnutzung handelt es sich um einen objektiven Begriff.
Er erfasst alle Verhaltensweisen von marktbeherrschenden Unternehmen, welche die Struktur eines Marktes beeinflussen können, auf dem der Wettbewerb gerade wegen der
Anwesenheit des fraglichen Unternehmens bereits geschwächt ist, und die den noch
bestehenden (Rest-)Wettbewerb durch die Verwendung von Mitteln behindern, die
außerhalb eines normalen Produkt- oder Dienstleistungswettbewerbs auf der Grundlage der
Leistungen der Wirtschaftsteilnehmer liegen.
Nach der Rspr. sind Verhaltensweisen eines marktbeherrschenden Unternehmens auf einem
Markt, dessen Struktur allein durch das Vorhandensein dieses Unternehmens geschwächt
ist, schon dann missbräuchlich, wenn sie zu einer zusätzlichen Beschränkung dieser
Wettbewerbsstruktur führen.
Eine Absicht des marktbeherrschenden Unternehmens, die Struktur des Wettbewerbs zu
beeinflussen und auf den relevanten Markt einzuwirken, ist nicht erforderlich. Wird jedoch
eine solche Absicht festgestellt, so vereinfacht dies den Nachweis eines objektiv
missbräuchlichen Verhaltens.
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Exkurs: Überblick zu den verschiedenen Missbrauchsmöglichkeiten:
1.
Die Regelbeispiele des Art. 102 Abs. 2 AEUV:
a)
Unangemessene Preise/Bedingungen  Ausbeutung der Marktgegenseite
b)
Einschränkung der Erzeugung/des Absatzes/der Entwicklung
c)
Diskriminierung von Handelspartnern
d)
Koppelungsgeschäfte
2.
Beachte: Art. 102 Abs. 1 AEUV als Generalklausel!
3.
Allgemeine Unterteilung der verschiedenen Missbrauchsmöglichkeiten in:
•
Ausbeutungsmissbrauch (Art. 102 Abs. 2 lit. a AEUV)
•
Behinderungsmissbrauch
a)
-
Nicht-preisbezogener Behinderungsmissbrauch
-
Preisbezogener Behinderungsmissbrauch
Ausbeutungsmissbrauch, Art. 102 Abs. 2 lit. a AEUV
-
Ziel: insbesondere Schutz der Verbraucher vor überhöhten Preisen
-
Unangemessener Preis?  Kosten-Preis-Anayse (verschiedene Konzepte)
b)
Behinderungsmissbrauch
-
Ziel: v.a. Schutz des Restwettbewerbs (und damit indirekt der Verbraucher)
-
Schutz der Wettbewerber vor Verdrängung aus dem Markt
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(1)
Nicht-preisbezogene Maßnahmen des Behinderungsmissbrauchs:

Geschäftsverweigerung
(Vss.:
Marktbeherrscher
verfügt
über
notwendigen Input für Wettbewerber auf nachgelagerten Märkten, z.
B. Rohmilch, Netzwerke etc.)  „Essential facilities“

Ausschließlichkeitsbindungen (Verpflichtung, bestimmte Waren
einzig und allein vom Marktbeherrscher zu beziehen)

Koppelung und Bündelung (Art. 102 Abs. 2 lit. d AEUV, Gefahr der
Marktmachtübertragung
zwischen
benachbarten
Märkten

leveraging, Bsp.: Technische Koppelung, Fall Microsoft/Windows
Media Player)
(2) Preisbezogene Maßnahmen des Behinderungsmissbrauchs:

Kampfpreise

Missbräuchliche Rabattsysteme

Kosten-Preis-Schere (margin squeeze)
o Vss.: Vertikal integriertes Unternehmen
o Marktbeherrschung im vorgelagerten Markt
o Beschneidung der Gewinnmargen der Wettbewerber durch
Erhöhung der Vorleistungspreise, durch Senkung der
Endkundenpreise oder durch eine Kombination der beiden
Maßnahmen
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B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach
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(2) Im BA-Fall: Missbräuchliches Rabattsystem?
Im Zusammenhang mit Rabattsystemen zu prüfende Missbrauchstatbestände
(MünchKommEUWettbR-Eilmansberger/Bien, 2015, Art. 102 AEUV Rdn. 555 ff.):
(a) Unangemessene bzw. unbillige Geschäftsbedingungen (Art. 102 Abs. 2 lit. a AEUV),
insbesondere wegen deren Intransparenz (vgl. Michelin II),
(b) den Wettbewerb zwischen den Unternehmen der Marktgegenseite verfälschende
Diskriminierung (Art. 102 Abs. 2 lit. c AEUV, siehe sogleich unten British Airways),
(c) Behinderung durch Marktabschottung (siehe sogleich unten British Airways),
(d) Verstoß gegen das Kopplungsverbot, insbesondere, wenn die Gewährung des Rabatts
davon abhängig gemacht wird, dass die Marktgegenseite Produkte bezieht, die auf
anderen Märkten angeboten werden (Art. 102 Abs. 2 lit. d AEUV, vgl. HoffmannLaRoche).
(3) Zum Missbrauchstatbestand der Marktabschottung insbesondere
(Kling/Thomas, Kartellrecht, § 5 Rn. 109 ff.)
(a) Reine Mengenrabatte sind grundsätzlich unbedenklich.
(b) Reine Treuerabatte haben wirtschaftlich dieselbe Funktion wie Ausschließlichkeitsvereinbarungen. Ihre Gewährung setzt voraus, dass der Abnehmer unabhängig vom
jeweiligen Umfang der getätigten Geschäfte entweder den gesamten Bedarf oder aber
einen wesentlichen Teil desselben bei dem marktbeherrschenden Lieferanten deckt
(grds. verboten).
(c) Zielrabatte sollen dem Abnehmer ebenfalls Anreize dafür liefern, seinen Bedarf ganz
oder mindestens überwiegend bei dem marktbeherrschenden Unternehmen zu decken
(problematisch). Mit Art. 102 AEUV unvereinbar wäre daher ein Zielrabatt, der daran
anknüpft, dass der Abnehmer sein Vorjahresergebnis übertrifft (vgl. die Vereinbarung
im vorliegenden Fall).
(d) Funktionsrabatte werden dem Abnehmer vom Lieferanten dafür gewährt, dass er dem
Lieferanten bestimmte Aufgaben, z.B. im Zusammenhang mit der Markteinführung
eines Produkts oder im Bereich des Service gegenüber den Endkunden, abnimmt und
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auf diese Weise eine wirtschaftliche Leistung für ihn erbringt sind. Sie sind
grundsätzlich unproblematisch.
(e) Problem: „Intelligente“ Rabattsysteme sind komplex und lassen sich nicht auf den
ersten Blick den unzulässigen Treue- oder den problematischen Zielrabatten zuordnen.
Daher ist folgende Überlegung zur Beurteilung der Missbräuchlichkeit zweckmäßig:
-
Setzt das Rabatt-/Prämiensystem Anreize, die nicht lediglich Skaleneffekte beim
Lieferanten abbilden, sondern allein den Zweck haben können, eine Belieferung
durch andere Anbieter zu verhindern?
-
Die Schwierigkeit der Abgrenzung liegt darin, dass jede Maßnahme im geschäftlichen Verkehr darauf abzielt, den Kunden zu binden, also auch Rabatte
und sonstige Anreizsysteme. Solche Maßnahmen müssen auch Marktbeherrschern gestattet sein. Es kommt daher gleichsam auf den „Schwerpunkt“ der
Maßnahme an. Geht es im Kern nur darum, ein Abwandern des Kunden mit
Mitteln zu verhindern, welche die nicht marktbeherrschenden Konkurrenten
nicht anbieten können, ist die Missbräuchlichkeit oft gegeben.
-
Lange Berechnungsintervalle für Rabatte etc. sind daher grundsätzlich
problematischer als kurze. Große Sprünge in den Rabattstafeln sind grundsätzlich problematischer als eng gestufte Systeme (vgl. Treue- und Zielrabatte).
d)
Zum Fall: Tatbestand der Marktverschließung
Beachte: BA tritt vorliegend als Nachfrager auf dem Markt für Flugreisevermittlungsdienste
auf. Dementsprechend geht es nicht um die Gewährung von Rabatten im eigentlichen Sinne.
Sie würden eine Ermäßigung des Preises bedeuten. Vielmehr stellt BA seinen
Vertragspartnern, den Reisevermittlern, Prämien dafür in Aussicht, dass sie ihre Dienste im
Wesentlichen an BA und damit nicht oder nur in geringem Maße an Wettbewerber
verkaufen.
EuGH v. 15. März 2007, Rs. C-95/04 P – British Airways
Tz. 68: „Daher ist für die Feststellung des eventuellen missbräuchlichen Charakters einer
Regelung über Rabatte oder Prämien eines Unternehmens in beherrschender Stellung, bei
denen es sich weder um Mengenrabatte oder -prämien noch um Treuerabatte oder -prämien
im Sinne des Urteils Hoffmann-La Roche/Kommission handelt, zunächst zu prüfen, ob diese
Rabatte oder Prämien eine Verdrängungswirkung entfalten können, d. h., ob sie geeignet
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sind, den Wettbewerbern des Unternehmens in beherrschender Stellung den Zugang zum
Markt und darüber hinaus seinen Vertragspartnern die Wahl zwischen mehreren
Bezugsquellen oder Handelspartnern zu erschweren oder sogar unmöglich zu machen.“
(Hervorhebung vom Verf.)
Tz. 73: „Aus der Rechtsprechung folgt auch, dass die Bindung der Vertragspartner an das
Unternehmen in beherrschender Stellung und der auf sie ausgeübte Druck in der Regel
besonders stark sind, wenn ein Rabatt oder eine Prämie sich nicht nur auf den
Umsatzzuwachs aus Käufen oder Verkäufen der Produkte dieses Unternehmens, die von
seinen Vertragspartnern im berücksichtigten Zeitraum getätigt wurden, bezieht, sondern
sich auch auf den gesamten Umsatz aus diesen Käufen oder Verkäufen erstreckt. Auf diese
Weise können auch schon verhältnismäßig geringe Veränderungen – gleichviel, ob nach
oben oder nach unten – im Umsatz mit Produkten des Unternehmens in beherrschender
Stellung überproportionale Auswirkungen für die Vertragspartner haben.“ (Hervorhebung
vom Verf.)
Tz. 75: „Schließlich hat der Gerichtshof ausgeführt, dass der Druck, der von einem Unternehmen in beherrschender Stellung, das Rabatte mit solchen Merkmalen gewährt, auf die
Händler ausgeübt wird, noch verstärkt wird, wenn dieses Unternehmen sehr viel höhere
Marktanteile
hält
als
seine
Wettbewerber
(vgl.
in
diesem
Sinne
Urteil
Michelin/Kommission, Randnr. 82). Er hat entschieden, dass es unter diesen Umständen
besonders schwierig für die Wettbewerber dieses Unternehmens ist, die am gesamten
Umsatzvolumen orientierten Rabatte oder Prämien zu überbieten. Aufgrund seines deutlich
höheren Marktanteils ist das Unternehmen in beherrschender Stellung in der Regel ein
unumgänglicher Handelspartner auf dem Markt. Die von einem solchen Unternehmen
gewährten, am Gesamtumsatz orientierten Rabatte oder Prämien werden in absoluten
Zahlen regelmäßig stärker ins Gewicht fallen als selbst die großzügigeren Angebote seiner
Wettbewerber. Um die Vertragspartner des Unternehmens in beherrschender Stellung auf
ihre Seite zu ziehen oder von ihnen jedenfalls ein ausreichendes Auftragsvolumen zu
erhalten, müssten diese Wettbewerber ihnen deutlich höhere Rabatte oder Prämien
anbieten.“
Komm., 14.7.1999, COMP/34.780 - Virgin/BA, ABl.EG 2000 Nr. L 30/1 ff., Rdn. 88:
„Dieser [marktverschließende, Verf.] Effekt der BA-Provisionsregelungen soll anhand
eines Beispiels veranschaulicht werden. Angenommen, ein Reisevermittler hat im Bezugsjahr Flugscheine für insgesamt 100.000 GBP verkauft. Verkauft der Reisevermittler
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monatlich internationale BA-Flugscheine im Wert von 100.000 GBP, so erhält er die
Grundprovision von 7 % und eine Ergebnisvergütung von 0,5 % ((100 minus 95) × 0,1 %),
was Gesamteinnahmen aus Provisionen für verkaufte Flugscheine von 7 000 GBP [richtig:
7 500 GBP, Verf.] ergibt (100.000 × (7% + 0,5 %)). Hat der Reisevermittler 1% der
Flugscheine für einen Mitbewerber von BA verkauft, so würde seine Ergebnisvergütung auf
0,4% ((99 minus 95) × 0,1 %) sinken, und dieser geringere Satz würde dann für alle
Verkäufe von BA-Flugscheinen dieses Vermittlers gelten. Seine Provisionseinkünfte aus
dem Verkauf von BA-Flugscheinen würden auf 7.326 GBP (99 000 × (7% + 0,4 %))
zurückgehen. Eine Verminderung von 1.000 GBP bei den Verkäufen von BA-Flugscheinen
hat einen Rückgang von 174 GBP bei den Provisionseinnahmen zur Folge. Der
Grenzprovisionssatz. kann mit 17,4% angegeben werden. In der Praxis bedeutet dies, dass
ein BA-Konkurrent, der in der Lage wäre Flüge anzubieten, die 1.000 GBP der Verkäufe
von BA-Flugscheinen des Reisevermittlers ersetzen könnten, eine Provision von 17,4% auf
diese Flugscheine anbieten müsste, um das Reisebüro für die entgangenen BAProvisionseinkünfte
zu
entschädigen.
Zwar
muss
auch
BA
diesen
hohen
Grenzprovisionssatz anbieten, um den Verkauf seiner Flugscheine zu erhöhen, doch
befindet sich diese Gesellschaft gegenüber dem neuen Akteur im Vorteil, der diesen hohen
Provisionssatz für alle seine Buchungen zahlen muss.“
Zwischenergebnis: Missbrauch iFd Marktabschottung ist zu bejahen.
e)
Zum Fall: Tatbestand der Diskriminierung
Komm., 14.7.1999, COMP/34.780 - Virgin/BA, ABl.EG 2000 Nr. L 30/1 ff., Rdn. 119:
„Die Verpflichtung eines Unternehmens in beherrschender Stellung, nicht diskriminierend
zu handeln, bedeutet, dass es bei gleichartigen Transaktionen mit verschiedenen Kunden
keine unterschiedlichen Bedingungen anwenden und so einen Kunden in eine unvorteilhafte
Wettbewerbsposition bringen darf. Die geschilderten […] PRS-Regelungen werden sich
genau in dieser Weise auswirken. Zwei Reisevermittler, die die gleiche Anzahl von BAFlugscheinen bearbeiten und BA genau den gleichen Umfang an Diensten zur Verfügung
stellen, werden unterschiedliche Provisionen erhalten, d. h. einen unterschiedlichen Preis
für ihre Luftverkehrsvermittlerdienste, wenn ihre Verkäufe von BA-Flugscheinen im Vorjahr
unterschiedlich hoch ausgefallen sind. Im entgegengesetzten Fall könnten zwei Reisevermittler, die unterschiedliche Mengen von BA-Flugscheinen verkaufen und BA einen
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unterschiedlichen Umfang an Diensten zur Verfügung stellen, den gleichen Provisionssatz
verdienen, d. h. von BA zum gleichen Preis bezahlt werden, wenn ihr Verkaufsvolumen von
BA-Flugscheinen, gemessen am Vorjahr, um den gleichen Prozentsatz gestiegen ist.“
f)
Nachweis eines konkreten Verbraucherschadens ist nicht erforderlich
EuGH v. 15.3.2007, Rdn. 103ff.
„[…] die von einem Unternehmen in beherrschender Stellung gewährten Rabatte und
Prämien [können] selbst dann gegen Art. 82 EG [jetzt: 102 AEUV] verstoßen, wenn sie
keines der dort in Abs. 2 genannten Regelbeispiele erfüllen. Zudem bezieht sich Art. 102
AEUV, wie der Gerichtshof bereits in Randnr. 26 des Urteils Europemballage und
Continental Can/ Kommission festgestellt hat, nicht nur auf Verhaltensweisen, durch die
den Verbrauchern ein unmittelbarer Schaden erwachsen kann, sondern auch auf solche, die
ihnen durch einen Eingriff in die Struktur des tatsächlichen Wettbewerbs, von dem in Art. 3
Abs. 1 Buchst. g EG [jetzt: Protokoll (Nr. 27) zum EUV und AEUV über den Binnenmarkt
und den Wettbewerb] die Rede ist, Schaden zufügen. Dem Gericht ist daher kein Rechtsfehler unterlaufen, als es in den Randnrn. 294 und 295 des angefochtenen Urteils, anstatt zu
prüfen, ob das Verhalten von BA den Verbrauchern einen Schaden im Sinne von Art. 82
Abs. 2 Buchst. b EG zugefügt hat [jetzt: Art.- 102 Abs. 2 Buchts. B AEUV], untersucht hat,
ob die fraglichen Prämienregelungen eine beschränkende Wirkung auf den Wettbewerb
gehabt haben, und befunden hat, dass das Vorliegen einer solchen Wirkung von der
Kommission in der streitigen Entscheidung nachgewiesen worden ist.“
g)
Effizienzeinwand bzw. Ökonomische Rechtfertigung der Verhaltensweise?
EuGH, 15.3.2007, Rs. C-95/04 P – British Airways, Tz. 69 und 84 ff.:
Erstmals anerkennt der Gerichtshof die grundsätzliche Möglichkeit der Rechtfertigung einer
an sich verbotenen Verhaltensweise im Rahmen eines so genannten Effizienzeinwandes:
„Es ist zu ermitteln, ob die für den Wettbewerb nachteilige Verdrängungswirkung einer
solchen Regelung durch Effizienzvorteile ausgeglichen oder sogar übertroffen werden kann,
die auch dem Verbraucher zugutekommen. Steht die Verdrängungswirkung dieser Regelung
in keinem Zusammenhang mit Vorteilen für den Markt und die Verbraucher oder geht sie
über dasjenige hinaus, was zur Erreichung solcher Vorteil erforderlich ist, so ist diese
Regelung als missbräuchlich anzusehen.“
BA hatte sich auf die im Flugverkehr erhöhten Fixkosten und das Ziel einer besseren
Kapazitätsauslastung seiner Maschinen berufen. Die Kommission und das EuG hatten eine
wirtschaftliche Rechtfertigung der von BA gewährten Rabatte im konkreten Fall jedoch
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verneint. Eine Überprüfung der Tatsachen- und Beweiswürdigung des Gerichts wies der
EuGH als unzulässig zurück.
Zur Vertiefung: More economic approach im EU-Wettbewerbsrecht
Nach den Vorstellungen der Europäischen Kommission soll die Wettbewerbspolitik der
Union nicht mehr dem Schutz des Wettbewerbs als solchem dienen, sondern am Wohl des
Verbrauchers ausgerichtet werden (consumer welfare). Die Aufrechterhaltung wirksamen
Wettbewerbs ist dagegen lediglich Mittel zum Zweck. Ob Wettbewerber vom Markt verdrängt werden, ist nur von Bedeutung, wenn mit der Verdrängung effizienterer oder innovativerer Konkurrenten nachteilige Folgen für den Verbraucher einhergehen.
Damit eng verbunden ist das ebenfalls im Rahmen des More economic approach propagierte Auswirkungsprinzip, wonach auf die Auswirkungen wettbewerbsrelevanter Vorgänge im
Einzelfall abzustellen ist. Ein und derselbe Sachverhalt kann damit je nach den
Bedingungen des Marktes nachteilige oder vorteilhafte Folgen für die Konsumentenwohlfahrt haben. Effizienzvorteile eines Verhaltens können dessen nachteilige Wirkungen
auf den Wettbewerb in den Hintergrund treten lassen. Daher gilt es, die tatsächlichen
Effekte anhand der Besonderheiten des Einzelfalls zu untersuchen ("effects-based
approach"). Zur zuverlässigen Feststellung der jeweiligen Auswirkungen finden
ökonomische Theorien und Analyseverfahren Anwendung. Gegenbegriff ist der bislang im
Wettbewerbsrecht vorherrschende so genannte "form-based approach", der den Missbrauch
einer
marktbeherrschenden
Stellung
anhand
von
struktur-,
verhaltens-
bzw.
absichtsbezogenen Tatbestandsmerkmalen feststellt. Sie sind von den Auswirkungen des
untersuchten Verhaltens im Einzelfall grundsätzlich unabhängig.
In der Mitteilung der Kommission vom 9.2.2009 „Erläuterungen zu den Prioritäten der
Kommission bei der Anwendung von Artikel 82 des EG-Vertrags auf Fälle von Behinderungsmissbrauch durch marktbeherrschende Unternehmen (K(2009)864 endgültig) –
„Priority-Paper“ – findet sich unter den Rdn. 23ff. eine Erläuterung des so genannten as
efficient competitor-Tests. Danach will die Kommission bei preisbezogenen Behinderungsmissbräuchen „nur noch dann tätig werden, um wettbewerbsbeschränkende Marktverschließungen zu verhindern, wenn das fragliche Verhalten andere, genauso effiziente
Wettbewerber wie das marktbeherrschende Unternehmen (as efficient competitor) daran
hindert bzw. bereits gehindert hat, am Wettbewerb teilzunehmen. […] Um klären zu können,
ob selbst ein hypothetischer, ebenso effizienter Wettbewerb durch das betreffende Verhalten
vom Markt ausgeschlossen werden könnte, prüft die Kommission Wirtschaftsdaten zu den
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Kosten und Verkaufspreisen und insbesondere, ob das marktbeherrschende Unternehmen
nicht kostendeckende Preise praktiziert.“
Bezogen auf den Fall British Airways würde das voraussetzen, dass die Kommission zunächst den Preis bestimmt, welchen ein Wettbewerber von BA dem Reisevermittler anbieten müsste, um diesen dafür zu entschädigen, dass er einen Teil seiner Flugvermittlerdienste
nicht an BA, sondern einem Wettbewerber verkauft. In dem auf Seite 7 oben zur Illustration
angeführten Beispiel betrug diese Prämie 174 GBP für einen bestreitbaren Teil des
Angebots in Höhe von 1.000 GBP. Nach Ansicht der Autoren des Priority Paper ist in
einem zweiten Schritt zu untersuchen, ob diese Prämienzahlung von den durchschnittlichen
Einnahmen von BA noch gedeckt wird. Ist das der Fall, „wäre ein ebenso effizienter
Wettbewerb normalerweise trotz des Rabatts in der Lage, auf dem Markt gewinnbringend
zu konkurrieren. Unter diesen Umständen kann der Rabatt [bzw. die Prämie, Verf.] in der
Regel keine wettbewerbswidrige Marktverschließung bewirken.“ (Kommission, Priority
Paper, Rdn. 43).
Es ist bemerkenswert, dass die Kommission in ihrer jüngsten Entscheidung zu einem als
missbräuchlich eingestuften Rabattsystem, der INTEL-Entscheidung vom 13.5.2009
(COMP/37.990) eine Prüfung des as efficient competitor-Test zwar auf 150 Seiten (Rz.
1002 - 1576) durchführt und die Missbräuchlichkeit auch unter diesem Gesichtspunkt
bejaht, gleichzeitig aber klarstellt, dass dieses Kriterium keine Voraussetzung für die
Missbräuchlichkeit ist (Rz. 925). Des Nachweises einer marktverschließenden Wirkung
bedarf es ihrer Ansicht nach nicht (Rn. 922).
h)
Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels
Das Rabattsystem benachteiligt auch Fluggesellschaften, die außerhalb des Vereinigten
Königreichs in der EG ansässig sind und die Flüge zwischen dem Vereinigten Königreich
und anderen MS anbieten. Damit beeinträchtigt das Prämiensystem den zwischenstaatlichen
Handel.
3.
Gesamtergebnis
Das von BA praktizierte Prämiensystem erfüllt den Tatbestand des Missbrauchs sowohl in Form
der Marktabschottung als auch der Diskriminierung. Es verstößt also gegen Art. 102 AEUV.
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Examinatorium Zivilrecht
Skript
IV. Kartellrecht in transnationalen Fällen (aus studienabschließender Klausur
WS 14/15)
Fall 1: Die beiden Konkurrenten A und B, ein russisches und ein brasilianisches Unternehmen,
vereinbaren einen Mindestpreis für Waren, die sie nach Deutschland exportieren. Andere
Mitgliedsstaaten der EU sind nicht von dem Kartell betroffen. A und B halten mit dem kartellierten
Produkt in Deutschland einen gemeinsamen Marktanteil von 50 Prozent.
Fragen:
(1) Welche europäischen
Kartellrechtsordnungen
sind
anwendbar?
(2) Welche
europäischen Kartellbehörden sind für die Anwendung zuständig? (3) In welchem
Verhältnis stehen die anwendbaren Kartellrechtsordnungen zueinander?
Fall 2: Die beiden großen US-amerikanischen Flugzeughersteller C und D wollen fusionieren
(gemeinsamer weltweiter Umsatz: 20 Milliarden EUR/Jahr). Beide verkaufen Flugzeuge unter
anderem an die Deutsche Lufthansa, an Air France und an British Airways. Allein die Deutsche
Lufthansa kauft jedes Jahr sowohl bei C als auch bei D mindestens vier Flugzeuge pro Jahr zum
Preis von 80 Millionen EUR pro Stück.
Fragen:
(1) Welche europäische Kartellrechtsordnung ist anwendbar? (2) Welche europäische
Kartellbehörde ist für die Anwendung zuständig?
Lösungsvorschlag:
Fall 1: Die beiden Konkurrenten A und B, ein russisches und ein brasilianisches Unternehmen,
vereinbaren einen Mindestpreis für Waren, die sie nach Deutschland exportieren. Andere
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Skript
Mitgliedsstaaten der EU sind nicht von dem Kartell betroffen. A und B erzielen mit dem
kartellierten Produkt in Deutschland einen Marktanteil von 50 Prozent.
(1) Anwendbare europäische Kartellrechtsordnungen
(a) Deutschland: hier gilt gemäß § 130 Abs. 2 GWB 7 das sog. Auswirkungsprinzip 
Deutsches Kartellrecht anwendbar.
(b) EU: Hier gilt Entsprechendes, wenngleich der EuGH eine eindeutige Festlegung bislang
vermeidet und wenigstens formal am Territorialitätsprinzip festhält. Im praktischen
Ergebnis besteht kein Unterschied, da er nicht auf den Ort der Absprache, sondern der
Ausführung abstellt (sog. „implementation doctrine“). 8
Als weitere Voraussetzung für die Anwendbarkeit des EU-Rechts bedarf es noch einer
Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels (Art. 101 AEUV). Dieses
Tatbestandsmerkmal wird weit ausgelegt. Es genügt bereits, wenn sich ein Kartell wie
vorliegend auf das gesamte Gebiet eines großen Mitgliedsstaates wie Deutschland erstreckt,
weil das Kartell „seinem Wesen nach die Wirkung [hat], die Abschottung der Märkte auf
nationaler Ebene zu verfestigen“. 9
Die Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels muss jedoch auch spürbar sein
(ungeschriebene TB-Voraussetzung!). Die Europäische Kommission (Bekanntmachung 2004/C
101/07) verneint eine spürbare Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels in der EU, wenn:
•
die Parteien auf keinem der von der Vereinbarung betroffenen relevanten Märkte
innerhalb der EU einen gemeinsamen Marktanteil von mind. 5 % erreichen und
•
(bei horizontalen Vereinbarungen) der durchschnittliche Jahresumsatz der Parteien
mit den von der Vereinbarung erfassten Waren innerhalb der EU nicht den Betrag
von 40 Mio. EUR überschreitet
7
„Dieses Gesetz findet Anwendung auf alle Wettbewerbsbeschränkungen, die sich im Geltungsbereich dieses Gesetzes
auswirken, auch wenn sie außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes veranlasst werden.“
8
EuGH, Urt. v. 27.9.1988 - Rs 89/85, Slg. 1988, 5193 = NJW 1988, 3086 – Zellstoffhersteller:
„1. Art. 85 EWGV [jetzt Art. 101 AEUV] ist auf Unternehmen mit Sitz außerhalb der Europäischen Gemeinschaft
anwendbar, wenn diese sich über die Preise für ihre in der Gemeinschaft ansässigen Kunden abstimmen und
tatsächlich zu den koordinierten Preisen verkaufen, weil diese Abstimmung eine Einschränkung des Wettbewerbs
innerhalb des gemeinsamen Marktes bezweckt oder bewirkt (Wirkungsprinzip).
2. Die Anwendung des Art. 85 EWG [jetzt Art. 101 AEUV] auf ein derartiges Preiskartell ist durch das
Territorialitätsprinzip gedeckt und verstößt deshalb nicht gegen das Völkerrecht, weil das Preiskartell innerhalb des
gemeinsamen Marktes durchgeführt wird. […]“
9
EuGH v. 13. 7. 1966 – Rs. 56/64 und 58/64, Slg. 1966, 321, 389 – Consten und Grundig.
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Skript
Hier ist von der Spürbarkeit der Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels
auszugehen. A und B haben auf den betroffenen Märkten einen Marktanteil von 50 %. Von
einem Umsatz über 40 Mio. € ist hier auszugehen.
Beachte: 2 verschiedene Arten der Spürbarkeit i.R.d. Art. 101 AEUV
•
Spürbare Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels
•
Spürbarkeit der Wettbewerbsbeschränkung (De-minimis-Grenze)
o (ebenfalls) ungeschriebenes TBM
o Spürbarkeit (-), wenn

