Ausländer umgehen Autobahn

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Ausländer umgehen Autobahn
Roman-Debüt: Gut organisierter Krimi
Petra Reski über die Mafia – und den Umgang der Deutschen damit ➤ Seite 13
FREITAG, 31. OKTOBER 2014 | WWW.TAZ.DE
AUSGABE BERLIN | NR. 10552 | 44. WOCHE | 36. JAHRGANG
€ 2,10 AUSLAND | € 1,60 DEUTSCHLAND
HEUTE IN DER TAZ
Ausländer umgehen Autobahn-Maut!
US-WAHLEN Am
Dienstag geht es um
die Macht im Kongress
– und die Freigabe von
Cannabis ➤ SEITE 4, 14
MUSIK Quälgeister mit
ewiger Jugend:
Mouse on Mars ➤ SEITE 15
BERLIN Drohung mit
der Räumung: Monika
Herrmann erklärt ihre
Kehrtwende in der
Flüchtlingspolitik im
taz-Interview ➤ SEITE 21
VERKEHR Minister Dobrindt führt
Straßenmaut in Deutschland ein ➤ Seite 3
Russen fliegen einfach unangemeldet
über Europa herum ➤ Seite 10
Fotos oben: reuters; Sven Simon/imago
VERBOTEN
Guten Tag,
meine Damen und Herren!
Es geht voran, so kann es weitergehen! Nach der lobenswerten Internetsteuer der Ungarn,
die bald in ganz Europa Schule
machen sollte, nun die nächste
Maßnahme, die das Überleben
der Printzeitung, damit das
Überleben von verboten und
das Überleben der Menschheit
sichert: Die Maut für Ausländer
(mindestens 10 Euro) wird dafür sorgen, dass es sich diese
Leute nicht mehr leisten können, nach Deutschland zu fahren, um sich über Deutschland
zu informieren. Internet geht ja
auch nicht (dank Internetsteuer). Bleibt nur noch für läppische 2,10 Euro Auslandspreis:
die taz. Danke, Dobrindt!
TAZ MUSS SEIN
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Zahlen nichts und reagieren nicht auf Ermahnungen: Russische Tupolew-Kampfflieger in der Nähe der Nato-Grenzen, hier aufmerksam verfolgt von einem norwegischen F-16-Jet Foto: reuters
KOMMENTAR VON RICHARD ROTHER ZUR PKW-MAUT IN DEUTSCHLAND
Betreuungsgeld für Dobrindt
och ist die Pkw-Maut nicht beschlossen, aber wahrscheinlicher wird: Sie
kommt. Nach neuerlichen Änderungen am Konzept hat BundesverkehrsministerAlexanderDobrindt(CSU)
nun auch unionsinterne Kritiker ruhiggestellt; damit sind die größten Hindernisse aus dem Weg geräumt. Erstaunlich
für ein Projekt, von dem es anfangs fast
allerorten hieß, es gehe gar nicht und sei
nicht europarechtskonform. Nun zeigt
sich: Bayrische Sturheit setzt sich durch,
und Dobrindt bekommt sein Betreuungsgeld – egal wie groß der bürokratische Aufwand und der Ansehensverlust
in Europa sein mögen. Das ist nicht
schön, aber es ist auch nicht schlimm.
N
Denn im Unterschied zum wirklichen
Betreuungsgeld, das die CSU durchgesetzt hat, hält sich der Schaden bei der
Maut in Grenzen. Zur Erinnerung: Das
Betreuungsgeld erhalten Familien, wenn
sie ihre Kleinkinder nicht in eine Kita
schicken. Damit werden vorrangig Frauen belohnt, die wegen der Betreuung ihrer Kinder (vorübergehend) auf eine Berufstätigkeit verzichten. Durch das Betreuungsgeld werden nicht nur Mittel
verschwendet, die sinnvoller für die
frühkindliche Bildung ausgegeben werden könnten, sondern ein rückwärtsgewandtes Familienbild wird gefördert.
Die geplante Maut hingegen bringt
dem Staat Geld ein, auch wenn es am En-
de nicht so viel sein mag, wie Dobrindt
vorrechnet. In vielen europäischen Ländern gilt eine ähnliche Vignettenpflicht
seit Langem, etwa in Deutschlands Nachbarstaaten Österreich und Tschechien.
Daran stört sich niemand. Selbst das Ziel
der Maut, auch Fahrzeughalter aus dem
Ausland an den Infrastrukturkosten im
größten Transitland Europas zu beteiligen, ist nicht verwerflich. Die von Umweltverbänden vehement geforderte
Die CSU kann zufrieden sein.
Das ist nicht schön,
aber auch nicht schlimm
Lkw-Maut wurde auch deshalb eingeführt, weil man ausländischen Lkw-Besitzern mit einer Erhöhung der Kfz- oder
Mineralölsteuer in Deutschland nicht
beikommen konnte. Unangenehm allerdings war der nationalistische Unterton,
mit dem die CSU für ihre Mautpläne im
Wahlkampf warb.
Die CSU darf nun zufrieden sein. Sie
wird wohl ihre Maut kriegen – so wie die
CDU die Mütterrente und die SPD den
Mindestlohn bekommen hat. Das entspricht der Arithmetik der Großen Koalition. Wer Münchner Leib-und-MagenVorhaben künftig verhindern will, muss
dafür sorgen, dass es zu keiner Neuauflage dieser Koalition kommt.
Volksaufstand in Burkina Faso
Tempelberg zu
UNRUHEN Präsident Blaise Compaoré scheitert mit dem Plan, per
JERUSALEM Nach Gewalttaten lässt Israels Regierung
Verfassungsänderung im Amt zu bleiben. Parlamentsgebäude angezündet
das für Juden und Muslime heilige Gebiet abriegeln
OUAGADOUGOU afp/taz | Im
westafrikanischen Burkina Faso
haben aufgebrachte Demonstranten am Donnerstag das Parlamentsgebäude angezündet und
das Land an den Rand eines politischen Umsturzes gebracht. Sie
protestierten mit ihrer Aktion in
der Hauptstadt Ouagadougou
gegen eine geplante Verfassungsänderung zugunsten von
Staatschef Blaise Compaoré, die
ihm eine erneute Präsident-
JERUSALEM afp | Der Streit um
den Tempelberg hat in Jerusalem
zu neuen Gewalttaten, Unruhen
und drastischen Maßnahmen
der israelischen Regierung geführt. Nach dem Attentat auf einen jüdischen Ultranationalisten, der lebensgefährlich verletzt
wurde, erschoss die israelische
Polizei einen tatverdächtigen Palästinenser. Das Juden und Muslimen heilige Felsplateau wurde
erstmals seit dem Sechstage-
schaftskandidatur 2015 ermöglicht hätte. Die Regierung sagte
das Votum ab, nachdem sie die
Besetzung und Verwüstung des
Parlaments nicht verhindern
konnte. Teile der Armee solidarisierten sich mit den Protestierenden, die weitere Gebäude in
Ouagadougou anzündeten. Am
Nachmittag wurde spekuliert,
dass die Armee Präsident Compaoré absetzen könnte, der Burkina Faso seit 27 Jahren regiert.
Compaorés Pläne waren von
der ehemaligen Kolonialmacht
Frankreich sowie der EU und den
USA kritisiert worden. Frankreich unterhält in Burkina Faso
Spezialkräfte zum Einsatz in Mali. Am Donnerstag forderte die
Regierung in Paris alle Seiten zur
„Zurückhaltung“ auf, vermied es
aber, sich explizit auf die Seite
des Präsidenten zu stellen.
➤ Der Tag SEITE 2
➤ Meinung + Diskussion SEITE 12
krieg von 1967 vollständig abgeriegelt. Palästinenserpräsident
Mahmud Abbas sprach von einer
„Kriegserklärung“.
Rechtsradikale jüdische Gruppen mobilisierten zu einem Protestmarsch in Richtung Klagemauer, die den Tempelberg westlich abschließt. Daraufhin wurde
das Felsplateau komplett von der
Polizei abgeriegelt.
➤ Ausland SEITE 10
➤ Meinung + Diskussion SEITE 12
02
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FREITAG, 31. OKTOBER 2014  TAZ.DIE TAGESZEITUNG
DER TAG
NACHRICHTEN
EX-ARCANDOR-CHEF MIDDELHOFF
HAMBURG
Anklage fordert 39 Monate Haft
Geplante HooliganDemo abgesagt
ESSEN | Im Untreuprozess gegen
den ehemaligen Arcandor-Chef
Thomas Middelhoff hat die
Staatsanwaltschaft eine Freiheitsstrafe von drei Jahren und
drei Monaten beantragt. Middelhoff habe seine Treuepflichten
verletzt und die frühere
Karstadt-Mutter „nach Gutdünken“ mit Kosten seiner zahlreichen externen Nebentätigkeiten
belastet, sagte Staatsanwalt Helmut Fuhrmann gestern in seinem Plädoyer vor dem Essener
Landgericht.
Hauptsächlich geht es um Flüge mit Chartermaschinen, die
von Arcandor bezahlt wurden,
PORTRAIT
nach Auffassung der Ankläger
aber ganz oder teilweise privat
veranlasst waren. So habe der
Manager in New York regelmäßig sein Aufsichtsratsmandat bei
der New York Times wahrgenommen. Mit einer einzigen Reise
nach New York habe er etwa für
einen Schaden in Höhe von rund
91.500 Euro gesorgt. Middelhoff
hat die Vorwürfe wiederholt zurückgewiesen.
In der Anklageschrift hatte die
Staatsanwaltschaft dem ehemaligen Manager insgesamt 49 Fälle von Untreue mit einem Gesamtschaden von 1,1 Millionen
Euro vorgeworfen. (dpa)
Auch Diebe wollen Hairstyle F.: dpa
Die Frisur hält
Vorne träumt der Trucker, hinten
räumen Diebe ab: 12.000 Dosen
Haarspray im Wert von 38.000 Euro haben Unbekannte aus einem
Lkw auf einer Raststätte nahe Bakum an der A1 gestohlen. Der 49
Jahre alte Fahrer schlief währenddessen vorne in der Kabine und bekam von der Aktion gar nichts mit.
HAMBURG | Eine für Mitte November angekündigte Demonstration von Hooligans in Hamburg findet nicht statt. „Der Anmelder hat die Versammlung ohne Begründung abgesagt“, sagte
ein Polizeisprecher gestern. Die
Demo unter dem Motto „Europa
gegen den Terror des Islamischen Staates“ war von einer Privatperson angemeldet worden.
Wegen befürchteter Ausschreitungen hatte die Polizei zuvor erklärt, sie prüfe „als allerletztes
rechtliches Mittel“ auch ein Verbot der Veranstaltung. (dpa)
 taz intern
DIE TAZ IM SOZIALEN NETZ:
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Volksaufstand in Ouagadougou
BURKINA FASO Demonstranten zünden das Parlament an und ziehen zum Palast von Präsident Blaise Campaoré
VON DOMINIC JOHNSON
Burkina Fasos Präsident Blaise
Compaoré Foto: dpa
Korrigierter
Korrektor
r kultiviert ein Image als
Obercooler, der sich durch
nichts und niemanden aus
der Ruhe bringen lässt.
Aber wenn es drauf ankommt, ist
der schweigsame Blaise Compaoré knallhart. Er hatte kein Problem damit, den in ganz Afrika
verehrten Thomas Sankara umzubringen, der 1983 aus den
schläfrigen Obervolta das selbstbewusste „Burkina Faso“ gemacht und die Emanzipation Afrikas gepredigt hatte. Nie ist restlos geklärt worden, welche Rolle
Compaoré beim Putsch gegen
seinen Freund und Vorgesetzten
Sankara am 15. Oktober 1987
spielte. Aber seitdem hat er Burkina Faso als Präsident regiert.
Geboren 1951 und in Marokko
militärisch ausgebildet, war
Compaoré immer Karrieresoldat
gewesen. Anders als Sankara
hing er keinen revolutionären
Idealen nach, sondern regierte
pragmatisch und ergebnisorientiert. Mit unzähligen kleinen
Staudämmen und einer Diversifizierung der Landwirtschaft
sorgte er dafür, dass Burkina Faso nicht mehr das Armenhaus
der Region war. Später machte er
mit dem Ausbau der Hauptstadt
Ouagadougou Burkina Faso zu
einer afrikanischen Kulturmetropole und auch für Touristen
und Investoren attraktiv. Er mauserte sich vom Soldaten zum Zivilisten, ließ sich viermal wählen
und führte eine Mehrparteiendemokratie ein, die ihm allerdings nie gefährlich wurde.
Besonders erfolgreich war seine Außenpolitik, die gleichermaßen eng mit Frankreich und mit
Gaddafis Libyen abgestimmt
war. Er nahm westafrikanische
Rebellen auf, aber auch französische Spezialkräfte; er unterstützte Warlords und betätigte sich als
Friedensvermittler. Compaoré
löscht mit großer Professionalität Feuer, deren Entstehungsgeschichte er kennt.
Jetzt hat ihn seine Putschparole von 1987, wonach er lediglich
eine „Korrektur“ der Revolution
vornehme, eingeholt: Das burkinische Volk selbst nimmt eine
„Korrektur“ vor. DOMINIC JOHNSON
E
BERLIN taz | Es begann als Protest
gegen eine Verfassungsänderung durch das Parlament; es endete als breiter Volksaufstand, an
dessen Ende der Sturz eines seit
27 Jahren amtierenden Staatschefs durch die eigenen Freunde
im Raum stand. Der Aufenthaltsort von Blaise Compaoré, Präsident von Burkina Faso seit 1987,
war am Donnerstagnachmittag
unbekannt. Zuvor hatten Demonstranten zahlreiche offizielle Gebäude verwüstet, die Armee
hatte sich mit ihnen solidarisiert. Berichten zufolge wurde
Compaorés Bruder und mäch-
tigster Berater, François Compaoré, beim Versuch, das Land zu
verlassen, am Flughafen festgenommen. Am Nachmittag wurde stündlich eine Ansprache des
Generalstabs der Armee an das
Volk erwartet.
Bereits am frühen Morgen
hatten sich Zehntausende Demonstranten auf den Weg zum
Parlament gemacht. Dort sollten
die 127 Abgeordneten über einen
Gesetzentwurf abstimmen, der
dem Präsidenten die Kandidatur
zu einer dritten Amtszeit bei den
nächsten Wahlen 2015 ermöglicht hätte. Dieses Ansinnen
treibt seit Monaten Oppositionelle auf die Straße. Am Dienstag
hatte es Großdemonstrationen
gegeben. Die waren mehrheitlich friedlich geblieben. Am Donnerstag kam es anders.
Die Polizei versuchte, die Protestler mit Tränengas vom Parlament fernzuhalten. Sie schaffte
es nicht. Bis zu 1.500 Menschen
drangen ins Parlament ein, verwüsteten das Gebäude und legten Feuer. Die Regierung sagte
umgehend die Parlamentsabstimmung ab – aber nicht ihren
Plan zur Verfassungsänderung.
Das reichte nicht. Während
dichte Rauchwolken über der
Stadt standen und Augenzeugen
von verbreitetem Gewehrfeuer
berichteten, zogen die Protestie-
renden weiter: der Sitz des
Staatsfernsehens wurde besetzt,
die Zentrale der Regierungspartei CDP (Kongress für Demokratie und Fortschritt) verwüstet,
die Residenzen zahlreicher wichtiger Politiker und Angehöriger
des Präsidenten gingen in Flammen auf. Berichten zufolge gab
es mindestens drei Tote. Der
Flughafen wurde geschlossen. In
der zweitgrößten Stadt des Landes, Bobo-Dioulasso, brannten
öffentliche Gebäude. Lokale Offiziere erklärten, sie hätten die
Macht übernommen.
In Ouagadougou blieb den
Menschenmengen nur der Zugang zum abgeschotteten Präsi-
150 km
MALI
NIGER
BURKINA FASO
Ouagadougou
Bobo-Dioulasso
BENIN
GHANA
TOGO
ELFENAFRIKA
BEINBurkina
KÜSTE
Faso
taz.Grafik:
Infotext/S. Weber
dentenpalast mit Scharfschützen auf dem Dach verwehrt. Tausende Demonstranten sammelten sich auf dem zentralen Platz
der Revolution. Zu ihnen stieß
Armeegeneral Kwame Lougué,
eine Stütze Compaorés seit 1987.
Er verkündete, die Armee stehe
auf der Seite des Volkes.
Seitdem hängt der Umsturz in
der Luft. Aber vorerst wagte sich
niemand aus der Deckung. Es
wurde verhandelt: zwischen der
Die Zentrale der Regierungspartei ist verwüstet, die Residenzen
zahlreicher Politiker
stehen in Flammen
Opposition, den hohen Generälen und dem traditionellen König der Mossi, der größten Volksgruppe des Landes. Offenbar
ging es darum, im Konsens eine
Lösung zu finden und Blutvergießen zu vermeiden. Auch der
Botschafter Frankreichs war an
den Gesprächen beteiligt, Präsident Compaoré anscheinend
nicht. Gerüchte, er sei bereits von
Frankreich außer Landes gebracht worden, ließen sich noch
nicht bestätigen.
Neues Programm: Demonstranten haben am Donnerstag das Studio des staatlichen TV-Senders in Ouagadougou besetzt Foto: Joe Penny/reuters
THEMA
DES TAGES
„Schwarzer Frühling“ gegen Autokraten
ANALYSE Mit dem Erfolg der Massenproteste wird Burkina Faso Vorreiter im Kampf gegen am Sessel klebende Präsidenten in Afrika
BERLIN taz | Die „Republik der
Aufrechten“, wie der zu Revolutionszeiten 1983 eingeführte Landesname Burkina Faso auf
Deutsch heißt, hat es dem Rest
Afrikas wieder einmal gezeigt.
Auslöser der Massenproteste in
Burkina Faso war ein politischer
Streit, der zahlreiche andere Länder in Afrika zu destabilisieren
droht: Burkinas Präsident Blaise
Compaoré darf nach den Bestimmungen der geltenden Verfassung bei den nächsten Wahlen
2015 nicht mehr kandidieren,
denn er hat schon zwei gewählte
Amtszeiten von je fünf Jahren
hinter sich – ganz zu schweigen
von den zwei gewählten Amtszeiten von je sieben Jahren, die
diesen unter einer anderen Verfassungsordnung vorhergingen.
Das burkinische Parlament sollte
jetzt per Verfassungsänderung
eine Kandidatur des Amtsinhabers zu einer dritten Amtszeit ermöglichen. Das hat das Volk
nicht akzeptiert.
Sollten sich andere afrikanische Völker ebenso resolut gegen
ihre Staatschefs stellen, sind die
Tage zahlreicher Herrscher ge-
zählt. Denis Sassou-Nguesso in
Kongo-Brazzaville, Joseph Kabila
in der Demokratischen Republik
Kongo, Paul Kagame in Ruanda
und Pierre Nkurunziza in Burundi stehen alle vor dem Ende ihrer
verfassungsmäßig
erlaubten
zweiten gewählten Amtszeit –
und alle wollen gerne weitermachen. In Burundi – nächste Wahlen 2015 – hat das Parlament das
bereits abgelehnt, aber der Streit
ist noch nicht vorbei. In Ruanda –
nächste Wahlen 2017 – wird gerade eine Verfassungsänderung
per Volksabstimmung ins Spiel
gebracht, ebenso in der Demokratischen Republik Kongo, wo
Ende 2016 gewählt wird. In Kongo-Brazzaville, wo 2016 Wahlen
anstehen, ist noch nichts klar,
aber an Sassous Willen zur Macht
besteht kein Zweifel.
Noch nie hat das Volk einen
afrikanischen Präsidenten an einer solchen Verfassungsänderung gehindert; das schafften
höchstens Richter oder Parteikollegen, zum Beispiel in Nigeria. Burkina Faso macht jetzt vor,
dass auch Massenprotest einen
Langzeitherrscher in die Knie
zwingen kann. Deswegen wird
diese Protestbewegung im Rest
des Kontinents so aufmerksam
studiert wie zuletzt die Umstürze
von Ben Ali in Tunesien und Hosni Mubarak in Ägypten 2011.
Die Proteste in Burkina Faso
heißen bei manchen ihrer Akteure in Anlehnung an den „arabischen
Frühling“
schon
„schwarzer Frühling“. Ein anderes gern gebrauchtes Stichwort
ist „Heuschreckenrevolution“.
Die Heuschrecke frisst nämlich
alles auf, was sich ihr entgegenDOMINIC JOHNSON
stellt.
SCHWERPUNKT
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Pkw-Maut
FREITAG, 31. OKTOBER 2014  TAZ.DIE TAGESZEITUNG
03
Die CSU setzt sich durch. Ihre Maut soll eine halbe Milliarde Euro
jährlich bringen. Die höchstmögliche Gebühr: 130 Euro im Jahr
Der Maut-Minister
STRASSENGEBÜHREN
Verkehrsminister
Alexander Dobrindt
ändert schon wieder
sein Konzept für
eine Vignette.
Diesmal soll sie
wirklich kommen
und alle unionsinternen Kritiker
zufriedenstellen.
Grüne sagen: Murks
bleibt Murks
AUS BERLIN RICHARD ROTHER
che Ausweichstrecken beobachtet und gegebenenfalls nachträglich bemautet werden, so wie
Es soll sein politisches Gesellendies beim Lkw-Verkehr bereits
stück werden, und deshalb war
gehandhabt wurde.
Bundesverkehrsminister
AleStatt an aufgeklebten Vignetxander Dobrindt (CSU) zu neuerten sollen Mautzahler über das
lichen Änderungen bei der geNummernschild zu erkennen
planten Pkw-Maut bereit. Nach
sein. Dafür soll ein System Kenndem Widerstand von unionsgezeichen elektronisch lesen und
führten Bundesländern, die um
Mautpreller entdecken. Dieses
Einnahmen aus dem kleinen
Vorhaben dürfte datenschutzGrenzverkehr fürchteten, sollen
rechtliche Bedenken hervorruHalter ausländischer Fahrzeuge
fen. Wer keine Maut zahlt und ernun nur für die Benutzung von
wischt wird, muss büßen – vorAutobahnen in Deutschland zahaussichtlich bis zu 150 Euro. Dies
len müssen, während für Halter
Geld soll auch bei Haltern im
inländischer Fahrzeuge AutoAusland eingetrieben werden.
bahnen und Bundesstraßen vigEU-Verkehrskommissar Siim
nettenpflichtig werden. Dieses
Kallas hatte ursprünglich BedenKonzept stellte Dobrindt am
ken, das Vorhaben könne EUDonnerstag in Berlin vor.
Bürger aus dem Ausland diskriDobrindt schlägt damit mehminieren. Da die Maut nun forrere Fliegen mit einer Klappe,
mal für In- und Ausländer gelten
um die von der CSU herbeigesoll, hatte er schon Zustimmung
sehnte Maut zu retten: Fahren
signalisiert. Das Vorhaben gehe
beispielsweise Tagestouristen
in die richtige Richtung, sagte er
aus Frankreich oder Holland
in dieser Woche. Die Regierung
nach Deutschland zum EinkauÖsterreichs will dennoch klagen.
fen, so sind sie dabei nicht unbeDie Pkw-Maut, die im Jahr
dingt auf Autobahnen angewie2016 eingeführt werden soll, soll
sen, brauchen also auch keine Videm Bund rund 500 Millionen
gnette zu kaufen. Dies war den
Euro pro Jahr einbringen. DobLandesregierungen von Nordrindt rechnet damit, dass für
rhein-Westfalen und Rheinlandnicht in Deutschland zugelassePfalz wichtig.
ne Wagen jährlich rund 700 MilGleichzeitig bewirkt die Viglionen Euro Maut gezahlt wernettenpflicht für Autobahnen
den. Dem stehen Betriebs- und
und Bundesstraßen, die für HalPersonalkosten für das Mautsyster von im Inland zugelassenen
tem von 195 Millionen Euro gePkws gilt, dass es nicht zu dem
genüber – unterm Strich ergeben
gefürchteten Ausweichverkehr
sich somit rund 500 Millionen
in großem Umfang kommt. Dies
Euro, die Dobrindt jedes Jahr zuwäre der Fall gewesen, wenn die
sätzlich ausgeben kann. Die EinMaut für Inländer nur für Autonahmen sind zweckgebunden
bahnen gelten würde.
und können nur für InfrastrukViele Deutsche hätten sich in
turprojekte verwendet werden.
diesem Fall die jährliche VignetDer Autofahrerclub ADAC übtengebühr sparen wollen – mit
te Kritik. „Es wird netto nichts
dem Argument, nur Landstraßen
übrig bleiben“, sagte ADAC-Verbefahren zu wollen. Ohnehin solkehrsexperte Jürgen Albrecht.
len inländische Autobesitzer in
Die Kosten der Verwaltung lägen
dem Umfang bei der Kfz-Steuer
bei etwa 300 Millionen Euro –
entlastet werden, wie sie für die
das sei in etwa so viel, wie die
Vignette zahlen. Für sie ist das
Maut einbringe.
Ganze zunächst also ein NullEin kluger Verkehrsminister weiß: Wer nur demonstrativ vor seinem Ministerium rumparkt, spart sich jede Maut
„Die Infrastrukturabgabe ist
summenspiel.
sinnvoll, fair und gerecht“, sagte
Dass sich nun Autofahrer aus Foto: Werner Schuering
Dobrindt. Sie beteilige alle diejedem Ausland in großem Umfang
........................................................................................................................................................................................................
nigen an der Finanzierung der
die Vignette sparen und auf
Die Kosten der Maut
Straßen, die sie bislang kostenlos
Landstraßen ausweichen, wie ........................................................................................................................................................................................................
nutzen konnten.
Kritiker befürchten, ist kaum zu ■ Preise: Inländische Fahrer müs- ■ Besondere Fahrzeuge: Maut■ Behörden: Das KraftfahrtbunScharfe Kritik kam von den
erwarten. Wer Deutschland als sen immer für ein Jahr bezahlen.
pflichtig sind auch Wohnmobile.
desamt soll die Maut berechnen,
Grünen: „Auch wenn Dobrindts
Transitland nutzt – also etwa Nie- Je angefangene 100 KubikzentiBerechnet werden 16 Euro für je
dafür braucht es 74 zusätzliche
Mautpläne zurechtgestutzt wurderländer gen Italien, Polen gen meter Hubraum für die Schad200 angefangene Kilo Gesamtge- Mitarbeiter. Ob Fahrer aus dem
Großbritannien oder Dänen gen stoffklassen „Euro 4“ und „Euro 5“ wicht, maximal ebenfalls 130 EuAusland notorisch auf kostenlose den: Murks bleibt Murks“, so Parteichefin Simone Peter. Der WeÖsterreich –, wird wohl kaum zwei Euro (Ottomotor) oder fünf
ro. Motorräder, Elektroautos, Wa- Straßen ausweichen, soll beobHunderte Kilometer über ver- Euro (Diesel). Höchstpreis: 130 Eu- gen von Behinderten und Kranachtet werden. Die Kontrollen soll gezoll für Pkws ergebe weder
ökologisch noch ökonomisch eistopfte Landstraßen zuckeln, um ro. Für Ausländer gibt es daneben kenwagen sind mautfrei. Nur zeit- das Bundesamt für Güterverkehr
nen Sinn und müsse eine EUein paar Euro für die Vignette zu die Zehntages- (10 Euro) und
weise zugelassene Autos wie Cab- übernehmen. Benötigt werden
sparen. Außerdem sollen mögli- Zweimonatsmaut (22 Euro).
rios sollen anteilig Maut zahlen.
dafür rund 400 neue Stellen. (dpa) Überprüfung noch bestehen.