Marktanteil < 10 % bei Horizontalvereinbarungen

Marktanteil < 15 % bei Vertikalvereinbarungen
Angesichts des hohen Marktanteils von A und B (50 Prozent) liegt hier auch eine spürbare
Wettbewerbsbeschränkung vor.
 Ergebnis: Auch EU-Kartellrecht ist anwendbar.
(2) Zuständigkeit für die Anwendung:
Hinweis: Hier sind 2 verschiedene Kartellrechtsordnungen anwendbar (Deutsches und
Europäisches Kartellrecht). Deshalb muss man hier auch differenzieren zwischen der
Zuständigkeit bei der Anwendung des deutschen und des europäischen Rechts.
a) Für das deutsche Recht:
Nach § 48 Abs. 2 GWB ist bei fehlender Spezialzuweisung grundsätzlich das
Bundeskartellamt zuständig, soweit die Auswirkungen des Verstoßes die Grenzen eines
Bundeslandes überschreiten. Für die Anwendung des deutschen Rechts ist hier nach § 48
GWB also allein das Bundeskartellamt zuständig (und keine Landeskartellbehörden).
b) Für das EU-Recht:
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Skript
Zuständig für die Anwendung des EU-Kartellrechts sind die Kommission und die
nationalen Kartellbehörden (hier: Bundeskartellamt) gemäß Art. 4 bzw. 5 VO 1/2003 sowie
§§ 48, 50 GWB.
Bei Einleitung eines Verfahrens durch die Kommission entfällt gem. Art. 11 Abs. 6 VO
1/2003 die Zuständigkeit der nationalen Behörden.
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(3) Verhältnis der beiden Rechtsordnungen zueinander
Vorliegend steht ein Kartellverstoß in Rede (Art. 101 AEUV). Das deutsche Kartellrecht (§
1 GWB) kann trotz der Anwendbarkeit des EU-Rechts angewandt werden. Das
Bundeskartellamt ist gem. Art. 3 Abs. 1 S. 1 VO 1/2003 allerdings zur parallelen
Anwendung von Art. 101 AEUV verpflichtet (Hinweis: Dies gilt selbstverständlich nur
dann, wenn - wie hier - die Zwischenstaatlichkeit vorliegt).
Die Anwendung von § 1 GWB darf gem. Art. 3 Abs. 2 S. 1 VO 1/2003 nicht zu
abweichenden Ergebnissen der Beurteilung aus Art. 101 AEUV führen (vgl. im deutschen
Recht auch § 22 GWB). Insbesondere darf kein Verhalten von Unternehmen auf nationaler
Ebene untersagt werden, welches auf europäischer Ebene erlaubt wäre. Nationales (hier:
deutsches) und Unionskartellrecht müssen in diesen Fällen exakt so angewendet werden wie
das Unionskartellrecht.
Vertiefungshinweis: Liegt keine Zwischenstaatlichkeit vor, ist Art. 101 AEUV nicht
anwendbar und die Frage nach dem Verhältnis der Rechtsordnungen stellt sich nicht.
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Fall 2: Die beiden großen US-amerikanischen Flugzeughersteller C und D wollen fusionieren
(gemeinsamer weltweiter Umsatz: 20 Milliarden EUR/Jahr). Beide verkaufen Flugzeuge unter
anderem an die Deutsche Lufthansa, an Air France und an British Airways. Allein die Deutsche
Lufthansa kauft jedes Jahr sowohl bei C als auch bei D mindestens vier Flugzeuge pro Jahr zum
Preis von 80 Millionen EUR pro Stück.
(1) Anwendbares Recht
a) Anwendbarkeit der europäischen FKVO
Entscheidend für die Anwendbarkeit der europäischen FKVO ist das Merkmal der
gemeinschaftsweiten Bedeutung des Zusammenschlusses (Art. 1 Abs. 1 FKVO). Ein
Zusammenschluss im Sinne des Art. 3 FKVO liegt hier unproblematisch vor. Das Merkmal
der gemeinschaftsweiten Bedeutung bestimmt sich objektiv anhand des Umsatzes der
beteiligten Unternehmen (sog. Aufgreifkriterien). Nach Art. 1 Abs. 2 FKVO muss der
weltweite Gesamtumsatz aller beteiligten Unternehmen zusammen mehr als 5 Mrd. EUR
betragen und der gemeinschaftsweite Gesamtumsatz von mindestens zwei beteiligten
Unternehmen muss jeweils mehr als 250 Mio. EUR betragen. Darüber hinaus dürfen die
Unternehmen
nicht
jeweils
mehr
als
zwei
Drittel
ihres
gemeinschaftsweiten
Gesamtumsatzes in ein und demselben Mitgliedstaat erzielen.
Da im vorliegenden Fall der weltweite Gesamtumsatz der beiden Unternehmen C und D 20
Milliarden EUR/Jahr beträgt und die Unternehmen C und D außerdem jeweils mehr als 250
Millionen EUR/Jahr in der Europäischen Union erwirtschaften (4 x 80 Millionen
EUR/Jahr), greift gem. Art. 1 Abs. 1, 2 FKVO die europäische Fusionskontrolle ein. Von
dem Eingreifen der Ausnahme des Art. 1 Abs. 2 Hs. 2 FKVO ist hier nicht auszugehen.
Dass der vorliegend in Rede stehende Zusammenschluss der Unternehmen C und D in den
USA und damit außerhalb Europas vollzogen werden soll, steht der Anwendbarkeit
europäischen Rechts nicht entgegen. Entscheidend ist allein der Umstand, dass (erhebliche)
Umsätze im Gebiet der EU erzielt werden.
Vertiefungshinweis: Sofern ein Zusammenschluss die Schwellenwerte des Art. 1 Abs. 2
FKVO nicht erreicht, kann er aber auch nach Art. 1 Abs. 3 FKVO gemeinschaftsweite
Bedeutung erlangen.
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b) Ebenfalls Anwendbarkeit von nationalem Fusionskontrollrecht?
Die Anwendbarkeit des nationalen Fusionskontrollrechts (z. B. des deutschen,
französischen und britischen) ist daneben ausgeschlossen, Art. 21 Abs. 3 FKVO (vgl. auch
§ 35 Abs. 3 GWB). Man spricht vom Prinzip des one stop shop.
Die Anwendbarkeit des mitgliedsstaatlichen Fusionskontrollrechts kommt allerdings in
Betracht, wenn eine entsprechende Verweisung erfolgt (siehe unten).
Vertiefungshinweise: Die Aufgreifkriterien des deutschen Fusionskontrollrechts sind in § 35
GWB geregelt. Sollten die Schwellenwerte des Art. 1 FKVO nicht erreicht werden, ist ggf.
eine parallele Prüfung des Zusammenschlusses durch mehrere Wettbewerbsbehörden
verschiedener Mitgliedstaaten möglich.
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(2) Zuständigkeit
Gem. Art. 21 Abs. 2 FKVO ist für die Anwendung des EU-Rechts ausschließlich die EUKommission zuständig. Anders als im Bereich des Kartellverbots (Art. 101 AEUV) und
des Verbots des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung (Art. 102 AEUV) ist das
Bundeskartellamt zur Anwendung des EU-Fusionskontrollrechts nicht befugt.
Allerdings ist eine Verweisung von der Kommission zu einer nationalen Behörde möglich
(mit der Folge der Anwendbarkeit des nationalen Rechts). Dies kann auf Antrag der
Beteiligten (Art. 4 Abs. 4 FKVO) oder auf Antrag eines Mitgliedsstaats erfolgen (Art. 9
FKVO).
Vertiefungshinweis: Im Falle einer fehlenden gemeinschaftsweiten Bedeutung ist unter
Umständen auch eine Verweisung von einem MS an die Kommission möglich, vgl. Art. 22
FKVO.
Abschließender Hinweis zu Fall 1 und 2:
Keine Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 3 Rom II VO/ EuGVVO!
•
Hier: Kartellverwaltungsrecht, keine privatrechtlichen Streitigkeiten
•
Hier steht kein privater Schadensersatzprozess in Rede
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V. Privater Rechtsschutz (Vertiefung): Die Kronzeugenregelung
1. Rechtsfolgen bei einem Verstoß gegen das Kartellverbot
•
Strafrechtlich: v.a. Submissionsbetrug (§ 298 StGB) und Betrug (§ 263 StGB)
•
Verwaltungsrechtlich
o Abstellungsverfügungen, Art. 7 VO 1/2003, § 32 GWB
o Verpflichtungszusagen, Art. 9 VO 1/2003, § 32 b GWB
o Einstweilige Maßnahmen, Art. 8 VO 1/2003, § 32 a GWB
o Feststellung der Nichtanwendbarkeit, Art. 10 VO 1/2003
•
Bußgeldrechtlich
o EU-Recht: Art. 23 VO 1/2003: Bußgeld nur gegen Unternehmen, nicht gegen
natürliche Personen
o Deutschland: § 81 GWB: Bußgeld auch gegen natürliche Personen möglich
(Abs. 4)
•
Zivilrechtlich
o Nichtigkeit, Art. 101 Abs. 2 AEUV, § 1 GWB iVm § 134 BGB
o Beseitigungsanspruch, § 33 Abs. 1 GWB
o Unterlassungsanspruch, § 33 Abs. 1 GWB
o Schadensersatzanspruch, § 33 Abs. 3 GWB
o Anspruch aus § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB für Kartellgeschädigten?
 umstr., Anfechtbarkeit des Folgevertrages gem. § 123 Abs. 1 Alt. 1 BGB?
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2. Das Bonusprogramm des Bundeskartellamts
Hinweis: Die nachfolgenden Ausführungen sollen einen Überblick über die Kronzeugenregelung
und
die
damit
verbundenen
Problematiken
verschaffen.
Wichtig
ist,
dass
Sie
die
(haftungsrechtlichen) Vor- und Nachteile für Kronzeugen kritisch beleuchten können. Vertiefte
Detailkenntnisse über die verschiedenen Vorschläge zur haftungsrechtlichen Privilegierung der
Kronzeugen werden im Rahmen einer Leistungskontrolle grundsätzlich nicht erwartet.
Zu den Problemen infolge der Kronzeugenregelung und den Vorschlägen einer haftungsrechtlichen
Privilegierung vgl. auch Bien, Überlegungen zu einer haftungsrechtlichen Privilegierung des
Kartellkronzeugen, in: EuZW 2011, 889.
a) Überblick über das Bonusprogramm und die Problematik
•
Möglichkeit eines Kartellanten, als Kronzeuge das Kartell aufzudecken
•
Vorteil für Kartellanten bei Kooperation mit dem Bundeskartellamt: Teilweiser bis
vollständiger Erlass des Bußgeldes (mittlerweile u. U. sehr hohe Bußgelder)
•
Vorteil für Behörde: Kartelle sind einfacher aufzudecken
•
Nachteil für Kronzeuge:
o Kein Schutz gegenüber privaten Schadensersatzklagen
o Einräumung eines Kartellverstoßes: Erstes Ziel für private SE-Klagen
 Gefährdung der Attraktivität des Kronzeugenprogrammes, wenn drohende Nachteile durch
private SE-Klagen die Vorteile des Bußgelderlasses minimieren bzw. übersteigen
 Exkurs: Lösung USA  einfacher statt dreifacher SE gegen Kronzeugen
•
Weiteres Problem: Das Pfleiderer-Urteil des EuGH (14.6.2011) 10
 Nach dieser Rspr. besteht das Risiko, dass der Geschädigte nach § 406 e StPO11
nicht nur in die Verfahrensakten, sondern auch in den Kronzeugenantrag Einsicht
nehmen kann
10
EuGH, 14.6.2011, Rs. C-360/09 - Pfleiderer, EuZW 2011, 598 = NJW 2011, 2946.
11
§ 406 e StPO:
„(1) Für den Verletzen kann ein Rechtsanwalt die Akten, die dem Gericht vorliegen oder diesem im Falle der Erhebung
der öffentlichen Klage vorzulegen wären, einsehen sowie amtlich verwahrte Beweisstücke besichtigen, soweit er
hierfür ein berechtigtes Interesse darlegt. […]
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b) Zwischenergebnis
•
Private und behördliche Kartellrechtsdurchsetzung stehen oftmals im Widerspruch
•
Je einfacher die Durchsetzung privater Schadensersatzklagen ist, desto unattraktiver wird
das Kronzeugenprogramm
•
Im Pfleiderer-Urteil scheint der EuGH der privaten Kartellrechtsdurchsetzung den Vorrang
einzuräumen
•
Wird das Kronzeugenprogramm infolge der Pfleiderer-Rspr. tatsächlich unattraktiv?
o Vielfach so vertreten
o Bien, EuZW 2011, 889: Einsicht in Kronzeugenantrag ist für private SE-Klage nicht
so entscheidend
•
Problematisch bleibt aber, dass der Kronzeugenantrag das Haftungsrisiko erheblich steigert:
o Kartellverstoß wurde vom Kronzeugen eingeräumt
o Mitkartellanten können Rechtsmittel einlegen, in diesem Fall erwächst die
behördliche Entscheidung nicht in Bestandskraft  Keine Bindungswirkung nach §
33 Abs. 4 GWB
o Folge: Zunächst kann (nur) der Kronzeuge in Anspruch genommen werden, er haftet
gesamtschuldnerisch gegenüber allen Kartellgeschädigten
(2) Die Einsicht in die Akten ist zu versagen, soweit überwiegende schutzwürdige Interessen des Beschuldigten oder
anderer Personen entgegenstehen. […]“.
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c) Überlegungen zur haftungsrechtlichen Privilegierung des Kronzeugen
•
Konsequenz aus der oben beschriebenen Problematik
•
In der Vergangenheit wurden verschiedene Vorschläge diskutiert:
(1) Entlassung des Kronzeugen aus der gesamtschuldnerischen Haftung
(2) Haftung des Kronzeugen nur gegenüber seinen unmittelbaren und
mittelbaren Vertragspartnern
(3) Beschränkung der Haftung des Kronzeugen entsprechend seinem Marktanteil
 Problem: Privilegierung der Kronzeugen auf Kosten der Geschädigten
(4) Unbeschränkte Schadensersatzansprüche der Geschädigten, aber
vollständiger Regress des Kronzeugen bei den anderen Kartellanten
(Gesamtschuldnerausgleich)
 Problem: Mitkartellanten haften für Kronzeugen, Haftung der
Mitkartellanten übersteigt den eigenen Verursachungsbeitrag
(5) Vorschlag Bien, EuZW 2011, 889, 890:
Erstattungsanspruch des Kronzeugen gegenüber der Staatskasse
 Vorteil: Privilegierung weder auf Kosten der Geschädigten noch auf
Kosten der Mitkartellanten
Voraussetzungen des Anspruchs:
•
Kronzeuge muss Geschädigten alle notwendigen Informationen zur
Verfügung stellen/Unterstützung der privaten Kläger bei der
Durchsetzung der SE-Ansprüche
•
Von Mitkartellanten eingenommenes Bußgeld als Obergrenze des
Erstattungsanspruches  Keine Finanzierung der Kronzeugen durch
Steuereinnahmen
d) Die Regelung in der neuen EU-Richtlinie über private Kartellschadensersatzklagen
(2014)
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Skript
Art. 11: „Gesamtschuldnerische Haftung“:
(1) Die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass Unternehmen, die durch gemeinschaftliches Handeln
gegen das Wettbewerbsrecht verstoßen haben, gesamtschuldnerisch für den durch diese
Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht verursachten Schaden haften, mit der
Wirkung, dass jedes dieser Unternehmen zum vollständigen Ersatz des Schadens verpflichtet
ist, und der Geschädigte das Recht hat, von jedem von ihnen vollständigen Schadensersatz zu
verlangen, bis der Schaden vollständig ersetzt ist.
(4) Abweichend von Absatz 1 gewährleisten die Mitgliedstaaten, dass ein Kronzeuge
gesamtschuldnerisch haftbar ist
a) gegenüber seinen unmittelbaren oder mittelbaren Abnehmern oder Lieferanten und
b) gegenüber anderen Geschädigten nur dann, wenn von den anderen Unternehmen, die an
derselben Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht beteiligt waren, kein vollständiger
Schadensersatz erlangt werden kann.
Lösung des Haftungsproblems in der SE-RL:
•
Privilegierte Stellung der Kronzeugen bei der gesamtschuldnerischen Haftung in Art. 11
Abs. 4 lit. b)
•
Subsidiäre Haftung gegenüber anderen Geschädigten als den unmittelbaren und mittelbaren
Abnehmern
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Bewertung dieser Regelung:
PRO:
•
Große Bedeutung der Kronzeugen für die Aufdeckung von Kartellen
•
Schutz der Kronzeugen dient dem Erfolg der Kartellverfolgung
CONTRA:
•
Beschränkung der Rechte der Geschädigten, keine freie Wahl des Anspruchsgegners
•
Möglicherweise sinkt die Hemmschwelle, ein Kartell einzugehen, wenn Unternehmen
Bußgeldern und SE-Ansprüchen durch Kronzeugenregelung entgehen können
ERGEBNIS (Vorschlag):
•
Konsequente Privilegierung des Kronzeugen (um Attraktivität des Bonusprogramms zu
erhalten)
•
Rechte der Geschädigten werden nicht zu stark beschränkt, subsidiär können sie gegen
Kronzeugen vorgehen/unmittelbare und mittelbare Abnehmer können immer gegen
Kronzeugen direkt vorgehen
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Prof. Dr. Florian Bien, Universität Würzburg
Examenskurs SPB 3 im SoSe 2015
D. Traditions-, Separations- und Abstraktionsprinzip versus Konsensund Einheitsprinzip
1. Definitionen
a/I Traditionsprinzip (Principe de tradition)
Voraussetzung für die Übereignung beweglicher Sachen ist grundsätzlich die Übergabe.
b/II Konsens- bzw. Vertrags- bzw. Einigungsprinzip (Principe du consensualisme)
Für die Übereignung einer Sache bedarf es lediglich der Willensübereinstimmung der Parteien. Ein
zusätzlicher förmlicher Akt (Übergabe o. ä.) ist entbehrlich.
b/I Separations- bzw. Trennungsprinzip (Principe de séparation)
Zwischen Verpflichtungsgeschäft (Planung) und dinglicher Rechtsänderung (Durchführung) ist zu
unterscheiden. Es bedarf je eines eigenen Rechtsgeschäfts.
b/II Einheitsprinzip (Principe d’unité)
Schuldrechtliche Verpflichtung und Übereignung fallen in einem Rechtsgeschäft zusammen.
c/I Abstraktionsprinzip (Principe d’abstraction)
Die Wirksamkeit des Verfügungsgeschäfts ist unabhängig von der Wirksamkeit des zugrunde
liegenden Verpflichtungsgeschäfts (und umgekehrt).
c/II Kausalprinzip
Abhängigkeit der Wirksamkeit des Verfügungs- von der Wirksamkeit des Verpflichtungsgeschäfts.
2. Überblick über mögliche Kombinationen
Traditions- Separations- Abstraktions- Beispiele
Prinzip
prinzip
Prinzip
nein
nein
nein
ja
nein
nein
nein
ja
nein
- § 1372 österr. ABGB: Forderungsübertragung
nein
nein
ja
logisch ausgeschlossen
- Art. 711, 1138, 1583 Code civil (bewegl. Sachen)
- Sec. 18 Rule 1 Sale of Goods Act (Vereinigtes Königreich)
- Allg. Preußisches Landrecht
- §§ 26 I und 139 III ZGB der DDR
- (Hand-)Schenkung im italienischen (Art. 783 Codice civile)
und französischen Recht (Rspr.)
1
Examinatorium Zivilrecht
Skript
_______________________________________________________
ja
nein
nein
ja
ja
Ja
ja
ja
Nein
Art. 714 schweizerisches OR; vgl. auch § 425 österr. ABGB
und Art. 165 I schweiz. OR: Forderungsabtretung
ja
ja
Ja
- § 929 S. 1 BGB
- §§ 398ff., 413 BGB: Übertragung von Forderungen und
sonstigen Rechten
- § 2 I deutsches SchiffsregG
3. Diskussion
a. Separationsprinzip – Einheitsprinzip
(a) Vorteil: Separationsprinzip kann ein zeitliches Auseinanderfallen von Entstehen der Pflicht zur
Übergabe und Übereignung und der Rechtsfolge des Eigentumsübergangs besser erklären.
(b) Nachteil: Separationsprinzip wirkt bei einfachen Sachverhalten (Brezelkauf) gekünstelt.
(c) „Durchbrechungen“ des Trennungsprinzips im französischen Recht
- Gattungskauf (vgl. Art.1583 C. civ.: Konkretisierung ist erforderlich für Eigentumsübergang)
- Verkauf zukünftiger Sachen (ist möglich, Art. 1130 Abs. 1 C. civ., Herstellung ist aber
erforderlich für Eigentumsübergang)
- Verkauf einer einem Dritten gehörenden Sache (Nichtigkeitssanktion gemäß 1593 C. civ. greift
nur, wenn sich der – unwissende! – Käufer darauf beruft) ist möglich, der Erwerb der Sache durch
den Verkäufer aber erforderlich, damit Eigentum auf Käufer übergehen kann
- Verkauf unter EBV (von Rechtsprechung und Gesetzgeber mittlerweile anerkannt, nicht aber
kompliziertere Formen wie verlängerter EBV oder Verarbeitungsklauseln)
(d) Durchbrechungen des Separationsprinzips im deutschen Recht?
- § 285 BGB: h. M. gewährt Anspruch auf das den Wert (Schaden) übersteigende sog. commodum
ex negotiatione
- Im Fall der Schenkung eines belasteten Grundstücks an einen Minderjährigen hatte der BGH sich
früher (vorsichtig) für eine „Gesamtbetrachtung“ von Verpflichtungs- und Verfügungsgeschäft als
insgesamt rechtlich nachteilig iSv § 107 BGB ausgesprochen. Heute ganz h. M.: teleologische
Reduktion von § 181 BGB.
b. Abstraktionsprinzip – Kausalprinzip
Vorteile – Nachteile – Durchbrechungen (insbes. § 181 BGB, Doppelmangel, Bedingung)
c. Traditionsprinzip – Konsensprinzip
(1) Traditionsprinzip
(a) Vorteil: Publizität gegenüber Dritten, aber auch im Verhältnis der Parteien untereinander (Bsp.:
Whistler-Fall der Cour de Cassation)
(b) Nachteil: Formalismus
(c) Durchbrechungen im deutschen Recht, z. B.
- § 929 S. 2 (Bsp.: gemietetes Klavier wird vom Mieter gekauft)
- § 930 (Besitzkonstitut, Sicherungsübereignung)
- § 931 BGB (Abtretung des Herausgabeanspruchs gegen dritten Besitzer)
(d) Durchbrechungen im französischen Recht
2
Examinatorium Zivilrecht
Skript
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- Doppelverkauf (Art. 1141 CC: Eigentümer ist derjenige Käufer, der als erster im Besitz der Sache
ist.)
- Gutgläubiger Erwerb vom Nichtberechtigten erfordert der Erwerb des Besitzes an der Sache (Art.
2276 CC)
***
Materialien: Vorschriften zum rechtsgeschäftlichen Eigentumsübergang
Code civil (Frankreich, 1807)
Art. 711
La propriété des biens s'acquiert et se transmet par succession, par donation entre vifs ou
testamentaire, et par l'effet des obligations.
Eigentum an Sachen lässt sich erwerben, und kann auf andere übergehen, durch Erbfolge,
durch Schenkung unter Lebenden oder auf den Todesfall, und durch die Wirkung der
Verbindlichkeiten.
Art. 1130 al. 1er
Les choses futures peuvent être l'objet d'une obligation.
Zukünftige Sachen können der Gegenstand einer Verpflichtung sein.
Art. 1138
L'obligation de livrer la chose est parfaite par le seul consentement des parties contractantes.
Elle rend le créancier propriétaire et met la chose à ses risques dès l'instant où elle a dû être livrée,
encore que la tradition n'en ait point été faite […].
Die Verpflichtung, eine Sache zu überliefern, wird durch die bloße Einwilligung der
Kontrahenten vollkommen begründet. Sie macht den Berechtigten zum Eigentümer und
überträgt auf ihn die Gefahr der Sache von dem Augenblick an, wo sie überliefert werden
sollte, obgleich ihre Übergabe nicht geschehen ist.
Art. 1141
Si la chose qu'on s'est obligé de donner ou de livrer à deux personnes successivement est purement
mobilière, celle des deux qui en a été mise en possession réelle est préférée et en demeure
propriétaire, encore que son titre soit postérieur en date, pourvu toutefois que la possession soit de
bonne foi.
Ist die Sache, die man zu geben oder zu überliefern sich gegen zwei Personen nacheinander
verbunden hat, eine bloß bewegliche Sache, so wird diejenige unter beiden vorgezogen, die
in den wirtschaftlichen Besitz gesetzt worden ist, und sie bleibt Eigentümer davon, wenn
schon ihre Erwerbungsurkunde von einem späteren Datum ist, vorausgesetzt jedoch, dass
der Besitz ein redlicher sei.
3
Examinatorium Zivilrecht
Skript
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Art. 1583
[La vente] est parfaite entre les parties, et la propriété est acquise de droit à l'acheteur à l'égard du
vendeur, dès qu'on est convenu de la chose et du prix, quoique la chose n'ait pas encore été livrée ni
le prix payé.
[Der Verkauf] ist unter den Kontrahenten vollkommen, und in Hinsicht der Verkäufers geht
das Eigentum kraft des Gesetzes auf den Käufer über, sobald man über die Sache und den
Preis einig geworden ist, wenn schon die Sache noch nicht überliefert, und der Preis nich
nicht gezahlt worden ist.
Art. 1599
La vente de la chose d'autrui est nulle : elle peut donner lieu à des dommages-intérêts lorsque
l'acheteur a ignoré que la chose fût à autrui.
Der Verkauf einer fremden Sache ist ungültig; er kann gleichwohl eine Klage auf
vollständigen Schadensersatz begründe, wenn der Käufer nicht wusste, dass die Sache einem
anderen zugehörte.
Art. 2276
En fait de meubles, la possession vaut titre.
Néanmoins, celui qui a perdu ou auquel il a été volé une chose peut la revendiquer pendant trois ans
à compter du jour de la perte ou du vol, contre celui dans les mains duquel il la trouve ; sauf à celuici son recours contre celui duquel il la tient.
Bei Mobilien gilt der Besitz als Titel.
[Ausnahme: Verlust oder Diebstahl]
The Civil Code of the State of Louisiana (1808)
Art. 518. Voluntary transfer of the ownership of a movable
(1) The ownership of a movable is voluntarily transferred by a contract between the owner and the
transferee that purports to transfer the ownership of the movable. Unless otherwise provided, the
transfer of ownership takes place as between the parties by the effect of the agreement and against
third persons when the possession of the movable is delivered to the transferee.
(2) When possession has not been delivered, a subsequent transferee to whom possession is
delivered acquires ownership provided he is in good faith. […]
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Examinatorium Zivilrecht
Skript
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Allgemeines Landrecht für die preußischen Staaten – ALR (Preußen, 1794)
Zehnter Titel
§ 1 Die mittelbare Erwerbung des Eigenthums einer Sache erfordert, außer dem dazu nothigen Titel,
auch die wirkliche Uebergabe derselben. (Tit. VII. §. 58. Tit. IX. §. 2-6.)
§ 2 Der Titel zur mittelbaren Erwerbung des Eigenthums kann durch Willenserklärungen, durch
Gesetze und rechtliches Erkenntniß begründet werden.
Zivilgesetzbuch – ZGB (DDR, 1975)
§ 26 ZGB
(1) Der Übergang des Eigentums an einer Sache auf Grund eines Vertrages erfolgt mit der
Übergabe der Sache, soweit in diesem Gesetz oder in anderen Rechtsvorschriften nichts anderes
bestimmt ist. […]
(2) Das Eigentum an Grundstücken […]
§ 139 ZGB
(3) Das Eigentum geht mit Übergabe der Ware und Zahlung des Kaufpreises auf den Käufer über,
soweit nichts anderes vereinbart ist.
Codice civile (Italien, 1942)
Art. 783
La donazione di modico valore che ha per oggetto beni mobili è valida anche se manca l'atto
pubblico, purché vi sia stata la tradizione. La modicità deve essere valutata anche in rapporto alle
condizioni economiche del donante.
Sale of Goods Act (Großbritannien, 1893/1979)
Sec. 17 Property passes when intended to pass
(1) Where there is a contract for the sale of specific or ascertained goods the property in them is
transferred to the buyer at such time as the parties to the contract intend it to be transferred.
Sec. 18 Rules for ascertaining intention
Unless a different intention appears, the following are rules for ascertaining the intention of the
parties as to the time at which the property in the goods is to pass to the buyer.
Rule 1.— Where there is an unconditional contract for the sale of specific goods in a
deliverable state the property in the goods passes to the buyer when the contract is made,
and it is immaterial whether the time of payment or the time of delivery, or both, be
postponed. […]
Uniform Commercial Code (USA, 1972)
§ 2-401
(1) […] title to goods passes from the seller to the buyer in any manner on any condition explicitly
agreed on by the parties.
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Examinatorium Zivilrecht
Skript
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(2) Unless otherwise explicitly agreed title passes to the buyer at the time and place at which the
seller completes his performance with reference to the physical delivery of the goods […]
The Civil Code of the State of California (1872)
Art. 1039
Transfer is an act of the parties, or of the law, by which the title to property is conveyed from one
living person to another.
Art. 1040
A voluntary transfer is an executed contract, subject to all rules of law concerning contracts in
general; except that a consideration is not necessary to its validity.
Schiffsregistergesetz (Deutschland, 1940)
§2
(1) Zur Übertragung des Eigentums an einem im Seeschiffsregister eingetragenen Schiff ist erforderlich und genügend, dass der Eigentümer und der Erwerber darüber einig sind, dass das Eigentum
auf den Erwerber übergehen soll.
Obligationenrecht, fünfter Teil des ZGB (Schweiz, 1912)
Art. 13
Ein Vertrag, für den die schriftliche Form gesetzlich vorgeschrieben ist, muss die Unterschriften
aller Personen tragen, die durch ihn verpflichtet werden sollen.
Art. 165
(1) Die Abtretung bedarf zu ihrer Gültigkeit der schriftlichen Form.
(2) Die Verpflichtung zum Abschluss eines Abtretungsvertrages kann formlos begründet werden.
Art. 714
(1) Zur Übertragung des Fahrniseigentums bedarf es des Überganges des Besitzes auf den
Erwerber.
Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch - ABGB (Österreich, 1812)
§ 425
Der bloße Titel gibt noch kein Eigentum. Das Eigentum und alle dingliche Rechte überhaupt
können, außer den in dem Gesetze bestimmten Fällen, nur durch die rechtliche Übergabe und
Übernahme erworben werden.
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Examinatorium Zivilrecht
Skript
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Bürgerliches Gesetzbuch - BGB (Deutschland, 1900)
§ 929
Zur Übertragung des Eigentums an einer beweglichen Sache ist erforderlich, dass der Eigentümer
die Sache dem Erwerber übergibt und beide darüber einig sind, dass das Eigentum übergehen soll.
[…]
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Examinatorium Schwerpunktbereich 3
Skript
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Überblick IZVR
Worum geht es im IZVR?
Normen, die in Zivilrechtsfällen mit Auslandsbezug Verfahrensfragen regeln, va. zur internationalen
Zuständigkeit wie Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Entscheidungen.
Die internationale Zuständigkeit bestimmt den Ausgang des Verfahrens häufig, weil zunächst Bestimmung des zuständigen Gerichts; daraufhin wendet das Gericht sein eigenes IPR an. Vor der Frage
des anwendbaren Rechts Ermittlung des zuständigen Gerichts, wovon Auswahl der für die Bestimmung des anwendbaren Rechts herangezogen Kollisionsnormen abhängt (lex fori-Grundsatz).
Internationale Zuständigkeit von Amts wegen zu prüfen.
-
jedes Gericht wendet sein eigenes IZVR an (Arg.: Praktikabilität, Vorhersehbarkeit)
Bevor man (deutsches) IVZR anwendet: besteht überhaupt dt. Gerichtsbarkeit?
VR Grenzen der Gerichtsgewalt – Staatenimmunität
-
-
Abgrenzung int. Zuständigkeit (dt. oder ausl. Gerichte zuständig?) vs. Bestehen dt. Gerichtsbarkeit (VR Grundsätze, die Austragung des Prozesses vor dt. Gericht verhindern)
Immunität ausl. Staaten und ihrer Vertreter
Staaten: Staatenimmunität  Völkergewohnheitsrecht; UN-Konvention 2004 verabschiedet, aber noch nicht in Kraft;

-
früher: absolute Staatenimmunität: kein Verklagen, keine Vollstreckung in
ausl. Staatenvermögen im Inland (Souveränität)
 heute: Lehre von der relativen Staatenimmunität (funktional begrenzte Immunität)
• hoheitl. Handeln (acta iure imperii)
• nicht hoheitl. Handeln (acta iure gestionis) – z.B. National Iranian Oil
Company
o bei Vollstreckungsverfahren in das Vermögen eines Staates: Zweckbindung des Vermögens (hoheitl.?)
 Botschaftskonto ist immun
 in Konto für Wirtschaftstransaktionen kann vollstreckt werden
o wichtigste Ausnahme von Staatenimmunität: Grundstücke
o jur. Pers. haben nicht Teil an Staatenimmunität (str)
persönl. Immunität
o WDÜ/WKÜ, vgl. §§ 18-20 GVG (Verweis)
o Dtl. verzichtet hier auf Gegenseitigkeit (wird angewendet, auch wenn andere Partei
nicht Vertragsstaat ist)
o gilt für ausl. Staatsgäste, Diplomaten, Familienangehörige  ausgeschlossen von Zivilgerichtsbarkeit
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Sommersemester 2015
Björn Becker, Annalena Scholl, Markus Welzenbach
Examinatorium Schwerpunktbereich 3
Skript
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-
o Ausnahmen: Art. 31 WDÜ (v.a. c)), Art. 32 III WDÜ
räumlich-gegenständliche Immunität
o Archive, Diplomatenwohnungen, Kuriergepäck, Botschaftsgebäude, etc.
Internationale Organisationen
o i.d.R. Immunitäts-Abkommen mit Sitzstaaten
Die EuGVVO – Anwendbarkeit
sachliche Anwendbarkeit
-
-
Art. 1 I GVO: Zivil- und Handelssachen
o auch: Individualarbeitsvertrag (Art. 18f.), Unterhaltssachen
o Staatshaftung (-), Leistungsverwaltung im Privatrecht (+)
Ausnahmen: Personenstand (Ehescheidung, Ehesachen  EheVO), Familienrecht, Erbrecht,
Konkursvergleich, Schiedsgerichtsbarkeit, etc.
räumlich-persönliche Anwendbarkeit
-
-
Räumlich:
o eigentliches Ziel: Binnenmarkts-Förderung
o aber: Erwägungsgrund Nr. 8 und EuGH (Owusu/Jackson): es genügt [Bezug zu einem MS], Art. 2 I GVO
persönlich: Art. 4 I GVO: Wohnsitz des Beklagten entscheidet über int. Zust.
o Voraussetzungen für Anwendbarkeit der GVO müssen aus Zust.vorschriften herausgelesen werden
o allg. Regel des Art. 6 I i.V.m. 4 I GVO (Grundregel)
 Wohnsitz des Beklagten innerhalb eines EU-MS  GVO anwendbar
 vorbehaltlich Art. 24, 25 GVO
ggf. Art. 6 I, 62, 63 GVO
-
Problem: exorbitante Zuständigkeiten (e.g. „transient rule“)
o keine Sach-/Rechtsnähe vorausgesetzt
 dient dem Vorteil eigener Staatsangehöriger
 „minimal contacts“ genügen für Zuständigkeit
o z.B. § 23 ZPO  darf nicht geltend gemacht werden, wenn GVO anwendbar ist
o Art. 4 GVO: exorbitante Zuständigkeiten in der EU (für MS untereinander) abgeschafft
o Art. 5 II GVO: verstärkt exorbitante Zuständigkeit (gegenüber Drittstaaten)
zeitliche Anwendbarkeit
-
Art. 66, 81
für den Zeitraum vor 10.1.2015 EuGVVO alt, davor EuGVÜ
 wenn EuGVVO nicht anwendbar ist: entweder VR Vertrag oder autonomes dt. Recht (ZPO –
Doppelfunktionalität, örtl. Zuständigkeit indiziert internationale)
allgemeiner Gerichtsstand
 allgemeiner Gerichtsstand für alle Klagen
-
Grundsatz für Ort des allgemeinen Gerichtsstands
o actor sequitur forum rei („der Kläger folgt dem Gerichtsstand der Sache“)
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Sommersemester 2015
-2-
B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach
Examinatorium Schwerpunktbereich 3
Skript
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-
-
o der Kläger muss also beim Beklagten klagen
allg. Gerichtsstand nach GVO: Art. 4 I GVO
o allg. Gerichtsstand = Wohnsitz des Beklagten
allg. Gerichtsstand nach autonomem dt. Recht (wenn GVO nicht anwendbar ist):
o § 12 ZPO (doppelfunktional!): „Def.“ des allg. Gerichtsstandes
o wo?  §§ 12ff. ZPO  §§ 12, 13 ZPO  gegen eine Person an ihrem Wohnsitz klagen, das gilt auch für int. Zuständigkeit
Wo ist der Wohnsitz?
o GVO: keine Regelung/Def.
o nat. Recht: jeweils eigene Def. anwenden
 § 7 BGB für nat. Pers.
o Gesellschaften:
 Art. 4 I GVO  Art. 63 GVO definiert Wohnsitz bei Ges.
• 3 alternative Kriterien: Satzungssitz / HauptVw / HauptNL
• dadurch mehrere allg. Gerichtsstände möglich!
 § 17 I 2 ZPO  VwSitz  II meint Satzungssitz, sonst Ort der Vw
Besondere Gerichtsstände
 Vertragsrecht: Art. 7, 8 GVO
Klagen aus Vertrag: Gerichtsstand des Erfüllungsortes
-
-
EuGVO: Art. 7 Nr. 1 GVO
o Einleitungssatz enthält Vss.  Art. 4 I GVO Wohnsitz in GVO-MS
Tatbestandsmerkmale des Art. 5 Nr. 1 GVO
o Vertragsbegriff (s.u.)
o Erfüllungsort (s.u.)
 wo erfüllt wurde bzw. hätte erfüllt werden müssen
 hier kann geklagt werden!
typische Fragen:
o was ist ein Vertrag?
o freiwillige Verpflichtung zweier Personen zu einer Leistung
o Grenzfälle: c.i.c., Gewinnmitteilung
 autonome oder nat. Auslegung der GVO?  st. Rspr. EuGH: autonom! (z.B.
Tacconi)

Fall 1: Tacconi
Tacconi benötigt eine Maschine, die von der deutschen Firma HWS hergestellt wird. Daher schließt T
mit Zustimmung von HWS einen Leasingvertrag über eine solche Maschine mit dem italienischen
Leasingunternehmen BN Commercio e Finanza SpA. Allerdings kommt der Kaufvertrag zwischen
HWS und BN nicht zustande, T erhält die Maschine nicht. T meint, die HWS habe den Verkauf an BN
ungerechtfertigt verweigert und damit gegen ihre Pflicht, nach Treu und Glauben zu handeln, verstoßen. T verlangt daher von HWS Schadensersatz und hält die italienischen Gerichts für zuständig, da
der Schaden in Perugia eingetreten sei. HWS verweist hingegen auf Art. 7 Nr. 1 EuGVVO. (EuGH
vom 17.09.2002, Rs. C 334/00 (Fonderie Officine ./. MeccanicheTacconi))
Bearbeitervermerk: Ist das italienische Gericht international zuständig?
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Sommersemester 2015
-3-
B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach
Examinatorium Schwerpunktbereich 3
Skript
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I. Anwendbarkeit der EuGVVO?
• Sachlich, Art. 1 Abs. 1 (+)
• Räumlich-persönlich, Art. 4 Abs. 1 i.V.m. 63 EuGVVO (+)
• Zeitlich (+)
II. Ausschließlicher Gerichtsstand? (-)
• Art. 24 EuGVVO? (-)
• Art. 18 Abs. 2 i. V. m. Art. 17 Abs. 1 EuGVVO? (-), da Tacconi nicht verklagt wird und kein Verbraucher ist
III. Allgemeiner Gerichtsstand nach Art. 4 Abs. 1, 6 Abs. 1 EuGVVO: Deutschland
IV. Besonderer Gerichtsstand?
• Art. 7 EuGVVO
•
Problem: Zuständigkeit nach Art. 7 Nr. 1 (vertraglich) oder Nr. 2
(deliktisch) EuGVVO zu beurteilen?
•
EuGH: vertragliche Zuständigkeit nach Art. 7 Nr. 1 EuGVVO
setzt „freiwillige Verpflichtung einer Partei gegenüber einer anderen, nicht dagegen den Abschluß
eines Vertrags“ voraus
•
•
Hier lag ein Fall vorvertraglicher Haftung (Abbruch von Verhandlungen) vor, es bestand jedoch noch keine freiwillige Verpflichtung
Deshalb: gesetzliche/außervertragliche Haftung, Zuständigkeit
nach Art. 7 Nr. 2!
• Ubiquitätsprinzip: Erfolgs- bzw. Handlungsort
V. Ergebnis: Zuständigkeit des italienischen Gerichts (+)
[Anmerkung: Vorliegend handelt es sich um Leasing im Dreiecksverhältnis: Bei einem Dreiecksverhältnis schließt der Kunde (künftiger Leasingnehmer) einen Kaufvertrag über einen Gegenstand mit
einem Lieferanten ab und anschließend einen Leasingvertrag über den Gegenstand mit einem LeasingUnternehmer. Damit der Leasing-Unternehmer das Eigentum an dem Gegenstand erlangt, tritt er in
den Kaufvertrag zwischen dem Kunden und dem Lieferanten ein.
Die Sachverhalte sind verkürzt wiedergegeben, für ein umfassendes Verständnis empfiehlt sich die
Lektüre des EuGH-Urteils.]
-
was ist die maßgebliche Verpflichtung?
EuGH: Tessili / de Bloos/Bouyer-Rspr.

o
o
es kommt auf die konkret streitige Verpflichtung an
wo ist der Erfüllungsort für diese Verpflichtung?
Art. 7 Nr. 1
 a) Erfüllungsort ist nach Tessili/de Bloos-Rspr. nach der lex causae für die jeweils streitige Verpflichtung zu bestimmen
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Sommersemester 2015
-4-
B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach
Examinatorium Schwerpunktbereich 3
Skript

-
-
-
_____________________________________________________
b) bietet eine autonome Def. des Erfüllungsortes, die in den meisten Fällen
praktisch greift (autonome Def. und Auslegung)
• z.B. „Verkauf bewegl. Sachen“  Lieferungsort
• z.B. „Erbringen von Dienstleistungen“ (weiter als BGB-Dienstverh.)

 c) falls b) nicht anwendbar ist, via c) zurück zu a) (also wieder lex causaeErfüllungsort der maßgeblichen Verpflichtung)
o damit ist die Lösung einheitlich (nicht mehr „maßgebliche Verpflichtung“-abhängig)
 neben dem allg. Gerichtsstand des Beklagten kann der Kläger auch am Ort der Sache klagen (praktisch sinnvoll, z.B. in Augenscheinnahme)
Art. 5 Nr. 1 lit b) GVO: Erfüllungsorte
o Kauf und Dienstleistungen:
o „Verkauf beweglicher Sachen“ = KV
 auch Werklieferungsverträge etc. eingeschlossen
 nur Waren! nicht Rechte, Forderungen
 beachte: besteht ggf. besonderer Verbrauchergerichtsstand?
o Dienstleistungen
 Art. 50 EGV: weit zu verstehen
 alle Leistungen, die gegen Entgelt erbracht werden, z.B. Freiberufler, Werkvertrag, Frachtvertrag, etc.
o Erfüllungsort ist der Ort in einem MS, an den geliefert wurde/hätte werden sollen
Problem: was, wenn an mehrere Orte zu liefern ist?
o EuGH „Color Drack“: zwar alle Orte innerhalb eines MS, aber Art. 7 GVO bestimmt
auch örtl. Zuständigkeit
o EuGH: Lieferort = Ort der Hauptleistung (Schwerpunktbetrachtung nach wirtschaftlichen Kriterien)
o allerdings Vorbehalt, bei Orten in mehreren MS anders zu entscheiden
andere Fallgruppen
o Anwaltsdienste (Kanzlei in A, Verhandlung in B)
 hier: Schwerpunkt = Vorbereitungszeit (idR), also Kanzleiort
 BGH verletzte Vorlagepflicht, denn Color Drack hatte ausdrücklich offengelassen!
o Flug (Rehder Air Baltic): Vorlagebeschluss vom 22.4.2008
 Dienstleistung: wo hätte sie erbracht werden müssen?
 BGH: entweder „Wahl innerhalb des MS“ (Color Drack) übertragen, dann
Wahl des Klägers ODER Schwerpunktbetrachtung mit dem Schwerpunkt am
Abflugort (Bereitstellung der Maschine)
 eher Schwerpunktbetrachtung, aber auch etwas fraglich
Verbrauchersachen, Art. 17ff. GVO
-
-
-
Art. 17ff. EuGVO: passt nicht direkt ins Schema allg./bes. Gerichtsstand
o für Verbraucher wird bes. Gerichtsstand als Wahlmöglichkeit begründet, für den Unternehmer wird ein ausschließlicher Gerichtsstand begründet
Art. 17 GVO: Definition
Art. 18 GVO: Vorschriften über Gerichtsstände / Zuständigkeiten (gespalten)
o Wahlrecht für Verbraucher-Kläger
o ausschließlicher Gerichtsstand für Unternehmer-Kläger
Art. 19 GVO: Einschränkungen für Gerichtsstands-Vereinbarungen
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Sommersemester 2015
-5-
B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach
Examinatorium Schwerpunktbereich 3
Skript
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Art. 15, 16 GVO können NICHT durch Gerichtsstandsvereinbarung abbedungen werden!
Ziel: Schutz des Verbrauchers (schwächerer Vertragspartner)
o soll Gerichtsstand im eigenen Staat haben (Ausnahme von allg. Regel)
o dies soll nicht durch Gerichtsstandsvereinbarung eingeschränkt werden
o Absicht: Stärkung des Vertrauens in den Binnenmarkt
Art. 17 I GVO: „oder“-Verknüpfung
o Verbrauchersachen schrittweise erweitert, c) erst in GVO
 TeilzahlungsKV
 RatenkreditV
 alle VerbraucherV  umfassender!
• Def. entsprechend Art. 6 Rom I-VO!  Ziel: Zuständigkeit und anwendbares matR sollen parallel laufen (EuGVO/Rom I)
• Unternehmertätigkeit in dem Staat, wo Verbraucher seinen Wohnsitz
hat, ausgeübt oder ausgerichtet
• Problem: „Uferlosigkeit“ des Art. 17 I c) GVO
o weite Fassung wurde in Rom I übernommen, Erwägungsgrund 24
Problem: „Ausrichten“ und Werbung mit dann „mobilem“ Verbraucher?
o Werbung, z.B. Flyer, und danach begibt sich Verbraucher an Geschäftssitz des Gewerbetreibenden?  Ort des Vertragsschlusses ist unerheblich, Ausrichten (+), damit
Verbrauchergerichtsstand  Schutz des „aktiven“ Verbrauchers!
Problem: Internet-Fälle und „ausrichten“?
o Zugänglichkeit einer Website reicht noch nicht, es muss Vertragsschluss im Fernabsatz erfolgen  nur Info über Web/Prospekte bzw. Werbung/Angebot genügt nicht
(sonst weltweite Ausdehnung)
 Vgl. aktive vs. Passive Website (Pammer/Schlüter bzw. Alpenhof/Heller) 
„Vertragsschluss auf ausschließlich elektronischem Wege zu Stande kommt“;
nicht aber „bloße Abrufbarkeit“
o
-
-
-
-
Fall 2: Das „fernabgesetzte“ Wohnmobil (siehe BGH-Vorlagebeschluss vom 1.2.2012, EuZW
6/2012, 236 m.Anm. Sujecki)
Tourist T aus den Niederlanden hat sich auf der Website eines in Deutschland ansässigen WohnmobilVermieters W (die u.a. eine Anfahrtsskizze aus den Niederlanden, niederländische Flaggen sowie den
Hinweis „Wij spreken Nederlands!“ enthält) über die Mietmöglichkeiten für ein Wohnmobil informiert. Anschließend tauschen die Parteien mehrere E-Mails aus; W faxt T einen Reservierungsantrag,
den T unterschreibt und W zurückfaxt. Auf der Rückseite dieses Antrags waren Ws AGB für Wohnmobil-Mietverträge abgedruckt, deren Nr. 19 enthält eine Gerichtsstandsvereinbarung, die für alle
Streitigkeiten im Zusammenhang mit dem Vertrag den Sitz des Vermieters festlegt, soweit der Mieter
keinen allgemeinen Gerichtsstand im Inland hat. Später leistet T in den Räumen der W die Anzahlung,
dort wird dann auch der Mietvertrag geschlossen. Allerdings gibt T das Wohnmobil erst nach Ablauf
der Mietzeit zurück, er begründet dies mit technischen Defekten. W bestreitet die Defekte und macht
Schadensersatz wegen verspäteter Rückgabe geltend.
Bearbeitervermerk:
Sind die deutschen Gerichte international zuständig?
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Sommersemester 2015
-6-
B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach
Examinatorium Schwerpunktbereich 3
Skript
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I. Anwendbarkeit der EuGVVO?
1. Sachlich, Art. 1 Abs. 1 EuGVVO? (+)
2. Räumlich-persönlich, Art. 4 Abs. 1 EuGVVO? (+)
3. Zeitlich (+)
II. Ausschließlicher Gerichtsstand?
1. Art. 18 Abs. 2 EuGVVO?
a. Prüfung des Art. 17 Abs. 1 EuGVVO
1) Anhaltspunkte, dass Gewerbetreibender Geschäfte mit Verbrauchern tätigen will, die in anderen
MS wohnhaft sind (im Sinne von: zu einem Vertragsschluss mit diesen bereit) – z.B. internationaler
Charakter der Tätigkeit, Anfahrtsbeschreibungen aus anderen MS, Verwendung anderer Sprache oder
Währung, Möglichkeit der Buchung/Bestätigung in anderer Sprache
2) aber: ist ZUSÄTZLICH nötig, dass der Vertrag mit Fernabsatzmitteln geschlossen wird?
a) teils: Art. 17 Abs. 1 lit. c) EuGVVO NUR bei Fernabsatz-Vertrag
b) A.A.: Vertrag muss nicht zwingend im Fernabsatz geschlossen werden, es genügt, wenn Internetauftritt zumindest ursächlich für Vertragsschluss war
c) BGH: „Ausrichten“ erfordert, dass Verbraucher durch Website zumindest zum Vertragsschluss
motiviert wurde – Kausalzusammenhang genügt / NICHT aber, wenn Website zwar „ausgerichtet“,
aber Verbraucher keine Kenntnis hatte (dann ist Schutzzweck nicht erfüllt…)
BGH: hier Annahme einer Verbrauchersache – „Denn im vorliegenden Fall sind die Parteien bereits
vor der Unterzeichnung des Mietvertrags mit Mitteln des Fernabsatzes eine vertragliche Bindung eingegangen, die unmittelbar in den eigentlichen Abschluss des Mietvertrags mündete“
d) EuGH: „Die Anwendbarkeit von Art. 15 Abs. 1 lit. c [jetzt Art. 17 Abs. 1 lit.c ]EuGVVO setzt
nicht voraus, dass der Vertrag zwischen Verbraucher und Unternehmer mit Mitteln des Fernabsatzes
geschlossen wurde.“
3) Ergebnis: Vertrag muss nicht im Fernabsatz geschlossen sein
b. Ergebnis: Ein Ausrichten auf die Niederlande liegt vor.
2. Abweichung durch Gerichtsstandsvereinbarung, Art. 25 EuGVVO
a. Art. 25 Abs. 4 EuGVVO verweist auf Art. 19 EuGVVO
b.Voraussetzungen des Art. 19 EuGVVO erfüllt? (-)
c. Ergebnis: Gerichtsstandsvereinbarung ist unwirksam
[Exkurs: Art. 25 Abs. 1 EuGVVOneu setzt anders als Art. 23 Abs. 1 EuGVVO nicht mehr voraus,
dass mindestens eine der Parteien ihren Wohnsitz in einem Mitgliedstaat hat. Hinzutritt daneben, dass
das gewählte Gericht zuständig ist, sofern die Gerichtsstandsvereinbarung nicht nach dem Rechts dieses Mitgliedstaats materiell nichtig ist.]
3. Ergebnis: Die niederländischen Gerichte sind international ausschließlich
zuständig.
III. Ergebnis: Die niederländischen Gerichte sind international ausschließlich zuständig.
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Sommersemester 2015
-7-
B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach
Examinatorium Schwerpunktbereich 3
Skript
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[Anmerkung: Die Gerichtsstandsvereinbarung kann auch zuerst geprüft werden, dann muss aber inzident geprüft werden, ob eine Verbrauchersache gem. Art. 17 I EuGVO vorliegt, da nur dann Anwendbarkeit des Art. 19 EuGVO – dieser Lösungsweg ist also insgesamt verschachtelter.]
Gerichtsstand der unerlaubten Handlung
-
-
-
was ist unerlaubte Handlung?
o autonome Auslegung des EuGH:
 Schadenshaftung des Beklagten
 kein Vertrag iSd Art. 7 Nr. 1 (keine freiwillige Verpflichtung)  „stur“ alles,
was nicht auf Vertrag beruht
  auch Fälle, die nach dt. Recht z.B. BerR oder GoA sein könnten!
  auch Gefährdungshaftung
  auch Unterlassungsklagen wegen Eigentumsbeeinträchtigung (z.B. § 1004
BGB)
o es genügt ein zukünftig drohender Schadenseintritt (vorbeugende Unterlassungsklage)
Art. 7 Nr. 2 EuGVO
o „Ort“: auch örtliche Zuständigkiet
o „schädigendes Ereignis“: Handlung oder RG-Verletzung?
wo ist Ort der unerlaubten Handlung?
o Handlungsort (z.B. Herstellung)
o Erfolgsort (Rechtsgutsverletzung)
o  EuGH (Rheinverschmutzungsfall): beides sind Orte iSd Art. 7 Nr. 2 GVO!
o Wahlrecht des Klägers!!!
o Sonderfälle:
 Vermögensdelikte: laut EuGH geht es um Beweisnähe, also ist Gerichtsstand
nur dort, wo Vermögen konkret geschädigt ist
Fall Nr. 3: „Holz-Ente“
Spielzeughersteller S mit Sitz in China verkauft bunt lackiertes Holzspielzeug. Da der Lack hinsichtlich einiger chemischer Substanzen nicht den EU-Grenzwerten entspricht, werden die Spielsachen
nicht in der EU angeboten; S vertreibt sie aber unter anderem in China, Brasilien und Russland. Der
Inhaber einer portugiesischen Kaufhauskette, P, kauft in Brasilien günstig einen großen Posten des
Holzspielzeugs und importiert es nach Portugal, wo er es in den Spielwarenabteilungen seiner Kaufhäuser anbietet.
Oma Ottilie, wohnhaft in Rendsburg, sieht beim Urlaub in Portugal eine „entzückende“ Holzente, die
sie „ganz reizend“ findet und daher als Mitbringsel für ihre Enkelin Emmy kauft. Die kleine Emmy
lutscht begeistert an der Ente und hat leichte Vergiftungserscheinungen, die ihre Eltern im Krankenhaus behandeln lassen.
Bearbeitervermerk: Die Eltern möchten nun wissen: Wo können sie P auf Schadensersatz verklagen?
I. Anwendbarkeit der EuGVVO? (+)
II. Ausschließlicher Gerichtsstand? (-)
III. Gerichtsstandsvereinbarung? (-)
IV. Allgemeiner Gerichtsstand nach Art. 4 Abs. 1 EuGVVO: Portugal
V. besonderer Gerichtsstand?
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Sommersemester 2015
-8-
B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach
Examinatorium Schwerpunktbereich 3
Skript
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1. Art. 7 Nr. 1 EuGVVO vertraglich (bzw. nach Art. 17 ff.
Verbrauchersachen) (-), da hier Vertrag zwischen O und P geschlossen
2. Art. 7 Nr. 2 EuGVVO – unerlaubte Handung
Ort des schädigenden Ereignisses: Handlungsort oder Erfolgsort. Ubiquitätsprinzip: Wahlrecht!
1) Handlungsort: Der Ort, an welchem der Schädiger gehandelt hat. Verkauf in Portugal
2) Erfolgsort: Der Schadenseintrittsort liegt dort, wo das haftungsauslösende Ereignis den unmittelbar
Betroffenen direkt geschädigt hat.Vergiftungserscheinungen in Deutschland
VI. Ergebnis: Wahlrecht zwischen Portugal und Deutschland
Fall Nr. 4: Vertrag oder Delikt?
(nach EuGH, Urteil vom 13.03.2014 (Brogsitter); Wendenburg, Albrecht/Schneider, Maximilian, Vertraglicher Gerichtsstand bei Ansprüchen aus Delikt?, NJW 2014, 1633 ff.)
Die in Frankreich ansässige B entwickelte für den in Krefeld (Deutschland) ansässigen K hochwertige
Uhrwerke. Grundlage dafür war ein Entwicklungsvertrag, der nach Lesart des K auch eine Exklusivitätsabrede enthält. Die B baute sodann – parallel zu den vom K finanzierten Entwicklungsarbeiten –
eigene Uhrwerke und bewarb sie, auch in Deutschland.
Der K sieht darin unter anderem eine unerlaubte Handlung unter den Gesichtspunkten der Vorlagenfreibeuterei, des Eingriffs in seinen Gewerbebetrieb, des Betrugs und der Untreue. Er klagt daher vor
dem LG Krefeld auf Unterlassung und Schadensersatz.
Bearbeitervermerk:
Ist das LG Krefeld international zuständig?
I. Anwendbarkeit der EuGVVO
1. Sachlich, Art. 1 Abs. 1 EuGVVO (+)
2. Räumlich-persönlich, Art. 4 Abs. 1 i. V. m. Art. 6 Abs. 1 EuGVVO (i. V. m. Art. 63 EuGVVO)
3. Zeitlich, Art. 66, 81 EuGVVO
II. Internationaler Gerichtsstand?
1. Ausschließlicher Gerichtsstand?
a. Art. 24 EuGVVO? (-)
b.Gerichtsstandsvereinbarung, Art. 25 Abs. 1 EuGVVO? (-)
2. Allgemeiner Gerichtsstand, Art. 4 Abs. 1 EuGVVO? -> forum domicilii: Frankreich
3. Besonderer Gerichtsstand?
a. Art. 7 EuGVVO?
1) Nr. 1: forum contractus: Frankreich
2) Nr. 2: forum delicti: Deutschland?
a) LG Krefeld: Nein, hier vertraglicher und kein deliktischer Gerichtsstand: Vertrag über Uhrwerk
„stelle den Rahmen dar, von dem auch die deliktischen Ansprüche ummantelt sind“
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Sommersemester 2015
-9-
B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach
Examinatorium Schwerpunktbereich 3
Skript
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b) OLG Düsseldorf: wettbewerbsrechtlicher Anspruch aus Vorlagenfreibeuterei -> deliktischer Anspruch -> forum delicti
c) Vorlage des LG Krefeld an den EuGH
d) EuGH: „unerlaubte Handlung“ im Sinne des Art. 7 Nr. 2 EuGVVO: Ansprüche, die nicht an einen
„Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag“ i. S. v. Art. 7 Nr. 1 lit a) EuGVVO anknüpfen
i. Aber Vorliegen einer vertraglichen Beziehung zwischen den Parteien alleine nicht ausreichend
ii. Anknüpfung an einen Vertrag: wenn eine Auslegung des Vertrags „unerlässlich erscheint,
um zu klären, ob das … vorgeworfene Verhalten rechtmäßig oder vielmehr widerrechtlich ist“, soll die
Anknüpfung „grundsätzlich“ bestehen
• Grundsätzlich = ohne Ausnahme
iii. Folglich zwei Vss.:
• Kläger macht einen Ersatzanspruch geltend
• das vorgeworfene Verhalten ist zugleich ein Verstoß gegen einen zwischen den
Parteien bestehenden Vertrag
e) Ergebnis: Art. 7 Nr. 2 EuGVVO ist nicht einschlägig.
III. Endergebnis: Das LG Krefeld ist nicht international zuständig.
1) EuGH bisher: „Mosaikbetrachtung“ (Shevill-Rechtsprechung) – bei
diversen Erfolgsorten Klage zwar überall möglich, aber jeweils nur
proportional der Schaden einklagbar, der dem Anteil der verkauften
Zeitungen entspricht
2) EuGH vom 25.10.2011: Einschränkung der Shevill-Rechtsprechung –
neben dem regulären Beklagtengerichtsstand (hier England) nicht nur
der besondere Gerichtsstand des Handlungs- und Erfolgsortes, sondern auch Schadensersatz-Klage am Interessensmittelpunkt des Geschädigten möglich
Ausschließliche Gerichtsstände
Ausschließliche Gerichtsstände zwingend, auch bei Gerichtsstandsvereinbarung oder rügeloser Einlassung. Bestimmungen wegen Ausnahmecharakter eher eng auszulegen. Beklagter auch in Drittstaat,
„ohne Rücksicht auf Wohnsitz“
 Art. 24 EuGVO Verbraucherrecht (insb. Nr. 1), Art. 20 GVO Arbeitsrecht, Art. 10 ff. Versicherung
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Sommersemester 2015
- 10 -
B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach
Examinatorium Schwerpunktbereich 3
Skript
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Gerichtsstandsvereinbarungen
 Art. 25 GVO
 (§§ 38, 40 ZPO)
 Vorteil: Rechtssicherheit
 Zuständigkeit in Vertragsklausel gewählt; AGB?
-
-
-
-
-
Prorogation: ausschließliche Bestimmung eines Gerichtsstands
o gewählter Gerichtsstand (forum prorogatum) – positiv festgesetzt
Derogation: Abwählen potentieller Gerichtsstände
o abgewählter Gerichtsstand = forum derogatum
o liegt implizit in jeder Prorogation
Art. 25 GVO: Anwendungsbereich/Anwendbarkeit
o zeitlichen und sachlichen Anwendungsbereich für Art. 25 GVO wie bei anderen Vorschriften prüfen
o persönlichen Anwendungsbereich: Art. 25 GVO definiert für sich selbst seinen eigenen Anwendungsbereich (von Art. 6 GVO ausgenommen)
o Anwendungsvoraussetzungen des Art. 23 GVO:
 „unabhängig von Wohnsitz“ – neu!
 vereinbartes (prorogiertes) Gericht muss Gericht eines MS sein
Problem: wenn beide Parteien den Sitz im selben MS haben und dort auch Zuständigkeit vereinbaren
o GVO nur bei grenzüberschreitendem Bezug
o Sinn und Zweck der GVO: Funktionieren des Binnenmarktes (Kompetenznorm für
VO!!!)
o hier ist einziger grenzüberschreitender Bezug zu einem Nicht-MS!
 e.A.: einschränkende Interpretation des Art. 25 GVO (nicht anwendbar)
 a.A: Art. 23 GBO nur anwendbar, wenn die Zuständigkeitsordnung der GVO
berührt ist: prorogiertes und derogiertes Gericht müssen in MS liegen
 EuGH tendenziell eher großzügig
Voraussetzungen des Art. 25 GVO für eine wirksame Gerichtsstandsvereinbarung
o Willenseinigung (autonom auslegen!)
o Formerfordernisse, Art. 25 I a-c GVO (ALTERNATIV!)
Wirkungen einer Gerichtsstandsvereinbarung
o Inhalt der Vereinbarung
 international, örtlich, etc.
o ausschließlicher oder zusätzlicher Gerichtsstand?
 Auslegungsregel Art. 25 I 2 GVO: im Zweifel ausschließliche Zust.
Gerichtsstandsvereinbarung nach autonomem Recht
Art. 38 ZPO, wenn beide Parteien in Drittstaat oder Zuständigkeit nicht MS-Gericht vereinbart.
Art. 23 EuGVO <> §§ 38, 40 ZPO (JH Nr. 170)
ZPO: Unterscheidung zwischen Kaufleuten und Nicht-Kaufleuten, keine Form vorgesehen.
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Sommersemester 2015
- 11 -
B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach
Examinatorium Schwerpunktbereich 3
Skript
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Anders in der EuGVO: hier immer Formerfordernis
Räumlicher Anwendungsbereich des Art. 23 I:
Voraussetzungen: 1. Wohnsitz einer Partei in einem Mitgliedstaat (egal ob Kläger oder Beklagter) 2.
Zuständigkeit eines Gerichts in einem Mitgliedstaat vereinbart.
Wenn eine Voraussetzung nicht erfüllt, dann §§ 38, 40 ZPO (bzw. nationales Recht)
Rügelose Einlassung
 Art. 26 GVO
 § 39 ZPO
wenn Gericht unzuständig ist
-
-
Beklagter merkt es und rügt es
o Folge: Klageabweisung durch Prozessurteil
Beklagter lässt sich zur Sache ein und rügt es nicht
o kann ggf. zuständigkeitsbegründende rügelose Einlassung sein
o Gedanke: nicht eine konkludente Gerichtsstandsvereinbarung, sondern Präklusion
„rügelose“ Einlassung
o Einlassung: Beklager lässt sich auf Verfahren ein, macht also Ausführungen zur Zulässigkeit/Begründetheit
o rügelos: ohne die (fehlende) Zuständigkeit zu rügen
o NICHT: wenn Einlassung nur hilfsweise stattfindet
NEU nach Reform: Informationspflichten gem. Art. 26 II Belehrung für Verbraucher/Versicherten/ArbN
-
Grenze: Art. 22 GVO  ausschließliche Zuständigkeit kann nicht umgangen werden!
Forum non conveniens
-
-
Korrektiv zur exorbitanten Zuständigkeit der transient rule
Problem: Ermessensspielraum des Richters
o kann sich für unzuständig erklären
Schwäche des forum non conveniens
o Gericht kann sich für unzuständig erklären, ohne dass ein anderes Gericht zuständig
ist!
EuGH: Owusu/Jackson
o unter GVO hat forum non conveniens-Lehre keine Anwendung!
ausnahmsweise doch forum non conveniens: Art. 15 EheGVO II
o nur in eingeschränkten Fällen
EheGVO II (Brüssel IIa)
sachlicher Anwendungsbereich:
-
Art. 1 I lit. a EheGVO II: Ehesachen
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- 12 -
B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach
Examinatorium Schwerpunktbereich 3
Skript
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Scheidung
Ungültigerklärung  Nichtigerklärung/Aufhebung bei Verstoß gegen Eheverbote
Trennung ohne Auflösung des Ehebandes
 Scheidung nicht möglich (Malta)
 registrierte Trennung vor Scheidung (z.B. Italien)
Art. 1 I lit. b EheGVO II: elterliche Verantwortung (Sorgerecht – „neu“)
Art. 1 II EheGVO II: nicht abschließende Aufzählung
Art. 1 III EheGVO II: Ausnahmen vom sachlichen Anwendungsbereich
o Unterhaltspflichten  UnthVO!
o
o
o
-
zeitlicher Anwendungsbereich:
-
Verfahren nach dem 1. 3. 2005 ( Art. 64, 72 EheGVO II)
räumlich-persönlicher Anwendungsbereich:
-
alle MS-Gerichte gebunden
o Ausnahme: keine Ausdehnung auf Dänemark!
Zuständigkeit
-
-
zuständigkeitsbegründende Vorschriften
o Art. 3 EheGVO II: Kernvorschrift
 Aufzählung mit abnehmender Intensität
 letzter Spiegelstrich wegen Anknüpfung an StAng wohl Verstoß gegen Art. 12
EGV
 Spiegelstrich-Aufzählung erinnert an Anknüpfungsleiter (Art. 14 EGBGB)
• bei Art. 3 EheGVO II besteht aber reale Wahlmöglichkeit/Alternative
• KEINE Rangfolge/Reihenfolge!
 klass. Problem: was, wenn die 12 Monate (Spiegelstrich 5) bei Antragstellung
noch nicht abgelaufen sind?
• idR wird gewartet und nach Ablauf der 12 Monate zugestellt
o Art. 6 EheGVO II (!! irreführende Überschrift!!)
 Ausschluß exorbitanter Zuständigkeiten
 Problem: wenn dt. Gericht nach § 606a ZPO zuständig ist, nicht aber nach Art.
3 EheGVO II  „sperrt“ die EheGVO II den § 606a ZPO?
• Art. 6 EheGVO II: Verfahren in anderen MS nur nach Art. 3, 4, 5
EheGVO möglich!  ggf. „Sperrung“!
• autonomes Recht ist bis zur Grenze des Art. 6 EheGVO II anwendbar
(Ausschluß exorbitanter Zuständigkeiten)
Grünbuch (KollisionsR/VerfahrensR)  „Rom III“ zum IPR!!!
Verhältnis zum Haager KSÜ: Art. 61! (problematisch)
Fall 5 (nach Prof. Remiens IZVR-Folien)
Cristina aus Chile und Walter aus Würzburg lernen sich auf einer Studiosus-Reise in Griechenland
kennen und lieben. Sie heiraten einige Zeit später romantisch in einer kleinen Kapelle in Cornwall und
ziehen sodann gemeinsam nach Brüssel, wo sie lukrative Anstellungen bei der Europäischen Kommission finden. Den Belastungen des binnenmarktlichen Alltags hält ihre Ehe jedoch auf Dauer nicht
stand und sie gehen wieder getrennte Wege.
Cristina zieht
1) tief enttäuscht von Europa zurück nach Santiago
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Sommersemester 2015
- 13 -
B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach
Examinatorium Schwerpunktbereich 3
Skript
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2) nach Bordeaux, um sich mit Rotwein zu trösten
Walter dagegen
a)
b)
c)
d)
bleibt zunächst in Brüssel, bis ihm die Miete zu teuer wird
erhält eine noch lukrativere Anstellung bei der EZB in Frankfurt am Main
wird von der Kommission nach Kopenhagen versetzt
lässt Europa endgültig hinter sich und wechselt zu einem Consulting-Unternehmen in Melbourne.
Wo kann, wenn einer der beiden eine neue große Liebe findet, jeweils ein Scheidungsverfahren durchgeführt werden?
1a (Santiago/Brüssel):
-
Sp. 2 (letzter gem. gew. A, wo einer noch ist): Belgien
Sp. 3: gew. A des Antragsgegners: wenn W Antrag stellt (-), wenn C Antrag stellt: Belgien
Sp. 4: gemeinsamer Antrag – gew Aufenthalt von W: Belgien
Sp. 5: gew A von Antragsteller W: Belgien (seit mehr als 1 Jahr)
1b (Santiago/Frankfurt):
-
Sp. 3: gew. A des Antragsgegners: wenn W Antrag stellt (-), wenn C Antrag stellt: Deutschland
Sp. 4: gemeinsamer Antrag – gew Aufenthalt von W: Deutschland
Sp. 5: gew A von Antragsteller W: Deutschland (seit mehr als 1 Jahr)
Sp. 6: gew A von Antragsteller W seit 6 Mon. UND Staatsangehörigkeit: Deutschland
o Art. 7: FamFG (wenn W Antrag stellt vor Ablauf 1 Jahr/6 Monate)
1c (Santiago/Kopenhagen):
-
Sp. 3: gew. A des Antragsgegners: wenn W Antrag stellt (-), wenn C Antrag stellt: Dänemark
 fällt nicht unter EuEheVO!!! (Erw. 31, Art. 2 Nr. 3)
Sp. 4: gemeinsamer Antrag – gew Aufenthalt von W: Dänemark!!!
Sp. 5: gew A von Antragsteller W: Dänemark (seit mehr als 1 Jahr)!!!
1d (Santiago/Melbourne):
-
autonomes Recht, Art. 7 (Chile/Australien)
2a (Bordeaux/Brüssel):
-
Sp. 2 (letzter gem. gew. A, wo einer noch ist): Belgien
Sp. 3: gew. A des Antragsgegners: wenn W Antrag stellt: Frankreich, wenn C Antrag stellt:
Belgien
Sp. 4: gemeinsamer Antrag – gew Aufenthalt von W: Belgien oder gew Aufenthalt von C:
Frankreich
Sp. 5: gew A von Antragsteller W: Belgien (seit mehr als 1 Jahr) / gew A von Antragsteller C:
Frankreich (seit mehr als 1 Jahr)
2b (Bordeaux/Frankfurt):
-
Sp. 3: gew. A des Antragsgegners: wenn W Antrag stellt: Frankreich, wenn C Antrag stellt:
Deutschland
Sp. 4: gemeinsamer Antrag – gew Aufenthalt von W: Deutschland oder gew Aufenthalt von
C: Frankreich
Sp. 5: gew A von Antragsteller W: Deutschland (seit mehr als 1 Jahr) / gew A von Antragsteller C: Frankreich (seit mehr als 1 Jahr)
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Sommersemester 2015
- 14 -
B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach
Examinatorium Schwerpunktbereich 3
Skript
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-
Sp. 6: gew A von Antragsteller W seit 6 Mon. UND Staatsangehörigkeit: Deutschland
2c (Bordeaux/Kopenhagen):
-
Sp. 3: gew. A des Antragsgegners: wenn W Antrag stellt: Frankreich, wenn C Antrag stellt:
Dänemark  fällt nicht unter EuEheVO!!! (Erw. 31, Art. 2 Nr. 3)
Sp. 4: gemeinsamer Antrag – gew Aufenthalt von W: Dänemark!!! Oder gew Aufenthalt von
C: Frankreich
Sp. 5: gew A von Antragsteller W: Dänemark (seit mehr als 1 Jahr) !!! / gew A von Antragsteller C: Frankreich (seit mehr als 1 Jahr)
2d (Bordeaux/Melbourne):
-
Sp. 3: gew. A des Antragsgegners: wenn W Antrag stellt: Frankreich, wenn C Antrag stellt (-)
Sp. 4: gemeinsamer Antrag – gew Aufenthalt von C: Frankreich
Sp. 5: gew A von Antragsteller C: Frankreich (seit mehr als 1 Jahr)
o vor Ablauf des Jahres: Art. 7, autonomes Recht
_____________________________________________________________________________________________________________________
Sommersemester 2015
- 15 -
B. Becker, A. Scholl, M. Welzenbach
UN-Kaufrecht
I.