„Die Folge sind kaputte Straßen und Häuser“
schadet mehr als sie
nutzt, sagt HansChristian Friedrichs
vom alternativen
Verkehrsclub. Sinnvoll
wäre es, wenn das
Fahren auf Landstraßen
deutlich teurer wäre als
auf Autobahnen
taz: Herr Friedrichs, demnächst
soll es zusätzlich zur Lkw-Maut
noch eine Maut für Pkw geben.
Was halten Sie davon?
Hans-Christian Friedrichs: Wir
lehnen sie ab, weil sie ineffizient
und unökologisch ist. Wir fänden
eine Pkw-Maut nur dann sinnvoll, wenn sie nachhaltige Effekte für den Umweltschutz hätte.
So, wie die Pkw-Maut jetzt konzipiert ist, geht es nur darum, neue
Geldquellen zu erschließen.
Mit denen könnte das Straßennetz ausgebaut und ausgebessert werden.
Das passiert aber nicht. Momentan weichen sehr viele Lkw von
den Autobahnen auf Land- und
Bundesstraßen aus, um die
Mautgebühren zu sparen. In
manchen Regionen ist der LkwVerkehr auf den Landstraßen um
bis zu 70 Prozent gestiegen. Da
donnern bis zu 1.000 Laster täglich durch die Dörfer.
Hat die Pkw-Maut, die nur auf
Autobahnen gelten soll, einen
ähnlichen Effekt?
Das ist zu erwarten, wenngleich
etwas abgeschwächt. Die Folge
werden noch mehr kaputte Straßen und Häuser sein. Die Anwohner klagen jetzt schon über
Krach und Abgase, die Kinder
können nicht mehr draußen
spielen. Die lokale Wirtschaft
vielerorts ist jetzt schon stark beeinträchtigt, das wird sich verstärken.
Aber die lokale Wirtschaft soll
durch Dobrindts neue Pkw-
Maut gerade doch geschützt
werden.
In stark betroffenen Regionen,
wie dem Wendland in Niedersachsen oder Landstrichen in
Brandenburg, passiert das Gegenteil. Lokale, Cafés, Hotels, Geschäfte machen dicht, weil Gäste
und Kunden wegbleiben. Denen
ist es zu laut und zu dreckig.
Wer kommt dafür auf?
Ungerechterweise übernimmt
die Kosten für die Reparatur der
Straßen im ländlichen Raum
nicht der Bund, der die Einnahmen aus der Maut bekommt. Die
Straßen müssen die Kommunen
und Landkreise aus eigener Tasche bezahlen, das belastet die
Haushalte massiv. Von den Einschränkungen für die Anwohner
und den Reparaturkosten für die
Häuser und den Wertverlusten
ganz zu schweigen.
Fast alle Länder in Europa haben ein Mautsystem. Warum
sollte Deutschland eine AusINTERVIEW: SIMONE SCHMOLLACK
nahme machen?
Sinnvoll ist ein hiesiges Mautsys....................................................................................
tem, bei dem die Kosten für die
Hans-Christian Friedrichs
Autobahnbenutzung geringer ...............................................................
sind als die Kosten für Bundes- ■ Der 50-jährige EDV-Berater ist
und Landstraßen. Das hätte zur VorsitzenderdesLandesverbandes
Folge, dass es für die Lkw und
Niedersachsen
Schwerlaster keinen finanziellen
des VerAnreiz mehr gäbe, auf die Landkehrsclubs
straßen abzufahren. Das Gleiche
Deutschland
gilt für Pkw-Fahrer.
(VCD), eines
Wie teuer sollte die Maut sein?
Lobbyverbands
Die Gebühr sollte deutlich steifür „eine umweltgen, von derzeit durchschnitt- verträgliche, sichere und gesunde
lich 15 Cent pro Kilometer auf 45 Mobilität“.
Foto: privat
FOLGEN Dobrindts Maut
Cent pro Kilometer auf den Landes- und Bundesstraßen. Das wäre deutlich teurer als der Transport mit der Bahn, die dadurch
einen Wettbewerbsvorteil hätte.
Höchstes Ziel sollte nämlich sein,
den Gütertransport über die
Schiene zu leiten. Das ist ökologisch und ökonomisch der beste
und sicherste Weg.
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FREITAG, 31. OKTOBER 2014  TAZ.DIE TAGESZEITUNG
Kongresswahlen
in den USA
Der Tag der
ewig langen
Wahlzettel
SCHWERPUNKT
Am 4. November wird ein Großteil des Parlaments neu gewählt.
Das Ergebnis entscheidet über die Regierungsfähigkeit Obamas
Obama, das Wahlkampfhindernis
USA Demokratische KandidatInnen wollen nichts von ihrem Präsidenten wissen. Sein Image ist zu angekratzt.
Bei dieser Wahl geht es ihnen vor allem um die Mehrheit im Senat. Das Ergebnis dürfte knapp werden
MIDTERM ELECTIONS
Was man über die
Zwischenwahlen
wissen sollte
BERLIN taz | Die „Midterm Elections“, also die Wahlen in der Mitte einer Präsidentschaftsamtszeit, finden in der Regel weniger
Beachtung als die Präsidentschaftswahlen, die Wahlbeteiligung ist meist niedriger. Dabei
gibt es für die US-AmerikanerInnen kaum weniger zu entscheiden – die Stimmzettel sind oft
unendlich lang.
Gewählt wird zunächst für
beide Kammern des Kongresses:
Alle zwei Jahre stehen rund ein
Drittel der 100 Senatoren zur
Wahl – zwei pro Bundesstaat,
Amtszeit sechs Jahre. Außerdem
alle 435 Abgeordneten des Repräsentantenhauses. Sie müssen
sich schon in zwei Jahren wieder
zur Wahl stellen – der Wahlkampf
hört für sie nie auf.
Im Repräsentantenhaus halten seit 2010 die Republikaner
die Mehrheit – und John Boehner, der republikanische Sprecher, wurde zum schärfsten Gegenspieler Präsident Obamas.
Gewählt wird hier nach Abstimmungsbezirken, und niemand
sieht auch nur den Hauch einer
Chance, dass die Demokraten
wieder die Mehrheit bekommen
könnten. So gelten 228 republikanische und 185 demokratische
Sitze als sicher – nur 22 sind überhaupt umkämpft. Das reicht für
eine republikanische Mehrheit.
Spannender wird es im Senat,
wo die Demokraten derzeit 53,
die Republikaner 45 Sitze halten
– plus zwei unabhängige Senatoren, die oft mit den Demokraten
stimmen. 36 der 100 Sitze werden am Dienstag gewählt, und
von den zehn hart umkämpften
werden sieben derzeit von Demokraten gehalten – sechs Zugewinne würden den Republikanern reichen, um die Mehrheit
zu übernehmen. Gut möglich also, dass Obama in den letzten
zwei Amtsjahren einem komplett oppositionellen Kongress
gegenübersteht. Eigene Vorhaben durchzubringen kann er
dann vergessen, mit seiner Vetomacht allerdings auch republikanische Vorstöße verhindern.
Die Blockade wäre vollkommen.
Außerdem stimmen die USAmerikanerInnen über die Gouverneure in 36 Bundesstaaten
und drei Überseegebieten ab,
über Tausende Bürgermeister,
Richter, Schulräte – und über
mehrere Volksentscheide. Darunter am prominentesten: Initiativen zur Freigabe von Cannabis und zur Anhebung des Mindestlohnes.
BERND PICKERT
Gesellschaft + Kultur SEITE 14
Fabrikarbeiter in Russellville (Kentucky) auf einer Wahlkampfveranstaltung des Republikaners Mitch McConnell. Seine demokratische Gegenkandidatin
Alison Grimes hat gute Chancen gegen ihn, weil sie sich entgegen Obamas Linie für Kohleförderung starkmacht Foto: J. Scott Applewhite/ap
AUS NEW YORK
DOROTHEA HAHN
Das verflixte sechste Jahr. Es
trifft jetzt auch den strahlenden
Sieger von einst. Vor den Halbzeitwahlen ist Barack Obama seinen ParteifreundInnen zu einem
Handicap geworden. In ihren
Kampagnen sind sie auf Distanz
zu dem Präsidenten gegangen
und vermeiden selbst seine namentliche Erwähnung. Die RepublikanerInnen hingegen versuchen, die Wahlen, zu einem Referendum über ihn zu machen.
In ihren Werbespots ist er der
Buhmann, der auf der ganzen Linie versagt hat: von der Staatsverschuldung über die Bekämpfung des Terrorismus bis hin zu
Ebola. Sämtliche MeinungsforscherInnen geben ihnen recht.
Sie prognostizieren, dass die RepublikanerInnen am kommenden Dienstag mit dem Senat
auch die zweite Kammer des
Kongresses erobern werden. Damit würde die seit Jahren massive Blockade in Washington total.
Es ist nicht ungewöhnlich,
dass die Partei des Präsidenten
bei Halbzeitwahlen von der Opposition abgestraft wird. Das haben Obamas Amtsvorgänger erfahren und das hat er selbst bei
den vorausgegangenen Halbzeitwahlen von 2010 erlebt. Doch
Obamas Popularität ist auf
knapp über 40 Prozent abgesackt
und nicht nur die Republikane-
rInnen – deren Verantwortliche
schon vor Jahren die Blockade
seiner Politik zu ihrer obersten
politischen Linie gemacht haben
– sondern auch traditionelle demokratische WählerInnen haben
sich von ihm abgewandt: Latinos
sind enttäuscht darüber, dass die
seit Jahren versprochene umfassende
Einwanderungsreform
nicht stattgefunden hat und in
diesem Wahlkampf – auf Druck
von WahlkämpferInnen in der
Demokratischen Partei – erneut
verschoben worden ist. UmweltschützerInnen verübeln ihm,
dass er immer noch keine Entscheidung gegen die Ölpipeline
Keystone XL gefällt hat, die ein
schwerer Schlag gegen jede Klimapolitik wäre. Und AfroamerikanerInnen betrachten Obama
zwar weiterhin als Identifikationsfigur, können aber nicht feststellen, dass sich ihre Lage verbessert hat. Im Gegenteil: In den
zurückliegenden Jahren haben
republikanische Bundesstaaten
quer durch das Land Dutzende
bürokratische Hindernisse eingeführt, die das Wahlrecht zuungunsten von „Minderheiten“ verändern. Und soziale Ungerechtigkeiten sowie die Polizeigewalt
trifft weiterhin ganz überproportional die „Minderheiten“.
Am schwersten für die Demokratische Partei, die bei ihren zurückliegenden Wahlkämpfen die
Mehrheiten der jungen WählerInnen für sich gewinnen konn-
te, dürfte die Kehrtwende der
jungen Generation wirken. Nur
43 Prozent der JungwählerInnen
sind mit der Politik Obamas einverstanden. Und eine Mehrheit
jener, die am Dienstag wählen
wollen, favorisieren einen republikanisch geführten Kongress.
Unschön für die DemokratInnen
ist auch, dass die Wahlbeteiligung für eine Halbzeitwahl nicht
besonders niedrig zu werden
scheint. Das zeigen zumindest jene Bundesstaaten, in denen die
Wahllokale bereits seit mehreren
Tagen geöffnet sind und die teilweise schon jetzt höhere Wahlbeteiligungen als 2010 melden.
Diese landesweit relativ einheitlichen Trends kontrastieren
mit einem Wahlkampf, der sich
durch Themenvielfalt auszeichnet. Außer der Opposition gegen
Obama haben die Republikaner
kein einheitliches Kampagnenthema. Je nach Bundesstaat variieren die Themen von der Cannabislegalisierung bis hin zur Anhebung des Mindestlohns.
In Kentucky macht sich die demokratische Senatskandidatin
Alison Grimes für Kohleförderung stark. Mit dieser Positionierung, die im Widerspruch zur Linie ihres Präsidenten steht, hat
sie Chancen, den langjährigen
Chef der republikanischen Fraktion im Senat, Mitch McConnell,
zu Fall zu bringen.
Thematisch war 2010 völlig
anders, als die RepublikanerIn-
In den Werbespots
der RepublikanerInnen ist Obama der
Buhmann, der auf
der ganzen Linie versagt hat: von der
Staatsverschuldung
über die Bekämpfung des Terrorismus
bis hin zu Ebola
nen mit ihrer Fundamentalopposition gegen eine Gesundheitsreform die Mehrheit im Repräsentantenhaus erobert haben. Dieses Mal wirbt eine Republikanerin in Iowa als „Mutter.
Soldatin. Konservative“ in einem
Stall mit grunzenden Schweinen
um ihre Entsendung nach Washington. Joni Ernst hält sich für
qualifiziert, weil sie mit Schweinen umgehen kann und sagt
über Washington, es ist „laut, dreckig und stinkt“. Im Bundesstaat
Minnesota fordert ein Republikaner und Football-Trainer seine
Schützlinge auf: „Rennt los und
rammt jemanden.“ Während ein
Spieler ihn ohne erkennbaren
Grund unter die Gürtellinie
schlägt, sagt der Kandidat: „Ich
bin Mike McFadden und ich billige diese Botschaft“. „Bauernlümmelei“, nennt die New York Times
diesen Ton im Wahlkampf.
Mit einer erneut starken republikanischen Mehrheit im Repräsentantenhaus haben sich die
DemokratInnen längst abgefunden. Sie konzentrieren ihre geballte Kraft darauf, ihre knappe
Mehrheit im Senat zu verteidigen. Und andererseits die Gouverneurssitze in ein paar Bundesstaaten zu erobern. Die Verteidigung des Senats wird eine
Zitterpartie werden. In fünf Bundesstaaten – Georgia, Kansas, Iowa, New Hampshire und North
Carolina – liegen die konkurrierenden KandidatInnen weniger
als 3 Prozentpunkte auseinander. Das ist zu wenig, um ein klares Ergebnis vorherzusagen. Die
endgültige Entscheidung über
die künftige Mehrheit im Senat
könnte sich sogar bis Anfang
2015 verzögern. In Bundesstaaten wie Georgia und Louisiana
könnte es Stichwahlen geben, die
erst im Januar stattfinden.
Während demokratische Senats-KandidatInnen Obama für
ein Wahlkampfhindernis halten,
riefen solche, die GouverneurInnen werden wollen, den Präsidenten im Endspurt ihres Wahlkampfes doch noch zu Hilfe. In
Wisconsin, wo der radikal rechte
Gouverneur Scott Walker gewerkschaftliche und betriebliche Rechte wie auch die Löhne
zusammengestrichen hat, forderte Obama gezielt afroamerikanische WählerInnen zur Unterstützung von Demokratin Mary Burke auf. An diesem Wochenende fährt er in ähnlicher Mission nach Detroit. Im Bundesstaat Michigan hat Gouverneur
Rick Snyder in den letzten Jahren
mehrere bankrotte Städte unter
Zwangsverwaltung gestellt. All
diese Städte haben mehrheitlich
afroamerikanische Bevölkerungen. Die DemokratInnen hoffen,
dass diese WählerInnen am
Dienstag Snyder zu Fall bringen.
REPORTAGE
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Rumänien
FREITAG, 31. OKTOBER 2014  TAZ.DIE TAGESZEITUNG
05
Bis zu 30 Kilo Altmetall klauben sie täglich zusammen.
Ein gefährlicher Job. Andere gibt es in Petrila kaum noch
DasLebender
Magneten
Als 1997 die ersten Bergleute aus dem
siebenbürgischen Schiltal entlassen
werden, gibt die Regierung vor, mit
den Abfindungsgeldern ließen sich
Kleinunternehmen gründen. Doch daraus
wurde nichts. Dorel Ciuci gräbt seither nach
Alteisen. Er ist einer der vielen Menschen in
der Region, die sie „Magneten“ nennen
Oberhalb der Mine in Petrila: Die Bewohner des Armenviertels Bosnia kommen hierher und graben, um Altmetall und Kohle zu finden
AUS PETRILA SILVIU MIHAI UND
GEORGE POPESCU (FOTOS)
Kurz vor dem Ortsschild von Petrila hält der Kleinbus bei den
Bahnschienen. Täglich verkehren nur noch zwei Züge zwischen
Petrosani und Petrila, deswegen
nehmen die Fußgänger den
Bahntunnel, der hier beginnt, als
Abkürzung. Es ist dunkel, und die
Menschen laufen im Gänsemarsch über die Schwellen oder
durch den Kohlenstaub daneben.
Nur noch ein knappes Jahr werden die Züge die Steinkohle aus
den Minen von Petrila und Lonea
transportieren. IWF und EU haben darauf gedrungen, dass die
Minen geschlossen werden.
Nach 2018 darf der Staat den
Bergbau nicht mehr subventionieren, und die Produktion wird
vielerorts bereits jetzt zurückgefahren.
Jenseits des Hügels, am anderen Ende des Tunnels, wird gearbeitet. Das vierstöckige Gebäude,
das früher zum Bergwerk gehörte, hatte als Lagerraum gedient.
Aus einem Fenster werfen zwei
Jungen einen Metallträger herunter. Drei andere übernehmen
und schmeißen ihn auf den Anhänger ihres Dacias. Im Gebäude
arbeiten 15 bis 20 Menschen. Die
Alteisensammler: „Magneten“,
wie die Einheimischen sie nennen. Sie kommen früh und bleiben, bis es dunkel wird.
Alle kaufen Altmetall an, vor
allem Eisen und Kupfer, aber
auch Plastikbehälter, „Kanister“,
wie die Einheimischen sagen.
Nichts bleibt ungesammelt in Petrila. Die Arbeitskräfte, die man
in Rumänien in den 1990er Jahren entsorgte, sammeln nun alles, was im Schiltal noch verwertbar ist. Die ehemalige Lagerhalle
hier wurden von der Mine Petrila
nach der Wende veräußert, sie
gehört jetzt einem insolventen
Unternehmen.
„Heute früh waren wir über
50 Mann, jeder hat sein Team“,
sagt Marius Iancu, ein Junge mit
roter Regenjacke und kurzer Hose, die oberhalb der Tätowierung
auf dem Bein aufhört. Er arbeitet
hier, um seine Freundin im
Gymnasium zu unterstützen.
Manchmal organisieren die Kollegen eine Säge, doch das Gros
der Arbeit wird mit dem Hammer erledigt. Wenn ein Eisenträ-
„Hätte ich dieses Handy nicht dabeigehabt,
wäre ich jetzt tot“,
erzählt Dorel Ciuci
zwei Wochen später
ger fällt, klopfen sie den Beton
ab, bis das Skelett frei liegt. Sie
schauen, ob jemand unten steht,
und werfen das Teil aus dem
Fenster. Helm oder Handschuhe
trägt keiner, die sind zu teuer für
ein Magnetenleben.
Arbeitet ein Magnet allein,
kann er täglich 20 bis 30 Kilogramm Alteisen auf seiner Karre
oder im Sack auf den Recyclinghof bringen. Dafür bekommt er
höchstens fünf Euro, die er in ein
aufgeschnittenes Brot und eine
Plastikflasche mit zwei Litern
Bier investiert.
Die Recyclinghöfe übernehmen die Ware, ohne viele Fragen
zu stellen. Letztes Jahr hat die Regierung die Auflagen für diese
Unternehmen verschärft, nachdem der rumänische Zugverkehr
öfter einmal wegen geklauter Kabel, Einfahrtssignale lahmgelegt
worden war. Betreiber der Wertstoffsammelstellen sind jetzt
verpflichtet, die persönlichen
Daten ihrer Alteisen- und Kupferlieferanten
aufzunehmen.
Das liegt nicht nur an der fragwürdigen Herkunft des Materials – die ganze Branche hinterzieht Steuern. Doch sowohl Regierung wie auch Medien kritisieren in der Regel die Magneten,
das letzte Glied der Kette.
Einige Meter weiter arbeiten
drei Männer mit Spitzhacken in
einem Graben. Heute haben sie
nichts gefunden. „Wir schuften
wie die Zuchthäusler“, sagt der
Älteste und Gesprächigste der
Gruppe. „Ich grabe hier nach Alteisen, seitdem ich bei der Restrukturierung entlassen wurde.
Das war 1997.“ Er heißt Dorel Ciuci und trägt eine dunkelrote Arbeitshose und eine schwarze
Mütze, die seine Halbglatze versteckt. Geboren ist er in Petrosani
und aufgewachsen in Petrila. Er
hat eine Maurerausbildung. Lange war Ciuci bei der Mine angestellt, wo er Schachtwände befestigte und alte Galerien zumauerte. Nach der Kündigung war sei-
ne Abfindung schnell weg –
ebenso wie seine Frau mit den
Kindern.
Ciucis einzige übrig gebliebene Verwandte ist seine Schwester, die Zeitungen in einem Kiosk
an der Hauptstraße in Petrosani
verkauft und damit 100 Euro im
Monat verdient.
„Wenn du mit 54 Jahren Arbeit
suchst, guckt dich der Patron an
und sagt dir – du bist schon alt,
Mann! Oder er stellt dich schwarz
ein, und nach zwei Monaten
fängt er an, dir was vom Pferd zu
erzählen, statt dir den Lohn zu
zahlen.“ Für Ciuci blieb nur die
Alternative, sein eigener „Patron“ zu werden und auf eigene
Faust Alteisen zu sammeln. Ihm
fehlte das Geld für Miete und Nebenkosten, so verlor er auch seine Einzimmerwohnung in Petrila. Seitdem wohnt er bei einer
Frau, die ihn „nach Hause mitnahm“. Jeden Tag steht er früh
auf und geht seiner Beschäftigung nach, selbst sonntags und
an Feiertagen wird gegraben und
geklopft.
Plötzlich gab die
Betonwand nach
Dem Gebäude, das die Jungen gerade demontieren, möchte er lieber fernbleiben. Er hat Angst,
dass die tragende Struktur auf
die Menschen herunterbrechen
könnte – da hat er schlechte Er-
fahrungen gemacht. Stattdessen
sucht er mit den beiden jüngeren
Kollegen weiter nach Altmetall
in Löchern und Gräben. Letztendlich war es der Staat, der für
die Demontagen die Richtung
vorgab, glaubt Ciuci, nicht die
Magneten. Das Aufbereitungswerk der Mine in Petrila, bei dem
früher viele Menschen aus der
Gegend arbeiteten, wurde letztes
Jahr abgerissen.
„Wenn du auf Kupfer stößt,
machst du mehr Geld“, sagt Dorel
Ciuci. „Aber auch mit Eisen
kannst du Glück haben. Vor zwei
Jahren habe ich riesige Zahnräder ausgegraben. Da hatte ich
über 100 Euro in einer Stunde.“
Das Problem sei, dass bei den Recyclinghöfen die Waagen manipuliert seien. Und dass die Polizei die Magneten schikaniere.
Obwohl die Situation allgemein
als „unbeherrschbar“ gilt, verteilt die Polizei ab und an Strafzettel, die niemand zahlen kann.
Dementsprechend können die
Magneten keine Bankkonten
mehr eröffnen, weil sie unbezahlte Geldstrafen angesammelt
haben.
An einem Tag – Dorel Ciuci arbeitete an einer Baracke aus
Backstein – verließ ihn sein
Glück. Er hatte in dem Gebäude
gegenüber einen zwölf Meter
langen Betonbalken gefunden
und versuchte, das Eisen heraus-
zubekommen. Die Frau, bei der
er lebt, hatte ihn am Morgen gefragt, wohin er gehe, es war ja
Feiertag. „Unser Essen reicht für
heute, was ist mit morgen?“, hatte er erwidert. Knapp einen halben Meter war es noch bis zum
Ende des Trägers, als das Betonstück plötzlich nachgab und auf
ihn fiel. Er blieb stecken und verletzte sich am Arm, an den Rippen, seine Beine blieben stecken.
Er fing an, vor Schmerz zu schreien. Die anderen Magneten, die in
der Nähe arbeiteten, liefen weg,
später operiert wurde. Man implantierte ihm eine Metallstange
in den Arm und eine andere
oberhalb des Knies, das andere
Bein wurde eingegipst.
Die Frau klopfte mit den Jungen das Eisen aus dem Balken
frei, fand dort noch ein Kabel aus
Kupfer und brachte alles zum Recyclinghof, wo sie für 80 Kilo Metall knapp elf Euro einkassierte.
Nach der OP fragte der Arzt, ob
Ciuci eine Versicherung hätte.
Nein, hatte er nicht und auch
kein Geld für die Behandlung.
aus Angst, dass jemand kommen
und Fragen stellen würde.
„Hätte ich dieses Handy nicht
dabeigehabt, wäre ich jetzt tot“,
erzählt Dorel Ciuci zwei Wochen
später. Noch unter dem Betonbalken hatte er es hinbekommen, die Notrufnummer 112, danach auch seine Lebensgefährtin
anzurufen. Fünf oder sechs Jungen kamen schnell mit einem
Auto und zogen ihn heraus, noch
ehe der Krankenwagen kam. Sie
brachten ihn ins Krankenhaus
nach Petrosani, wo er drei Tage
Man sagte ihm, in diesem Fall
müsse er das Krankenhaus verlassen. „Wie soll ich jetzt gehen,
wenn ich nicht mal aufstehen
kann?“, fragte er. „Ihr hättet ein
Implantat aus Alteisen nehmen
sollen, das wäre billiger gewesen.“
Schließlich gewährte ihm die
Klinik einen zweiwöchigen Aufenthalt. Er bräuchte jeden Tag eine Spritze mit einem Medikament gegen Blutgerinnung,
sonst würde er sterben, sagte
man ihm. Eine Dosis kostet zwei
Euro. Die Kosten der dreimonatigen Behandlung werden nicht
vom Krankenhaus übernommen.
„Sie werden mich wahrscheinlich verklagen und in den
Knast stecken, weil ich den Krankenhausaufenthalt nicht bezahlen kann“, befürchtet Dorel Ciuci.
„Vielleicht ist es auch besser so,
denn aus dem Knast können sie
mich nicht rausschmeißen.“
Eine Woche später besorgte
ihm seine Schwester einen Rollstuhl, in dem er schließlich entlassen wurde. Er rollte zur Agentur für Arbeitskräfte und meldete sich arbeitsunfähig. Das Geld
vom Amt reicht für vierzehn
Spritzen im Monat. Die Kollegen,
die in der Nähe des Tunnels graben und klopfen, bringen ihm ab
und an etwas zu essen oder ein
paar Lei. Aus der ehemaligen Lagerhalle haben die Magneten inzwischen das ganze Alteisen abtransportiert.