II.
Allgemeine Hinweise
UN Convention on Contracts for the International Sale of Goods
Ausgearbeitet von UNCITRAL (Spezialisierte Behörde der UN, die sich mit dem Handel
beschäftigt)
Zur Zeit 83 Vertragsstaaten
CISG ist völkerrechtliches Übereinkommen  Teil der nationalen Rechtsordnung
Beachte: Unvollständigkeit der Regelungsbereichs: Art. 4 CISG
o Geregelt: Abschluss des KV, Rechte und Pflichten aus KV
o Nicht geregelt: Wirksamkeit des KV, Eigentumsfragen
o Vgl. auch Art. 5 CISG
Vorrang der CISG (vgl. Art. 25 Rom I-VO bzw. Art. 3 Nr. 2 EGBGB)
Systematik der CISG
Teil I: Anwendungsbereich und allgemeine Bestimmungen (Art. 1-13 CISG)
Teil II: Abschluss des Vertrages (Art. 14-24 CISG)
Teil III: Warenkauf (Art. 25-88 CISG)
Kapitel I: Allgemeine Bestimmungen (Art. 25-29 CISG)
Kapitel II: Pflichten des Verkäufers (Art. 30-52 CISG)
Kapitel III: Pflichten des Käufers (Art. 53-65 CISG)
…
Kapitel V: Gemeinsame Bestimmungen über die Pflichten des Verkäufers und des Käufers
(Art. 71-88 CISG)
Teil IV: Schlussbestimmungen (Art. 89-101 CISG)
III.
Anwendungsvoraussetzungen der CISG (Art. 1-6 CISG)
1. Sachlich: Warenkaufvertrag, Art. 1 I CISG (auch Werklieferungsvertrag, Art. 3 I CISG)
2. Räumlich-persönlich: Niederlassung in verschiedenen Staaten, Art. 1 I, 10 CISG
1




Beide Staaten sind Vertragsstaaten, Art. 1 I lit. a CISG
Nach IPR-Regeln ist Recht eines Vertragsstaates anwendbar, Art. 1 I lit. b CISG
Beachte: Vorbehalt gem. Art. 95 CISG möglich
Beachte: Staatsangehörigkeit/Kaufmannseigenschaft unerheblich, Art. 1 III CISG
3. Zeitlich: Art. 100 CISG
4. Kein Ausschluss: Art. 2 (insb. Verbrauchsgüterkauf), 6 CISG
IV.
Beispielsfälle zu Art. 1 I lit. b CISG:
Fall a):
Die Unternehmen A und B schließen einen Kaufvertrag. Der Verkäufer A ist ein deutsches
Unternehmen, das Unternehmen B ist ein englisches Unternehmen. International zuständig sind die
deutschen Gerichte. Die Parteien haben keine Rechtswahl getroffen. Ist CISG anwendbar?


Art. 1 I lit. a CISG (-), UK ist kein Vertragsstaat
Art. 1 I lit. b CISG?  Deutsches Gericht wendet Art. 4 I a) Rom I-VO an, danach ist deutsches
Recht anwendbar (Verkäufer A hat seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland) 
Deutschland ist Vertragsstaat der CISG  CISG ist anwendbar
Fall b)
Die Unternehmen A und B schließen einen Kaufvertrag. Der Verkäufer A ist ein englisches
Unternehmen, das Unternehmen B ist ein deutsches Unternehmen. International zuständig sind die
deutschen Gerichte. Die Parteien haben keine Rechtswahl getroffen. Ist CISG anwendbar?


V.






Art. 1 I lit. a CISG (-), UK ist kein Vertragsstaat
Art. 1 I lit. b CISG?  Deutsches Gericht wendet Art. 4 I a) Rom I-VO an, danach ist UK-Recht
anwendbar (Verkäufer A hat seinen gewöhnlichen Aufenthalt in UK; Hinweis: hier keine
nähere Präzisierung bezügl. Teilrechtsordnungen)  UK ist kein Vertragsstaat der CISG 
CISG ist nicht anwendbar
Rechtsbehelfe des Käufers bei Vertragsverletzung
Art. 45 I lit. a, 46 I CISG: Erfüllung: Lieferung
Art. 45 I lit. a, 46 II CISG: Ersatzlieferung (Vss.: wesentliche Vertragsverletzung, Art. 25 CISG)
Art. 45 I lit. a, 46 III CISG: Nachbesserung
Art. 45 I lit. a, 49, 81, 26 CISG: Vertragsaufhebung
Art. 45 I lit. a, 50 CISG: Herabsetzung des Preises
Art. 45 I lit. b, 74 ff. CISG: Schadensersatz
2
VI.
Rechtsbehelfe des Verkäufers bei Vertragsverletzung



VII.
Art. 61 I lit. a, 62 CISG: Erfüllung: Zahlung, Abnahme
Art. 61 I lit. a, 64, 81, 26 CISG: Vertragsaufhebung
Art. 61 I lit. b, 74 ff. CISG: Schadensersatz
Allgemeines Prüfschema
1. Anwendbarkeit der CISG
2. Rechtslage hinsichtlich des Anspruchs
a) Allgemeine Rechtsbehelfsvoraussetzungen



Wirksamer Vertragsschluss, Art. 14 ff. CISG
Pflichtverletzung des Käufers bzw. des Verkäufers
Beachte bei Anspruch des Käufers: Keine Möglichkeit der Berufung auf die
Vertragswidrigkeit nach Art. 38, 39 CISG?
b) Besondere Rechtsbehelfsvoraussetzungen (Vss. der Vertragsaufhebung/des SE etc.)
VIII.






IX.



Besonderheiten bei der Vertragsaufhebung nach CISG (Art. 45 I lit. a,
49 bzw. Art. 61 I lit. a, 64 CISG):
Aufhebungserklärung erforderlich, Art. 26 CISG
Recht zur Vertragsaufhebung:
o Wesentliche Vertragsverletzung, Art. 25 CISG, Art. 49 Ilit. a/Art. 64 I lit. a CISG
o Erfolgloser Ablauf einer Nachfrist bei Nichtlieferung, Art. 49 I lit. b/Art. 64 I lit. b CISG
o Keine aufhebungsermöglichende Nachfristsetzung bei mangelhafter Leistung möglich
(anders: BGB!)
Vertragsaufhebung als ultima ratio, BGH restriktiv bezügl. Merkmal der wesentlichen
Vertragsverletzung, z.B. (-) bei aliud-Lieferung/wenn andere Verwertung möglich
Aufhebungsfrist wenn bereits Sache/Kaufpreis erhalten : Art. 49 II/64 II CISG
Ausschluss des Aufhebungsrechts nach Art. 82 I CISG, aber Ausnahmen nach Art. 82 II CISG
Wirkungen der Aufhebung: Art. 81 CISG
o Art. 81 I CISG: Befreiung von Leistungspflichten (Ausnahme: Schadensersatzpflichten)
o Art. 81 II CISG: Anspruch auf Rückgewährung wenn Vertrag bereits erfüllt (Leistungen
Zug um Zug)
Besonderheiten beim Schadensersatzanspruch nach CISG
AGL ist Art. 45 I lit. b bzw. Art. 61 I lit. b CISG, nicht Art. 74 CISG!
Wesentliche Vertragsverletzung nicht erforderlich, Anspruch bei jeder Vertragsverletzung
Verschulden nicht erforderlich: Verschuldensunabhängige Garantiehaftung
3



ABER: Befreiungsmöglichkeit nach Art. 79, 80 CISG
Bemessung des SE-Anspruchs: Art. 74 ff. CISG
Konkurrenz zu anderen Ansprüchen: Art. 45 II, 61 II CISG: SE-Anspruch neben anderen
Rechten
4
Fall 1 (aus studienabschließender Klausur im SPB 3 WS 14/15)
Die in Amsterdam wohnhafte Grietje de Grot (G) ist begeisterte Hobby-Ornithologin. Für eine
geplante Exkursion nach Neuseeland möchte sie sich ein neues, hochwertigeres Fernglas kaufen.
Grietje entscheidet sich für das Modell „Victory HT 10x54“ von Zeiss, welches maximale Helligkeit für
längere Beobachtungen bis in die Dunkelheit erlaubt. Der Listenpreis beträgt 2.345 €.
Beim wöchentlichen Stammtisch der niederländischen Vogelfreunde gelingt es Grietje, nvier weitere
Hobby-Ornithologen anlässlich der Neuseeland-Exkursion für das brandneue Modell zu begeistern.
Einziger Wermutstropfen ist der hohe Preis des Fernglases. Einer der Anwesenden weiß jedoch, dass
es in Aalen einen Werksverkauf von Zeiss gibt. Er schlägt vor, dass Grietje als alleinige Bestellerin
auftritt und auf diesem Wege versucht, einen möglichst günstigen Preis zu verhandeln. Er gibt ihr die
Telefonnummer des Geschäftsführers der „Werksverkauf Aalen GmbH“ (W-GmbH). Über eine
Website verfügt die W-GmbH nicht. Gleich am nächsten Morgen, am 5.1.2015, nimmt Grietje
telefonisch Kontakt zur W-GmbH in Aalen auf. Sie tritt als die alleinige Bestellerin der 5 Ferngläser auf
und verhandelt mit dem Geschäftsführer der W-GmbH einen Sonderpreis von 2.000 € je Fernglas.
Aufgrund ihrer Flirtkünste schafft Grietje es sogar, den Geschäftsführer der W-GmbH dazu zu
bewegen, ihr die Ferngläser zuzuschicken. Vereinbart wird, dass die Ferngläser am 1.2.2015
abgeschickt werden und der Kaufpreis innerhalb von 14 Tagen nach Erhalt der Ware gezahlt werden
soll.
Die W-GmbH schickt Grietje noch am selben Tag ein Bestätigungsschreiben mit dem ausgehandelten
Vertragsinhalt und den AGB der W-GmbH. Diese enthalten unter anderem folgende Klauseln:
4. Gerichtsstand und Erfüllungsort ist Ellwangen.
5. Alle im Zusammenhang mit diesem Vertrag entstehenden Ansprüche unterliegen
deutschem Recht.
Am 20.1.2015 teilt der Geschäftsführer der W-GmbH Grietje mit, dass die bestellten Ferngläser leider
erst am 20.2.2015 geschickt werden können. Grietje reagiert darauf zunächst nicht. Als jedoch am
1.2.2015 der Leiter der Neuseeland-Exkursion unerwartet verstirbt und die Exkursion abgesagt wird,
beginnt Grietje an der Notwendigkeit eines neuen Fernglases zu zweifeln. Auch die anderen HobbyOrnithologen möchten nach den aktuellen Geschehnissen lieber Abstand nehmen vom Kauf eines so
teuren Fernglases. Die Begeisterung vom Stammtischabend ist verflogen. Am 10.2.2015 erklärt
Grietje der W-GmbH schriftlich den Rücktritt vom Kaufvertrag. Der Geschäftsführer der B-GmbH
antwortet postwendend, dass er auf der Einhaltung des Kaufvertrages bestehe. Die Ferngläser
werden am 20.2.2015 abgeschickt, sie treffen am 21.2.2015 bei Grietje ein, die sie umgehend wieder
an die W-GmbH zurückschickt. Den Kaufpreis bezahlt sie in der kommenden Zeit nicht.
Die W-GmbH möchte nun am Landgericht Ellwangen Klage auf Zahlung von 10.000 € zuzüglich Zinsen
seit 7.3.2014 in Höhe von 8 Prozentpunkten über dem Basiszins der EZB Zug um Zug gegen Übergabe
der 5 Ferngläser erheben.
5
Sofern Bestimmungen einer ausländischen Rechtsordnung anzuwenden sind, ist zu unterstellen, dass
diese dem deutschen Recht entsprechen.
1.) Bestimmen Sie das anwendbare Recht für den behaupteten Kaufpreisanspruch!
2.) Nach welchem Recht ist das Bestehen und die Höhe des behaupteten Zinsanspruchs zu
beurteilen ?
Lösungsskizze Fall 1
1.) Bestimmen Sie das anwendbare Recht für den behaupteten Kaufpreisanspruch!
Blickwinkel eines niederländischen Gerichts
Vorrangiges völkervertragliches Einheitsrecht: CISG (Niederlande Vertragsstaat)
a) abbedungen durch Rechtswahl („Alle im Zusammenhang mit diesem Vertrag entstehenden
Ansprüche unterliegen deutschem Recht“) ?
Möglich nach Art. 6 CISG; dann wäre die Wirksamkeit der Rechtswahl hier nach der
Rom I-VO zu prüfen; aber grundsätzlich ist CISG von Rechtswahl „deutsches Recht“
umfasst, da Bestandteil, es sei denn es ergibt sich gegenteiliger Wille (wäre bei Wahl
des BGB der Fall); also kein Ausschluss des CISG nach Art. 6 CISG
b) Anwendungsvoraussetzungen CISG:




sachlich: Art. 1 I: Warenkauf (+)
räumlich-persönlich: Art. 1 I lit. a Niederlassung bzw. gewöhnlicher
Aufenthalt (Art. 10 lit. b CISG) in verschiedenen Vertragsstaaten (+)
zeitlich: maßgeblich Zeitpunkt des Angebotes und Vertragsschlusses (Art.
100 CISG)
Ausschluss nach Art. 2 I lit. a, wenn G die Ferngläser für den persönlichen
Gebrauch gekauft hat?
Objektiv zweifelhaft; einerseits vorrangig Abgrenzung zum geschäftlichen Gebrauch,
der hier nicht vorliegt; andererseits könnte man auch argumentieren, dass der Kauf
zum privaten Gebrauch Dritter nur dann Art. 2 I lit. a ohne Zweifel unterfällt, wenn
die Ware vom Käufer verschenkt wird, da im Verschenken sein eigener Gebrauch zu
sehen wäre. Genauso lässt sich aber auch die Privatheit des Gebrauchs (verdeckte
Stellvertretung der anderen Hobby-Ornithologen, die jeweils das Kriterium des Art. 2
I lit. a CISG selbst erfüllen) vertreten.
6
 ABER: Wissen oder Wissenmüssen nach Art. 2 I lit. a 2. Hs CISG?
Positive Kenntnis (-)
Erkennbarkeit nach Umständen (-) (zwar keine Ware, die typischerweise für
geschäftliche und berufliche Zwecke gekauft wird, sondern sog. neutrale Ware; aber
Menge (5 identische Ferngläser) legt Gewerblichkeit nahe
 CISG anwendbar
c) Reichweite der CISG: Abschluss des KV, Rechte und Pflichten aus KV (vgl. Art. 4 CISG)
Anspruch auf Kaufpreiszahlung beurteilt sich nach CISG
2.) Nach welchem Recht ist das Bestehen und die Höhe des behaupteten Zinsanspruches zu
beurteilen?