Die Magneten klopfen den Beton ab, bis das Metallskelett der Balken frei liegt
06
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FREITAG, 31. OKTOBER 2014  TAZ.DIE TAGESZEITUNG
INLAND
NACHRICHTEN
MUTMASSLICHER IS-KÄMPFER
RASSISMUS IN HALLE
NIGERIA
KAPITALERTRÄGE
DAS WETTER
Verdächtiger wünscht sich Märtyrertod
Kinderattacke auf
Dunkelhäutige
Entführter Deutscher
wieder frei
CDU-Wirtschaftsrat
gegen hohe Steuern
Ein goldenes
Oktoberende
HALLE | Ein dunkelhäutiges Mädchen ist am Mittwoch in Halle
von Kindern verprügelt und ausländerfeindlich beleidigt worden. Die Zehnjährige wurde laut
Polizei zunächst bei einem Streit
auf einem Spielplatz im Stadtteil
Silberhöhe von einem einzelnen
Kind als Nigger beschimpft. Danach sei eine Gruppe von sieben
bis acht Kindern erschienen und
habe das Mädchen geschlagen
und im Gesicht verletzt. Danach
sei die Gruppe geflüchtet. Das
Opfer ist laut Polizei in Halle geboren, der Vater stammt aus dem
afrikanischen Staat Niger. (epd)
WIESBADEN | Der vor knapp einer Woche im Südwesten Nigerias entführte deutsche Mitarbeiter eines Wiesbadener Bauunternehmens ist wieder frei. Das
bestätigte eine Sprecherin der
Firma Julius Berger gestern. Einzelheiten zu der Befreiung nannte sie nicht. Ob ein Lösegeld an
die Entführer gezahlt wurde,
wurde ebenfalls nicht gesagt.
Der Mitarbeiter war am Freitag
im Bundesstaat Ogun von Bewaffneten verschleppt worden.
Ein zweiter deutscher Mitarbeiter eines Berger-Subunternehmens wurde erschossen. (dpa)
BERLIN | Der CDU-Wirtschaftsflügel stellt sich gegen neue Forderungen der SPD für eine höhere Besteuerung von Kapitalerträgen. Der Wirtschaftsrat warnte
gestern vor einer Abschaffung
der Abgeltungsteuer und warf
dem Koalitionspartner vor, „immer neue Steuererhöhungsdebatten“ loszutreten. Generalsekretär Wolfgang Steiger nannte
die Abgeltungsteuer unter anderem „eines der besten Beispiele
für eine gelungene Vereinfachung für alle Steuerzahler“. Aus
SPD-Sicht ist die Abgeltungsteuer nicht mehr nötig. (dpa)
Es sieht ganz so aus, als würde
der Oktober doch noch golden
und gar nicht so kalt ausklingen.
Im Norden sieht es zwar anfangs
nicht so gut aus, dort regnet es
noch aus dichten Wolken. Im
Landesrest macht der Morgennebel bald der Sonne Platz, und
besonders im Westen und Südwesten scheint sie dann reichlich
bei 16 bis 20 Grad. Sonst erreichen die Werte 13 bis 16 Grad. Nur
ganz im Südosten hält
sich der Nebel zäh,
und im Dauergrau
ist schon bei 10
Grad Schluss.
FRANKFURT/M. | Im ersten deutschen Prozess gegen einen mutmaßlichen Kämpfer der Terrormiliz IS hat der Angeklagte nun
auch selbst ausgesagt. Er sei nach
Syrien gereist, „um meine Geschwister zu unterstützen“. Ziel
sei der Sturz des Assad-Regimes
gewesen, sagte der 20-Jährige
gestern vor dem OLG Frankfurt.
Er sei bei Kampfeinsätzen dabei
gewesen, aber „meistens hinten“.
„Ich habe nicht auf Leute geschossen“, sagte er. Kreshnik B.
ist wegen der Mitgliedschaft in
einer ausländischen terroristischen Vereinigung und der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Straftat im Aus-
Afrikaner
in Limburg
totgeprügelt
LIMBURG dpa | Ein in Limburg zu
Tode geprügelter Mann aus Ruanda könnte nach Ansicht der Ermittler aus Fremdenfeindlichkeit umgebracht worden sein.
Das teilten Polizei und Staatsanwaltschaft mit. Der 55-jährige Afrikaner war in der vergangenen
Woche in einer städtischen Unterkunft von drei Männern getötet worden.
Die Tatverdächtigen im Alter
zwischen 22 und 43 Jahren wurden kurze Zeit später wegen des
Verdachts auf Totschlag verhaftet. Vor den tödlichen Schlägen
soll das Trio mit dem späteren
Opfer in Streit geraten sein. Die
Männer sollen ihr Opfer abwechselnd so lange geschlagen und
getreten haben, bis der Mann aus
Ruanda an inneren Blutungen
starb.
Der mutmaßliche IS-Kämpfer
Kreshnik B. Foto: ap
land angeklagt. Er wünsche sich
noch immer, als Märtyrer im
Kampf gegen das Assad-Regime
zu sterben, sagte der Deutsche
mit Wurzeln im Kosovo vor dem
Staatsschutzsenat. Dies werde er
aber nicht schaffen. (dpa)
Eliteunis dürfen weiter hoffen
WISSENSCHAFT Bund und Länder einigen sich darauf, die Exzellenzinitiative fortzusetzen. Wer von den zusätzlichen
Milliarden profitiert, ist aber noch offen. Hochschulrektoren reagieren erleichtert auf die Finanzzusagen
VON ANNA LEHMANN
BERLIN taz | Die Politiker von
Bund und Ländern wollen die
milliardenschwere Förderung
von Spitzenforschung und Eliteunis fortsetzen. Von 2017 an
soll mindestens noch einmal der
gleiche Betrag wie bisher – insgesamt 2,7 Milliarden Euro – in die
sogenannte Exzellenzinitiative
fließen. Des Weiteren erneuerten Bund und Länder in ihrer Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz (GWK) den Hochschulpakt. Sie wollen auch künftig zusätzliche Studienplätze finanzieren und die Hochschulen ermuntern, die Zahl der Studienabbrecher zu senken. Die Unis sollen ein Zehntel der Paktmittel dafür nutzen, die Studienqualität
zu verbessern.
Die GWK-Vorsitzenden, Bundesbildungsministerin Johanna
Wanka (CDU) und die rheinlandpfälzische Wissenschaftsministerin Doris Ahnen (SPD), stellten
das 25-Milliarden-Paket am Donnerstag in Berlin in seltener Eintracht vor. „Ein guter Tag für die
Studierenden“, sagte Wanka. „Ein
superguter Tag für die Wissenschaft“, ergänzte Ahnen.
Mit dem Anspruch, wissenschaftliche Leuchttürme in der
gleichförmigen
deutschen
Hochschullandschaft zu schaffen, startete die damalige Bundesregierung 2006 den Exzellenzwettbewerb für die besten
Forschungsverbünde, Doktorandenkollegs und Unis. Aktuell
werden 99 Exzellenzeinrichtungen gefördert, darunter 11 sogenannte Eliteunis. Ihre Förderung
läuft 2017 aus. Wie es dann weitergeht, ist offen. Bund und Länder wollen zunächst die Ergebnisse der von ihnen eingesetzten
Kommission abwarten, die die
Exzellenzinitative gerade evaluiert und 2016 ihren Bericht vorlegt. Erst danach soll dann die
nächste Runde starten.
Der Präsident der Berliner
Humboldt-Universität, Jan-Hendrik Olbertz, sagte der taz, er sei
dennoch erleichtert. „Das ist ein
sehr wichtiges Signal, und ich
kann damit leben, dass die Form
der Formate noch nicht feststeht.“ Auch die Fortsetzung des
Hochschulpakts sei zu begrüßen.
Der Uni-Wettstreit um die kreativsten Köpfe wird fortgesetzt Foto: Michaela Rehle/reuters
Allerdings mahnte Olbertz,
das Grundgerüst der neuen Exzellenzinitiative bis Mitte nächsten Jahres auszuarbeiten, damit
die neue Ausschreibung Anfang
2016 starten könne. „Wir können
uns keine Hängepartie leisten“,
sagte Olbertz. Das ist zwar bisher
nicht vorgesehen, aber Olbertz
ist optimistisch, dass die Zeitabläufe noch nachjustiert werden.
Die
Humboldt-Universität
war 2012 in der zweiten Runde in
den Kreis der Eliteunis aufgenommen worden. Für die Gruppe der Nachrücker fühle man
sich in besonderer Verantwortung, beruhigte Wissenschaftsministerin Ahnen.
Kritik kam allerdings von Studierenden. Vertreter des Dachverbands der Studierenden (fzs)
monierten gestern: „Bevor wir
uns überhaupt über Exzellenz
und Spitzenforschung unterhalten, sollte eine auskömmliche Finanzierung des gesamten Hochschulsystems
sichergestellt
sein.“
Die Beschlüsse müssen die
Ministerpräsidenten der Länder
auf ihrer Sitzung am 11. Dezember noch absegnen. Die Zustimmung gilt allerdings als sicher,
da die Wissenschaftskonferenz
im Einvernehmen mit den Finanzministern tagte.
Osten ist nicht mehr Sorgenkind Verfahren eingestellt
JOBS Die Beschäftigung nimmt weiter zu, trotz schwächeren Wachstums.
Es gibt noch mehr offene Lehrstellen als unversorgte junge Bewerber
PROZESS Nach Besetzung der Grünen-Zentrale in
BERLIN taz | Auch wenn die Konjunkturprognosen für Deutschland nicht mehr so rosig sind –
die Arbeitslosenzahlen sind im
Oktober weiter gesunken, und es
gibt noch keine Anzeichen, dass
sich der Jobmarkt in Kürze drastisch verschlechtern könnte.
„Die aktuellen wirtschaftlichen
Unsicherheiten zeigen sich auf
dem Arbeitsmarkt nicht“, erklärte Frank-Jürgen Weise, Chef der
Bundesagentur für Arbeit (BA),
am Donnerstag.
Im Oktober waren 2,733 Millionen Menschen ohne Beschäftigung, 68.000 weniger als im Oktober 2013. Fast 21.000 Jugendliche waren noch ohne Ausbildungsplatz, ihnen standen aber
37.100 offene Ausbildungsstellen
gegenüber. In Ostdeutschland
„entwickeln sich Arbeitslosigkeit
und Unterbeschäftigung tendenziell günstiger als in Westdeutschland“, heißt es im aktuellen Monatsbericht der BA. Im Osten ging die Zahl der Arbeitslosen im Oktober im Vergleich
zum Vorjahresmonat um 6 Pro-
KÖLN taz | Die sechs Ökoaktivisten, die sich vor dem Amtsgericht Düsseldorf wegen der Besetzung der Grünen-Landesgeschäftsstelle
verantworten
mussten, werden nicht belangt.
„Das Gericht hat das Verfahren
mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft
wegen
geringer
Schuld und keinem öffentlichen
Interesse an einer Verfolgung
eingestellt“, sagte Richter Mihael
Pohar am Donnerstag.
Jugendliche und junge Erwachsene hatten das Büro im August vergangenen Jahres besetzt,
um auf die Klimapolitik der Grünen aufmerksam zu machen. Sie
verlangten, dass die Grünen eine
Pressemitteilung mit Kritik am
weiteren Abbau und der Verstromung von Braunkohle in NRW
über ihren Verteiler verschicken
sollten. Die Grünen boten stattdessen den BesetzerInnen Gespräche unter anderem mit Umweltminister Johannes Remmel
an. Nachdem die AktivistInnen
das Angebot nicht annahmen,
erstatteten die Grünen Anzeige
zent zurück, im Westen nur um 1
Prozent.
Die höchsten Zuwächse an sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung gab es im August –
neuere Zahlen liegen nicht vor –
in den technischen und wissenschaftlichen Dienstleistungen
und in der Immobilienbranche,
in Heimen und im Sozialwesen,
in der Metall-, Elektro- und Stah-
Im EU-Vergleich liegt
Deutschland hinter
Österreich auf
Platz zwei
lindustrie und im Gesundheitswesen. Frühere Trends, dass vor
allem Zeitarbeitsunternehmen
neue Jobs anbieten, lassen sich
durch die Statistik nicht mehr
bestätigen.
Es gebe nicht immer eine direkte Korrelation zwischen der
Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts und der Arbeitslosig-
keit, sagte Weise. So seien in
einigen
Dienstleistungsbereichen neue Arbeitsplätze entstanden, die aber nicht stark zum
Wirtschaftswachstum beitragen.
Die strukturellen Probleme
auf dem Arbeitsmarkt allerdings
bleiben, wie Brigitte Pothmer
(Grüne) rügte. So sank die Zahl
der Langzeitarbeitslosen im Vergleich zum Vorjahr nur um 1 Prozent, während sich die Arbeitslosigkeit insgesamt stärker reduzierte. Insbesondere ältere Erwerbslose über 55 Jahren haben
es schwer, wieder einen Job zu
finden.
Im Vergleich zu anderen EULändern
allerdings
bleibt
Deutschland ein Jobwunderland. Die niedrigsten Arbeitslosenquoten in der EU im August –
neuere Zahlen liegen nicht vor –
gab es in Österreich mit 4,7 Prozent, dann folgt Deutschland mit
5 Prozent. Großbritannien hat 6,
Schweden 8, Frankreich 10,5, Spanien 24,4 und Griechenland 26,4
Prozent Arbeitslose.
BARBARA DRIBBUSCH
Düsseldorf: Gericht lässt Klimaaktivisten straffrei
wegen Hausfriedensbruchs und
ließen das Büro räumen.
In den vergangenen Wochen
hatten die AktivistInnen und
Umweltverbände die Ökopartei
aufgefordert, die Anzeige zurückzunehmen. Doch die Grünen blieben hart. „Wir können
mit dem Ausgang der Verhandlung gut leben“, sagte Andrea
Rupprath, Pressesprecherin der
NRW-Grünen. „Es war aber notwendig, den Strafantrag zu stellen, weil es leider keine Aussicht
darauf gab, dass die Besetzerinnen und Besetzer trotz verschiedener Gespräche und Angebote
sich freiwillig aus unserer Landesgeschäftsstelle
zurückziehen.“ Die Grünen lehnten Erpressung als Mittel politischer
Auseinandersetzung ab. Die
ÖkoaktivistInnen finden es immer noch erschreckend, dass die
Grünen an der Anzeige festhielten, obwohl Staatsanwalt und Gericht die Parteivertreter noch in
der Verhandlung auf die Möglichkeit der Rücknahme hingeANJA KRÜGER
wiesen hätten.
INLAND
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FREITAG, 31. OKTOBER 2014  TAZ.DIE TAGESZEITUNG
07
gegen CDU nach
Flüchtlingsschule vor Showdown Shitstorm
Zuwanderer-Konferenz
PROTEST Bis zum Wochenende sollen alle Flüchtlinge die Schule in Berlin-Kreuzberg
verlassen, sonst will der Bezirk polizeilich räumen lassen. Widerstand ist bereits geplant
AUS BERLIN MALENE GÜRGEN
Die besetzte Gerhart-Hauptmann-Schule in der Ohlauer
Straße in Kreuzberg steht kurz
vor der Räumung. Der Bezirk hatte den etwa 45 Flüchtlingen und
UnterstützerInnen in der Schule
ein Ultimatum gestellt: Bis Ende
Oktober, also Freitag um Mitternacht, müssen diese die Schule
verlassen. Tun sie das nicht freiwillig, werde der Bezirk räumen
lassen, bekräftigte die Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann (Grüne) am Mittwochabend: „Wir haben im Bezirksamt
entschieden, in diesem Fall die
Amtshilfe der Polizei in Anspruch zu nehmen“, sagt die Grünen-Politikerin in der Bezirksverordnetenversammlung. Sie
gehe aber davon aus, dass die BesetzerInnen die Schule freiwillig
verlassen.
Die sehen das allerdings anders: Bei einer Pressekonferenz
vor der Schule machten die
Flüchtlinge am Donnerstagnachmittag deutlich, dass sie das
Gebäude auf keinen Fall freiwillig verlassen wollen. „Wir werden
hierbleiben und weiterkämpfen“, sagte ein Bewohner, „wir
wollen nicht gehen, sondern mit
dem Bezirk über eine Lösung
verhandeln.“ Gleichzeitig gibt es
Blockadeankündigungen aus der
UnterstützerInnenszene: „Wir erklären hiermit, dass wir uns einer Räumung der Schule entgegenstellen werden“, heißt es in
einem am Donnerstag verbreiteten Aufruf des Bündnisses
„Zwangsräumung verhindern“.
Am Mittwoch kam es bei einer
Solidaritätskundgebung vor der
Schule bereits zu Auseinandersetzungen mit der Polizei.
Für vier Wochen sollen die BewohnerInnen Hostelgutscheine
vom Bezirk bekommen. „Ob sie
danach in die für sie zuständigen
Bundesländer oder nach Italien
zurückgehen oder nicht, ist ihre
Entscheidung“, so die grüne Bezirksbürgermeisterin. In Berlin
„Wir werden weiterkämpfen“, kündigen die Flüchtlinge aus der Ohlauer
Straße in Berlin an Foto: Christian Mang
Die Flüchtlinge sollten
sich „Perspektiven entwickeln“, rät die grüne
Bürgermeisterin
könnten sie mit keinerlei Unterstützung mehr rechnen. Innensenator Frank Henkel (CDU) habe
ihr signalisiert, dass es „ganz sicher keine Ausnahmen geben
wird“. Sie rate den Betroffenen
dringend, „Perspektiven zu entwickeln“. „Sich irgendwo zu verstecken, ist nicht hilfreich.“
Die Flüchtlinge wollen das
Haus als selbst verwaltetes „Sozial-, Kultur- und Flüchtlingszentrum“ nutzen, neben Wohnplätzen soll es auch Raum für Projekte und einen Nachbarschaftstreff geben. Das Berliner GripsTheater arbeitet bereits mit den
Flüchtlingen an Theaterprojekten, auch die Zusammenarbeit
mit einer im Sommer gegründeten
Nachbarschaftsinitiative
läuft laut der Beteiligten gut.
Auf den ersten Blick sehen die
Pläne des Bezirks ähnlich aus: Er
möchte das Haus zu einem „Internationalen Flüchtlingszen-
trum“ umbauen, 140 Menschen
sollen hier unterkommen. Allerdings: Dieser Plan sieht keine
Selbstverwaltung vor, das Heim
wäre eine reguläre Flüchtlingsunterkunft unter der Regie des
Landesamts für Gesundheit und
Soziales. Als Träger sind der Paritätische Wohlfahrtsverband sowie die Diakonie im Gespräch.
„Damit die Umbauarbeiten beginnen können, muss das Gebäude leer sein“, sagt Bezirkssprecher Sascha Langenbach. Die jetzigen BewohnerInnen hätten
keinen Anspruch auf eine Unterbringung in dem neuen Heim.
Mit einer Räumung der
Hauptmann-Schule würde die
Flüchtlingsbewegung einen weiteren wichtigen Ort in Berlin verlieren. Nach der Räumung des
Oranienplatzes im April wurden
die CampbewohnerInnen auf
verschiedene Heime verteilt und
die Prüfung ihrer Asylverfahren
vereinbart. Für gut 500 von 550
Personen ist diese Prüfung mittlerweile offiziell abgeschlossen.
In nahezu allen Fällen wurden
die Ersuchen abgelehnt, woraufhin die Betroffenen den Anspruch auf Unterbringung verloren und die Heime verlassen
mussten. Offiziell gibt es kaum
Angaben über ihren Verbleib,
viele sind offenbar bei UnterstützerInnen untergekommen
und leben weiter in Berlin.
Der Bezirk hatte bereits Ende
Juni versucht, die Schule zu räumen. Die BewohnerInnen besetzten damals das Dach des Gebäudes, in einem zweiwöchigen
Großeinsatz sperrte die Polizei
den Kiez ab. Am Ende unterschrieben Flüchtlinge und Bezirksvertreter eine Einigung.
Dort war festgehalten, dass die
rund 45 Menschen in der Schule
bleiben können, wenn sie den
Nachzug weiterer Personen verhindern. Bewohner und der Bezirk werfen sich nun gegenseitig
vor, nicht ernsthaft an dem in
der Vereinbarung festgehaltenen Dialog interessiert zu sein.
ISLAMGEGNER CDU-Generalsekretär Tauber entsetzt
über „blanken Hass“ aus sozialen Netzwerken
BERLIN afp | CDU-Generalsekretär Peter Tauber hat sich nach der
Integrationskonferenz
seiner
Partei über feindselige Reaktionen in den sozialen Netzwerken
beklagt. „Mir ist in manchen Beiträgen blanker Hass entgegengetreten, den ich in dieser Form
noch nie erlebt hatte“, sagte Tauber der Welt vom Donnerstag.
„Diejenigen, die im Netz so massiv reagieren, erreicht man nicht
mehr mit rationalen Argumenten.“ Die Vorstellung, dass ein
Moslem Deutscher sein könne,
sei manchen offenbar nicht
nahezubringen.
Tauber will die CDU stärker
für Einwanderer öffnen. In der
vergangenen Woche hatte er deshalb CDU-Mitglieder und -Sympathisanten mit Migrationshintergrund zu einer Konferenz in
die CDU-Zentrale in Berlin geladen. Auch Parteichefin Angela
Merkel (CDU) sprach vor den Anwesenden.
Der
CDU-Generalsekretär
wies die offenbar massive Kritik
in den sozialen Netzwerken zurück. „Christsein bedeutet, offen
auf Menschen zuzugehen“, sagte
Tauber. „Chauvinistisch-nationalistische Abgrenzung kann
niemals christlich sein.“
In den Reaktionen sieht Tauber den Versuch rechter Gruppierungen, die CDU in eine linke
Ecke zu drängen. Seine Vaterlandsliebe lasse er sich aber von
niemandem absprechen: „Mein
persönlicher Zugang zur CDU
war ein patriotischer. SchwarzRot-Gold sind für mich keine beliebigen Farben.“ Patriotismus
schließe jedoch Zuwanderer
nicht aus. Für Zuwanderer in der
CDU müsse aber eine Absage an
den extremistischen Islam
selbstverständlich sein.
Salafist in Flughafen-Crew
SICHERHEIT Mitglied der „Scharia-Polizei“ arbeitete in
der Gepäckabfertigung. Opposition kritisiert Jäger
DÜSSELDORF dpa/taz | Ein radikaler Islamist soll trotz Sicherheitsüberprüfungen in der besonders geschützten Gepäckabfertigung des Düsseldorfer Flughafens gearbeitet haben. Das
sagte ein Sprecher der Wuppertaler Polizei und bestätigte Medienberichte. Der 27-Jährige wird
zum Umfeld des deutschen Salafisten Sven Lau gerechnet und
soll zu jenen Männern gehören,
die Anfang September in Wuppertal als „Scharia-Polizei“ aufgetreten waren. Zurzeit laufe ein
Ermittlungsverfahren gegen ihn,
sagte der Polizeisprecher. Die
Salafistenszene wird vom Staatsschutz und dem NRW-Verfassungsschutz beobachtet.
Die Opposition im Düsseldorfer Landtag reagierte empört: „Es
ist ein unfassbarer Skandal, dass
ein polizeibekannter Salafist
über Monate unbehelligt im Sicherheitsbereich des Düsseldorfer Flughafens arbeiten durfte“,
sagte der integrationspolitische
Sprecher der FDP-Landtagsfraktion Joachim Stamp. Vor zwei
Monaten habe Innenminister
Ralf Jäger (SPD) ein entschlossenes Vorgehen gegen die SchariaPolizei versprochen, trotzdem
habe ein Mitglied dieser Gruppe
bis jetzt Zugang zum Sicherheitsbereich des Düsseldorfer Flughafens gehabt. Der Flughafen Düsseldorf bestätigte lediglich, dass
der 27-Jährige „bei einem am Airport ansässigen Unternehmen“
gearbeitet habe. Um in den Sicherheitsbereich zu gelangen,
habe er aber jeden Tag eine
Schleuse passieren müssen und
sei durchleuchtet worden.
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DGB vereint im Schweigen
TARIFEINHEIT Weder der Gewerkschaftsdachverband noch die IG Metall und Ver.di wollen sich zurzeit zum
Gesetzesentwurf von Arbeitsministerin Andrea Nahles äußern. Piloten drohen mit Verfassungsklage
BERLIN taz | Der Dachverband
gibt sich zugeknöpft, die beiden
größten Einzelgewerkschaften
ebenso. „Wir machen dazu zurzeit nichts“, sagt eine DGB-Sprecherin. „Wir werden das erst
kommentieren, wenn der Gesetzentwurf in seiner endgültigen Fassung vorliegt“, sagt eine
Sprecherin der IG Metall. Auch in
der Berliner Ver.di-Zentrale will
man sich zum gegenwärtigen
Zeitpunkt nicht zum geplanten
Tarifeinheitsgesetz äußern. Der
derzeit kursierende Referentenentwurf von Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD),
aus dem die taz zitiert hat, sei
noch nicht die endgültige Version, heißt es zur Begründung.
Das kann man so sehen, muss
es aber nicht. Tatsächlich gibt es
nach taz-Informationen an dem
endgültigen Gesetzesentwurf,
der am heutigen Freitag in die
Ressortabstimmung gehen soll,
noch Änderungen – aber die sollen nur kleinerer, eher redaktioneller Natur sein. Es bleibt also
dabei: Künftig soll im Falle einer
Tarifkollision nur noch die im
Betrieb mitgliederstärkste Gewerkschaft zum Zuge kommen.
Von ihrem Wohlwollen wird es
abhängen, welcher Spielraum
Ver.di für die Krankenschwester, Marburger Bund für den Arzt – so soll es
nach dem Willen der Ärztegewerkschaft bleiben Illustration: Eléonore Roedel
kleinere Spartengewerkschaften
noch bleiben wird. Dem Marburger Bund, der Vereinigung Cockpit oder der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL)
dürfte die Alternative Unterordnung oder Untergang bleiben.
Der Grund für das Schweigen
des DGB, der IG Metall und von
Ver.di dürfte denn auch nicht in
den kleinen Versionsänderungen des Gesetzesentwurfs liegen.
Hinter den Kulissen ringen die
Gewerkschaftsspitzen vielmehr
um eine gemeinsame Linie. Wäh-
rend die IG Metall die Pläne von
Nahles unterstützt, lehnt sie
Ver.di entschieden ab. Während
die Bundesspitze noch um eine
diplomatische Lösung bemüht
ist, spricht die nordrhein-westfälische Ver.di-Landesleiterin Gabriele Schmidt Tacheles. Das Gesetzesvorhaben sei eine nicht
hinnehmbare „indirekte Einschränkung des Streikrechts“,
sagte Schmidt. „Eine einheitliche
und solidarische Interessenvertretung aller Beschäftigten eines
Betriebs muss von den Gewerk-
schaften in eigener Autonomie
realisiert werden, wenn sie erfolgreich sein soll.“ Staatliche
Eingriffe seien „Gift für die Tarifautonomie“.