CISG grundsätzlich anwendbar, s.o.
aber Reichweite des CISG: nur Abschluss des Kaufvertrags, Rechte und Pflichten aus dem
Kaufvertrag, nicht Gültigkeit (Art. 4 CISG), sowie Lücken im Anwendungsbereich, Art. 7 II
CISG (Lückenfüllung durch allgemeine Grundsätze bzw. Recht, das nach den Regeln des IPR
anwendbar ist)
-
ob ein Zinsanspruch besteht, ist im CISG geregelt: Art. 78 CISG
Höhe?
o Ausdrückliche Regelung im CISG (-)
o Art. 7 II CISG i.V.m. general principles
o Art. 4, 78 CISG: Zinsen im Anwendungsbereich des CISG (+)
o General principles ermittelbar (-)
o Also gem. Art. 7 II CISG nach den Regeln des IPR zu bestimmen:
Vertragsstatut neben CISG:
Wirksame Rechtswahl?
 Anwendbarkeit Rom I-VO (+)
 ausdrückliche Rechtswahl Art. 3 I Rom I-VO: Zustandekommen von Rechtswahl
nach gewähltem Recht (Art. 3 V, 10 I Rom I-VO), also deutschem Recht
 Nach § 305 II BGB keine wirksame Einbeziehung der AGB
 Keine wirksame Rechtswahl
Verbrauchervertragsstatut Art. 6 I Rom I-VO?
 G ist objektiv Verbraucher
7
 W-GmbH kontrahiert im Rahmen ihrer gewerblichen Tätigkeit
 Aber Abschlusssituationen (-), Kriterien des Art. 6 Rom I VO entsprechen Art. 17
VO 1215/2012
Vertragsstatut: Art. 4 Rom I-VO
 Art. 4 I lit. a Kaufvertrag über bewegliche Sachen, also gewöhnlicher Aufenthalt
Verkäufer, hier deutsches Recht
 Art. 4 III engere Verbindung? (-)
 Zinsen vom Geltungsbereich gem. Art. 12 I c Rom I VO erfasst
 die Höhe der Zinsen bestimmt sich nach deutschem Recht
Fall 2 (aus studienabschließender Klausur SS 2013)
V ist Eigentümer des französischen Spitzenweinguts Château Le Fit-Schwarzschild. Der bekannte,
europaweit tätige Würzburger Weinhändler K bestellt bei V sämtliche zehn noch vorhandenen
Flaschen des herausragenden Jahrgangs 1953 zum Preis von 3.000 EUR pro Flasche. Die Lieferung soll
nach Würzburg erfolgen. K will die Flaschen von dort selbst an seinen in München ansässigen Kunden
A weiterschicken.
A, der an seinem nahenden 60ten Geburtstag keine böse Überraschung erleben möchte, testet den
Wein unmittelbar nach Eingang der 10 Flaschen. Erschrocken stellt er fest, dass der Wein einen
essigähnlichen Geschmack aufweist und nicht mehr genießbar ist. Ursache war ein Fehler in der
Lagerung bei V. Der Wein ist infolgedessen wertlos. A teilt dies dem K sofort mit. K, der am
folgenden Tag in den Urlaub aufbricht, meldet sich erst zwei Wochen später bei V und verweigert die
Kaufpreiszahlung. Er fühle sich infolge der erheblichen Mangelhaftigkeit des Weines nicht mehr an
den Vertrag gebunden. V sieht die anders. Er ist der Ansicht, die Mängelrüge des K sei verspätet,
zumal K die Ware schon in Würzburg hätte untersuchen müssen. Er verlangt Kaufpreiszahlung von K
i. H. v. 30.000 EUR.
Zu Recht?
Lösungshinweise
V könnte gegen K einen Anspruch auf Kaufpreiszahlung i. H. v. 30.000 EUR aus
Art. 53 Alt. 1 CISG haben.
I.
Anwendungsvoraussetzungen der CISG
a. Warenkaufvertrag i. S. v. Art. 1 Abs. 1 CISG bzw. Werklieferungsvertrag nach Art. 3
Abs. 1 CISG? (+)
8
b. Parteiniederlassung in verschiedenen Staaten: Frankreich und Deutschland (+)
c. Frankreich und Deutschland sind Vertragsstaaten i. S. d. Art. 1 Abs. 1 lit. a CISG.
d. Ein Anwendungsausschluss nach Art. 2 oder Art. 6 CISG kommt nicht in Betracht.
Die allgemeinen Voraussetzungen für die Anwendung der CISG liegen somit vor.
II.
Regelungsbereich der CISG
V macht einen Kaufpreiszahlungsanspruch geltend, beruft sich also auf seine Rechte aus dem
Kaufvertrag. Folglich ist der Regelungsbereich der CISG betroffen, vgl. Art. 4 CISG.
III.
Anspruch entstanden?
Zwischen V und K ist ein Kaufvertrag über die Lieferung der Weinflaschen zum Preis von
30.000 EUR vereinbart worden, vgl. Art. 14 ff. CISG. Ein Kaufpreiszahlungsanspruch i. H. v.
30.000 EUR ist demnach entstanden.
IV.
Anspruch erloschen?
Der Anspruch könnte jedoch infolge einer Vertragsaufhebung gem. Art. 81 Abs. 1 CISG
erloschen sein. Dafür müssten (1.) die allgemeinen Rechtsbehelfs- und (2.) die besonderen
Aufhebungsvoraussetzungen erfüllt sein.
1. Allgemeine Rechtsbehelfsvoraussetzungen
a. Wirksamer Vertragsschluss (s. o. )
b. Pflichtverletzung durch V (vgl. Art. 45 CISG): Die von V gelieferten Weine sind zum
Verzehr nicht mehr geeignet. V hat damit die Pflicht aus Art. 35 Abs. 1, Abs. 2 lit. a
CISG verletzt, Ware zu liefern, die sich für die Zwecke eignet, für die Ware der
gleichen Art gewöhnlich gebraucht wird.
c. Die Pflichtverletzung könnte für den V jedoch unschädlich sein, wenn K die Berufung
auf die Vertragswidrigkeit der Ware gem. Art. 39 Abs. 1 CISG verwehrt ist. Dies ist
dann der Fall, wenn K dem V die Vertragswidrigkeit nicht innerhalb einer
angemessenen Frist nach dem Zeitpunkt, in dem er sie hätte feststellen müssen,
angezeigt hat.
(1) Rechtzeitigkeit der Untersuchung
Fraglich ist daher zunächst, wann K die Vertragswidrigkeit hätte
feststellen müssen. Dies hängt maßgeblich von der Reichweite seiner
9
Untersuchungsobliegenheit aus Art. 38 CISG ab. Gem. Art. 38 Abs. 1 CISG
hat der Käufer die Ware grundsätzlich innerhalb einer so kurzen Frist zu
untersuchen, wie es die Umstände erlauben. Diese Frist beginnt gem.
Art. 38 Abs. 2 CISG regelmäßig mit der Warenübergabe an den Käufer.
I. v. F. ist aber die Ausnahmevorschrift des Art. 38 Abs. 3 CISG einschlägig:
(a) Weiterversendung des Weines durch den Käufer (+)
(b) Kenntnis des Verkäufers (+), da es sich bei K um einen Händler
handelt.
(c) Keine ausreichende Gelegenheit zur Untersuchung der Ware?
Eine ausreichende Untersuchungsgelegenheit gem. Art. 38 Abs. 3
CISG ist nur gegeben, wenn genügend Zeit für eine Untersuchung
bleibt und die Untersuchung mit (wirtschaftlich) zumutbaren
Aufwand erfolgen kann. Nach diesen Grundsätzen fehlte es im
Verhältnis zwischen V und K an einer ausreichenden
Untersuchungsgelegenheit in Würzburg. Eine Überprüfung des
Weines wäre infolge der erforderlichen Öffnung einer der Flaschen
mit unverhältnismäßigen Kosten (3.000 EUR je Flasche) verbunden
gewesen. Hinzu kommt, dass die Lieferung ohnehin nur eine kleine
Menge Wein umfasste und diese dadurch zu Lasten des A noch
zusätzlich geschmälert worden wäre.
Die Untersuchungsfrist für K begann daher erst mit Eintreffen des Weines bei
A zu laufen. Da die Weine gleich nach ihrer Ankunft in Italien kontrolliert
wurden, ist die Untersuchungsfrist gewahrt.
Dass K die Überprüfung nicht selbst vorgenommen hat, ist gem. Art. 38 Abs. 1
CISG unerheblich.
(2) Rechtzeitigkeit der Rüge
Fraglich ist weiterhin, ob die Rüge zwei Wochen nach Kenntnis noch
„angemessen“ ist. Zwar wird man grundsätzlich von einer kurzen
Rügefrist ausgehen müssen. Auch bedarf K vorliegend keiner
Überlegungsfrist. Auf der anderen Seite ist allerdings zugunsten des K zu
berücksichtigen, dass das Interesse des V, schnell von dem Mangel zu
erfahren, gering ist. Der Wein ist wertlos. Daher besteht für V weder
Anlass noch Möglichkeit, die Flaschen anderweitig weiterzuverkaufen.
Aspekte wie Verderblichkeit, Saisongebundenheit oder schwankende
Marktpreise spielen für V daher keine Rolle. Aus demselben Grund
entfällt auch das Risiko, dass K auf Kosten des V mit der Ware spekuliert.
Deshalb sind hier die zwei Wochen noch als angemessen zu bewerten.
10
(3) K kann sich folglich weiterhin auf die Vertragswidrigkeit berufen.
d. Die Allgemeinen Rechtsbehelfsvoraussetzungen liegen somit vor.
2. Besondere Vertragsaufhebungsvoraussetzungen
a. Wesentliche Vertragsverletzung i. S. v. Art. 25 CISG (+). Insbesondere kommen
vorliegend weder Nachbesserung noch Neulieferung in Betracht. Letzteres deshalb,
weil keine anderen Flaschen des Jahrgangs mehr vorhanden sind.
b. Da V die Weinflaschen bereits an K geliefert hat, ist die Aufhebungsfrist nach Art. 49
Abs. 2 CISG zu berücksichtigen. Einschlägig ist hier Art. 49 Abs. 2 lit. b, i). Sie ist aus
denselben Gründen gewahrt wie die Rügefrist (siehe oben).
c. Nach Art. 82 Abs. 1 CISG kann der Käufer nicht die Aufhebung des Vertrages
verlangen, wenn es ihm unmöglich ist, die Ware im Wesentlichen in dem Zustand
zurückzugeben, in dem er sie erhalten hat. Vorliegend hat A eine Flasche geöffnet
und probiert. Hinsichtlich dieser Flasche ist es K nicht möglich, sie in dem
ursprünglichen Zustand zurückzugeben. Hier kommen aber sowohl Art. 82 Abs. 2 lit.
b als auch lit. c als einschlägige Ausnahmeregelungen in Betracht. I. E. ist es daher
unschädlich, dass K nicht alle Flaschen ungeöffnet zurückgeben kann.
d. K hat gegenüber V die Vertragsaufhebung erklärt, Art. 26 CISG.
Die
Voraussetzungen
einer
Vertragsaufhebung
liegen
somit
vor.
Kaufpreiszahlungsanspruch des V ist folglich gem. Art. 81 Abs. 1 CISG erloschen.
Der
Gesamtergebnis: V kann von K keine Kaufpreiszahlung verlangen.
11
Fall 3: „Frust und Schokolade“1
Die Choco Chérie (C) ist ein als GmbH eingetragenes, im Schwarzwald ansässiges Unternehmen, das
Süßwaren – vornehmlich Schokoladenspezialitäten – herstellt und in aller Welt vertreibt.
Zum Valentinstag stellt die C traditionell in rotes Stanniolpapier verpackte Herzen aus Zartbitter- und
Milchschokolade in verschiedenen Größen her. Das Einwickelpapier bezog sie dabei stets von einem
im Nachbarort ansässigen Familienbetrieb; dieser schließt jedoch im Sommer 2011 seine Pforten. Die
C lässt sich daher für das Jahr 2012 von der in Frankreich ansässigen Emballage S.a.r.l. (E) ein
Angebot über vergleichbares rotes Stanniolpapier machen; sie bestellt sodann schriftlich – unter
Bezug auf das Angebot – die benötigte Menge Stanniolpapier. Die Bestellung wird von der E
bearbeitet, die einen Vertrag sendet, auf dessen Rückseite ihre AGB abgedruckt sind; dieser wird von
der Geschäftsführerin der C unterschrieben und zurückgesandt. Der Vertrag enthält die folgende
Bestimmung: „Alle im Zusammenhang mit diesem Vertrag entstehenden Ansprüche unterliegen
deutschem Recht.“
Das Papier wird Mitte Januar 2012 geliefert und von C bezahlt. Wie gewohnt verpackt die C sodann
die Schokoladenherzen in dem roten Papier und liefert sie an ihre Kunden aus. Kurze Zeit darauf
erfolgen jedoch die ersten Beschwerden der Abnehmer: das rote Papier ist nicht farb- und
lebensmittelecht und hat die darin eingewickelte Schokolade gänzlich verdorben. Die Händler, die die
Herzen von der C erworben hatten, können bzw. dürfen sie dementsprechend nicht verkaufen und
verlangen Rückzahlung des Kaufpreises sowie Schadensersatz wegen des entgangenen Gewinns von
der C.
Als dieser Sachverhalt der C bekannt wird, teilt sie ihn umgehend der E mit und verlangt ihrerseits
Rückzahlung des Kaufpreises für das Stanniolpapier sowie Schadensersatz. Die E lehnt diese
Ansprüche ab: zum einen sei in ihren AGB die folgende Klausel enthalten: „Bei Mängeln der
gelieferten Sache ist der Käufer auf Nachlieferungsansprüche beschränkt; Schadensersatzansprüche
sind ausgeschlossen, insbesondere für Schäden, die durch Weiterverarbeitung der Kaufsache an
anderen Rechtsgütern des Käufers oder Dritter entstehen.“ Zum anderen käme die C zu spät, da sie
nicht sofort nach Lieferung das Papier untersucht und den Mangel gerügt habe. Die C wendet
(zutreffend) ein, weder bei einer Untersuchung des Papiers noch bei der Verarbeitung sei der Mangel
erkennbar gewesen – vielmehr sei er erst zutage getreten, nachdem die Schokolade mehrere Tage
darin eingewickelt war, was aber die C (die die produzierte Ware sofort frisch ausliefert) nicht mehr
habe erkennen können bzw. müssen. Sie weist im Übrigen darauf hin, dass sie – was stimmt – bei der
Bestellung ausdrücklich darauf hingewiesen habe, dass das Stanniolpapier zum Einwickeln von
Schokolade dienen solle.
Bereits kurze Zeit später naht das Ostergeschäft. Die C produziert zierliche Schokoladenosterhasen,
für die sie zahlreiche auch internationale Bestellungen erhält. Unter anderem erhält sie Aufträge
über je 20 Paletten mit Schokoladenhasen aus den Niederlanden, Spanien und Italien, die für das
Ostergeschäft bis zum 23.3.2012 geliefert werden sollen.2
Die niederländische Supermarktkette S, der C am 22.3.2012 einen großen Posten Schokohasen nach
Amsterdam geliefert hat, ruft sofort nach der Lieferung an und beschwert sich, fast alle Hasen seien
zerbrochen geliefert worden. Da sie in diesem Zustand nicht verkäuflich sind, will sich S vom
Kaufvertrag mit C lösen und verlangt darüber hinaus Schadensersatz. Wie eine nähere Untersuchung
ergibt, waren die Hasen durch Unachtsamkeiten der Lageristen der C nicht ordnungsgemäß verpackt,
1
2
Fall und Lösung von Frau Carolin Rupp.
Hinweis: Im Jahr 2012 war Ostersonntag am 8. April.
12
weswegen der Schaden auf dem Transport eingetreten ist. C will jedoch den Vertrag mit S
aufrechterhalten, zumal sie noch viele Schokoladenhasen auf Lager hat; sie bietet daher der C an, ihr
innerhalb von 48 Stunden Ersatz zu liefern.
Da die Auslieferungskapazitäten der C beschränkt sind, arbeitet sie bei internationalen Bestellungen
teilweise mit Transportunternehmen zusammen. So schließt sie einen Vertrag mit der Transports
Reliable (T) ab, dass diese die Auslieferung für das Ostergeschäft auf dem spanischen und
italienischen Markt übernehmen soll. Die T ist eine nach dem Recht von Delaware, USA, als Ltd.
inkorporierte Gesellschaft, unterhält jedoch in Delaware nur einen Briefkasten und einen
Anrufbeantworter; die tatsächliche Geschäftstätigkeit findet von Charleroi (Belgien) aus statt.
Leider erweist sich die T als nicht wirklich zuverlässig: sie übernimmt von C am 21.3.2012 je 20
Paletten mit Schokoladenhasen im Wert von je 10.000 € für den italienischen und spanischen Markt;
entsprechende Frachtbriefe werden ausgestellt. Die Ware soll laut Transportvertrag am 23.3.2012 in
Florenz bzw. Salamanca eintreffen. Dazu kommt es jedoch nicht: zunächst bringt die T die
Schokoladenhasen in ihre Zentrale nach Charleroi. Dort wird ein Transporter der T wird mit den
Schokoladenhasen für Spanien beladen, der am 22.3. frühmorgens losfährt. Als der Fahrer am späten
Abend eine Ruhepause einlegen will, befindet er sich bereits tief in den Pyrenäen; ein bewachter
Parkplatz ist weit und breit nicht zu finden. Er fährt daher auf einen unbewachten Parkplatz. Dort
wird er im Morgengrauen von drei mit Schusswaffen bewaffneten Männern überfallen, die die
gesamte Fracht, darunter auch die Schokoladenhasen, rauben.
Die Schokolade für Italien bleibt dagegen durch ein Versehen bei der T zwei Wochen lang in Charleroi
liegen. Dies fällt erst am 5.4.2012 auf. T bemüht sich daraufhin so rasch wie möglich um einen
Transport nach Florenz, wo die Hasen jedoch feiertagsbedingt erst am 10.4.2012 eintreffen. Der
italienische Großhändler Giovanni (G) weist die Ware erbost zurück: nach den Osterfeiertagen seien
Schokoladenosterhasen für ihn unverkäuflich und damit wertlos. Stattdessen ruft er bei C an und
verlangt Vertragsaufhebung sowie Schadensersatz.
Ein anderes Problem stellt sich bei einer weiteren Auslandslieferung der C. Diese hatte vom
Großhändler Radomir (R) aus dem Land Ruritanien eine Großbestellung über „Schwarzwälder-KirschKugeln“, eine deutsche Spezialität, erhalten. Im Verkaufsprospekt der C (auf den der Vertrag mit R
Bezug nimmt) und auf der Verpackung werden diese als „mit hochwertigem Alkohol mit
Kirschgeschmack gefüllt“ angepriesen. Traditionell verwendet die C dafür Kirschlikör (20%
Alkoholgehalt). Aufgrund eines Lieferengpasses beim Likör füllt sie die Kugeln für die neue
Großbestellung stattdessen jedoch mit Kirschwasser (40% Alkoholgehalt), was die Qualität und den
Geschmack der Ware eher verbessert. Kurz nach der Lieferung erhält sie jedoch einen Anruf von R:
die Kugeln wurden von der Lebensmittelbehörde von Ruritanien untersucht und mit einem
Verkaufsverbot belegt. Hintergrund ist, dass nach den lebensmittelrechtlichen Bestimmungen in
Ruritanien Süßwaren nur Alkoholika bis zu 30% Alkoholgehalt enthalten dürfen. R verlangt daher von
C Rücknahme der Ware und Rückzahlung des Kaufpreises. C dagegen wendet ein, sie habe erstens
vertragsgemäße Ware geliefert, die sogar hochwertiger sei; zweitens gingen die
lebensmittelrechtlichen Bestimmungen in Ruritanien sie nichts an, R hätte dies im Vertrag genauer
spezifizieren müssen; und drittens sei es R ja unbenommen, die Ware außerhalb von Ruritanien
weiterzuverkaufen.
13
Bearbeitervermerk:
1)
2)
3)
4)
5)
Hat die C gegen die E einen Anspruch auf Rückzahlung des Kaufpreises? Kann sie
Schadensersatz verlangen?
Kann sich die S vom Kaufvertrag mit der C lösen? Kann sie Schadensersatz verlangen?
Kann die C von der T Ersatz für die geraubte Schokolade verlangen? Wie sieht es mit
Schadensersatz für den entgangenen Gewinn aus?
Hat G einen Anspruch gegen C wegen der verspäteten Lieferung? Kann C ihrerseits
Ansprüche gegen T geltendmachen? Welche Gerichte sind international für diese
Ansprüche zuständig?
Kann R sich vom Vertrag mit C lösen?
Hinweis:
Es ist zu unterstellen, dass Ruritanien Mitglied des CISG ist.
14
CMR – Auszüge
Art. 1 [Anwendungsbereich]
(1) Dieses Übereinkommen gilt für jeden Vertrag über die entgeltliche Beförderung von Gütern auf
der Straße mittels Fahrzeugen, wenn der Ort der Übernahme des Gutes und der für die Ablieferung
vorgesehene Ort, wie sie im Vertrage angegeben sind, in zwei verschiedenen Staaten liegen, von
denen mindestens einer ein Vertragsstaat ist. Dies gilt ohne Rücksicht auf den Wohnsitz und die
Staatsangehörigkeit der Parteien.
(2) Im Sinne dieses Übereinkommens bedeuten ”Fahrzeuge” Kraftfahrzeuge, Sattelkraftfahrzeuge,
Anhänger und Sattelanhänger, wie sie in Artikel 4 des Abkommens über den Straßenverkehr vom 19.
September 1949 umschrieben sind.
(3) Dieses Übereinkommen gilt auch dann, wenn in seinen Geltungsbereich fallende Beförderungen
von Staaten oder von staatlichen Einrichtungen oder Organisationen durchgeführt werden.
(4) Dieses Übereinkommen gilt nicht
a) für Beförderungen, die nach den Bestimmungen internationaler Postübereinkommen
durchgeführt werden;
b) für die Beförderung von Leichen;
c) für die Beförderung von Umzugsgut.
(5) Die Vertragsparteien werden untereinander keine zwei oder mehrseitigen Sondervereinbarungen
schließen, die Abweichungen von den Bestimmungen dieses Übereinkommens enthalten;
ausgenommen sind Sondervereinbarungen unter Vertragsparteien, nach denen dieses
Übereinkommen nicht für ihren kleinen Grenzverkehr gilt, oder durch die für Beförderungen, die
ausschließlich auf ihrem Staatsgebiet durchgeführt werden, die Verwendung eines das Gut
vertretenden Frachtbriefes zugelassen wird.
Art. 3 [Haftung für Gehilfen]
Der Frachtführer haftet, soweit dieses Übereinkommen anzuwenden ist, für Handlungen und
Unterlassungen seiner Bediensteten und aller anderen Personen, deren er sich bei Ausführung der
Beförderung bedient, wie für eigene Handlungen und Unterlassungen, wenn diese Bediensteten
oder anderen Personen in Ausübung ihrer Verrichtungen handeln.
Art. 12 [Verfügungsrecht]
(1) Der Absender ist berechtigt, über das Gut zu verfügen. Er kann insbesondere verlangen, daß der
Frachtführer das Gut nicht weiterbefördert, den für die Ablieferung vorgesehenen Ort ändert oder
das Gut einem anderen als dem im Frachtbrief angegebenen Empfänger abliefert.
(2) Dieses Recht erlischt, sobald die zweite Ausfertigung des Frachtbriefes dem Empfänger
übergeben ist oder dieser sein Recht nach Artikel 13 Absatz 1 geltend macht. Von diesem Zeitpunkt
an hat der Frachtführer den Weisungen des Empfängers nachzukommen.
(3) Das Verfügungsrecht steht jedoch dem Empfänger bereits von der Ausstellung des Frachtbriefes
an zu, wenn der Absender einen entsprechenden Vermerk in den Frachtbrief eingetragen hat.
[…]
Art. 17 [Haftung des Frachtführers; Haftungsausschlüsse]
(1) Der Frachtführer haftet für gänzlichen oder teilweisen Verlust und für Beschädigung des Gutes,
sofern der Verlust oder die Beschädigung zwischen dem Zeitpunkt der Übernahme des Gutes und
dem seiner Ablieferung eintritt, sowie für Überschreitung der Lieferfrist.
15
(2) Der Frachtführer ist von dieser Haftung befreit, wenn der Verlust, die Beschädigung oder die
Überschreitung der Lieferfrist durch ein Verschulden des Verfügungsberechtigten, durch eine nicht
vom Frachtführer verschuldete Weisung des Verfügungsberechtigten, durch besondere Mängel des
Gutes oder durch Umstände verursacht worden ist, die der Frachtführer nicht vermeiden und deren
Folgen er nicht abwenden konnte.
(3) Um sich von seiner Haftung zu befreien, kann sich der Frachtführer weder auf Mängel des für die
Beförderung verwendeten Fahrzeuges noch gegebenenfalls auf ein Verschulden des Vermieters des
Fahrzeuges oder der Bediensteten des Vermieters berufen.
(4) Der Frachtführer ist vorbehaltlich des Artikels 18 Absatz 2 bis 5 von seiner Haftung befreit, wenn
der Verlust oder die Beschädigung aus den mit einzelnen oder mehreren Umständen der folgenden
Art verbundenen besonderen Gefahren entstanden ist:
a) Verwendung von offenen, nicht mit Planen gedeckten Fahrzeugen, wenn diese Verwendung
ausdrücklich vereinbart und im Frachtbrief vermerkt worden ist;
b) Fehlen oder Mängel der Verpackung, wenn die Güter ihrer Natur nach bei fehlender oder
mangelhafter Verpackung Verlusten oder Beschädigungen ausgesetzt sind;
c) Behandlung, Verladen, Verstauen oder Ausladen des Gutes durch den Absender, den Empfänger
oder Dritte, die für den Absender oder Empfänger handeln;
d) natürliche Beschaffenheit gewisser Güter, derzufolge sie gänzlichem oder teilweisem Verlust oder
Beschädigung, insbesondere durch Bruch, Rost, inneren Verderb, Austrocknen, Auslaufen, normalen
Schwund oder Einwirkung von Ungeziefer oder Nagetieren, ausgesetzt sind;
e) ungenügende oder unzulängliche Bezeichnung oder Numerierung der Frachtstücke;
f) Beförderung von lebenden Tieren.
(5) Haftet der Frachtführer auf Grund dieses Artikels für einzelne Umstände, die einen Schaden
verursacht haben, nicht, so haftet er nur in dem Umfange, in dem die Umstände, für die er auf Grund
dieses Artikels haftet, zu dem Schaden beigetragen haben.
Art. 19 [Lieferfrist, Überschreitung]
Eine Überschreitung der Lieferfrist liegt vor, wenn das Gut nicht innerhalb der vereinbarten Frist
abgeliefert worden ist oder, falls keine Frist vereinbart worden ist, die tatsächliche
Beförderungsdauer unter Berücksichtigung der Umstände, bei teilweiser Beladung insbesondere
unter Berücksichtigung der unter gewöhnlichen Umständen für die Zusammenstellung von Gütern
zwecks vollständiger Beladung benötigten Zeit, die Frist überschreitet, die vernünftigerweise einem
sorgfältigen Frachtführer zuzubilligen ist.
Art. 23 [Haftungsumfang; Höchstbeträge]
(1) Hat der Frachtführer auf Grund der Bestimmungen dieses Übereinkommens für gänzlichen oder
teilweisen Verlust des Gutes Schadenersatz zu leisten, so wird die Entschädigung nach dem Wert des
Gutes am Ort und zur Zeit der Übernahme zur Beförderung berechnet.
(2) Der Wert des Gutes bestimmt sich nach dem Börsenpreis, mangels eines solchen nachdem
Marktpreis oder mangels beider nach dem gemeinen Wert von Gütern gleicher Art und
Beschaffenheit.
(3) Die Entschädigung darf jedoch 8,33 Rechnungseinheiten für jedes fehlende Kilogramm des
Rohgewichts nicht übersteigen.
(4) Außerdem sind - ohne weiteren Schadenersatz - Fracht, Zölle und sonstige aus Anlaß der
Beförderung des Gutes entstandene Kosten zurückzuerstatten, und zwar im Falle des gänzlichen
Verlustes in voller Höhe, im Falle des teilweisen Verlustes anteilig.
16
(5) Wenn die Lieferfrist überschritten ist und der Verfügungsberechtigte beweist, daß daraus ein
Schaden entstanden ist, hat der Frachtführer dafür eine Entschädigung nur bis zur Höhe der Fracht zu
leisten.
(6) Höhere Entschädigungen können nur dann beansprucht werden, wenn der Wert des Gutes oder
ein besonderes Interesse an der Lieferung nach den Artikeln 24 und 26 angegeben worden ist.
(7) Die in diesem Übereinkommen genannte Rechnungseinheit ist das Sonderziehungsrecht des
Internationalen Währungsfonds. Der in Absatz 3 genannte Betrag wird in die Landeswährung des
Staates des angerufenen Gerichts umgerechnet; die Umrechnung erfolgt entsprechend dem Wert
der betreffenden Währung am Tag des Urteils oder an dem von den Parteien vereinbarten Tag. Der
in Sonderziehungsrechten ausgedrückte Wert der Landeswährung eines Staates, der Mitglied des
Internationalen Währungsfonds ist, wird nach der vom Internationalen Währungsfonds
angewendeten Bewertungsmethode errechnet, die an dem betreffenden Tag für seine Operationen
und Transaktionen gilt. Der in Sonderziehungsrechten ausgedrückte Wert der Landeswährung eines
Staates, der nicht Mitglied des Internationalen Währungsfonds ist, wird auf eine von diesem Staat
bestimmte Weise errechnet.
(8) Dessen ungeachtet kann ein Staat, der nicht Mitglied des Internationalen Währungsfonds ist und
dessen Recht die Anwendung des Absatzes 7 nicht zuläßt bei der Ratifikation des Protokolls zur CMR
oder dem Beitritt zu jenem Protokoll oder jederzeit danach erklären, daß sich der in seinem
Hoheitsgebiet geltende Haftungshöchstbetrag des Absatzes 3 auf 25 Werteinheiten beläuft. Die in
diesem Absatz genannte Werteinheit entspricht 10/31 Gramm Gold von 900/1000 Feingehalt. Die
Umrechnung des Betrags nach diesem Absatz in die Landeswährung erfolgt nach dem Recht des
betreffenden Staates.
(9) Die in Absatz 7 letzter Satz genannte Berechnung und die in Absatz 8 genannte Umrechnung
erfolgen in der Weise, daß der Betrag nach Absatz 3, in der Landeswährung des Staates ausgedrückt,
soweit wie möglich dem dort in Rechnungsheinheiten ausdrückten tatsächlichen Wert entspricht. Die
Staaten teilen dem Generalsekretär der Vereinten Nationen die Art der Berechnung nach Absatz 7
oder das Ergebnis der Umrechnung nach Absatz 8 bei der Hinterlegung einer der in Artikel 3 des
Protokolls zur CMR genannten Urkunden sowie immer dann mit, wenn sich die Berechnungsart oder
das Umrechungsergebnis ändert.
Art. 24 [Besondere Wertdeklaration]
Der Absender kann gegen Zahlung eines zu vereinbarenden Zuschlages zur Fracht einen Wert des
Gutes im Frachtbrief angeben, der den in Artikel 23 Absatz 3 bestimmten Höchstbetrag übersteigt; in
diesem Fall tritt der angegebene Betrag an die Stelle des Höchstbetrages.
Art. 26 [Besonderes Lieferinteresse]
(1) Der Absender kann gegen Zahlung eines zu vereinbarenden Zuschlages zur Fracht für den Fall des
Verlustes oder der Beschädigung und für den Fall der Überschreitung der vereinbarten Lieferfrist
durch Eintragung in den Frachtbrief den Betrag eines besonderen Interesses an der Lieferung
festlegen.
(2) Ist ein besonderes Interesse an der Lieferung angegeben worden, so kann unabhängig von der
Entschädigung nach den Artikeln 23, 24 und 25 der Ersatz des Weiteren bewiesenen Schadens bis zur
Höhe des als Interesse angegebenen Betrages beansprucht werden.
17
Lösung
1)
Hat die C gegen die E einen Anspruch auf Rückzahlung des Kaufpreises? Kann sie
Schadensersatz verlangen?
I.
Anwendbares Recht?
1. Grds. Vertragsstatut nach IPR zu ermitteln; ggf. aber Vorrang völkerrechtlicher Verträge; hier
aber: Rechtswahl durch Parteien!
2. Art. 3 Rom I-VO: Rechtswahl, hier wirksam, deshalb deutsches Rechts
Umfang der Rechtswahl?  CISG ist als völkerrechtlicher Vertrag Teil deutschen
Rechts und vorrangig anwendbar!
 Rechtswahl als Ausschluss des CISG, Art. 6 CISG? (-), Ausschluss des CISG
muss ausdrücklich/eindeutig erfolgen bzw. BGB gewählt werden
 damit also innerhalb des deutschen Rechts CISG (ggf.) anwendbar
3. Anwendbarkeit des CISG?  Art. 1-6 CISG
1. Räumlich-persönlicher Anwendungsbereich?
 Art. 1 Abs. 1 lit. a):
 Parteien mit Niederlassung in verschiedenen Staaten (+),
Deutschland/Frankreich
 beide Staaten Vertragsstaaten (+), D und F beides Vertragsstaaten
2. Sachlicher Anwendungsbereich?
 Art. 1 CISG: Warenkauf bzw. Werklieferungsvertrag nach Art. 3 I CISG (+),
Kaufvertrag über Stanniolpapier
3. Zeitlicher Anwendungsbereich, Art. 100 CISG (+)
4. Ausnahmen?
 Art. 2 CISG (-), hier nichts einschlägig
 Art. 3 Abs. 1 Hs. 2 CISG (-)
 Art. 3 Abs. 2 CISG (-), nur Lieferung
5. Abwahl durch Rechtswahl/Ausschluss, Art. 6 CISG? (-), nichts ersichtlich
II.


Vertrag wirksam geschlossen?  Art. 14ff. CISG
Angebot? (+), Vertragsübersendung durch E
Annahme (+), Unterschrift und Rücksendung durch C
III.

Rückzahlungsanspruch der C?  Art. 81, 49, 26 CISG
Art. 81 II 1 CISG: Anspruch auf Rückgabe des Geleisteten (hier: schon gezahlter Kaufpreis) bei
Vertragsaufhebung  liegt Vertragsaufhebung vor?

Vertragsaufhebung durch C möglich?  Aufhebung durch Käufer, Artt. 45, I lit. a, 49 I CISG
o Voraussetzungen:
1. Nichterfüllung einer Verkäuferpflicht
 Art. 35 I CISG: Ware muss Vertragsanforderungen entsprechen
18

Konformität, Art. 35 II CISG?
o Parteivereinbarung?  ggf. schon in „Angebot über
vergleichbares Papier“, Hinweis auf Verwendungszweck –
allerdings keine zweiseitige Vereinbarung!
o a) Eignung für gewöhnlichen Zweck  hier geht es
offensichtlich um Lebensmittel-Verpackungen; andererseits
kann rotes Folienpapier auch anders verwendet werden
o b) Eignung für bestimmten Zweck, der Verkäufer zur
Kenntnis gebracht wurde, (+) C hat ausdrücklich auf Zweck
hingewiesen und durfte auch vernünftigerweise auf
Sachkenntnis der E vertrauen

kein Ausschluss nach Art. 35 III CISG, C wusste nichts von
Vertragswidrigkeit

Haftung nach Art. 36 I CISG für Vertragswidrigkeit bei
Gefahrübergang (Art. 66ff. CISG), auch wenn sie erst später offenbar
wird  hier also Haftung nicht dadurch ausgeschlossen, dass Mangel
erst nach Verarbeitung zutage tritt
 damit also Nichterfüllung der Pflicht aus Art. 35 CISG!

Recht verloren wegen Artt. 38, 39 CISG?
o Untersuchungspflicht nach Art. 38 CISG (kurze Frist)? 
Untersuchung durch C gleich nach Lieferung? (?), aber:
Mangel jedenfalls erst nach Verarbeitung erkennbar…
o Rügepflicht: Anzeige innerhalb angemessener Frist nach
Feststellung, (+) umgehende Mitteilung
 also kein Rechtsverlust der C
2. Nichterfüllung als wesentliche Vertragsverletzung i.S.d. Art. 25 CISG
 „dass ihr im Wesentlichen entgeht, was sie nach dem Vertrag hätte
erwarten dürfen“  hier wohl (+): C wollte Stanniolpapier zum
Einwickeln von Schokolade und durfte das auch erwarten – genau
das hat sie aber nicht bekommen, hier wohl keine andere
Verwendungsmöglichkeit, dieses Stanniolpapier eignet sich nicht für
Süßwaren
o
Ausschluss des Aufhebungsrechts nach Art. 82 CISG?
1. Art. 82 I CISG: wenn Ware nicht im Lieferungszustand zurückgewährt werden
kann  hier (+), Stanniolpapier kann nicht zurückgegeben werden
2. Aber: Art. 82 II CISG: Abs. 1 nicht anwendbar?  hier lit. c): C hat die Ware
der normalen Verwendung entsprechend verändert (durch Einpacken der
Schokolade), bevor die Vertragswidrigkeit entdeckt wurde/hätte entdeckt
werden müssen
19
o
Problem: Ausschluss des Aufhebungsrechts durch die AGB? (Beschränkung auf
Nachlieferungsansprüche)
1. Einbeziehung der AGB?
 h.M.: historisch ist Einbeziehungsproblem („Frage des äußeren
Konsenses“) eine Frage des Vertragsschlusses (Art. 14ff. CISG) 
damit unterfällt AGB-Einbeziehung dem CISG! Keine nationalen
Einbeziehungsregelungen!
o Wille zur Einbeziehung erkennbar? (auch aus Handelsbrauch,
Art. 9 II CISG, möglich)  hier: Angebot zum Vertragsschluss
durch E, darin AGB enthalten; Annahme durch C inklusive
der AGB (Art. 18 I CISG)  AGB wirksam einbezogen
2. Wirksamkeit der AGB?
 Wirksamkeit oder Unwirksamkeit der einzelnen Klauseln nicht vom
CISG geregelt  nach von IPR berufenem nat.R zu beurteilen (für dt.
Recht: § 305c I BGB zu überraschenden Klauseln ist Inhaltskontrolle
und bleibt damit anwendbar; im Rahmen des § 307 BGB sind CISGWertungen zu berücksichtigen)
o Nach IPR berufenes nat. Recht?  Rom I-VO: Art. 3,
Rechtswahl des deutschen Rechts
o Klausel nach dt.. Recht wirksam?  AGB-Inhaltskontrolle
zwischen Unternehmern: § 307 BGB unter Heranziehung der
Wertungen der §§ 308, 309 BGB (vgl. § 310 Abs. 1 BGB)
 Klausel, die auf Nacherfüllung beschränkt und kein
Rücktrittsrecht einräumt, ist unwirksam!
 damit Klausel unwirksam
 unwirksame Klausel, damit nicht zu beachten,
also kein wirksamer Ausschluss des
Aufhebungsrechts
 also besteht ein Aufhebungsrecht der C

Vorherige Nachfristsetzung erforderlich, Art. 47 II CISG?
 nicht erforderlich bei wesentlicher Vertragsverletzung

Wirksame Geltendmachung des Aufhebungsrechts?
o „erklären“  Art. 26 CISG: muss der anderen Partei mitgeteilt werden  hier darin
zu sehen, dass C Rückzahlung des Kaufpreises verlangt
o Frist, Art. 49 II CISG
Aufhebungserklärung innerhalb angemessener Frist nach
Vertragsverletzungs-Kenntnis (b) i)), (+)umgehende Mitteilung
=> C steht ein Aufhebungsrecht zu, dies hat sie auch form- und fristgerecht geltend gemacht. Somit
hat sie einen Anspruch auf Rückzahlung des bereits geleisteten Kaufpreises.
IV.
Schadensersatzanspruch der C?  Artt. 45 I lit. b), 74-77 CISG
20

Vertragsverletzung: Nichterfüllung einer Verkäuferpflicht, Art. 35 CISG (+), s.o.
o
Kein Ausschluss nach Artt. 38, 39 CISG, s.o.
o
damit nach Art. 45 I lit. b) CISG Schadensersatzanspruch

Umfang des Schadensersatzes, Art. 74ff. CISG:
Art. 74 CISG: infolge der Vertragsverletzung entstandener (vorhersehbarer)
Verlust  hier: der C aus den Rückabwicklungs-/Schadensersatzansprüchen ihrer
Händler entstandener Schaden, sowie der C entgangener Gewinn (in bei
Vertragsabschluss vorhersehbarer Höhe)

Befreiung der E, Art. 79 CISG?
o
nicht ersichtlich, warum E exkulpiert sein sollte!!!
o
i.Ü. müsste E beweisen, dass der Hinderungsgrund von ihr nicht zu beeinflussen
war und man von ihr weder eine Berücksichtigung noch eine Vermeidung
erwarten konnte

Schadensersatzausschluss durch AGB-Klausel?
o
Wirksamkeit/Inhalt zu beurteilen nach dt. Recht, s.o.
o
hier: Klausel beschränkt auf Nacherfüllung und schließt Schadensersatz aus 
unwirksam, s.o.