Bei anderen DGB-Gewerkschaften wird das anders gesehen. So begrüßt der Vorsitzende
der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE),
Michael Vassiliadis, ausdrücklich die Gesetzespläne von Nahles als „gutes Signal“. Auch der
neue DGB-Vorsitzende Reiner
Hoffmann, ein IG-BCE-Mann, gilt
als glühender Befürworter. Anfang der Woche traf er sich mit
Andrea Nahles sowie Innenminister Thomas de Maizière, Justizstaatssekretärin Stefanie Hubig sowie Arbeitgeberpräsident
Ingo Kramer im Kanzleramt zum
freundlichen Tête-à-tête über
den Referentenentwurf.
Unterdessen bereitet sich die
Pilotenvereinigung Cockpit auf
eine Verfassungsklage vor. Ihr
zur Seite steht dabei die Kanzlei
von
Exbundesinnenminister
Gerhart Baum. „Klar, lege ich
Verfassungsbeschwerde
ein“,
sagte Baum dem Handelsblatt.
Das geplante Gesetz wäre „ein erheblicher Eingriff in GrundrechPASCAL BEUCKER
te“.
THOMAS PIKETTY
»Das Ende des
Kapitalismus im
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WIRTSCHAFT + UMWELT
NACHRICHTEN
URBANE AMPHIBIEN
FRANKREICH
Neue Froschart in New York City entdeckt
Willkommen in Big Apple, Rana
kauffeldi Foto: Feinberg
LONDON | Forscher haben in den
Feuchtgebieten von Staten Island in New York City eine neue
Froschart entdeckt – dank des außergewöhnlichen Quakens. Jeremy Feinberg von der Rutgers
Universität in New Jersey bemerkte den neuen Leopardenfrosch Rana kauffeldi. „Frösche
haben sehr stereotypische Paarungsrufe“, sagte der Ökologe der
britischen Rundfunkanstalt BBC,
„ich wusste, dass dieser hier anders ist.“ Feinberg hat den Fund
mit Genetikexperten überprüft
und nun im US-Fachmagazin
Plos One veröffentlicht. Es ist die
erste neue Froschart in der Region seit 30 Jahren. (taz)
Völkerrechtler gegen EUHandelsvertrag mit Kanada
GLOBALISIERUNG Ceta-Abkommen verstoße gegen
das Grundgesetz, warnt Professor Fischer-Lescano
MÜNCHEN taz | Ein neues
Rechtsgutachten unterstützt die
Kritiker der geplanten Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen Union und den USA
(TTIP) sowie Kanada (Ceta). Völkerrechtsprofessor Andreas Fischer-Lescano und sein Mitarbeiter Johan Horst von der Universität Bremen kommen in der von
Attac München in Auftrag gegebenen Studie zu dem Ergebnis:
Ceta ist rechtswidrig. Die Kritik
gilt auch dem noch zu verhandelnden TTIP-Abkommen mit
den Vereinigten Staaten, da sich
dieses stark an Ceta orientiert.
Der Vertrag mit Kanada verstoße sowohl gegen das Grundgesetz als auch gegen Unionsrecht, sagte Horst. Etwa bei den
internationalen Schiedsgerichten: Vor ihnen können dem Vertrag zufolge ausländische Konzerne klagen, wenn sie ihre Investitionen gefährdet sehen,
zum Beispiel durch Umweltauflagen. Dabei würden die privaten
Schiedsgerichte auch über EURecht entscheiden. Dies stünde
aber ausschließlich dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) zu, argumentierte Horst.
Außerdem verstoße Ceta
gegen die „im Grundgesetz verankerte Garantie der kommunalen Selbstverwaltung“. Hat eine
Kommune ihre Wasserversorgung privatisiert, könnte sie dies
laut Ceta nicht mehr rückgängig
machen. Dazu kommt, dass das
Abkommen eine Negativliste
vorsehe. Alle Bereiche, die nicht
ausdrücklich
ausgenommen
sind, unterlägen damit den Liberalisierungsvorschriften
von
Ceta. Die Kommunen wären verpflichtet, fast alle Aufträge aus-
zuschreiben, und könnten mittelständische Unternehmen vor
Ort nicht mehr unterstützen.
Ginge es nach der Europäischen Kommission, würde Ceta
schon bald in Kraft treten, nur
das EU-Parlament und der Rat
der Mitgliedstaaten müssten
noch zustimmen. Doch auch das
sei nicht rechtens, so die Juristen,
da es sich bei Ceta um ein „gemischtes Abkommen“ handle,
bei dem auch die nationalen Parlamente ihr Einverständnis
geben müssten. Damit würde es
noch „mindestens zwei Jahre“
dauern, bis Ceta in Kraft tritt.
Zu dem gleichen Schluss war
ein Gutachten gekommen, das
Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel in Auftrag gegeben
hatte. Nach massiver Kritik aus
den eigenen Reihen äußerte der
SPD-Politiker auch Bedenken in
Bezug auf die umstrittenen internationalen Schiedsgerichte.
Mit seiner Forderung, Ceta neu
zu verhandeln, stieß er aber auf
Kritik beim Koalitionspartner
CDU/CSU.
Fischer-Lescano geht jedoch
davon aus, dass nicht Parlamente, sondern das Bundesverfassungsgericht und der EuGH über
die finale Version von Ceta und
TTIP entscheiden werden. Dazu
müsste ein Mitgliedstaat der Europäischen Union oder das EUParlament klagen.
Laut Ceta sollen 98 Prozent aller Zölle wegfallen, die Exportquoten steigen, Unternehmen
leichteren Zugang zu öffentlichen Aufträgen bekommen,
Investitionen angekurbelt und
die Freizügigkeit hochqualifizierter Arbeitnehmer verbessert
LISA SCHNELL
werden.
MEERESSCHUTZ
AUTOBAUER
ZAHL DES TAGES
Unbekannte Drohnen Abkommen für den
überfliegen 7 AKWs
Südpol auf der Kippe
Volkswagen mit
Gewinnsprung
Spanien erholt
sich langsam
PARIS | Drohnen unbekannter
Herkunft haben in den vergangenen Wochen sieben französische Atomkraftwerke überflogen. Der AKW-Betreiber EDF erstattete deswegen Anzeige. Er betonte zugleich, die Überflüge seien „ohne Folgen für die Sicherheit oder den Betrieb der Anlagen“ geblieben. Die Umweltschutzorganisation Greenpeace
zeigte sich „sehr besorgt“. In
Frankreich ist es verboten,
Atomkraftwerke in einem Umkreis von fünf Kilometern und
unter 1.000 Metern Höhe zu
überfliegen. (afp)
WOLFSBURG | Europas größter
Autobauer Volkswagen hat mit
einem Gewinnschub im Sommerquartal merklich Schwung
geholt. Neben den traditionellen
Renditebringern Audi und Porsche sorgten die tschechische
Tochter Skoda und die brummenden Geschäfte in China für
kräftigen Schub. Das Ergebnis
vor Zinsen und Steuern (Ebit)
stieg im dritten Jahresviertel im
Vergleich zum Vorjahresquartal
um gut 16 Prozent auf 3,23 Milliarden Euro. Der Konzernumsatz legte um 4 Prozent auf
48,9 Milliarden Euro zu. (dpa)
„Es grünt so grün, wenn Spaniens Wiesen blühn“, heißt es bei
„My Fair Lady“, Helmut Kohl würde von „blühenden Landschaften“ sprechen. Wir wissen, dass
es längst nicht so weit ist, dennoch bemerkenswert: Spaniens
Wirtschaft erholt sich nach Jahren des Niedergangs. Das Bruttoinlandsprodukt wuchs von Juli
bis September um 0,5 Prozent
zum Vorquartal,
immerhin bereits das fünfte
Quartal in Folge mit positivem Vorzeichen.
WELLINGTON | Die Pläne zur
Schaffung des weltgrößten Meeresschutzgebietes drohen zum
vierten Mal zu scheitern. Die USA
und Neuseeland wollen in der
Antarktis ein 1,34 Millionen Quadratkilometer großes Gebiet für
die Fischerei weitgehend sperren. Doch werde dies wohl keine
Zustimmung erhalten, sagte USDelegationsleiter Evan Bloom im
australischen Hobart. Eine kleine
Zahl von Staaten stelle sich dagegen. Damit wäre die Konferenz
der Kommission zur Erhaltung
der lebenden Meeresschätze der
Antarktis ein Fehlschlag. (ap)
0,5%
Vattenfall verliert Lust auf Kohle
ENERGIE Der schwedische Staatskonzern denkt laut über einen Rückzug aus Tagebauen
und Kraftwerken in Ostdeutschland nach – die Anlagen sind nicht mehr profitabel
VON BERNWARD JANZING
FREIBURG taz | Vattenfall hat keine Lust mehr auf die Braunkohle.
Der schwedische Energiekonzern teilte gestern mit, er erwäge
einen Verkauf der betreffenden
Sparte. Oder wie es VattenfallChef Magnus Hall formulierte:
Vattenfall prüfe „Optionen für
eine nachhaltige und neue Eigentümerstruktur seines Braunkohlegeschäfts“. Dieses umfasst
fünf Braunkohletagebaue und
vier Kraftwerke in Ostdeutschland. Dort sind mehr als 8.000
Mitarbeiter beschäftigt. Auch als
Auftraggeber für die dortige In-
„Eine neue Eigentümerstruktur des
Braunkohlegeschäfts“
VATTENFALL
dustrie ist der Konzern wichtig.
2013 erhielten über 1.700 Firmen
in Brandenburg und Sachsen
Aufträge von Vattenfall.
Die Entscheidung war im Verwaltungsrat des schwedischen
Konzerns gefallen, seit gut zwei
Jahren gab es entsprechende
Spekulationen. Am Donnerstag
nannte das Unternehmen vor allem zwei Gründe: Zum einen
wolle man die CO2-Emissionen
des Konzerns senken. Bereits
2011 hatte Vattenfall eine Broschüre über erneuerbare Energien mit dem Satz begonnen:
„Die Bekämpfung des Klimawandels gehört zu den größten
Aufgaben unserer Zeit“ – damals
noch eine Überraschung. Noch
2013 erzeugte Vattenfall 72,8 Milliarden Kilowattstunden Strom
aus Kohle, davon allein 57,2 Milliarden oder etwa 10 Prozent des in
Deutschland
produzierten
Soll verkauft werden: Vattenfall-Braunkohlekraftwerk Boxberg in der
Lausitz Foto: Paul Langrock/Zenit
Stroms aus Braunkohle, dem klimaschädlichsten
Brennstoff
überhaupt.
Noch wichtiger als der Klimaschutz dürfte die schwindende
Wirtschaftlichkeit der Anlagen
sein. „Wie andere Energieversorger auch leidet Vattenfall unter
schwierigen Marktbedingungen,
die durch eine schwache Nachfrage, ein Überangebot an Erzeugungskapazitäten und historisch niedrige Großhandelsprei-
se bei Strom gekennzeichnet
sind“, sagte Firmenchef Hall. Ein
Blick auf die deutsche Stromerzeugung macht diese Aussage
nachvollziehbar: In den ersten
neun Monaten 2014 wurden in
Deutschland rund 5 Prozent weniger Strom aus Braunkohle und
15 Prozent weniger aus Steinkohle erzeugt als im Vorjahr. Gleichzeitig fuhr Vattenfall insgesamt
umgerechnet einen Verlust von
2 Milliarden Euro ein.
Vor diesem Hintergrund fragen sich Experten nun: Wer soll
die Anlagen kaufen? Zumal die
Braunkohle als Erste aus dem
Markt gedrängt wird, wenn eines
Tages ein funktionierendes Klimaschutzprogramm
kommt.
Vattenfall nennt keine Namen.
Auch Mitbewerber RWE, selbst
stark im Braunkohlegeschäft,
lässt das Angebot unkommentiert. Entscheiden wird über den
Verkauf nicht alleine der Preis.
Vattenfall untersteht als schwedischer Staatskonzern auch der
Politik, weshalb auch das schwedische Parlament zustimmen
muss. Deswegen ist derzeit alles
offen – der Zeitplan ebenso wie
die Frage, ob Vattenfall komplett
aus der Braunkohle aussteigen
oder nur einen Teil des Geschäfts
verkaufen wird.
Am Ende könnte die Braunkohle für den Konzern der zweiten Energieträger werden, von
dem er sich in Deutschland verabschiedet. Den Ausstieg aus der
hiesigen Atomstromerzeugung
hat er nämlich schon – gezwungenermaßen – hinter sich: Weil
die störanfälligen Meiler Brunsbüttel und Krümmel nach der
Fukushima-Katastrophe endgültig vom Netz mussten, verfügt
das Unternehmen heute in
Deutschland nur noch über eine
20-Prozent-Beteiligung am EonKraftwerk Brokdorf.
Als einen Rückzug aus
Deutschland will Vattenfall den
Verkauf der Braunkohle nicht
verstanden wissen. Man bleibe
den übrigen Geschäftsaktivitäten „weiterhin vollauf verpflichtet“, teilte das Unternehmen mit.
Dazu zählen unter anderem die
Fernwärme, die erneuerbaren
Energien, der Betrieb von Verteilnetzen sowie der Handel und
Vertrieb – alles Bereiche mit
mehr Profit als die Braunkohle.
US-Notenbank stellt Konjunkturspritzen ein
KRISE Fed lässt Wertpapierankaufprogramm zum Monatsende auslaufen. Insgesamt vier Billionen
US-Dollar geflossen. Niedrige Zinsen sollen noch „geraume Zeit“ beibehalten werden. Wenig Arbeitslose
WASHINGTON rtr | Die US-Notenbank Federal Reserve stellt ihre milliardenschweren Konjunkturspritzen ein und verspricht
weiter niedrige Zinsen. Die Zentralbank entschied am Mittwoch,
ihr Ankaufprogramm für Wertpapiere zum Monatsende auslaufen zu lassen. Zuletzt hatte sie
den Erwerb von Staatsanleihen
und Hypothekenpapieren bereits auf 15 Milliarden Dollar pro
Monat gedrosselt. Mit dem Ende
der Geldspritzen wird die Bilanz
nun nicht mehr ausgeweitet.
Die Fed hat sie mit mehreren
Programmen zum Ankurbeln
der Konjunktur in den Jahren
nach Ausbruch der Finanzkrise
2008 auf mehr als 4 Billionen
Dollar aufgebläht. Den Leitzins
hält sie seit Ende 2008 auf dem
rekordniedrigen Niveau von
0 bis 0,25 Prozent. Die Fed erneuerte zugleich ihr Bekenntnis, ihre
sehr lockere Geldpolitik noch
„geraume Zeit“ beizubehalten.
An den Märkten wird für Mitte
2015 mit der Zinswende gerechnet, einige Investoren tippen so-
gar auf einen noch späteren Termin im kommenden Jahr. Die
Fed legte sich indes nicht fest. Sie
betonte, sie werde sich beim Zeitpunkt künftiger Zinserhöhungen davon leiten lassen, wie die
Daten zur Wirtschaftsentwicklung ausfielen. Falls es etwa größere Fortschritte auf dem Weg zu
Vollbeschäftigung und stabilen
Preisen geben sollte als erwartet,
könnten „Zinserhöhungen wahrscheinlich früher kommen als
derzeit angenommen“. Derzeit
macht den Notenbankern allein
die etwas zu niedrige Teuerung
Sorgen, zuversichtlich sind sind
sie beim Arbeitsmarkt. Eine Reihe von Anzeichen deute darauf
hin, dass sich die Auslastung
schrittweise verbessere. Zuvor
hatte die Notenbank stets betont,
die Ressourcen am Jobmarkt seien noch nicht ausgeschöpft. Im
September entstanden fast eine
Viertelmillion neue Jobs, deutlich mehr als von Ökonomen erwartet. Zudem fiel die Arbeitslosenquote auf 5,9 Prozent – der
niedrigste Stand seit Juli 2008.
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FREITAG, 31. OKTOBER 2014  TAZ.DIE TAGESZEITUNG
Der neue kalte Krieg wird teuer
EUROPA Sanktionen gegen Russland zeigen auch unerwünschte Wirkungen im Westen. Sie
kosten viele Länder der EU Wachstum und Arbeitsplätze – auch Gasstreit schlägt zu Buche
09
LESERINNENBRIEFE
taz. die tageszeitung|Rudi-Dutschke-Str. 23|10969 Berlin
[email protected]|www.taz.de/Zeitung
Die Redaktion behält sich Abdruck und Kürzen von LeserInnenbriefen vor.
Die veröffentlichten Briefe geben nicht unbedingt die Meinung der taz wieder.
VON ERIC BONSE
BRÜSSEL taz | Die westlichen
Sanktionen gegen Russland zeigen Wirkung – allerdings auch
unerwünschte. Während sich in
vielen Supermärkten rund um
Moskau langsam die Regale leeren, könnte der Handelskrieg einige EU-Länder zurück in die Rezession treiben. Dies geht aus
neuen Schätzungen der EU-Kommission hervor. Hohe Kosten
drohen der EU auch im Gasstreit
zwischen Russland und der
Ukraine.
Nach den bisher geheim gehaltenen Schätzungen, über die
das Wall Street Journal berichtet,
dürften die Sanktionen das Wirtschaftswachstum in der EU in
diesem und im kommenden Jahr
um 0,2 oder um 0,3 Prozentpunkte dämpfen. Für Länder wie
Italien oder Frankreich, die bereits jetzt große Konjunktursorgen haben, könnte dies einen Russland leidet unter den Sanktionen – auch zu merken bei der Agrargütermesse in Moskau Foto: dpa
Rückfall in die Rezession bedeuten. Allerdings sei Russland weit Agrarprodukte verhängt. Die Irohauptet, die Sanktionen würden
stärker betroffen, so die EU-Kom- nie der Geschichte: Das Embargo „Unglaublich! Wir
nur die russische Wirtschaft trefmission: Dort soll das Wachstum trifft vor allem die russischen
fen. Doch nicht nur diese Ein2015 um 1,1 Prozentpunkte ab- Verbraucher, die Sanktionen haben frischen
schätzung wird nun in Brüssel
schmieren. Im laufenden Jahr schaden auch westlichen Fir- Brokkoli gefunden“
scheibchenweise revidiert. Auch
sollen die Sanktionen einen men. Die russischen Medien be- RUSSISCHE BLOGGERIN
die Hoffnung, wenigstens beim
Rückgang um 0,6 Punkte bewir- schönigten die Lage, kritisiert die
Gasstreit zwischen Russland und
ken. Allerdings leide Russland Bloggerin Eva Mala, die auf Faceder Ukraine ungeschoren davonzudem unter dem Verfall des Öl- book die Folgen des russischen Wir haben frischen Brokkoli ge- zukommen, zerrinnt. Zwar melpreises, so die Brüsseler Behörde. Einfuhrstopps beschreibt. Be- funden“, meldete sie am 24. Okto- dete die EU-Kommission am
Die genaue Wirkung der Straf- sonders betroffen sei das Ange- ber. Wer ihren Blog liest, wird al- Donnerstag, eine Einigung sei in
maßnahmen lasse sich daher bot von frischem Fleisch, Brot, lerdings auch feststellen, dass in Reichweite. Am Abend wollte
nicht beziffern.
Käse und manchen Obst- und Russland noch keine Not Noch-Energiekommissar GünFest steht, dass die Sanktionen Gemüsesorten.
„Unglaublich! herrscht.
ther Oettinger (am 1. November
ihrer Hauptziel bisher verfehlt
Schwer getroffen hat der übernimmt er das Digitalres.....................................................................................................................
haben – Russlands Präsident
Handelskrieg hingegen viele sort) eine neue, womöglich letzte
Frankreich liefert nicht
Wladimir Putin im Konflikt um ...............................................................
deutsche Firmen. Die Exporte Verhandlungsrunde leiten. Noch
die Ukraine zum Rückzug zu be- Laut Finanzminister Michel Sapin
nach Russland sind zwischen vor Ende der Gespräche zeichnewegen. Putin bleibt stur bei sei- kann Frankreich einen für RussJanuar und August um 16,6 Pro- te sich jedoch ab, dass auf die EU
ner Linie: Die brüchige Waffen- land gebauten Hubschrauberträzent auf 20,3 Milliarden Euro ein Großteil der Zeche zukommt.
ruhe in der Ukraine sei ein An- ger der Mistral-Klasse derzeit nicht gesunken. Für das Jahr 2014 solNach Angaben aus Brüssel hat
fang, nun müsse sich der Westen ausliefern. Die Situation in der
len sich die Verluste auf Exporte die Ukraine zugesagt, bis Ende
bewegen. Doch der EU reicht das Ukraine habe sich noch nicht geim Wert von 7 Milliarden Euro des Monats 1,45 Milliarden Dollar
nicht. Sie beschloss daher am nügend stabilisiert, um eine Ausbelaufen. Relativ wenig im und bis Ende des Jahres dann
Dienstag, die Sanktionen zu ver- lieferung zu ermöglichen, sagte
Vergleich zu einem Gesamtvolu- noch einmal 1,65 Milliarden Dollängern. Durch die Strafmaß- Sapin am Donnerstag. Russland
men der deutschen Exporte von lar zu zahlen. Das Geld reicht
nahmen, die zuletzt im Septem- hatte am Vortag angegeben, das
in diesem Jahr wahrscheinlich jedoch nicht aus, um über den
ber verschärft worden waren, 1,2 Milliarden Euro teure Schiff sol- etwa 1 Billion Euro. Dennoch lei- Winter zu kommen. Außerdem
werden viele russische Banken le am 14. November übergeben
det die Stimmung. Der Ost-Aus- fordert Russland Garantien von
und Konzerne vom westlichen werden. Frankreichs Staatspräsischuss der Deutschen Wirtschaft der EU. Insgesamt könnten die
Markt ausgeschlossen.
warnt schon, dass 60.000 Jobs Europäer bis zu 2 Milliarden Eudent François Hollande hatte im
Im Gegenzug hat Putin ein September die Auslieferung geim Land gefährdet sein könnten. ro vorstrecken – so viel hat Kiew
Embargo gegen europäische stoppt. (afp)
Bisher hatte die EU immer be- angefragt.
Nahles’ Plan ist abzulehnen
■
Seit Beginn meines Arbeitslebens bin ich in einer sogenannten großen (DGB-)Gewerkschaft organisiert. Während dieser sehr langen
Zeit habe ich oft gelitten und mich enorm geärgert über die Nachgiebigkeit gegenüber den Arbeitgebern und der erfolgreichen politischen Einflussnahmen von außen. Trotz häufiger Gedanken über einen Austritt habe ich diesen nie vollzogen, da Gewerkschaften für abhängig Beschäftigte meines Erachtens eine Art Versicherung darstellen und deshalb, trotz aller Mängel, immer noch unverzichtbar sind.
Ich war schon immer begeistert von der Nachdrücklichkeit, Frechheit und Einsatzfreude der kleinen Spartengewerkschaften, die immer versuchen das Optimum für ihre Mitglieder zu erreichen, notfalls auch mit längeren Streiks.
Was nun die Arbeitsministerin vorhat, ist bodenlos und von Grund
auf abzulehnen. Ich hoffe sehr, dass sie mit dem geplanten, angeblich solidarischen Gesetz nicht durchkommt und das Bundesverfassungsgericht ihr die Grenzen politischer Einflussnahme auf demokratische Grundrechte, wie das Streikrecht und die freie Wahl, sich in
Gewerkschaften zu organisieren, aufzeigt. Dem Inhalt des Interviews
mit Heiner Dribbusch („Gravierender Eingriff in das Streikrecht“) ist
in Gänze zuzustimmen. WOLFGANG WEDEL, Nürnberg
Pilotenstreik ist unangemessen
■
WOVOR WIR UNS ZU HALLOWEEN GRUSELN SOLLTEN
Keine Angst ist auch keine Lösung
verhindert in Deutschland Inür meinen Sohn, damals fünf Abend vor Allerheiligen veranWIR RETTEN DIE WELT
Jahre alt, war es ein unver- staltet wird. Ein sinnleeres Ritu- ....................................................... vestitionen und treibt den Rest
VON
der EU ins Chaos. Spüren Sie die
gesslicher Abend: Nach ei- al, wenn kleine Teufel „Süßes
unsichtbare Hand des freien
nem Streifzug durch die Nach- oder Saures“ plärren oder ihre
BERNHARD PÖTTER
Marktes eiskalt an Ihrer Gurgel?
barschaft seines Onkels im New Mütter sich zu Buhfrauen verDie permanente Ausrottung
Yorker Stadtteil Queens am Hal- kleiden.
Jeder Harry-Potter-Film er- ....................................................... von vielen Tier- und Pflanzenarloween-Abend war die Beute an
ten, die wir kaum kennen und
Schokoscheiß und Zuckerbom- zeugtmitderDarstellungdesabben gewaltig. Überall öffneten grundtief Bösen in Lord Volde- städte untergehen. Das ist wohl die für den biologischen Kreissich uns die Türen, wenn wir mort mehr Gänsehaut als noch kaum noch zu stoppen. Höre ich lauf oder unser eigenes Über„Trick or treat“ riefen. Ein lächer- so ausgefeilter Halloween- da jemanden erschreckt krei- leben vielleicht wichtiger sind,
als wir ahnen – schlottern da jelich als Gespenst verkleidetes Kitsch. Dabei gibt es genügend schen?
Kindergartenkind und sein neu- Dinge, bei denen es uns wirklich
Saures statt Süßes kommt mandem die Knie?
Und wenn Facebook und Pigeborener Cousin gaben eine ex- kalt den Rücken runterlaufen auch aus anderen Fachgebieten:
trem wirkungsvolle Drohkulisse sollte. Bei den Bildern von Ebola Immer häufiger sind Krank- casa Fotos so scannen können,
ab. Die Plastiktüte, die der New und IS-Terror bekommen wir ei- heitserreger resistent gegen An- dass sie auch bei schlecht ausgeYork Times am Morgen extra für ne Ahnung von echtem Grauen. tibiotika. Der Grund: sorgloser leuchteten Fotos die Menschen
diese Klientel beigelegt worden
Aber es gibt auch die versteck- Umgang mit den Keimkillern in erkennen, aus 2-D-Fotos locker
war, riss unten auf und verstreu- ten Schrecken, die wir mit einem der Landwirtschaft und überall. 3-D-Profile machen können und
te die Beute auf dem Gehweg. Ich Schulterzucken abtun: etwa am Wie viel Horror empfinden Sie diesen Bildern von Unbekannbekam ernste Zweifel an den anderen Ende der Welt, wo gera- bei der Vorstellung, dass Ihre ten Namen und Identitäten zujournalistischen Qualitäten des de wichtige Teile der Antarktis Tochter auf der Intensivstation ordnen – wo bleibt die hysteriauseinanderbröckeln – ein Zu- liegt und die Ärztin sagt: „Gegen sche Schreiattacke?
Blattes.
Klar, Angst ist ein schlechter
Das Gruseln hielt sich näm- stand, den manche Wissen- diese Infektion sind unsere MeRatgeber. Aber keine Angst ist
lich in engen Grenzen. Das ist schaftler als „holy shit moment“ dikamente leider unwirksam“?
noch heute so. Auch wenn das des Klimawandels bezeichnen:
Ein kalter Wind aus der Gruft auch keine Lösung. Und sei es
Halloween-Fieber samt Plastik- Was erst mal nicht die Pinguine umweht auch die Finanzpolitik nur die Furcht, dass Sie mit der
kürbissen und Hexenkostümen stört, wird mit ziemlicher Si- der schwarzen Null. Eine toxi- Google-Datenbrille bald auch
inzwischen zu uns geschwappt cherheit den Meeresspiegel sche Mischung aus richtiger noch hinter dergrauenhaftesten
ist, fürchtet sich natürlich nie- über die nächsten Jahrzehnte so Haushaltssanierung und fal- Halloween-Maske zu entlarven
mand vor irgendwas, was da am anheben, dass viele Küsten- scher
Sparschwein-Ideologie sind.
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F
betr.: „Lufthansa am Boden“ u.a., taz vom 22. 10. 14
Bei der Diskussion um den Streik der Lufthansa-Piloten für den Erhalt der gültigen Vorruhestandsregeln (Rente mit 55 Jahren und
160.000 Euro/Jahr) zielt alles auf die Rechtmäßigkeit ab und darauf,
ob sich die Piloten mit ihrem Streik nicht selbst das Wasser abgraben.
Mir fehlt eindeutig der gesellschaftliche Vergleich: Warum kann ein
unter 60-jähriger, also sehr berufserfahrener Arbeitnehmer nicht
seine Kenntnisse in anderer Weise für die Branche nutzbar machen
und so außerhalb des bisherigen Arbeitsplatzes (hier: im Cockpit) tätig werden? In anderen Berufen, die sicher nicht weniger anstrengend sind wie der des Piloten, ist ein deutlich späteres Rentenalter an
der Tagesordnung und die politische Diskussion geht dahin, dieses
Rentenalter weiter nach hinten zu schieben.
Ich finde, die Piloten, mit ihren ohnehin privilegierten Jobs, sollten
bei ihren Forderungen die Arbeitsverhältnisse anderer Menschen
hierzulande stärker berücksichtigen und so ein Stück gesellschaftlicher Verantwortung übernehmen.
THORSTEN WILLIG, Bad Schwalbach
Hohle Phrasen
■
betr.: „Zufrieden, strebsam, unpolitisch“, taz vom 29. 10. 14
Politikverdrossenheit macht sich nicht einzig unter Studenten breit.
Nicht die Studenten sind das Problem, die PolitikerInnen müssen
sich selbst hinterfragen. Hohle Phrasen und schwammige Formulierungen sind oft das Hauptproblem in politischen Diskussionen. Man
versteht den Standpunkt der PolitikerInnen nicht, deshalb gehen
weniger Leute wählen. JULIA ENGELS, Elsdorf
Nicht vergessen
■
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betr.: „Nahles will Gewerkschaften einhegen“, taz vom 29. 10. 14
betr.: „Mehr Ökostrom, mehr Klimagase“, taz vom 29. 10. 14
Wenn sich die EU für verminderte CO2-Emissionen feiert, sollte man
nicht vergessen, dass ein großer Teil unserer Umweltverschmutzung
in andere Regionen ausgelagert ist, in denen für uns Nahrung, Elektronik und Kleidung hergestellt werden. KAI BROKOPF, Berlin
Gruppenbild mit Dame
■
betr.: „Die emanzipierte Redaktion“, taz vom 29. 10. 14
Wie gern würden ich und sicher auch viele andere Zuschauer bei all
den TV-Talkshows mehr Frauen sehen und von ihnen hören! Außer
beim Presseclub wird dort die Dominanz der Männer besonders
deutlich, was mich immer wieder empört. Zählen erübrigt sich, denn
allzu oft befindet sich nur eine einzige Frau in der Männerrunde.
Ich wundere mich, dass die Frauen sich das gefallen lassen. Warum
zeigen nicht Frauen eine Solidarität untereinander, indem sie eine
Einladung nur annehmen, wenn eine einigermaßen befriedigende
Genderausgewogenheit gewährleistet ist? Meinen Sie nicht, dass sich
dann sehr schnell etwas ändern würde, was dann auch auf andere
Gebiete ausstrahlen könnte? DAGMAR REEMTSMA, Hamburg
Atomkraftwerke sofort abschalten!
■
betr.: „Aktenzeichen Super-GAU“, taz vom 25. 10. 14
In Deutschland wurden zwischen 1957 und 2004 etwa 110 kerntechnische Anlagen in Betrieb genommen. Das AKW Grohnde, an dem
die Stadt Bielefeld nach dem Zukauf der Anteile von Bremen heute
über Stadtwerke mit 16,67 Prozent beteiligt ist, läuft schon seit dem
1. Februar 1985. Aber erst 2013 haben Bund und Länder sich verpflichtet gefühlt, einmal einen Atomunfall in einem deutschen AKW und
den Umgang mit einer solchen Katastrophe zu simulieren! Hat da jemand aus „Blackout – Morgen ist es zu spät“ von Marc Elsberg gelernt?
Was ist zu tun? Wir müssen so schnell wie möglich mehr Energie einsparen, die Nutzung von Erneuerbaren Energien zügig ausbauen
und schnellstens alle Atomkraftwerke abschalten, ehe es möglicherweise zu spät ist! MARTIN SCHMELZ, Bielefeld
10
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FREITAG, 31. OKTOBER 2014  TAZ.DIE TAGESZEITUNG
AUSLAND
NACHRICHTEN
KAMPF GEGEN EBOLA
MENSCHENRECHTE
SYRIEN
Die USA sehen erste Erfolge
Übertriebenes Urteil
wegen Protest
USA verurteilen
Französischer Soldat Säkularer Wahlsieg
Angriff auf Flüchtlinge bei Gefechten getötet bestätigt
STRASSBURG | Nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist eine
zehntägige Inhaftierung für einen politischen Protest übertrieben. Die Richter stimmten damit
am Donnerstag der Klage einer
Ukrainerin zu, die sich in ihrem
Recht auf freie Meinungsäußerung eingeschränkt fühlte. Die
Frau, Anhängerin von Exregierungschefin Julia Timoschenko,
hatte am Unabhängigkeitstag
der Ukraine am 24. August 2011
aus Protest gegen die politische
Führung ein Band von einem Gedenkkranz gerissen. (kna)
WASHINGTON | Nach Berichten
über einen Luftangriff auf das syrische Flüchtlingscamp Abedin
mit mindestens zehn Toten hat
sich die US-Regierung entsetzt
über das „Blutbad an unschuldigen Zivilisten“ geäußert. „Die Attacke auf das Lager Abedin war
nichts weniger als barbarisch“,
sagte US-Außenamtssprecherin
Jen Psaki. Sollte sich bestätigen,
dass die Armee von Machthaber
Baschar al-Assad gezielt Fassbomben auf das Camp abwerfen
ließ, wäre dies „nur der jüngste
brutale Akt dieses Regimes gegen sein eigenes Volk“. (afp)
MONROVIA | Die Ebola-Hilfe
zeigt nach Einschätzung der USA
in Liberia erste Erfolge. So fänden
Beerdigungen vermehrt unter
sicheren Bedingungen statt, und
Ebola-Tests würden deutlich
schneller ausgewertet, sagte die
US-Botschafterin bei der UN, Samantha Power, am Dienstagabend in Monrovia. Selbst in entlegenen Gebieten sei die Auswertungszeit von fünf Tagen auf
fünf Stunden reduziert worden.
So würden auch Betten für die
Behandlung schneller wieder
frei. Power: „Wir haben noch einen weiten Weg vor uns, aber wir
sind auf dem richtigen.“ (rtr)
Ebola-Tagebuch auf www.taz.de
Die US-Botschafterin bei der UNO:
Samantha Power Foto: dpa
MALI
PARIS | Im Norden Malis ist ein
französischer Soldat bei Gefechten mit einer bewaffneten Gruppe getötet worden. Mehrere weitere Soldaten seien verletzt worden, als eine Armeeeinheit in der
Nacht zu Mittwoch auf ein „Terroristenlager“ in den TighargharBergen gestoßen sei, erklärte der
französische Verteidigungsminister Jean-Yves Le Drian am
Mittwoch. Er hatte zuvor erklärt,
es habe „heftige Zusammenstöße“ mit einer „bewaffneten Terrorgruppe vom Typ Aqim“ gegeben. Aqim steht für al-Qaida im
Islamischen Maghreb. (afp)
TUNESIEN
TUNIS | Bei der Parlamentswahl
in Tunesien haben die säkularen
Kräfte über die Islamisten gesiegt. Laut dem am Donnerstag
von der Wahlkommission vorgelegten vorläufigen Ergebnis bekommt die weltliche Allianz Nidaa Tounes 85 der 217 Sitze im Parlament. Die islamistische Ennahda erhält demnach 69 Sitze, die
liberale Freie Patriotische Union
des Unternehmers Slim Riahi 16
Mandate. Ennahda hatte ihre
Niederlage bereits am Montagabend eingeräumt. Das Endergebnis soll am 24. November bekanntgegeben werden. (dpa)
Misstrauensbildende Maßnahme
ÜBER DEN WOLKEN Nato stellt über Europas internationalen Luftraum ungewöhnlich viele
Manöver der russischen Luftwaffe fest – zum Teil unter Missachtung vereinbarter Regeln
Der Tempelberg wird für
Muslime und Juden gesperrt
ISRAEL Ein Anschlag auf einen religiösen jüdischen
Aktivisten erhöht die Spannungen in Jerusalem
AUS JERUSALEM SUSANNE KNAUL
Der mutmaßliche Schütze, der
ein Attentat auf den jüdischen
rechtsreligiösen Aktivisten Jehuda Glick verübt haben soll, ist tot.
Sicherheitskräfte stellten am
Donnerstag früh den 32-jährigen
Moatas Hidschasi in seinem Elternhaus und erschossen den Palästinenser offenbar bei einer
Schießerei. Die Polizei vermutet,
dass Hidschasi am Mittwochabend Glick im Anschluss an eine
Diskussionsveranstaltung
lebensgefährlich verletzte.
Augenzeugen berichteten von
einem Motorradfahrer, der Glick
auf Hebräisch mit arabischen
Akzent ansprach, mehrere Kugeln auf ihn abfeuerte und floh.
Der Tod Hidschasis löste erneut
schwere Unruhen in Ostjerusalem aus. Die Sicherheitskräfte
sperrten alle Zugänge zum Tempelberg mit der Begründung,
weitere Gewalt zu verhindern.
Jehuda Glick ist Gründer und
Chef der LIBA ( Jüdische Freiheit
auf dem Tempelberg) und gilt als
treibende Kraft im Kampf um
Gebetsrechte für Juden auf dem
Tempelberg. Bei der Veranstaltung im Begin-Kulturerbe-Zentrum am Mittwoch gehörte er zu
den zentralen Rednern. Hidschasi, der im Restaurant des
Zentrums arbeitete, kannte Glick
offenbar persönlich. Auf der
Agenda der Diskussionsveranstaltung stand die Veränderung
des bisherigen Status quo.
Laut eines Berichts der liberalen Haaretz war unter den Teilnehmern auch eine Gruppe vertreten, die den Abriss der Al-Aksa-Moschee propagiert, um an
ihrer Stelle einen dritten jüdi-
schen Tempel zu errichten. Von
dem zweiten Tempel, der im ersten Jahrhundert christlicher
Zeitrechnung zerstört wurde,
steht nur noch die westliche
Mauer, die heute als wichtigstes
jüdisches Heiligtum gilt.
Der Tempelberg wird von beiden Religionen beansprucht. Immer wieder kommt es hier zu
Auseinandersetzungen. Im September 2000 löste der Besuch
des damaligen israelischen Oppositionsführers Ariel Scharon
auf dem Tempelberg die zweite
Intifada aus. Die Zugänge zum
Gelände des Tempelberges stehen unter strikter Sicherheitskontrolle der israelischen Armee. Zuständig ist die Waqf, eine
Stiftung des islamischen Rechts,
wobei das letzte Wort beim jordanische Königshaus liegt.
Zentraler Grund der sich seit
Wochen zuspitzenden Anspannung in Jerusalem ist der Versuch von radikal-jüdischen
Gruppen, das Alleinrecht von
Muslimen, auf dem Tempelberg
zu beten, zu durchbrechen.
Mustafa Abu Sway, Islamwissenschaftler an der Al-Kuds-Universität, hält Israel dafür verantwortlich, sicherzustellen, „dass
nur Muslime in der Al-Aksa-Moschee beten dürfen“. Die Besatzungsmacht habe dafür zu sorgen, dass der Status quo erhalten
bleibe, meinte Abu Sway auf telefonische Anfrage. Die Schließung des Gebetshauses empfindet der Islamwissenschaftler als
„Staatsterrorismus“ und „Religionskrieg“. Auch der palästinensische Präsident Mahmud Abbas
nannte die Sperrung des Tempelbergs eine „Kriegserklärung“.
Meinung + Diskussion SEITE 12
Undatiertes Foto der norwegischen Luftwaffe auf das Heck eines russischen Bombers vom Typ Tu-95 Foto: reuters
VON ANDREAS ZUMACH
GENF taz | Die russischen Luftstreitkräfte haben nach Angaben
der Nato seit Dienstagnachmittag „ungewöhnlich umfangreiche“ Manöver im internationalen europäischen Luftraum über
der Nord- und Ostsee, dem Atlantik und dem Schwarzen Meer
durchgeführt.
Ursprüngliche
Meldungen, russische Kampfflugzeuge hätten dabei auch den
Nato-Luftraum über Großbritannien verletzt, wurden von der
Nato später dementiert.
Seit Beginn dieses Jahres registrierte die Nato bereits 100
Flüge russischer Militärflugzeuge im internationalen europäischen Luftraum, dreimal so viel
wie 2013 vor der Eskalation des
Ukraine-Konflikts. Das westliche
Militärbündnis hat seinerseits in
Reaktion auf die völkerrechtswidrige Annexion der Krim
durch Russland im März und auf
den von Moskau geführten hybriden Krieg in der Ostukraine die
Zahl seiner militärischen Flüge
im Luftraum entlang der östlichen Außengrenzen in den letzten Monaten verfünffacht sowie
verstärkte
Seemanöver
im
Schwarzen Meer durchgeführt.
Am Mittwochnachmittag waren
den Nato-Angaben zufolge acht
russische Flugzeuge über der
Nordsee, mehrere über der Ostsee sowie vier über dem schwarzen Meer identifiziert worden.
Am Vortag identifizierte die Nato
demnach sieben Flugzeuge der
russischen Luftstreitkräfte über
der Ostsee. Die russischen Flugzeuge flogen laut Nato bis west-
„Potenzielles Risiko für
die zivile Luftfahrt“
NATO-SPRECHER ZUM ABSCHALTEN DER
TRANSPONDER DER RUSSISCHEN JETS
lich von Portugal und Großbritannien. Eine Meldung der Deutschen Presseagentur (dpa) vom
frühen Morgen, die russischen
Flugzeuge seien „bis in den Luftraum Großbritanniens vorgestoßen“ wurde nach einem Dementi der Nato von der Agentur später korrigiert.
In der letzten Woche hatte sich
ein russisches Aufklärungsflugzeug kurzzeitig im Luftraum
über Estland befunden. Die Nato
kritisierte, die russischen Flugzeuge hätten bei ihren Flügen
teilweise weder Flugpläne übermittelt noch Funkkontakt mit
der zivilen Flugsicherung gehalten. Zum Teil seien zudem die
Transponder abgeschaltet gewesen. Diese übermitteln als automatische Signalgeber den Fluglotsen wichtige Angaben zu einem Flugzeug wie etwa die Kennung oder den Typ. Dieses Verhalten stelle „ein potenzielles Risiko für die zivile Luftfahrt dar“,
beklagte die Nato.
Zudem waren diese und andere Maßnahmen zur frühzeitigen
Erkennung ausländischer Flugzeuge Teil des „Open Sky“-Abkommens über vertrauensbildende Maßnahmen im Luftraum. Das hatte die Nato 1990
mit dem damals noch existierenden östlichen Militärbündnis
des Waschauer Paktes unter Führung der Sowjetunion vereinbart. Ein Nato-Sprecher erklärte,
es geben „keinen besonderen
Anlass zur Sorge darüber, dass
russische Militärflugzeuge ihr
Recht zum Flug durch internationalen Luftraum wahrnehmen“.
Doch da es die seit Dienstagnachmittag von der Nato registrierten insgesamt 26 russischen
Kampflugzeuge Maßnahmen zu
ihrer Früherkennung teilweise
unterließen, seien „vorsorglich“
unter anderem norwegische, britische, portugiesische sowie
deutsche und türkische Kampfjets aufgestiegen, um die russischen Flugzeuge aufzuspüren
und bis zum Verlassen des Nahbereichs zum Nato-Luftraum zu
begleiten.
Dabei wurden aber keineswegs russische Flugzeuge abgefangen, wie die deutschsprachigen Dienste von Reuters und
Agence France Press fälschlicherweise berichtet hatten.
Boko Haram wieder auf dem Vormarsch
NIGERIA Die Islamisten besetzen die strategisch wichtige Stadt Mubi im Nordosten des Landes. Von dem
Waffenstillstand, den die Regierung vor zwei Wochen verkündete, ist anscheinend nichts mehr übrig
Bild der Felsendom-Moschee auf dem Tempelberg Foto: reuters
BERLIN taz | Die islamistische
Terrorgruppe Boko Haram hat
erneut eine Stadt im Norden Nigerias erobert. Seit Mittwochnachmittag steht Mubi, zweitgrößte Stadt im Bundesstaat
Adamawa an der Grenze zu Kamerun, unter Beschuss. Die
Kämpfer sollen in mindestens 14
Lastwagen gekommen sein. Sie
griffen unter anderem die Polizeistation und das Gefängnis an.
In nigerianischen Zeitungen
heißt es, dass dort inhaftierte Boko-Haram-Kämpfer
fliehen
konnten. Wie viele Menschen
seit dem Einmarsch der Kämpfer
ums Leben gekommen sind,
steht noch nicht fest. Es könnten
mehrere hundert sein. Tausende
sind außerdem auf der Flucht.
Auch in der Nachbarstadt Uba ist
es zu einem Überfall gekommen.
Die in Mubi stationierten Soldaten sollen Richtung Kamerun auf
der Flucht sein.
Dabei herrscht seit fast zwei
Wochen eigentlich ein Waffenstillstand zwischen Boko Haram
und Nigerias Regierung. Das hatten zumindest Regierungsvertreter am 17. Oktober verkündet.
Doch zu spüren ist davon offenbar nichts im Norden Nigerias.
Denn neben den Überfällen war
es in den vergangenen Wochen
erneut zu einer Welle an Entführungen gekommen. Alleine am
Wochenende hatten die Terroristen in einem Dorf rund 30 Mädchen und Jungen in ihre Gewalt
gebracht. Auch in der Woche zuvor hatte es mehrere solche Vorfälle gegeben.
Deshalb werden immer stärkere Zweifel am Wirklichkeitsgehalt des Waffenstillstandsabkommens laut. Zu den Zweiflern
gehört auch Augustine Alegeh,
Präsident der nigerianischen Anwaltskammer. „Aufgrund der
vielen Angriffe frage ich mich
mittlerweile, ob es tatsächlich
ein solches Abkommen gibt“,
sagte er am Donnerstag in einem
Interview.
Falsche Informationen hat es
auch in der Vergangenheit mehrfach gegeben. So hieß es beispielsweise häufig von der Regierung, dass die Schulmädchen,
die Boko Haram im April in Chibok entführt hatten, bald freigelassen werden würden. Am heutigen Freitag 31. Oktober befinden sie sich nun seit 200 Tagen in
den Händen ihrer Entführer.
KATRIN GÄNSLER
AUSLAND
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FREITAG, 31. OKTOBER 2014  TAZ.DIE TAGESZEITUNG
Kein Dach mehr über dem Kopf
ÄGYPTEN Die Armee richtet nach einem Anschlag eine Pufferzone zum Gazastreifen ein.
Über 10.000 Menschen sollen umgesiedelt werden. Ihre Zukunft ist ungewiss
Canberra will Internet-Daten
länger speichern lassen
AUSTRALIEN Internetprovider sollen Nutzungsdaten
zwei Jahre lang aufbewahren müssen
AUS KAIRO KARIM EL-GAWHARY
AUS CANBERRA URS WÄLTERLIN
„Es sind laute Explosionen zu hören, es herrscht komplettes Chaos, manche haben ihr Hab und
Gut in Autos gepackt, andere
campieren auf der Straße und
kaum einer weiß wohin.“ So beschreibt eine Einwohnerin des
ägyptischen Teils des Ortes
Rafah an der Grenze zum Gazastreifen die Lage.
Die ägyptische Armee schafft
dort eine Pufferzone. Sie soll sich
zunächst 300 Meter und später
500 Meter vom Grenzzaun zum
Gazastreifen erstrecken. Insgesamt sollen 800 Familien, also
über 10.000 Menschen, umgesiedelt werden. Sie bekamen eine
Frist von 48 Stunden, um ihre
Häuser zu verlassen, bevor diese
in die Luft gesprengt werden.
Am Donnerstag wurde mit
der Sprengung der Häuser begonnen. Die Armee rechtfertigt
den Schritt damit, dass sie den
Schmuggel von Waffen und
Sprengstoff vom Gazastreifen in
den Nordsinai unterbinden will,
indem die dortigen Tunnel zerstört und in der Pufferzone ein
Wassergraben angelegt werden
soll, der das Bauen weiterer Tunnel schwerer macht.
„Es wird Blut fließen und jemand wird den Preis dafür zahlen“, hatte Präsident Abdel Fattah
al-Sisi nach einem Anschlag in
der Nähe von Rafah am Wochenende erklärt. Dabei kamen 33 Soldaten ums Leben, als eine Autobombe an einer Straßensperre
hochging. Den Preis zahlen jetzt
die Einwohner des ägyptischen
Teils von Rafah, die direkt am
Grenzstreifen leben.
„Es ist ein Kampf um die Herzen und Köpfe der Bevölkerung“,
schreibt der ägyptische Journalist Amr Khalifa. Die lokale Bevölkerung im Nordsinai sei derzeit
Terroristen, Kinderschändern
und Internet-Piraten soll das Leben schwerer gemacht werden.
Australiens konservative Regierung hat ein Gesetz vorgelegt,
mit dem die Anbieter von Internet-Diensten, sogenannte Internet Service Provider (ISPs), verpflichtet werden sollen, bestimmte Daten ihrer Kunden
zwei Jahre lang aufzubewahren.
„Der Zugang zu Metadaten spielt
eine zentrale Rolle in fast jeder
Ermittlung bei Terrorismus, Spionage, Sexualverbrechen, Drogenhandel oder Geiselnahmen“,
sagte Kommunikationsminister
Malcolm Turnbull am Donnerstag.
Unter Metadaten versteht
man generell Zeit, Datum, Herkunftsort eines Anrufs oder einer Email sowie weitere Nutzerinformationen. Die Gesetzesvorlage, deren Verabschiedung dank
der Unterstützung der oppositionellen Labor Party praktisch garantiert ist, formuliert jedoch
nicht explizit, was die Regierung
unter dem Begriff versteht.
Laut Turnbull würden die ISPs
nicht verpflichtet werden, die Inhalte von Emails und Anrufen,
die Browserverläufe und die Namen von besuchten Web-Adressen zu speichern. Die Behörden
seien in erster Linie an der sogenannten IP-Adresse interessiert,
über die der Besitzer eines Com-
Palästinenser im Gazastreifen fliehen vor dem Rauch der Explosionen in Ägypten Foto: reuters
eingezwängt zwischen der Armee und den Terroristen, ohne
irgendeinen Raum, sich zu bewegen oder zurückzuziehen, schildert er die Lage zwischen der
Stadt Arisch im Norden der Sinaihalbinsel und Rafah an der
Grenze zum Gazastreifen. Ob der
neuste Schritt der ägyptischen
Armee geeignet ist, die Herzen
der lokalen Beduinenbevölkerung zu gewinnen, ist mehr als
fraglich.
Es ist schwer, unabhängige Informationen von vor Ort zu bekommen. Der gesamte Nordsinai ist abgeriegelt. Journalisten
werden bereits an der Brücke
über den Suezkanal zurückgewiesen. Das ägyptische Fernsehen zeigt Einwohner in Rafah, die
der neusten Maßnahme freudig
zustimmen. Aber in den sozialen
Medien und bei den wenigen Malen, in denen man telefonisch in
„Glauben Sie wirklich,
dass die Menschen
hier anfangen, die
Armee zu lieben?“
HAMMAM EL-AGHA, NORDSINAI
den Nordsinai durchkommt, ergibt sich ein anderes Bild.
Hammam El-Agha, einer der
betroffenen
Bewohner
im
Grenzstreifen, erzählt der ägyptischen Internet Plattform Mada
Masr, er habe sich zunächst geweigert, sein Haus zu verlassen,
nachdem ein Armeeoffizier an
seine Tür geklopft und gesagt habe, wenn er sich weigere, werde
man das Haus notfalls auch mit
ihm im Innern zerstören. „Glauben Sie wirklich, dass die Menschen hier anfangen, die Armee
zu lieben und der Terrorismus
damit vorbei geht? Das Gegenteil
ist der Fall“, erklärt Agha wütend.
Unklar ist, wie die Einwohner für
ihre zerstörten Häuser kompensiert werden. Umgerechnet 90
Euro erhalten sie zunächst, um
mit ihren Familien eine andere
Unterkunft zur Miete zu finden.
Dann will man ein Entschädigungsverfahren für ihre Häuser
ausarbeiten. Präsident al-Sisi erklärte, er habe Anweisung gegeben, dass die Menschen möglichst schnell kompensiert werden sollen. Tatsache bleibt, dass
nun Hals über Kopf Tausende
Menschen umgesiedelt werden,
ohne dass klar ist, was mit ihnen
geschehen soll. PräsidentenSprecher Alaa Seif, lässt die Einwohner von Rafah jedenfalls von
seinem Boss grüßen: Al-Sisi, so
sagte er, „wird nicht vergessen,
welches Opfer die Menschen im
Sinai geleistet haben“.