Anspruch auf Schadensersatz nicht ausgeschlossen durch Vertragsaufhebung, Art. 45 II CISG
=> C steht (neben dem Aufhebungsrecht) ein Anspruch auf Schadensersatz zu.
21
2)
Kann sich die S vom Kaufvertrag mit der C lösen? Kann sie Schadensersatz verlangen?
I.
Anwendbares Recht?
o Keine Rechtswahl o.ä., also vorrangig CISG zu prüfen
o Anwendbarkeit des CISG?  Art. 1-6 CISG
 Räumlich-persönlicher Anwendungsbereich?
 Art. 1 I lit. a):
o Parteien mit Niederlassung in verschiedenen Staaten (+),
Deutschland/Niederlande
o beide Staaten Vertragsstaaten (+), D und N beides
Vertragsstaaten
 Sachlicher Anwendungsbereich?
 Art. 1 CISG: Warenkauf/Werklieferungsvertrag, Art. 3 I CISG (+),
Kaufvertrag über Schokoladenhasen
 Zeitlicher Anwendungsbereich, Art. 100 CISG (+)
 Keine Ausnahmen erkennbar, Art. 2 CISG
 Keine Abwahl durch Rechtswahl/Ausschluss, Art. 6 CISG
II.
Vertrag wirksam geschlossen?  Art. 14ff. CISG
Wirksamer Kaufvertragsschluss zu unterstellen
III.
Vertragsaufhebung durch S möglich?  Artt. 49, 26 CISG
o
Voraussetzungen für Aufhebung nach Art. 49 I lit. a):
 Nichterfüllung einer Verkäuferpflicht
 Art. 35 I CISG: Ware muss Vertragsanforderungen entsprechen
o Konformität, Art. 35 II CISG?  zerbrochene
Schokoladenfiguren zwar noch zum Verzehr geeignet; hier ist
aber auf den gewöhnlichen (lit. a) bzw. bestimmten (lit. b)
Weiterverkaufszweck abzustellen, für den sie nicht mehr
geeignet sind!
=> damit hat C ihre Pflicht nicht erfüllt
 Untersuchungs- und Rügepflicht (Artt. 38, 39 CISG) gewahrt:
sofortige Untersuchung und Mangelmitteilung nach Lieferung

Nichterfüllung als wesentliche Vertragsverletzung i.S.d. Art. 25 CISG?
 „dass ihr im Wesentlichen entgeht, was sie nach dem Vertrag hätte
erwarten dürfen“  so schwere Beeinträchtigung der berechtigten
Vertragserwartungen der S, dass ihr Interesse an
Vertragsdurchführung entfällt? Unzumutbarkeit anderer
Rechtsbehelfe (Aufhebung als ultima ratio)?
o Hier: zwar Interesse der S an (korrekter und rechtzeitiger)
Vertragserfüllung schwerwiegend beeinträchtigt, da sie
beinahe gänzlich mangelhafte Ware erhält – aber C bietet
rasche Nachlieferung an, die für S kaum Aufwand bedeutet
22
(und S kann Schadensersatz für Zuspätlieferung verlangen).
Wenn Mangel rasch und ohne Aufwand für die
beeinträchtigte Partei nachgebessert werden kann und die
vertragsbrüchige Partei dazu bereit ist, ist er (auch wenn er
schwerwiegend ist) nicht „wesentlich“ i.S.d. Art. 25 CISG.
=> damit keine „wesentliche“ Vertragsverletzung, Aufhebung nach Art. 49 I
lit. a) CISG nicht möglich
o
IV.
Voraussetzungen für Aufhebung nach Art. 49 I lit. b):
 Nichtlieferung?  hier: zwar mangelhafte Ware, aber es liegt eine Lieferung
vor! Schlecht- und Falschlieferungen sind von lit. b) nicht erfasst – hier soll
nur bei wesentlicher Vertragsverletzung nach lit. a) eine Aufhebung in
Betracht kommen (keine aufhebungsermöglichende Nachfristsetzung bei
mangelhafter Lieferung, anders als im BGB!)
=> S kann den Vertrag mit C nicht aufheben.
Schadensersatzansprüche der S?  Artt. 45 I lit. b), 74-77 CISG
o
Vertragsverletzung: Nichterfüllung einer Verkäuferpflicht, Art. 35 CISG (+), s.o.
 Kein Ausschluss nach Artt. 38, 39 CISG, s.o.
 damit nach Art. 45 I lit. b) CISG Schadensersatzanspruch
o
Umfang des Schadensersatzes, Art. 74ff. CISG:
 Art. 74 CISG: infolge der Vertragsverletzung entstandener (vorhersehbarer)
Verlust  hier: der der S aus der Lieferung mangelhafter Ware entstandene
Verlust (z.B. durch vergeudetes Vorhalten von Lagerkapazität) sowie
entgangener Gewinn (da sie ja erst zwei Tage später mit dem Verkauf der
Saisonartikel beginnen kann)
o
Keine Befreiung der S nach Art. 79 CISG ersichtlich
 Ergebnis: SE-Anspruch der S (+)
23
3)
Kann die C von der T Ersatz für die geraubte Schokolade verlangen? Wie sieht es mit
Schadensersatz für den entgangenen Gewinn aus?
3
I.
Anwendbares Recht?
1. hier: Straßengütertransport, also ggf. als völkerrechtlicher Vertrag CMR vorrangig
2. Anwendbarkeit des CMR, Art. 1 I CMR
a. Vertrag über entgeltliche Beförderung von Gütern auf der Straße mittels
Fahrzeugen (+)
b. Übernahmeort und vorgesehener Ablieferungsort in zwei verschiedenen
Staaten (+), Deutschland/Spanien
c. Wenigstens einer der Staaten Vertragsstaat (+), sowohl Deutschland als
auch Spanien sind CMR-Mitglieder
d. unerheblich, wo Wohnsitz der Parteien ist!
II.
Schadensersatzanspruch der C wegen der geraubten Schokolade?  Art. 17 I Var. 1 CMR
1. Art. 17 I Var. 1 CMR
a. Verlust des Gutes (+), Schokolade gänzlich verschwunden
b. Eintritt des Verlustes zwischen Übernahme und Ablieferung des Gutes (+),
nach Übernahme der Schokolade bei C und vor Ablieferung in Salamanca
c.  grds. Haftung der T als Frachtführerin
2. Haftungsausschluss nach Art. 17 II CMR?
a. Verlust durch Verschulden des Verfügungsberechtigten eingetreten (Var. 1)?
1) Verfügungsberechtigter, Art. 12 CMR: hier C; Raub nicht durch
Verschulden der C
b. Verlust durch nicht vom Frachtführer (T) verschuldete Weisung des
Verfügungsberechtigten (Var. 2)?
1) Keine Weisung durch C, die zu Verlust geführt hätte
c. Verlust durch besondere Mängel des Gutes (Var. 3)?
1) Hier (-)
d. Verlust durch Umstände, die Frachtführer nicht vermeiden und deren Folgen
er nicht abwenden konnte (Var. 4)?
1) Unvermeidbarkeit?  wenn Schaden auch bei Anwendung der
äußersten möglichen und zumutbaren Sorgfalt durch den
Frachtführer nicht hätte vermieden werden können (Beweislast beim
Frachtführer)3
2) Nach Art. 3 CMR haftet Frachtführer auch für seine Hilfspersonen –
hier: Verhalten des Fahrers (unzweifelhaft Handeln „in Verrichtung“)
Also hier unerheblich, ob der Parkplatz von T vorgegeben
oder vom Fahrer gewählt wurde
3) Raub durch mögliche und zumutbare Sorgfalt vermeidbar gewesen?
a. Zumindest leicht fahrlässig, auf unbewachtem Parkplatz zu
parken – Wahl eines bewachten Parkplatzes / einer Route
mit bewachtem Parkplatz wäre möglich und zumutbar
gewesen
BGH TranspR 1998, 250; BGH TranspR 1999, 59.
24
b. Besatzung des Fahrzeugs mit einem zweiten Fahrer als
mögliche und zumutbare Alternative
c. Alarmanlage am LkW
d. …
e.  damit in Raub-Fällen kein Ausschluss nach Art. 17 II CMR!
3. Es besteht ein Schadensersatzanspruch der C gegen die T wegen der geraubten
Schokolade
4. Haftungsumfang: Art. 23 CMR
a. Wertersatzprinzip
1) Art. 23 I CMR: Ersatz für Wert der Schokolade (bei C am 21.3.2012,
Wertbestimmung nach Art. 23 II, III CMR), 10.000 €
2) Art. 23 IV CMR: Erstattung der vollen Frachtkosten, da vollständiger
Verlust
b. Schadensersatz für entgangenen Gewinn?
1) Nach Art. 23 VI CMR höhere Entschädigung nur, wenn Wert des
Gutes oder besonderes Interesse an Lieferung angegeben
2) Keine besondere Wertdeklaration nach Art. 24 CMR
3) Höherer Betrag wegen besonderen Lieferinteresses, Art. 26 CMR?
Hier nicht ersichtlich, dass besonderes Lieferinteresse
vereinbart (keine Eintragung im Frachtbrief, kein Zuschlag)
III.
damit nur Schadensersatzanspruch wegen der verschwundenen Schokolade und der
Frachtkosten, aber kein Schadensersatzanspruch wegen entgangenen Gewinns
25
4)
Hat G einen Anspruch gegen C wegen der verspäteten Lieferung? Kann C ihrerseits
Ansprüche gegen T geltend machen? Welche Gerichte sind international für diese Ansprüche
zuständig?
I.
Ansprüche des G gegen C
1. Anwendbares Recht?  CISG
Anwendbarkeit (+), Italien ebenfalls CISG-Vertragsstaat – s.o.
2. Vertrag wirksam geschlossen?  Art. 14ff. CISG
Wirksamer Kaufvertragsschluss zu unterstellen
3. Vertragsaufhebung durch G möglich?  Artt. 49, 26 CISG
a. Voraussetzungen für Aufhebung nach Art. 49 I lit. a):
1) Nichterfüllung einer Verkäuferpflicht
a) Hier: Pflicht der C zur pünktlichen Lieferung
1)Art. 33 CISG: Lieferungszeitpunkt
2)hier lit. a) Zeitpunkt im Vertrag bestimmt, (bis zum)
23.3.2012
b) Pflicht durch Zuspätlieferung (am 10.4.2012) verletzt!
2) Nichterfüllung als wesentliche Vertragsverletzung i.S.d. Art. 25 CISG?
 Verspätete Lieferung ist nur selten wesentliche Vertragsverletzung (i.d.R. ist Nachfrist erforderlich, dann
Aufhebung nach Art. 49 I lit. b CISG möglich)
 Hier aber: Fixgeschäft ausdrücklich vereinbart,
Saisonware! – deshalb besonderes Interesse des G an
rechtzeitiger Lieferung, hier möglicher sinnvoller
Zeitraum verstrichen (Lieferung nach Ostern)
 wesentliche Vertragsverletzung (+)
b. Kein Ausschluss des Aufhebungsrechts nach Art. 82 CISG, G kann die Hasen
zurückgeben
c. Wirksame Geltendmachung des Aufhebungsrechts?
„erklären“  Mitteilung an andere Partei, Art. 26 CISG (+), Anruf des
G bei C
d. Frist, Art. 49 II lit. a) CISG
Aufhebungserklärung innerhalb angemessener Frist, nachdem G von
Lieferung erfährt  (+), umgehender Anruf bei C
26
 G kann sich durch Vertragsaufhebung vom Vertrag mit C lösen.
4. Schadensersatzansprüche?
a. Wegen Pflichtverletzung der C (siehe eben) Schadensersatzanspruch des G
nach Artt. 45 I lit. b), 74ff. CISG
1) Umfang: (voraussehbarer) Verlust und entgangener Gewinn des C
2) Exkulpation der C gemäß Art. 79 II CISG, weil sie die T eingeschaltet
hat?
a) Vss.: Doppelte Exkulpation: Befreiung der C selbst UND
hypothetische Befreiung der T
b) Hier: Hinderungsgrund außerhalb des Einflussbereichs und
nicht vernünftigerweise in Betracht zu ziehen/zu vermeiden?
 wohl nicht für C (zwar nicht Cs Einflussbereich; aber nicht
völlig abwegig, von Unachtsamkeit bei Spedition auszugehen
– also insbes. bei Termingeschäften in Betracht zu ziehen,
andererseits aber gerade für pünktliche Lieferung Spedition
eingeschaltet…), jedenfalls aber nicht für T (der Fehler
entstand ja gerade durch Versehen bei T!)!  damit keine
Exkulpation der C
 G kann von C auch Schadensersatz verlangen.
II.
Ansprüche der C gegen T
1. Anwendbares Recht?  CMR
a. Anwendungsbereich (+), auch Italien ist CMR-Vertragsstaat – s.o.
2. Schadensersatzanspruch der C wegen der verspäteten Lieferung?  Art. 17 I Var. 3
CMR
a. Lieferfristüberschreitung, Art. 19 CMR?
1) Hier (+), da Schokolade nicht in der vereinbarten Frist (Zeitraum bis
zur vertragsgemäßen Ablieferung am 23.3.2012 in Florenz)
abgeliefert wurde
b. damit Schadensersatzanspruch der C
c. Inhalt: Vermögensschaden wegen der verspäteten Ablieferung
1) Bei C wegen der Verspätung entstandener Schaden? der dem G zu
zahlende Schadensersatz sowie der C entgangene Gewinn
2) Art. 23 V CMR:
a) Beweispflicht für Schaden beim Verfügungsberechtigten
27
1)hier: es dürfte für C ohne weiteres möglich sein, den
Schaden nachzuweisen
b) bei Lieferfristüberschreitung grds. der Art nach
uneingeschränkter Schadensersatz – alle adäquat kausal
verursachten Schäden, also auch mittelbare/unmittelbare
Folgeschäden, entgangener Gewinn ist hier (im Gegensatz zu
Verlust/Beschädigung) ersatzfähig!
c) Aber: Begrenzung der Schadenshöhe auf Höhe der Fracht
1)„Fracht“ ist die zwischen Frachtführer und
Vertragspartner vereinbarte Vergütung, also das von
C und T vereinbarte Entgelt
d.  C kann von T Schadensersatz wegen der verspäteten Lieferung verlangen.
Allerdings ist der Anspruch in der Höhe begrenzt und kann maximal in Höhe
des mit T vereinbarten Entgelts verlangt werden.
III.
Internationale Zuständigkeit für die Ansprüche?  EuGVVO
1. Anwendbarkeit der EuGVVO?
a. Sachlich, Art. 1 I EuGVVO (+), Zivil- und Handelssache
b. Räumlich-persönlich, Art. 2 I EuGVVO [Art. 4 I EuGVVOneu]:
1) Für Ansprüche G gegen C: (+), C hat Wohnsitz in Deutschland
2) Für Ansprüche C gegen T: Wohnsitz der T nach Art. 60 EuGVVO [Art.
63 EuGVVOneu] entweder Delaware (lit. a)), oder Hauptverwaltung
(lit. b), Belgien)  also ebenfalls (+)
c. Zeitlich, Art. 66, 76 EuGVVO (+)
2. Klage des G gegen C:
a. Allgemeine Zuständigkeit, Art. 2 EuGVVO [Art. 4 EuGVVOneu]: Wohnsitz der
C, Deutschland
b. Besondere Zuständigkeit, Art. 5 lit. a), b) EuGVVO [Art. 7 EuGVVOneu]:
Kaufvertrag zwischen C und G, damit Erfüllungsort = Lieferort, Italien
c.  G kann wahlweise in Deutschland oder Italien klagen
3. Klage der C gegen T:
a. Allgemeine Zuständigkeit, Art. 2 EuGVVO [Art. 4 EuGVVOneu]: Wohnsitz der
T, Belgien
b. Besondere Zuständigkeit, Art. 5 lit. a), b) EuGVVO [Art. 7 EuGVVOneu]:
1) Transportvertrag von Art. 5 lit. b) erfasst (Dienstleistung), damit
Erfüllungsort des Transportvertrags
a) Problem: Schwerpunktbestimmung beim Transportvertrag?
 vgl. EuGH-Rspr. zum Beförderungsrecht (Rs. Rehder):
Wahlrecht zwischen Übernahme- und Lieferort? m.E. bei
Transportvertrag auch vertretbar, nur auf Lieferort
abzustellen?
gf. auch Deutschland
c.  C kann wahlweise in Belgien, Italien und je nach Ansicht auch in
Deutschland klagen
28
5)
Kann R sich vom Vertrag mit C lösen?
I.
Anwendbares Recht?  CISG?
Anwendbarkeit der CISG?  Art. 1-6 CISG
i. Räumlich-persönlicher Anwendungsbereich?
Art. 1 I lit. a):
a. Parteien mit Niederlassung in verschiedenen Staaten (+),
Deutschland/Ruritanien
b. beide Staaten Vertragsstaaten (+), D und Rur. beides
Vertragsstaaten
ii. Sachlicher Anwendungsbereich?
Art. 1 I CISG: Warenkauf/Werklieferungsvertrag, Art. 3 I CISG (+),
Kaufvertrag über „Schwarzwälder-Kirsch-Kugeln“
iii. Zeitlicher Anwendungsbereich, Art. 100 CISG (+)
iv. Keine Ausnahmen erkennbar
v. Abwahl durch Rechtswahl/Ausschluss? (-), nichts ersichtlich
II.
Vertrag wirksam geschlossen?  Art. 14ff. CISG
Wirksamer Kaufvertragsschluss zu unterstellen
III.
Vertragsaufhebung durch R möglich?  Artt. 49, 26 CISG
a) Voraussetzungen für Aufhebung nach Art. 49 I lit. a):
i. Nichterfüllung einer Verkäuferpflicht
Art. 35 I CISG: Ware muss Vertragsanforderungen entsprechen  im
Vertrag nichts spezifisches zum Alkoholgehalt vereinbart, nur
„hochwertiger Alkohol mit Kirschgeschmack“ in Bezug genommen
ii. Art. 35 II CISG:
1. Eignung für gewöhnlichen Gebrauch?  hier wohl
Weiterverkauf/Konsum
a. Alkoholgehalt dafür maßgeblich? Nicht deutlich, dass
„gewöhnliche“ Schokoladenkugeln nur mit Likör gefüllt sind
(man denke z.B. am Williams-Christ- oder CognacOstereier…) – der gewöhnliche Gebrauch wird also grds.
nicht beeinträchtigt
b. Maßgeblichkeit der ruritanischen öffentlich-rechtlichen
Vorgaben (dort nicht verkehrsfähig)?
BGH: vom Verkäufer kann nicht erwartet werden, besondere
öff.-rechtl. Vorschriften im Käufer-/Verwendungsstaat zu
beachten; Teile der Lit.: Standard im Land des Verkäufers!
2. Eignung für bestimmten Zweck?
29
Kein Hinweis, dass R der C ausdrücklich oder anders zur
Kenntnis gebracht hat, dass ruritanische Standards gelten
müssen (nur Liefer-/Bestimmungsort genügt nicht); selbst
wenn R den Zweck des Verkaufs angibt, ist sehr fraglich, ob
er vernünftigerweise auf Sachkenntnis der C zum
ruritanischen Lebensmittelrecht vertrauen durfte
 damit also keine Vertragswidrigkeit, keine Nichterfüllung einer
Verkäuferpflicht!
b) Nähme man eine Nichterfüllung an, müsste diese eine wesentliche
Vertragsverletzung i.S.d. Art. 25 CISG sein
i. R kann die Kugeln in Ruritanien nicht verkaufen – ihm entgeht also
wesentlich das, was er nach dem Vertrag erwarten durfte
ii. Aber: andere Verwertung (im Ausland) möglich) – BGH: keine wesentliche
Vertragsverletzung!
iii. Wenn man eine wesentliche Vertragsverletzung bejaht, hat R ein
Aufhebungsrecht (kein Ausschluss nach Art. 82 CISG). Die Aufhebung hat er
gegenüber C erklärt (Art. 26 CISG) und auch fristgerecht (Art. 49 II lit. b) i))
iv. Wenn man eine wesentliche Vertragsverletzung verneint, hat R kein
Aufhebungsrecht nach Art. 49 I lit. a) CISG. Ein Aufhebungsrecht nach Art. 49
I lit. b) CISG kommt auch nicht in Betracht, da die Aliud-Lieferung eine
Lieferung ist (vgl. oben).
 Je nach eingeschlagenem Lösungsweg kann R sich vom Vertrag lösen oder nicht.
Anmerkung:
vgl. Fälle „Neuseeländische Muscheln“ (BGH 08.03.1995, BGHZ 129, 75; s.a. BGH 02.03.2005, RIW
2005, 547) sowie Kobaltsulfat (BGH 03.04.1996, NJW 1996, 2364; CISG-online Nr. 135)
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