Wähler wurden massiv unter Druck gesetzt
UKRAINE Beobachter sprechen von zahlreichen Unregelmäßigkeiten bei den Parlamentswahlen
am vergangenen Sonntag. Betroffen seien vor allem Wahlbezirke im Donbass in der Nähe der Front
Stimmabgabe bei den Parlamentswahlen am vergangenen Sonntag in
Konstantinowka im Gebiet Donezk Foto: ap
AUS KIEW BERNHARD CLASEN
Knapp eine Woche nach den Parlamentswahlen in der Ukraine
reißen Berichte ukrainischer
Medien und Wahlbeobachter
über Unregelmäßigkeiten nicht
ab. Besonders schwerwiegend, so
Sergej Tkatchenko, Vorsitzender
des Donetzker Verbandes des Komitees der Wähler, seien diese in
Wahlkreisen direkt an der Front
gewesen.
Just in dem Augenblick, als das
Wahlprotokoll im Wahlkreis 59
Kurachovo im Gebiet Donezk gestempelt und unterschriftsreif
war, fiel der Strom aus. Gleichzeitig zwang eine Bombendrohung
alle Anwesenden zum Verlassen
des Saales. In diesem Wahlkreis
konkurrierten der populäre Bürgermeister von Kurachovo,
Sergej Saschko, und Valentin
Manko, Vize-Kommandeur der
Freiwilligeneinheit Dnepr-1, um
ein Direktmandat und den Einzug in das Parlament.
Bis zum Stromausfall hatte
der Bürgermeister mit 3.000
Stimmen vor seinem Konkurrenten gelegen. Danach hatte
sich der den Abstand zum Bürgermeister auf 1.100 Stimmen
reduziert. „Gerade in den Wahllokalen, in denen Angehörige des
Freiwilligenbataillons Dnepr-1
Druck auf die Wahlkommission
ausgeübt haben, hat Manko die
meisten Stimmen erhalten. Und
ausgerechnet in diesen Wahllokalen war die Wahlbeteiligung
mit 85–90 Prozent sehr hoch,
während sie in allen anderen Orten der Gebiete Donezk und
Lugansk nur bei 30–35 Prozent
lag“, sagt der Soziologe Wjatscheslaw Kovtun.
Auch die ukrainische Tageszeitung Segodnja berichtet, bewaffnete Angehörige einer Freiwilligeneinheit hätten Druck auf
die Wahlkommission von Wahlkreis 59 ausgeübt. Noch ist der
Konflikt dort nicht ausgestanden. Die Wahlkommission hat
entschieden, die Stimmen neu
auszuzählen. Wahlbeobachter
halten das Vorgehen, nur die
Stimmen eines Kandidaten erneut zu zählen, für rechtswidrig.
Dabei, so fürchten Anhänger von
Saschko, könnten Stimmzettel
ungültig gemacht werden.
„In den Wahlkreisen direkt an
der Front sind die Verletzungen
so zahlreich, dass man dort nicht
mehr von fairen und transparenten Wahlen sprechen kann“, sagt
Sergej Tkachenko. In einigen
Stimmbüros sei die Wahlkommission 15 Minuten vor Schließung des Wahllokals ausgewechselt worden. In manchen Stimmbezirken, so Tkachenko, habe die
Wahlbeteiligung bei über 70 Prozent gelegen, während sie in den
meisten Wahllokalen in den Gebieten Donezk und Lugansk nur
bei gut 30 Prozent gelegen hat.
„Man hat sich den Umstand zu
Nutze gemacht, dass dort in unmittelbarer Nähe gekämpft wird
und deswegen weder internationalen noch nationalen Beobachtern ermöglicht, auch dort den
Wahlen beizuwohnen.“
„Die niedrige Wahlbeteiligung in Donezk und Lugansk ist
nicht unbedingt Desinteresse an
den Wahlen selbst“, so Olga Aivazovska von der Nichtregierungsorganisation Opora, die seit Jahren Wahlen in dem Land beobachtet. „Uns liegen Flugblätter
der Volksrepublik Lugansk vor, in
denen Mitgliedern von Wahlkommissionen die Erschießung
angedroht wurde. Wählern drohte man mit Geldstrafen.
Auch im Gebiet Dnepropetrowsk kam es zu Fälschungen.
So berichtete Gennadij Korban,
Vize-Chef der Bezirksverwaltung
von Dnepropetrowsk, im ukrainischen Fernsehsen von Unregelmäßigkeiten in den Städten
Dnepropetrowsk, Kriwoj Rog
und Pawlograd. Dort seien Stimmen gekauft, Wahlprotokolle gefälscht sowie Druck auf Wähler
ausgeübt worden. Unterdessen
hat Innenminister Arsen Awakow Verfahren gegen alle angekündigt, denen eine Mitwirkung
bei Wahlfälschungen nachgewiesen werden könne. Ihnen drohe
bei einer Verurteilung eine Haftstrafe, zitiert das ukrainische Internetportal lb.ua den Minister.
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puters identifiziert werden
kann.
Polizei und Geheimdienste
streben seit Längerem eine gesetzlichen Verankerung der Speicherung von Daten durch ISPs
an. Der Zugang dazu sei entscheidend bei der Fahndung nach Kriminellen, sagt der Chef der australischen Bundespolizei, Andrew Colvin. Die Daten könnten
von der Polizei auch verwendet
werden, um wegen illegalem Herunterladen von Musik oder Filmen zu ermitteln. Bisher waren
Internet-Dienstleister nicht verpflichtet, die Daten zu speichern.
Aus Kostengründen verzichten
viele Firmen darauf, umfangreiche Speicherkapazitäten einzurichten. In einem Fall habe das
Fehlen der Besitzerdaten von IPAdressen dazu geführt, dass 165
Verdächtige in einem Kinderpornoring nicht identifiziert
werden konnten. Laut Turnbull
sollen Internetfirmen mit Steuergeldern kompensiert werden,
um die Kosten decken zu können. Wie hoch diese sein werden,
konnte er nicht sagen.
Mehrere australische Internet-Anbieter lehnen solche Gesetzesvorschläge ab. Sie wollen
nicht als verlängerter Arm der
Strafverfolgungsbehörden gesehen werden. Auch argumentieren sie, dass Kriminelle durch die
Verwendung so genannter Proxy-Server ihre Identität verheimlichen können.
12
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FREITAG, 31. OKTOBER 2014  TAZ.DIE TAGESZEITUNG
MEINUNG + DISKUSSION
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SUSANNE KNAUL ÜBER DEN MORDANSCHLAG IN JERUSALEM
Tempelberg und Terror
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er Mordanschlag auf den jüdischen Tempelberg-Aktivisten Jehuda Glick zeugt von einer neuen
Qualität des palästinensischen Widerstands gegen die israelische Besatzung.
Bislang folgten fast alle Terroranschläge in zwei Punkten einem wiederkehrenden Muster: zum einen die
Willkür bei der Wahl der Opfer, zum
anderen die Bereitschaft, selbst mit in
den Tod zu gehen. Die Schüsse am
Mittwochabend aber galten niemand
anderem als Jehuda Glick. Sein Tod
sollte die radikal jüdischen Kräfte
stoppen oder jedenfalls einschüchtern, denen der Sturm des Tempelbergs vorschwebt. Und: Der Anschlag
war geplant, der Schütze hoffte, unerkannt zu entkommen.
Die Methode des Überfalls, bei dem
der Täter auf einem Motorrad kam
und dann die Pistole zückte, um aus
unmittelbarer Nähe mehrere Schüsse
abzugeben, erinnert eher an Bandenkriege als an den palästinensischen
D
Widerstand. Schon kommt Hoffnung
auf, die radikalen Siedler und die palästinensischen Kämpfer könnten,
ähnlich wie Kriminelle und Polizei,
die Sache unter sich ausmachen und
den Rest der Leute außen vor lassen.
Man wünscht sich, dass nur keine Babys mehr überfahren werden, wie vor
wenigen Tagen aus vermutlich denselben terroristischen Gründen. Doch
in beiden Fällen ging es bei der Gewalt
um politische Ziele, in beiden fühlten
sich die Täter als vom eigenen Volk beauftragt. Terror ist Terror.
Die einzige Hoffnung, dem Terror
ein Ende zu machen, ist, den Nährboden für die politische Gewalt auszudörren. Für Besatzungsmacht und besetztes Volk gelten zweierlei Recht,
was besonders schmerzlich für die PalästinenserinJerusalemspürbarwird.
In der de facto geteilten Stadt der beiden Völker, die Israel gänzlich für sich
beansprucht, sind Muslime und
Christen Bürger zweiter Klasse.
Ausland SEITE 10
Die große Verharmlosung
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DOMINIC JOHNSON ÜBER DEN VOLKSAUFSTAND IN BURKINA FASO
HOOLIGANS Medien, Politik, Fußballfans – alle sind von dem Aufmarsch
Der Frühling lebt
überrascht. Doch keiner
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ls2011 der „Arabische Frühling“
in Tunesien und Ägypten verkrustete Regime hinwegfegte,
wurde in ganz Afrika das Geschehen
mit Spannung verfolgt. Wenn am
Nordrand des Kontinents einige der
stärksten Diktaturen durch Volksaufstände gestürzt werden können, sind
dann nicht auch die viel instabileren
Unrechtsstaaten südlich der Sahara
reif für die Revolution? Es gab am Ende
keinen Domino-Effekt, wohl aber das
Aufblühen eines neuen politischen
Bewusstseins in der afrikanischen
Jugend.
In Burkina Faso ist dieser Tage aus
Unzufriedenheit und sporadischem
Protest eine Volksbewegung geworden, die auch ein scheinbar festgefügtesRegimeausdemSattelhebenkann.
Nicht Armut, Korruption oder Vetternwirtschaft brachte in OuagadougouundanderenStädtendieMenschen zu Hunderttausenden gegen
den Präsidenten auf die Straße, sondern das Ansinnen, die Verfassung zu
A
verändern, damit der Staatschef bei
den nächsten Wahlen erneut antreten
kann. Zwei Drittel der Menschen in
Burkina Faso kennen keinen anderen
Präsidenten als Blaise Compaoré, der
seit 1987 regiert. Das Land hat von seiner Regierungszeit eher profitiert,
aber es zeigt sich: Das aufstrebende
junge Afrika will keine Dauerherrscher, die zu Lebzeiten nicht mehr von
der Macht lassen wollen – und die aufgeklärte städtische Elite ist empfindlich, wenn es darum geht, Verfassungstexte zu verbiegen.
Es gibt viele Langzeitherrscher, denen jedes Mittel recht ist, um ihre
Macht zu behalten. Immer wieder lassen internationale Partner sie im Namen der „Stabilität“ gewähren. Aber
diese Stabilität ist langfristig keine,
wenn die Herrschenden die Gesetze
nach Gutdünken brechen. Die zornigen Jugendlichen in Ouagadougou
haben das begriffen. Der Rest der Welt
sollte ihnen dankbar sein.
Der Tag SEITE 2
er Aufmarsch der „Hooligans
gegen Salafisten“ (HoGeSa) am
vergangenen Sonntag in Köln
war mit 4.800 Teilnehmern eine der größten Demonstrationen der
extremen Rechten innerhalb der vergangenen zehn Jahre. An den Reaktionen von Medien und Politik, aber auch
an der völlig unzureichenden Vorbereitung der Polizei zeigte sich eine erschreckende Ahnungslosigkeit über
den Charakter dieser Veranstaltung.
Doch was hätte man anderes erwarten können, wenn sich eine per se gewaltbereite Hooliganszene mit rechten Ideologen verbindet, als eine aggressive Artikulation von Nationalismus und Rassismus? Überraschend,
selbst für viele Szenekenner, war lediglich die Masse der Teilnehmer an der
ausschließlich über soziale Netzwerke
beworbenen Veranstaltung.
D
gibt sich so naiv wie der Innenminister
HooNaRa nicht mehr, andererseits
sind wir in einer halben Stunde da.“
Das gilt bis heute.
Nahezu an allen Standorten der
deutschen Fußballlandschaft existieren Gruppen von Hooligans, teilweise
integriert in die aktive Fanszene, oft
auch nur noch als Beobachter von Sitzplatztribünen oder außerhalb der Stadien. Während Ultras die Hoheit über
die Fanszenen übernommen haben,
nicht selten mit einem antifaschistischen Konsens, konnten die Hooligans
ihr Gewaltmonopol verteidigen. Wenn
ihnen die junge Fangeneration politisch zu sehr über die Stränge schlägt,
melden sie sich zurück. Beispiele hierfür fanden sich in Aachen, Braunschweig, Duisburg oder Düsseldorf,
wo linke Ultras massiv attackiert wurden und teilweise zum Rückzug aus
den Stadien gezwungen wurden.
Eine generelle Gleichsetzung von
Hooligans und Rechtsextremismus
führt jedoch in die Irre; zu wenig verstanden sich die Fußballrowdys in ihrer Mehrheit je als politische Akteure.
Doch Attribute wie übersteigerter Regional-/Nationalstolz, Gewaltaffinität
und aggressive Männlichkeit machen
sie seit jeher anschlussfähig und interessant für die extreme Rechte. Auf die
Frage, wo er Gesinnungsgenossen rekrutiere, antwortete 1983 der mittlerweile verstorbene Anführer der Aktionsfront Nationaler Sozialisten/Nationaler Aktivisten (ANS/NA) und später
der Freiheitlichen Arbeiterpartei
(FAP), Michael Kühnen: „Unter Skinheads und Fußballfans, die uns sehr
helfen, aber politisch noch nicht ganz
zu uns gehören.“
Als sein immer noch aktiver Nachfolger kann Siegfried Borchardt gelten,
bekannt als „SS-Siggi“, ehemaliger Anführer der Dortmunder Hooligans
„Borussenfront“ und heute Aktivist
der Bewegungspartei Die Rechte. Bereits seit 2012 treibt er den Zusammenschluss der Hooligans voran.
Jetzt sind die Ultras gefordert
Doch ob sich der „Erfolg“ von Köln auf
Dauer erhalten lässt, ist fraglich. Die
fehlende ideologische Standfestigkeit
übers Stammtischdenken hinaus wird
einer dauerhaften politischen Bewegung im Wege stehen. Schon nach der
Machtdemonstration vom Sonntag
kam es zu internen Streitereien. So
hetzte etwa der Hamburger Rechtsextremist Thorsten de Vries gegen die
„besoffenen Spastis“ auf der Veranstaltung. Hooligans aus dem Umfeld des
HSV kündigten ihre Zusammenarbeit
„Wir sind in 30 Minuten da“
mit den HoGeSa bereits auf. In einer
Erklärung verwiesen sie auf die InstruEin erschreckendes Beispiel für die Namentalisierung durch „NPD- und bürivität vieler Beobachter bot ausgerechgerliche rechte Dauerversager“.
net Bundesinnenminister Thomas de
Aber darauf vertrauen, dass sich der
Maizière (CDU), als er den Teilnehrechte
Mob schon selbst zerlegt, sollte
mern
in
einem
ARD-Interview
unterDas junge Afrika will keine Dauerherrscher, die
die Linke und insbesondere die antifastellte, dass für sie „Politik nur ein Vezu Lebzeiten nicht von der Macht lassen können
schistische Fußballfanszene nicht.
hikel ist, um eine Massenschlägerei
Schon aus Eigeninteresse daran, nicht
anzuzetteln“. Damit verkennt er den
bald mit dem neuen Selbstbewusstexplizit politischen Charakter, der sich
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sein der Kameraden konfrontiert zu
auf den Straßen rund um den Kölner
werden, muss die politisch bewusste
Hauptbahnhof zeigte, und wiederholt
ANNE FROMM ÜBER DIE ENTLASSUNGEN BEI „BRIGITTE“
Ultraszene auf das massive Auftaudamit den Kardinalfehler der Politik
chen der Hooligans reagieren.
im Umgang mit Rechtsextremismus:
Keine einzige Fangruppe hatte zu
seine Verharmlosung. Schon bei oberGegenprotesten in Köln aufgerufen.
flächlicher Betrachtung hätte auffal........................................................................................................................................................................................................
Das Bündnis Aktiver Fußballfans
len müssen, dass sich das braune Spek(BAFF) sprach in einer Stellungnahme
trum dort in ganzer Breite zeigte.
in „House of content“ möchte Gru- mal. Reportagen zu Frauenthemen,
zu der HoGeSa-Manifestation zu Recht
Neben der Rechtsrockband „Katener+Jahrsein.WiewichtigderVer- Porträts und Interviews mit starken
von einem „Armutszeugnis“ und dagorie C – Hungrige Wölfe“ waren Verlagsspitze die Leute sind, die die- Frauen waren die Kernkompetenz des
von, dass die Radikalität der Ultratreter von Pro NRW über NPD, Die
sen „Content“ produzieren, beweist Heftes. Die ist in den letzten Jahren
gruppen offenbar nicht ausreiche,
Rechte, Autonome Nationalisten bis Hools sind nicht immer
die neueste Nachricht aus dem Haus: immer mehr verloren gegangen. Zwi„sich gegen die eigenen alten Herren
hin zu Rockerclubs in Köln zugegen.
Gruner + Jahr entlässt alle Textredak- schenModestrecken,Styling-undKulzu wenden“.
Hitlergrüße, „Ausländer raus“-Parolen rechtsextrem, aber ihre
teurInnen der Brigitte. Elf der insge- turtipps, Rezept- und Einrichtungsund Jagd auf Linke und Migranten wa- aggressive Männlichkeit
Dabei können die Hooligans auf der
samt 71 Angestellten müssen gehen.
ideen findet man kaum noch anren die Folge. Salafisten als Gegner
Straße das intensive Bemühen der UlDas interne Papier zu den Kündi- spruchsvolle Texte. Das mag daran lietras um eine Deutungshoheit in den
fanden sich in Köln keine, aber um die und Gewaltaffinität
gungenliestsich wiederblanke Hohn: gen,dass„Frauenthemen“längstauch
geht es den deutschen Jungs auf ihrer machen sie seit jeher
Kurven konterkarieren. Wer jahrelanvon „einem „agilen, kreativen und fle- in anderen Magazinen stattfinden.
Suche nach einem einenden Identige Arbeit geleistet hat, um seinen Verxiblen Kompetenzteam“, das die Zeit- Dasliegtaberauchdaran,dassBrigitte
anschlussfähig und
ein und die eigene Fanszene vom
tätsmoment sowieso nicht.
schriftinZukunft„denkenundprodu- schon bisher dünn besetzt war. Schon
Zwar sind Hooligans in den Stadien interessant für die
Image eines Rechten-Klubs zu befreizieren“ soll, ist da die Rede. Die Texte jetzt kommen zwei Drittel der Texte
der Republik seit den 1990er Jahren extreme Rechte
en, sollte nicht einfach zusehen, wenn
werden von freien AutorInnen kom- von freien AutorInnen.
die eigenen Farben auf einer neonazisauf dem Rückzug und haben in Sachen
men, das bringe „Vielfalt und PotenziUnd trotzdem braucht es eine feste
Nachwuchswerbung der bunten und
tischen Demonstration zur Schau geal von außen rein“.
Redaktion, die Themen entwickelt,
kreativen Jugendkultur der Ultras
stellt werden.
Die Kündigungen seien „betriebs- Ideen spinnt, Schwerpunkte setzt und
Es bleibt abzuwarten, ob die Ultras
kaum noch etwas entgegenzusetzen,
bedingt“, heißt es in dem Papier. Dabei an Texten feilt. Das wird das „Kompe...........................................................................................
doch verschwunden sind die Hools daaus ihrer Passivität erwachen, wenn
geht es der Brigitte gar nicht so tenzteam“, und mag es noch so „agil“
Erik Peter
die HoGeSa wie geplant Mitte Novemmit noch lange nicht. Exemplarisch ......................................................................
schlecht.Nach dem Stern ist sie immer sein, nicht leisten können. Die Kündidafür steht die Aussage von Thomas ■ ist Sozialwissenschaftler und schrieb
ber in Berlin auf die Straße gehen. Ihnoch die zweitwichtigste Publikation gung der TextredakteurInnen wird
nen eine weitere Demonstration der
Haller, Gründungsfigur der rechtsex- seine Abschlussarbeit über die Ultrabedes Verlags. Mit den Glanzzeiten der aus dem ehemals wichtigsten FrauenStärke zu erlauben oder sich ganz auf
tremen Chemnitzer Gruppe „Hooli- wegung im deutschen Fußball. Als Vo1970er Jahre können diese Zahlen magazin ein Werbeblättchen machen.
die sicherlich anders als in Köln agiegans, Nazis, Rassisten“ (HooNaRa), der lontär der taz beschäftigt er sich insbenicht mithalten: Damals verkaufte Ein „House of Content“ stellen sich
rende Polizei zu verlassen, wäre ein fasich die Brigitte rund 1,5 Millionen viele LeserInnen aber anders vor.
2008, ein Jahr nach ihrer offiziellen sondere mit Bewegungsthemen und
ERIK PETER
taler Fehler.
Auflösung, sagte: „Eigentlich gibt es dem Spektrum der extremen Rechten.
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House of Cards
E
2

GESELLSCHAFT
KULTUR
MEDIEN
CANNABIS
MUSIK
Stoned
Home
Am Dienstag wird in mehreren USBundesstaaten über die Freigabe
von Cannabis abgestimmt – und
zwar nicht nur zu medizinischen
Zwecken, sondern einfach nur, um
high zu sein. „Recreational Marihuana“ nennt sich das, also Kiffen zur
Erholung. In Oregon stehen die
Chancen nicht schlecht SEITE 14
Die Musikerin Holly Herndon hat einen Song über den Verlust der Privatsphäre gemacht. „Home“ heißt
die künstlerische Antwort auf die
NSA-Ausspähung und die Gleichgültigkeit gegenüber dem Skandal. Damit muss auch Herndon sich arrangieren, singt sie doch ausschließlich
in ihren Laptop SEITE 15
Foto: Promo
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31. OKTOBER 2014
13
Es ist auch ein Buch
über deutsche Verhältnisse, insbesondere die
im Journalismus
Italien“ der Bundeszentrale für
politische Bildung kommt zu
dem Ergebnis, dass selbst die
wissenschaftliche
Beschäftigung mit dem angeblichen
Sehnsuchtsland der Deutschen
sehr mau ausfällt.
Politthriller leben aber davon,
dass die realen Hintergründe der
teils fiktiven Handlung dem
Publikum in den Grundzügen
vertraut sind. Dass in Palermo
seit einiger Zeit ein Prozess läuft,
der klären soll, ob staatliche
Organe zu Beginn der 1990er
Jahre mit den Chefs der sizilianischen Cosa Nostra verhandelten
wie mit einer ganz normalen
(Staats-)Macht; dass die von der
Mafia ermordeten Richter Borsellino und Falcone vom italienischen Staat möglicherweise geopfert wurden, weil sie durch ihre Ermittlungen die Verhandlungen mit der Mafia gefährdeten;
dass die italienische Justiz die
Bänder eines als sogenannter
Beifang abgehörten Telefonats
von Staatspräsident Giorgio Napolitano mit dem Anfang der
1990er Jahre amtierenden Innenminister Nicola Mancino
vernichten musste und der Verdacht im Raum steht, es gehe dabei nicht um Napolitanos Recht
auf privacy, sondern um Vertuschung der sogenannten trattativa, des Pakts von Staat und Mafia: Aus diesem Material hat Petra Reski einen Kriminalroman
geformt; und man kann es beinahe verstehen, dass es manchem
Rezensenten zu mühsam ist, herauszufiltern, was Fantasie, was
Recherche in „Palermo Conncetion“ ist, und so zu einer Würdigung der Kunstfertigkeit der Autorin zu kommen.
Und doch: Reskis Buch ist
auch ein Buch über deutsche Verhältnisse, insbesondere die im
Journalismus. Ein Buch über Moral, übers würdevolle Älterwerden, über Männer und Frauen
und was sie so miteinander tun.
Zudem hat die Autorin mit der
palermitanischen Staatsanwältin Serena Vitale eine Protagonistin geschaffen, von der man
froh sein darf, dass sie das furiose Ende des Romans überlebt. Sie
umbringen zu lassen, erzählt Petra Reski bei einem Treffen in
Berlin, sei ihr ursprünglicher
Plan gewesen, von dem sie Donna Leon abgebracht habe mit
dem unschlagbaren Argument:
Erst machst du dir die Mühe, eine
Figur mit Tiefe zu schaffen, und
dann willst du sie gleich wieder
loswerden? Weitere Serena-Vitale-Romane werden also folgen.
Die Staatsanwältin, DeutschItalienerin, Single mit einer Vorliebe für Blond („keine Haarfarbe, sondern eine Lebenseinstellung“), schöne Dinge und schöne
Bullen („wenn er die Bizepse anspannte, sah es aus, als würde ein
kleines Tier unter seiner Haut
entlanglaufen“), ist Anklägerin
in einem Prozess in Palermo. Der
packenden Thriller geschrieben, vor dem realen Hintergrund der italienischen Politik
Es ist schon eine kleine Sensation, wenn der erste literarische
Thriller einer deutschen Autorin
sich vor großen Vorbildern wie
Graham Greene und Jörg Fauser
nicht verstecken muss. Eigentlich. Aber wirklich beachtet wurde Petra Reskis vor Kurzem erschienenes Romandebüt „Palermo Connection“ in den Medien
noch nicht. Und das ist einfach
schade, einerseits.
Andererseits ist diese relative
Flaute merkwürdig, weil die
Journalistin und Sachbuchautorin Petra Reski keine schlecht
vernetzte Debütantin ist, und
keine Geringere als Donna Leon
das Buch warm empfiehlt.
Liegt es am Ende am Thema?
Ja, klar. Petra Reski, die seit vielen
Jahren in Venedig lebt, gilt als Expertin für die italienische Mafia.
Das ist ein problematischer Job –
aus vielen, sich überlappenden
Gründen: Erstens gilt die Mafia
(Cosa Nostra, Camorra, ’Ndrangheta etc.) trotz des Massakers
von Duisburg 2007 und Günther
Oettingers Pizzabäckeraffäre immer noch als undeutsches Phänomen.
Zweitens hat allein die Beschäftigung mit „organisierter
‚ausländischer‘
Kriminalität“
nach dem NSU-Ermittlungsskandal hierzulande völlig zu
Recht einen sehr üblen Beigeschmack bekommen – prima
Job, Verfassungsschutz, Justiz
und Polizei!
Drittens wird weder die Relevanz der globalen mafiösen Ökonomie gesehen noch die flächendeckende Durchdringung der
italienischen Gesellschaft durch
die organisierte Kriminalität –
und das, obwohl Italien immer
noch zu den größten Volkswirtschaften der Welt und zu den
wichtigsten der EU gehört.
Viertens – und damit sind wir
mitten in Petra Reskis Roman –
funktionieren seriöse Erzählungen über die Mafia nur im Kontext der italienischen Geschichte
und Politik, die hierzulande in
wesentlichen Teilen unbekannt
sind. Nur mal als Beispiel: In seinem kürzlich erschienenen ZeitText „Antisemiten sind mir egal“
nennt Maxim Biller Israel die
„zweite verspätete Nation der
postnapoleonischen Zeit nach
Deutschland“. Nun gibt es gewiss
noch mehr Spätzündernationen,
aber eine der wichtigsten – immerhin die mit der höchsten
Dichte an Unesco-Welterbestätten – ist eben Italien, mit seinen
Einigungskriegen von 1859–
1918. Auch der „Länderbericht
MAFIA Wer hier keinen Stoff findet, ist selbst schuld: Die Journalistin Petra Reski hat einen
VON AMBROS WAIBEL
Scheitern als Struktur
2.665 Jahre Freiheitsstrafe: Akten des Prozesses gegen die Cosa Nostra (1986–1987) Foto: Tommaso Bonaventura/Alessandro Imbriaco
Vorwurf gegen den Exinnenminister Enrico Gambino lautet:
„Mitwirkung in einer mafiösen
Vereinigung und Mittäterschaft
bei Attentaten“. Dieser Prozess
und sein letztliches Scheitern
strukturieren das Buch. Das ist
kein Spoiler, denn ein noch nachzutragender Grund für das Desinteresse an der Mafia ist ja, dass
die Sache kein Ende findet, der
Kriegszustand ist permanent –
und der Roman stellt auch die
Frage, wer von ihm profitiert.
Eine Antwort liefert die Figur
des alternden deutschen „Fakt“Journalisten Wolfgang W. Wieneke und dessen zwischen Hamburg und Sizilien pendelnder Fotograf und Zuarbeiter Francesco,
in denen jeder, wer mag, das Pärchen Francesco Sbano und Andreas Ulrich vom Spiegel wiedererkennen kann. Insbesondere
mit Sbano, der als Fotograf und
Musikproduzent in Hamburg
und Kalabrien arbeitet, verbindet Reski eine langjährige Auseinandersetzung. Sie und viele andere Bürgerrechtler in Italien
werfen Sbanos Fotos, Büchern
und „Mafia-Musik“-Sammlungen Romantisierung der Killer
und ihrer Taten vor.
Aber an einer Abrechnung ist
Reski in ihrem Roman nicht interessiert. Vielmehr zeigt sie an
Wieneke und seinem Fotografen,
die den Prozess covern sollen,
wie die Aufmerksamkeitsmaschine funktioniert, welche Mafia-Geschichten man schreiben
kann und was „nicht sexy genug“
ist, wie Wienekes lässiger „Fakt“Chefredakteur Tillmanns sagt.
„Auf dem Schreibtisch des Chefredakteurs stand eine Teekanne.
Daneben lag das Buch, das er mit
dem Außenminister geschrieben hatte. Wieneke wollte Minister stürzen, und sein Chef machte Bücher mit ihnen.“
Ein komplizierter Prozess in
Palermo, wo eine einfache
Staatsanwältin sich an Ministern
und Präsidenten vergreift, ist
nicht sexy. Das pseudoabenteuerliche Treffen mit einem untergetauchten Mafia-Boss, der seine
Märchen erzählen darf, hingegen schon. Und Wieneke, der eigentlich aus der alten Schule
kommt, kann der Versuchung
nicht widerstehen, an solchen
falschen, aber gefragten Heldengeschichten
mitzuschreiben.
Und scheitert damit bitterlich.
Und eben jetzt, am Dienstagmittag, während die Arbeit an
diesem Text hier ihrem Ende zugeht, findet im Quirinalspalast
in Rom eine ausgelagerte Vernehmung des Gerichtshofs von
Palermo statt. Zeuge ist kein Geringerer als der italienische
Staatspräsident Giorgio Napolitano. Thema ist ein Brief, den
ihm sein Rechtsberater Loris
D’Ambrosio vor zwei Jahren
schrieb und in dem er von „unaussprechbaren
Abkommen“
zwischen Staat und Mafia
sprach, damals 1992–93, als der
Zusammenbruch des italienischen Parteiensystems den Mob
ohne politischen Ansprechpartner gelassen hatte und er mit
Bombenterror diesen WaisenStatus beenden wollte. D’Ambrosio starb kurz darauf. An einem
Infarkt. Mit 64 Jahren.
Wer hier keinen Stoff für einen Roman findet, ist selbst
schuld. Petra Reski kann man
diesen Vorwurf nicht machen.
Am Schluss von „Palermo Connection“ ist Serena Vitale von ihrem Prozess abgezogen worden
und hat wieder Zeit für Sport. Fit
muss sie sein, denn: „Sie hatte es
versäumt, Allianzen zu bilden.
Aufgabe Nummer eins im neuen
Leben: Strategisches Denken.“
Ihr nächster Fall wird sie nach
Deutschland führen.
Petra Reski: „Palermo Connection – Serena Vitale ermittelt“,
Hoffmann und Campe 2014,
20 Euro
■
14
www.taz.de
[email protected]
FREITAG, 31. OKTOBER 2014  TAZ.DIE TAGESZEITUNG
GESELLSCHAFT+KULTUR
„Legalize it“ wird Mainstream
DER SPECHT DER WOCHE
Behindertengerechte Züge
KIFFEN In weiteren US-Bundesstaaten wird am Dienstag über die Freigabe von Cannabis
abgestimmt. Was dabei herauskommt, könnte weltweit positive Folgen haben
VON BERND PICKERT
Zeichnung: Christian Specht
■ Christian Specht, 45, ist politisch engagiert und unter anderem Mitglied im Behindertenbeirat in Berlin-FriedrichshainKreuzberg sowie im Kulturausschuss. Er hat ein Büro in der taz
und zeichnet. Wenn er es zulässt,
zeigt die taz sein Bild der Woche.
Ich habe einen ICE gemalt. Im ICE
müssen Behinderte den vollen
Preis zahlen, während sie mit Regionalzügen umsonst fahren
können. Im ICE zahlt nur die Begleitperson nichts. Ich bin auch
neulich mit dem ICE gefahren
und musste den vollen Preis zahlen. Aber manchmal muss man
einen schnellen Zug nehmen. Behinderte sollten nichts bezahlen
müssen, wenn sie Zug fahren,
auch nicht in den schnellen Zügen. Das kann eine Ausgrenzung
bedeuten.
Außerdem gibt es immer
noch viele Züge, die für Rollstuhlfahrer ungeeignet sind. Das
finde ich nicht richtig. Vielleicht
haben die Angst, dass jemand
mit einem Rollstuhl im Zug zu
viel Platz wegnehmen würde. Ich
finde, die GDL, die die
Bahnstreiks organisiert hat, sollte sich mehr für Barrierefreiheit
an Bahnhöfen und in Zügen und
generell für Behinderte einsetzen. Ich bin dafür, dass die GDL
einen Behindertenvertreter einsetzt, der für solche Fragen zuständig ist.
Barrierefreiheit ist auch im
Stadtverkehr ein Problem. Beim
Bus müssen zum Beispiel meistens die Busfahrer aussteigen
und für Rollstuhlfahrer eine
Rampe ausklappen. Währenddessen sind die anderen Fahrgäste genervt, weil sie warten müssen. Mit automatischen Rampen
würde das nicht passieren. Meiner Meinung nach brauchen wir
eine neue Verkehrspolitik, die
solche Dinge mehr berücksichPROTOKOLL: MIEP
tigt.
DIE LISTE
Sie, Bud Spencer, werden heute 85
Jahre alt. Herzlichen Glückwunsch!
Wir fanden Sie schon immer
großartig, besonders …
Foto: Franka Bruns/ap
1 als Alf in „Alf – Der Film“
2 als Balletttänzer in „Black Swan“
3 als Mutter von Regina George in „Mean
Girls“
4 als Chucky in „Chucky –
Die Mörderpuppe“
5 als blaues Männchen
in „Avatar“
6 als Brummbär in „Schneewittchen“
7 als Erzähler in „Die fabelhafte Welt der
Amélie“
8 als Miranda Hillard in „Mrs. Doubtfire“
9 als Frau Meineke in „Das Leben der Anderen“
10 als Mutter in „Alien“
11 als Gärtner in „Clueless“
12 als Big Sam in „Vom Winde verweht“
13 als Honey Bunny in „Pulp Fiction“
14 als John Coffey in „The Green Mile“
15 als Arielle in „Arielle, die Meerjungfrau“
16 als Lucky Luke in „Lucky Luke“
17 als Bertie in „Manta Manta“
18 als Maggie Fitzgerald in „Million Dollar Baby“
19 als Marley in „Marley &
ich“
20 als Al Gore in „Eine
unbequeme Wahrheit“
21 als Leonardo in „Die
Turtles“
22 als Handmodell
ausderScheibenszene
in „Titanic“
23 als Tutti
Bomowski in „Stop!
Oder meine Mami
schießt!“
24 als Barbara Kopetski in „Barb Wire“
Bei den sogenannten Midterm
Elections
am
kommenden
Dienstag entscheidet sich nicht
nur, wie der nächste US-Kongress zusammengesetzt sein
wird – auf dem Spiel steht auch,
ob die Debatte über eine entkriminalisierte Drogenpolitik Fahrt
aufnimmt oder einen Dämpfer
bekommt. Denn in gleich mehreren parallel abgestimmten
Volksentscheiden geht es um die
Freigabe von Cannabis.
In Alaska und Oregon stehen
Gesetzentwürfe zur Abstimmung, die sich stark an dem orientieren, was in den Bundesstaaten Colorado und Washington
seit diesem Jahr praktiziert wird.
Der Besitz von Marihuana ist
dort nicht nur legal, sondern der
Verkauf ist staatlich lizensiert,
kontrolliert und besteuert. Und
zwar nicht nur – wie in rund 20
weiteren Bundesstaaten – zu medizinischen Zwecken, sondern
einfach zum High sein. Recreational Marihuana – Kiffen zu Erholungszwecken,heißt dasoffiziell.
Das wollen die entsprechenden Initiativen auch in Oregon
und Alaska erreichen, und zumindest in Oregon scheinen die
Chancen dafür gar nicht schlecht
zu stehen. In Alaska ist das
knapper.
In Florida ist es noch nicht so
weit – hier steht die Freigabe für
medizinische Zwecke zur Abstimmung, Medical Marihuana.
Aber was erst recht chancenreich
aussah, hat inzwischen in den
Umfragen deutlich verloren –
nicht zuletzt durch einen plötzlichen Finanzschub der Gegner, zu
denen vor allem führende Republikaner gehören wie Gouverneur Rick Scott und Senator Marco Rubio, dem Präsidentschaftsambitionen nachgesagt werden.
Fünf Millionen Dollar haben
die Gegner in den letzten Wochen für Wahlkampf erhalten –
von Sheldon Alderson. Das ist jener konservative Casinobesitzer,
der in den Präsidentschaftswahlen 2012 mit 20 Millionen Dollar
Bislang hat die Regierung Obama den
Verstoß gegen Bundesgesetze nicht nur hingenommen, sondern
auch die Rügen der
Drogenkontrollkommission abgewehrt
zugunsten von Newt Gingrich
erst in den Vorwahlen das Image
von Mitt Romney zerstörte, um
es dann, als Romney schließlich
doch republikanischer Kandidat
wurde, mit weiteren Millionen
wieder notdürftig zu reparieren.
Dass Alderson sich so engagiert,
ist ein klares Zeichen für die Republikaner, in der Antifront zu
bleiben – Leute wie er sind wichtige Geldgeber republikanischer
Kandidaten im ganzen Land.
Anders sieht es in Washington
DC aus, der Hauptstadt. Dort ist
schon seit diesem Jahr der Besitz
von bis zu 28 Gramm Marihuana
(1 ounce) zur Ordnungswidrigkeit herabgestuft worden (Bußgeld: 25 Dollar).
Per Referendum soll jetzt erreicht werden, dass der Besitz
auch der doppelten Menge einfach vollkommen legal wird. Eigentlich würden die Initiatoren
gern weitergehen und Gesetze
wie in Colorado und Washington
erreichen – das klappt aber nicht,
weil Regulierung und Besteuerung Ausgaben nach sich ziehen,
und darüber dürfen die Bürge-
rInnen in der Hauptstadt nicht
entscheiden. Wohl aber Bürgermeister und Stadtrat – und beide
Kandidaten für das Bürgermeisteramt, über das ebenfalls am
Dienstag abgestimmt wird, sind
klareLegalisierungsbefürworter.
Die Referenden in diesem Jahr
bilden nach Einschätzung vieler
nur den Auftakt für weitere Abstimmungen und mögliche Änderungen auch in der US-Bundespolitik 2016. Bislang hat die
Regierung Obama den Verstoß
der Legalisierungsstaaten gegen
Bundesgesetze nicht nur hingenommen, sondern auch die Rügen der Internationalen Drogenkontrollkommission
wegen
mutmaßlicher Verletzung der
UN-Drogenkonventionen abgewehrt.
Der nächste Schritt könnte
sein, diese Konventionen, zumindest in Bezug auf Cannabis,
einfach zu ändern. Und so hat,
was am Dienstag in Alaska, Oregon, Washington DC und Florida
geschieht, womöglich große
Auswirkungen auch außerhalb
der USA.
Kampagnenplanung mit Exel-Tabelle: Shannon und Rica aus Washington Foto: Jacquelyn Martin/ap
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WIE WIR IN DIE DIGITALE ECHOKAMMER HINEINRUFEN, SO SCHALLT ES AUCH ZURÜCK: BESTÄTIGUNG. FESTIGUNG. VERSTÄRKUNG
Stand so im Internet
in hübsches kleines Experiment: 48 Stunden lang hat
der US-amerikanische Wired-Journalist Mat Honan für einen Artikel einmal alles auf Facebook geliked, was ihm dort präsentiert wurde. Auch wenn er es
ganz grauenvoll fand. Einfach,
um mal zu sehen, wie der Algorithmus darauf reagiert. Ergebnis: Am Tag zwei rückten die
Posts, die er angezeigt bekam,
politisch immer weiter nach
rechts außen. Und gleichzeitig
auch nach links außen. Sich
selbst verstärkender TimelineExtremismus.
Das Netz steckt voller Echokammern:Dasichjederdortsein
Medienmenü selbst zusammenstellen kann, tendieren die meisten Menschen dazu, gezielt zu
konsumieren, was ihren Interessen und ihrem Weltbild entspricht. Filterblasen, in denen
man sich schnell und zielgenau
informieren kann. Auch ich nutze Twitter, konsumiere großarti-
E
ge Blogs und Podcasts. Nur: Wie
wir in die digitale Echokammer
hineinrufen, so schallt es auch
zurück. Bestätigung der eigenen
Position. Festigung. Verstärkung. Neu daran: Anders als im
massenmedialen Umfeld findet
man für jede noch so abstruse
Ansicht Gleichgesinnte.
In meiner persönlichen Echokammer zum Beispiel habe ich
erst diese Woche gemerkt, dass
Teaparty-Posterboy und US-Talker Glenn Beck ja überhaupt
nicht in der Versenkung verschwunden ist, sondern jetzt,
nachdemerbeiFoxNewsaufhörte, einfach ins Internet reinpolemisiert. Direkter Draht zu über
300.000 Abonnenten, die dafür
100 US-Dollar im Jahr zahlen. Inzwischen soll Beck damit häufiger geklickt werden als Nachrichtendienste wie Bloomberg
oder Reuters.
Zu weit weg? Geht auch näher:
Ich weiß schon, dass einer Theorie zufolge alle Menschen dieser
NULLEN UND EINSEN
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MEIKE LAAFF
Foto: privat
.......................................................
Welt über sieben Ecken miteinander in Verbindung stehen.
Trotzdem war ich kürzlich wirklich überrascht: Ich kenne offenbar über zwei Ecken Menschen,
die auf Facebook begeistert diese
wirren Thesen von Ex-RadioFritz-Moderator und Montagsdemo-EinheizerKenJebsenüber
die Ukraine beklatschen.
Interessant daran finde ich
vor allem die Vertrauenskrise.
Spätestens nach einem Sommer
voller Ukrainekrise höre und lese ich immer häufiger Menschen, die sich von „klassischen“
oder „etablierten“ Medien (welche auch immer genau dazu ge-
hören mögen) falsch informiert
fühlen. Die Journalisten, Sender
und Verlage wegen Kuscheln mit
politischen Entscheidungsträgern oder organisatorischen
Verflechtungen kritisieren. Und
je mehr Menschen das so ähnlich sehen, desto mehr wird die
aktuelle Medienkrise von einer
finanziellen zu einer Vertrauenskrise.
Spannend wird außerdem,
welche alternativen Informationskanäle die Kritiker wählen.
Das Netz hat Möglichkeiten geschaffen, um das Publizieren zu
demokratisieren. Auch Jebsen
und Beck profitieren nun davon,
heften sich die Labels des unabhängigen Journalismus und der
freien Presse ans Revers, wenn
sie zu ihren langen Erklärungsketten ansetzen, wie die Welt tatsächlich funktioniert. Und finden ein Publikum. Echokammern zum Reinschreien. Ohne
die Notwendigkeit, Gegenpositionen diskutieren zu müssen.
DIE FÜNFTAGEVORSCHAU | [email protected]
Montag
Josef Winkler
Wortklauberei
Dienstag
Jacinta Nandi
Die gute Ausländerin
Mittwoch
Matthias Lohre
Konservativ
Donnerstag
Margarete Stokowski
Luft und Liebe
Freitag
Jürn Kruse
Fernsehen
GESELLSCHAFT+KULTUR
www.taz.de
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FREITAG, 31. OKTOBER 2014  TAZ.DIE TAGESZEITUNG
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Alchemistisches
Pulver fürs
antifatalistische
Manifest
ELEKTRONIK Clevere Quälgeister zwischen
Avantgarde, Dancefloor und Pop: Mouse on
Mars gönnen sich zum 21. Jahrestag ihrer
Gründung das Doppelalbum „21 Again“.
Seine ewige Jugend feiert das ElektronikDuo mit einer zweitägigen Sause im
Berliner Theater Hebbel am Ufer
Werden gern auf eine Bedeutungsebene mit Kraftwerk gehoben: Jan St. Werner und Andi Toma alias Mouse on Mars Foto: Promo
VON STEPHANIE GRIMM
„Veteranen – so werden wir in
letzter Zeit oft genannt. Was uns
das Gefühl gibt, etwas falsch gemacht zu haben, weil das so militärisch klingt.“
Ein bisschen Koketterie darf’s
schon sein. Jan St. Werner, eine
Hälfte des Elektronik-Duos
Mouse on Mars, weiß genau, was
sein Bandprojekt alles richtig gemacht hat. Die Schnittmenge aus
Pop, Avantgarde und Dancefloor
haben er und sein Kollege Andi
Toma zu ihrer eigenen Nische
ausgebaut. So sind Mouse on
Mars zu einflussreichen Klangforschern geworden. Ihr cleverer,
bisweilen anstrengender Sound
wird besonders im Ausland auf
eine Bedeutungsebene mit
Kraftwerk gestellt.
Beim Besuch in ihrem Studio
im Berliner Funkhaus Nalepastraße, ehemals Heimstätte des
DDR-Rundfunks, übernimmt St.
Werner den Job, zu erklären, wie
Mouse on Mars funktionieren –
und prognostiziert, dass ihnen
auch im dritten Jahrzehnt ihres
Bestehens die Ideen nicht ausgehen werden. Das macht er ausführlich, obwohl er und sein Mitstreiter an diesem Nachmittag
noch proben müssen. Andi Toma
bleibt derweil im Hintergrund,
bastelt an Gerätschaften und
schaltet sich nur gelegentlich
ein.
Bis zu „21 Again“, der Geburtstagssause, die sie gemeinsam
mit Wegbegleitern und befreundeten Künstlern heute und morgen feiern, bleibt wenig Zeit. Zur
Veröffentlichung des gleichnamigen Doppelalbums haben
sich Mouse on Mars Kollaborationen gegönnt, mit Musikern,
die sie bewundern. Vom Berliner
Party-Technoprojekt Modeselektor, den Chefs ihres Labels Monkeytown, bis hin zur Chicagoer
Postrock-Combo Tortoise gibt es
Gastbeiträge auf dem Album.
Und auch im Berliner Theater
Hebbel am Ufer werden Gäste
dabei sein.
Werk für Orchester
Unter anderem wird „Paeanumnion“ aufgeführt, ein von Mouse
on Mars komponiertes, bislang
unveröffentlichtes Orchesterwerk. Nun lässt es sich zum zweiten Mal überhaupt live erleben,
umgesetzt mit dem Ensemble
Musikfabrik und dirigiert von
Andre de Ridder. Mouse on Mars
werden natürlich auch spielen,
unterstützt von Schlagzeuger
Dodo NKishi und Laetitia Sadier,
der ehemaligen Sängerin der britischen Band Stereolab.
„21 Again“ heißt das Unternehmen auch deshalb, weil Toma und St. Werner im besten Flegelalter 21 waren, als sie sich kennenlernten, der Legende nach
bei einem Metal-Konzert. „Die
gute Chemie hat dafür gesorgt,
dass man sich aufeinander verlassen kann, sich geistig auch immer wieder verwirrt“, erklärt St.
Werner. Was die beiden auf musikalischer Ebene – seinerzeit noch
in Köln und Düsseldorf – entwickelten, dem konnten er und Toma zunächst keinen Namen geben. Doch ihre ganz eigene Vorstellung von Klangforschung traf
einen Nerv und sorgte für Anerkennung in unterschiedlichsten
Szenen.
Grußbotschaften zwischen
den Tracks auf „21 Again“ vermitteln eine Vorstellung davon, was
Kollegen an den freundlichen
akustischen Quälgeistern finden
– besonders hübsch ist da der bekiffte Monolog des US-Experimental-HipHop-Produzenten
Scott Herren alias Prefuse 73, der
Mouse on Mars in den Neunziger
Jahren im fernen Atlanta auf
dem Schirm hatte.
St. Werner und Toma bedienen sich bei Techno, Funk, Noise,
Dub, Ambient und Jazz, zerhackstücken Sounds und setzen sie
neu zusammen. Erstaunlicherweise ist aus diesem kleinteiligen Eklektizismus mitunter richtiger Pop entstanden. Oft führte
die
experimentierfreudigen,
leicht streberhaften Nerds in
Klangwelten, die fordernd vor
sich hin dengelten, dank eines
wohldosierten Quäntchens Albernheit aber doch Spaß machen. Und sich rhizomatisch verzweigen.
„Wir sehen uns als Kollektiv –
auch wenn wir nur zu zweit sind.
Es kommen immer neue Leute
hinzu, die etwas beitragen oder
herausziehen.“ Mouse on Mars
suchen nicht nur mit Musikern
nach Synergieeffekten, sondern
versuchen auch den Brückenschlag zu anderen Kulturdisziplinen, etwa mit der Ausstellung
„doku/fiction“, die 2004 in der
Kunsthalle Düsseldorf zu sehen
war: Dort wurden ihre Tracks gemixt – von bildenden Künstlern.
Auch die zweitägige „21 Again“
ist interdisziplinär angelegt:
Kunst wird da zu sehen sein und
„Wir sind wie Handwerker, die aufpassen,
dass die Lichtschalter
richtig montiert
werden“
JAN ST. WERNER, MOUSE ON MARS
ein von Künstlern gekochtes synästhetisches Abendessen soll
serviert werden.
St. Werner und Toma schaffen
als Duo die Bedingungen, unter
denen der Track sich seinen Weg
suchen kann. Sie selbst sehen
sich – darauf legt St. Werner Wert
– nicht als „Komponisten“, eher
als „Handwerker, die aufpassen,
dass alles passt. „Man kann Lichtschalter ja auch nur an bestimmte Stellen setzen.“
Dass die 23 Tracks auf „21
Again“ übers Ziel hinaus schießen, gehört bei Mouse on Mars
aber auch dazu: Die Tracksammlung deckt trotz der unterschied-
lichen Mitstreiter das Klangspektrum ab, das man von den
beiden
kennt:
„Metaloona
Swamp“, eine apokalyptisch galoppierende Polka-Nummer mit
Candie Hank alias Patric Cantani
etwa klingt erst mal anstrengend, andere Tracks, etwa das radiokompatibel swingende, in Zusammenarbeit mit dem HouseProduzenten Eric D. Clark entstandene „Lost And Found“, haben richtigen Pop-Appeal.
„Das Album ist ein Versuch,
offene Baustellen zu schließen“,
erklärt St. Werner. „Wir sind beide
eher unruhig und unkonzentriert“, so dass über die Jahre einiges liegenblieb. Noch aus der Zeit
vor ihrem Umzug nach Berlin
2010 hatten sie einige „Featuring“-Stücke begonnen.
Was St. Werner als „unfokussiert“ bezeichnet, ist ein offener,
durchlässiger Arbeitsansatz, der
dafür sorgt, dass Mouse on Mars
es sich in den Szenen und Blasen,
an die sie andocken, nie gemütlich machen. Während er ihre Arbeitsweise erläutert, macht St.
Werner sich und Toma ganz nonchalant ein fettes Kompliment:
„Im Grunde sind wir alchemistisches Pulver: ein Katalysator, der
Dinge in Gang bringt. Wir haben
ganz viel von dem Zeug – und
wissen, wie man mehr davon
herstellt.“
In der zweiten Hälfte der Nuller Jahre war es jedoch still geworden um Mouse on Mars. Alben, die angekündigt waren, er-
Schmerzhafte Trennung
PROTEST In den USA
wird NSA-Ausspähung
bislang kaum
künstlerischverarbeitet.
Nun beklagt die
kalifornische Musikerin
Holly Herndon in ihrem
Song „Home“ das Ende
der Privatsphäre
Holly Herndon Foto: Promo
Eigentlich ist es eine gute Voraussetzung für Kunst, nicht mehr
Herr im eigenen Haus zu sein.
Dann wartet das Unheimliche
hinter dem Duschvorhang oder
im Betriebssystems des Laptop.
So ist es zumindest bei der Computermusikerin Holly Herndon
aus San Francisco.
„Home“ heißt ihr Kunstwerk
über den Verlust der Privatsphäre. „I feel like I’m home on my
own / And it feels like you see
me“ singt sie. Es ist ein Lied über
die Trennung von einem alten
Freund – ihrem Computer. Es
muss eine schmerzhafte Trennung sein, denn ohne ihren
Computer gäbe es Holly Herndon nicht.
Live steht sie vor ihrem Laptop, singt in ihn hinein, und ihre
Stimme vervielfältigt und überlagert sich – Herndon klingt auf
diese Weise empathisch und entkörperlicht fremd zugleich. Die
elektroakustischen Effekte ihrer
Musik berechnet sie aus den Datenspuren ihrer Digitalexistenz,
egal ob es sich dabei um das elektrische Brummen ihres Macbooks handelt, dass sie mit Kontaktmikrofonen aufnimmt, oder
die Chronik ihres Browsers:
Herndons Musik ist das Produkt
einer vokalelektrischen MenschMaschine.
Ihre Arbeiten sollen den „angenommenen Dualismus zwischen Menschen und Computern“ aufheben, hat Holly Hern-
don einmal geschrieben. Nun
trennt sie sich also von ihrem
Computer, weil er sich von ihr getrennt hat – er hat jemanden
Drittes in ihre Symbiose gelassen – per Gesetz musste er dies
sogar. Dieser Dritte legt sich im
Video zu „Home“ wie ein Filter
zwischen Herndons Gesicht und
die Kamera. Herndon schaut wie
ihr biometrisches Passbild geradeaus, davor fliegen die Logos
der neuen Herren über Herndons Rechner: die Logos von
NSA, Prism und XKeyscore.
Aber so sehr Herndon über
den Verlust der Heimeligkeit
singt, so wenig singt sie davon.
„Home“ unterscheidet sich nicht
von den Songs, die sie auf ihrem
Rechner produziert hat, bevor sie
der digitalen Totalüberwachung
gewahr wurde.
Vielleicht ist es eine Allegorie
auf die Gleichgültigkeit gegenüber dem NSA-Skandal, vielleicht ist es aber auch einfach nur
ein Zeichen der Zeit: Bei einem
Vortrag auf dem letzten CCCKongress wurde eine Powerpoint-Folie von der Electronic
Frontier Foundation gezeigt. Auf
ihr ist zu sehen, was sich aus der
Kenntnis von Metadaten alles ablesen lässt: Sexgewohnheiten,
Selbstmordabsichten, eine HIVInfektion. Bislang kann kein Popsong den Verlust der digitalen
Heimeligkeit so schauderhaft
zeigen wie diese Folie – auch Holly Herndons „Home“ nicht.
CHRISTIAN WERTHSCHULTE
Holly Herndon „Home“
(RNVG Int)
Videoclip: vimeo.com/106282943
■
schienen nicht – mit Ausnahme
von „Tromatic Reflexxxions“
(2007), einer gelungenen Zusammenarbeit mit Mark E. Smith,
dem alten Grantler von The Fall.
Erschienen war das Ganze unter
dem Projektnamen Von Südenfed. Der Umzug nach Berlin habe
dem Duo gut getan, erklärt St.
Werner. 2012 erschien „Parastrophics“, ihr Berlin-Album. Es handelt davon, „sich einen neuen Ort
zu erschließen, der noch voller
Geheimnisse steckt“. Sie entwickelten eine Musik-App fürs
iPhone namens WretchUp und
landeten beim Label Monkeytown.
Egal wie es um die Halbwertszeit ihres alchemistischen Pulvers bestellt ist – für den Moment
formuliert St. Werner ein sympathisches Manifest: „Wir rebellieren gegen den Fatalismus, die
Dinge so zu akzeptieren, wie sie
sind.“ Und fügt hinzu: „Musik ist
keine Skulptur, die für ewig da
steht. Man muss sie immer wieder dekonstruieren und für sich
erwecken.“
Mouse on Mars: „21 Again“
(Monkeytown/Rough Trade)
■ Live: „21 Again“, heute und morgen im Berliner HAU
■
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FREITAG, 31. OKTOBER 2014  TAZ.DIE TAGESZEITUNG
GESELLSCHAFT+KULTUR
ZWISCHEN DEN RILLEN
Das Paradies birgt keinen Star
■ Dan Bodan:
„Soft“ (DFA/
Infectious/
Cooperative
Music/PIAS)
Ein bisschen Milchbubi, ein wenig schüchterner Teenie und eine Prise Smart Ass – Dan Bodan
posiert für ein Foto in die Kamera, und so recht weiß man nicht,
wer dieser schmächtige, hohlwangige Junge in pink-rosa Batikjeans, glitzernder PolyesterJacke und einem Dunkin’Donuts-Kaffeebecher vor sich
sein soll.
Als ihren „heartthrob“, ihren
Schwarm, bezeichneten die Macher vom New Yorker Discopunk-Label DFA-Records Dan Bodan, als sie 2012 Bodans EmoSoftpop-Hits „Aaron“ und „DP“
als Single veröffentlichten. Beides sind sehnsüchtelnde Befindlichkeitssongs,
unterwandert
von einer dicken Portion Selbstironie. „Soft“ heißt nun das erste
reguläre Album des Sängers und
Produzenten, wieder erschienen
bei DFA. Darauf finden sich Elemente von R&B, HipHop und
Jazz, ja selbst Noise. Nur ist Dan
Bodans Musik eben – ganz dem
Titel nach – zu superweichem
Elektropop vermengt, der so
buttrig zerfließt wie das dahinschmelzende Mangagesicht auf
dem Albumcover. Bodan singt
auf allen Songs wunderbar:
Warm, soulig und voluminös ist
seine Stimme. Impulsiv kann Bodan zwischen den Tonlagen
springen, sanft- oder rautönig
bewegt er sich in den Melodien.
Der süße Dan ist ein souveräner Sänger. Und als solcher besingt er auf „Soft“ eine musikalische Landschaft, die sich über
seinen Heimatort Montréal in
Kanada, über New York bis zum
grauen Horizont Berlins erstreckt, wo er seit acht Jahren
lebt. Ein Jazzsong ist auch dabei:
Bei „Let’s Fall in Love“ klingt Bodan geschmeidig wie einst Ella
Fitzgerald, begleitet nur von Gitarre und einem Klavier.
Manieriert zieht er seine Stimme in die Höhe, lässt sie wieder
chromatisch sinken oder auf einer Septime enden, wie es die
Jazz-Ikone auch machte. Doch
die große Geste löst sich im Laufe
des Songs auf, selbstbewusst verfehlt Bodan Töne, ein ver-
schwommenes Posaunensolo erklingt im Hintergrund. „Let’s fall
in love for Heaven’s sake“ lautet
die Refrainzeile vollständig.
„Soft“ ist ein musikalisches
Spiel mit Widersprüchen. Das
macht die Musik so herrlich ironisch. Denn Bodens Elektropop
ist ins Slicke überspannt. „Jaws of
Life“ hat er im Stil der späten
Achtziger aus verschleppten
Keyboards und einem glatten
Schnipps-Groove gebaut, dazu
ein überschwängliches SaxofonSolo, wie man es auch bei einem
George Michael finden würde.
Bodans Songaufbau entspricht der Klangphilosophie im
Hitradio: Intro, Strophe, exaltierter Refrain, Fade-out. Experimentelle Passagen bringen jedoch eine Dissonanz in diesen
mittigen Sound. „Jaws of Life“ etwa endet in einem wilden Saxofonspiel. „Catching fire“ klingt
düster. Erst haucht Bodan, dann
ruft er über einem rummenden
Bass, und ein schwerer, blecherner Rhythmus sowie sphärische
Synthiemelodien brechen die
Hookline des Songs auf.
Wattebauschig sanfte Keyboards, zuckrige, flirrende Patterns und flauschiger Bass – so
klingt „Soft as Rain“, der Hit aus
Bodans Album. Im dazugehörigen Video fährt eine Kamera
langsam über eine behaarte,
schmächtige Männerbrust. „You
fall on me soft as rain, when I am
holding you“, heißt es im Refrain.
Körper, die wie Regen fallen
und sich halten – die Aneinanderreihung romantischer Reizwörter klingt schmalzig, ist aber
ziemlich sinnfrei. Abgewandelt
singt er später weiter: „I fall on
you soft as rain when I am holding you / And wash out these feelings.“ Wie Weichspüler fließt
dieser Kitsch schließlich ins
Nüchterne. Sentimentalität und
selbstironische Abgeklärtheit,
dieses Missverhältnis legt Dan
Bodan in die Rhetorik seiner Texte. „This paradise“, singt er mit
langsamem Vibrato an anderer
Stelle und fügt hinzu: „This paradise can’t see a star.“ „Meine Musik sollte wie ein Schlüsselroman
sein“, kommentiert er, „als würdest du das Tagebuch deiner älteren Schwester lesen“. SOPHIE JUNG
Live: 1. November, „Berghain
Kantine“, Berlin
■
Gegendemonstranten schlagen auf ein Fahrzeug von proeuropäischen Protestierenden auf dem Maidan ein Foto: Vasily Fedosenko/reuters
Geteilt, nicht gespalten
SCHRIFTEN ZU ZEITSCHRIFTEN Die europäische Revue „Transit“ nimmt den Maidan als
„unerwartete Revolution“ und als entscheidend für die Zukunft Europas in den Blick
VON TIM CASPAR BOEHME
Entscheidet sich die Zukunft Europas in der Ukraine? Der USamerikanische Historiker Timothy Snyder sieht das Schicksal
der Europäischen Union aufs
Engste mit den Entwicklungen
in der Ukraine verknüpft. Nur
ein vereintes Europa könne angemessen auf einen „aggressiven russischen Petrostaat“ reagieren und dem „Eurasien“-Projekt Putins entgegentreten, in
dem die Ukraine enger Verbündeter Russlands wäre und kein
Teil Europas. „Die Ukraine hat
keine Zukunft ohne Europa, aber
Europa hat auch keine Zukunft
ohne die Ukraine“, lautet seine
These in der Zeitschrift Transit,
deren aktuelle Ausgabe unter
dem Titel „Maidan: Die unerwartete Revolution“ steht.
Das Wiener Institut für die
Wissenschaften vom Menschen,
das Transit herausgibt, hat sich
seit seiner Gründung im Jahr
1982 um den intellektuellen Austausch zwischen Ost und West
bemüht. Snyder gehört zum Redaktionskomitee, Gastherausgeberin der Ausgabe ist die ukrainische Politikwissenschaftlerin Tatiana Zhurzhenko. Ursprünglich
hatte man ein Heft zu zehn Jahren Orangene Revolution geplant, schreibt sie im Editorial.
Kurz darauf begannen die Proteste des Euromaidan.
BERICHTIGUNG
Das Jazzfest Berlin wird 50. Wir
berichteten gestern, was sich anhand dessen für steinzeitliche
antiamerikanische Reflexe eingestellt haben. Dafür, dass afroamerikanische Musiker die Rassentrennung in ihrem Heimatland hautnah erlebt und bekämpft hatten, wurden sie zum
Dank vom Publikum als Agenten
des Klassenfeinds bezeichnet
und von der Bühne gebuht. Nein,
der linke deutsche Jazzmichel
hat kein Taktgefühl.
Mit dem Heft soll die Erinnerung an den Maidan wachgehalten werden. So beschreibt die ukrainische Autorin Kateryna Mishchenko in einem Interview mit
Snyder und Zhurzhenko die Rolle
der rechtsextremistischen Partei
Swoboda auf dem Maidan, die
die Proteste am Anfang zu dominieren schien. Bald schon habe
sich jedoch gezeigt, dass die Anhänger der Swoboda keine Revolution wollten, sondern lediglich
„nationalistische Provokateure“
waren. Der Politologe Anton
Shekhovtsov erkennt im Maidan
gar den „Schwanengesang“ der
Swoboda und sieht sie als „Verlierer der Revolution“. Besonders
ihr Spagat zwischen der nationaldemokratischen Opposition
und rechtsextremen Organisationen wie der Neonazi-Bewegung
C14 habe sich als zerstörerisch
für die Partei erwiesen. Die Wahlergebnisse der Parlamentswahlen vom Sonntag scheinen seine
Einschätzung zu bestätigen.
An eine grundlegendere Zäsur, die mit dem Maidan einherging, erinnert die Autorin Oksana Forostyna: Die mehrtägigen
Straßenkämpfe im Januar 2014
hätten eine Konfliktsituation
hervorgebracht, die in der Nachkriegsgeschichte der Ukraine
einmalig gewesen sei: „Morde,
Übergriffe, Explosionen und
Schüsse im Zentrum von Kiew.“
Die Ukrainer hätten sich plötz-
lich „Aug in Aug mit dem absoluten, irrationalen und bodenlosen
Bösen“ gesehen. Wie Oksana resigniert resümiert, sei „Hass die
einzige Ideologie der ukrainischen staatlichen Gewaltorgane“.
Nach den Folgen des Maidan
fragt der Politologe Mykola Riabchuk in seinem Beitrag „Hat der
Maidan das Land gespalten“? Wobei er festhält, dass die Ukraine
„tatsächlich (zwei)geteilt, aber
nicht wirklich gespalten“ sei. So
Anton Shekhovtsov erkennt im Maidan gar
den „Schwanengesang“ der Swoboda
und sieht sie als „Verlierer der Revolution“
korrespondiere höhere Bildung
mit einer prowestlichen und prodemokratischen Ausrichtung,
auch seien jüngere Wählerschichten dem Westen gegenüber aufgeschlossener als ältere
Generationen. Eine Versöhnung
der „beiden Ukrainen“ mit ihren
zwei gesellschaftlichen Realitäten, einer sowjetischen und einer nicht sowjetischen, die zwei
Jahrzehnte lang im Staat nebenher existiert hätten, sei problematisch. Riabchuk setzt auf
„schrittweise Versöhnung“.
Auf Riabchuks Essay reagiert
Zhurzhenko mit der Frage „Im
Osten nichts Neues?“, um genauer zu untersuchen, was aus der
„angeblichen
Ost-West-Spaltung“ des Landes geworden ist
und ob der „Osten“ sich inzwischen auf den Donbas beschränkt. In der aktuellen Situation sieht Zhurzhenko im Osten
der Ukraine keine sowjetische
Ideologie am Werk, sondern eine
„negative Identität“, etwa in den
Reaktionen auf gestürzte LeninStatuen: „Aus der Perspektive der
prorussisch eingestellten Bürger
sind es die ‚Banderisten‘ und ‚Nationalisten‘ aus Kiew, die ‚unsere
Denkmäler‘ stürzen und ‚unsere
Vergangenheit‘ stehlen.
Die Lenin-Denkmäler verkörpern eben nicht mehr die Sowjetunion, sondern sie sind ein Ort
und ein Symbol prorussischer
Mobilisierung geworden – ‚leere
Zeichen‘, die keinen ideologischen Inhalt transportieren, sondern die lokale Identität als ‚antiKiew‘ markieren.“ Zhurzhenko
will den Osten allerdings nicht
verloren geben, der Donbass sei
just zu einem Boden geworden,
„auf dem die ukrainische Unabhängigkeit, Demokratie und Zukunft verteidigt werden, und
deshalb gehört er von nun an zur
Ukraine“.
„Transit. Europäische Revue“,
Heft 45, Sommer 2014, 14 Euro
■
UNTERM STRICH
Ironie der Geschichte? Oder wie
soll man es sonst nennen, dass
im kommenden Mai der letzte,
unveröffentlicht
gebliebene
Film von Orson Welles in die Kinos kommt. Dann nämlich würde der US-Filmemacher und
Schauspieler 100 Jahre alt. „The
Other Side of the Wind“ heißt der
bis zu Welles Tod 1985 unvollendet gebliebene Film, an dem er
mehr als 15 Jahre gearbeitet hatte. Er hinterließ aber nur eine 45minütige Arbeitsfassung. In dem
Film spielt John Huston einen Regisseur, der sich mit HollywoodProduzenten streitet, die ihn daran hindern, einen Film fertigzustellen. An seiner Seite sind Susan Strasberg, Lilli Palmer, Dennis
Hopper und Peter Bogdanovich
zu sehen. Wie der ehemalige Herstellungsleiter Frank Marshall
der New York Times sagte, gibt es
Notizen von Orson Welles und
unvollendete Szenen, die noch
mit Musik unterlegt werden
müssen.
Für das millionenschwere
Bild „Triple Elvis“ von Andy Warhol soll erst nach der umstrittenen Auktion in New York eine
endgültige Ausfuhrgenehmigung durch das Land NRW erteilt
werden, sagt der Sprecher des Eigentümers, Christof Schramm.
Die Ausfuhr von mehr als 50 Jahre alten Kunstwerken muss das
NRW-Kulturministerium
genehmigen. Die Versteigerung
der Warhol-Werke war gestern
Thema im Düsseldorfer Landtag.
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FREITAG, 31. OKTOBER 2014  TAZ.DIE TAGESZEITUNG
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MEDIENTICKER
Woodyallenesk
REPORTER OHNE GRENZEN
„GEO“
20.15 Uhr, Einsfestival, „Frances Ha“, USA 2012, R.: Noah
Baumbach, D.: Greta Gerwig, Mickey Sumner
Frances ist 27, Tänzerin und genießt das Leben in New York. Ihr
Freund Dan würde gern mit ihr
zusammenziehen, aber Frances
will in der WG mit ihrer besten
Freundin Sophie bleiben. Als Sophie erzählt, dass sie ausziehen
will, und Frances auch noch ihren Job in einem Tanzensemble
verliert, gerät ihre fragile Existenz ins Straucheln. Tänzelnd
zieht sie durch die Stadt auf der
Suche nach einer neuen Heimat.
Mehr Engagement gefordert
Auch Entlassungen
BERLIN | Im vergangenen Jahr
wurden mindestens 80 Journalisten wegen ihrer Arbeit getötet.
In diesem Jahr seien es bislang
56, teilt die Menschenrechtsorganisation Reporter ohne Grenzen (RoG) gestern in Berlin mit.
Einige von ihnen seien in Krisenregionen wie Syrien, dem Irak
oder der Ostukraine ermordet
worden, die meisten aber außerhalb von Kriegsgebieten – oft
weil sie über Themen wie Machtmissbrauch, Korruption, organisierte Kriminalität oder Men-
BERLIN | Nach den Entlassungen
bei Brigitte, hat Gruner + Jahr
auch 14 Mitarbeitern von Geo,
Geo Saison und Geo Special gekündigt. Grund seien die veränderten Marktbedingungen im
Printgeschäft. Die bisher getrennt erstellten Geo Saison und
Geo Special werden künftig von
einer Reiseredaktion erarbeitet.
Das Mutterheft Geo schließt die
Abteilungen Bildforensik, Kartografie, Titelgrafik und Infografik.
Einen Sozialplan gibt es noch
nicht. (epd)
■
Frances Ha (G. Gerwig) F.: Einsfestival
schenrechtsverletzungen
berichtet hätten. Reporter ohne
Grenzen fordert deswegen mehr
internationales Engagement gegen Verbrechen an Journalisten.
In zahlreichen Ländern würden
schwere Übergriffe gegen Reporter wie Morde oder Entführungen nicht glaubwürdig verfolgt,
erklärte die Organisation. Am 2.
November findet auf Beschluss
der UN-Vollversammlung erstmalig der Welttag gegen Straflosigkeit für Verbrechen an Journalisten statt. (epd)
„Ich bin woanders“
FILM Hanno Koffler spielte sich früh nach vorn, ging dann in die Lehre und ist nun einer der gefragtesten
Fernsehschauspieler. Am Samstag ist er in „Besondere Schwere der Schuld“ zu sehen (20.15 Uhr, ARD)
VON JÜRN KRUSE
Eigentlich hätte Hanno Koffler
damals einfach weitermachen
können. Lief doch. Er hatte 2003
in „Anatomie 2“ mitgespielt,
kurz darauf in Marco Kreuzpaintners „Sommersturm“, in
„Hallesche Kometen“, im „Tatort“.
Koffler war gerade einmal 25 –
und plötzlich weg vom Schirm.
Er machte nicht einfach weiter. Er wollte zum Theater. Schon
als kleiner Junge hatte er im
Schiller- und im Renaissancetheater im alten West-Berlin gespielt. Die Schauspielschule
Ernst Busch in Berlin hatte ihn
trotzdem abgelehnt. Also warum
nicht weitermachen mit den Filmen? Läuft doch.
Doch laufen ist blöd, wenn
man rennen will. Er wurde am
Es war nicht das erste Mal,
dass Koffler einen überraschenden Weg ging. 1990 zog er – während sich der halbe Osten gen
Westen aufmachte – von WestBerlin nach Stendal, Sachsen-Anhalt, damals 50.000 Einwohner.
„Mein Vater ist die Karriereleiter
von ganz oben bis ganz unten hinuntergepurzelt“, sagte er mal
dem Berliner Stadtmagazin Zitty.
Koffler sitzt in einem Berliner
Hotel, er macht Werbung für den
ARD-Film „Besondere Schwere
der Schuld“, in dem der jahrzehntelang inhaftierte Komalschek
(Götz George) in das Ruhrgebiet
heimkehrt. Koffler spielt den
jungen Polizisten Tom Barner,
der ihn überwachen soll. Doch
bald kommen Barner Zweifel an
Komalscheks Schuld. Koffler ist
in der Rolle fast zurückhaltend,
lässig, mit weniger Körpereinsatz als man es sonst von ihm
kennt, der seriöse Polizist. Koffler fand das Drehbuch „wahnsin-
nig gut“. Außerdem lockte die Zusammenarbeit mit George.
Koffler, mittlerweile 35, Vater
einer Tochter, erzählt von Stendal. Wie es war, auf der Schule der
„Scheiß-Wessi“ zu sein. Die Schule war auch nicht so ein Backsteingebäude wie die SchlüterGrundschule, auf der er zuvor
war, sondern ein Plattenbau, aus
dem die Klasse bald darauf rausmusste, weil die Asbestplatten
entfernt wurden. Koffler lernte,
sein Herz zu bilden und den eige-
Von Klaus Maria
Brandauer lernte
Koffler „sein Herz
zu bilden“
Max Reinhadt Seminar angenommen und zog 2005 nach
Wien. Zwei Jahre lernte er das
Schauspiel, lernte von Klaus Maria Brandauer, dass es darum
gehe, „sein Herz zu bilden“, zitiert er. „Die Eindrücke füllen
den eigenen emotionalen Erfahrungsschatz. Gepaart mit emotionaler Intelligenz bilden sie ein
Reservoir, auf das man als Schauspieler zurückgreifen kann.“
Polizist Barner (Hanno Koffler) schützt seine Mutter (Hannelore Elsner) vor einem entlassenen Straftäter Foto: ARD
nen Erfahrungsschatz zu füllen.
„Ich hab es damals total verflucht, nach Stendal ziehen zu
müssen“, erzählt Koffler, „aber
gerade die Momente, in denen
man durch Krisen gegangen ist,
erweisen sich ja dann häufig als
sehr wertvoll.“
Stendal ging vorbei, Wien
auch. 2007 endete die Ausbildung. Er hatte unter Brandauer
in „Hamlet“ und im „Sommernachtstraum“ gespielt. Jetzt begann er wieder in Filmen mitzuspielen: „Der Rote Baron“, „Krabat“. Dann ging er wieder. Nicht
nach Berlin, wo junge Kino- und
Fernsehschauspieler eigentlich
zu wohnen haben, sondern nach
Braunschweig. „Man macht ja
manchmal die Sachen, die Fragen aufwerfen“, sagt Koffler,
„dann reagiert man fast schon
trotzig stolz darauf: Bei mir ist es
halt so, ich bin woanders.“ In
Braunschweig wurde am Staatstheater ein neues Ensemble um
einen neuen Intendanten herum
aufgebaut, „tolle Kollegen, tolle
Rollen“. Und er konnte weiter in
Filmen mitwirken, unter anderem in „Freier Fall“, wo er einen
Polizisten spielte, der sich in einen Kollegen verliebt. Dafür bekam er den Deutschen Filmpreis.
Mittlerweile lebt Koffler wieder in Berlin. Der Film „Coming
in“, in dem er eine Nebenrolle
spielt, ist gerade in den Kinos.
Auf der Besetzungsliste von „Besondere Schwere der Schuld“
steht er hinter Götz George an
zweiter Stelle. Vor Hannelore Elsner. Läuft doch.
Sky ohne
Abonnenten
KURSWECHSEL Der Pay-TV-
Sender bietet seine
Inhalte nun auch zum
Online-Abruf an – und
plant eigene TV-Box
Sky-Abonnenten bekamen am
Dienstagabend eine Mail: Die Allgemeinen Geschäftsbedingungen hätten sich geändert, hieß es.
Die neuen Passagen sahen fast
alle so aus: Das Wort „Abonnent“
ist gestrichen worden. Stattdessen steht da jetzt „Kunde“.
Am Tag darauf präsentierte
der Pay-TV-Anbieter dann, warum aus Abonnenten nun Kunden geworden sind. Sky ändert
seine Strategie: Nicht jeder Kunde muss mehr Abonnent sein.
„Sky Online“ heißt die neue
Plattform, auf der – monatlich
kündbar – verschiedene Sky-Programme, Serien und Filme gestreamt werden können. 9,99 Euro pro Monat soll das „Starter Paket“ kosten, 19,99 Euro das „Film
Paket“. Bislang ist das Ganze allerdings nur über einen Browser
oder mithilfe von iPad oder
iPhone zu nutzen. Demnächst
will man den Abruf über andere
Plattformen ermöglichen. Außerdem plant Sky eine eigene
TV-Box, die aus jedem Fernseher
einen Smart-TV machen soll.
Sky, das sich vor dem Einstieg
des
Streamingkonkurrenten
Netflix in den deutschen Markt
im September betont lässig gab,
schießt nun schon zum zweiten
Mal scharf. Kürzlich war schon
der monatliche Preis für das eigene Streaming-Angebot Snap
auf vier Euro gesenkt worden.
Snap soll für die neuen SkyOnline-Kunden gleich mit drin
sein – im Gegensatz zum Livesport. Der kann nur zu den Paketen hinzugebucht werden: Ein
Sport-Tagespass kostet 19,99 Euro. Klingt wenig verlockend, ist
doch manches Stadionticket in
der Bundesliga günstiger.
Sky-Chef Brian Sullivan, der
schon vor Monaten durchblicken
ließ, dass er Online-Videoportale
derzeit für nur bedingt profitabel hält, preist Sky Online dementsprechend zurückhaltend an:
„Unser klassisches Abo-Modell
bleibt das Angebot mit der größten Programmauswahl, besten
Bild- und Tonqualität und mit
dem größten Mehrwert für unsere Kunden.“ Na dann. JÜRN KRUSE
DER KANADISCHE SCHAUSPIELER WILL ARNETT WAR BEI „WETTEN DASS..?“. SEIN FAZIT: „I’M FASCINATED BY GERMAN MENTALITY – JOKES DON’T WORK AT ALL!“
ARD
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ZDF-Mittagsmagazin
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Tatort: Heimatfront.
D 2011
23.30 KommissarWallander–Mörder
ohne Gesicht
1.00 Nachtmagazin
1.20 Töte Amigo. Italowestern,
I 1966. Regie: Damiano Damiani. Mit Gian Maria Volonté,
Klaus Kinski
12.00
12.15
13.00
14.00
14.10
15.00
15.10
16.00
16.10
17.00
17.15
18.00
18.45
20.00
20.15
21.45
22.00
ZDF
12.00
12.10
13.00
14.00
14.15
15.05
16.00
16.10
17.00
17.10
17.45
18.05
heute
drehscheibe
ZDF-Mittagsmagazin
heute – in Deutschland
Die Küchenschlacht
Deutschlands bester Bäcker
heute – in Europa
SOKO Kitzbühel: Eiskalt.
A/D 2004
heute
hallo deutschland
Dietrich Grönemeyer – Leben ist
mehr!
SOKO Wien: Schöne neue Welt.
D/A 2013
19.00 heute
19.25 Dr. Klein
20.15 Der Kriminalist: Der letzte Flug.
D 2014
21.15 SOKO Leipzig: Dumm gelaufen.
D 2014
22.00 heute-journal
22.30 heute-show
23.00 aspekte
23.45 Ray Donovan
0.35 heute nacht
0.50 heute-sho
RTL
12.00
14.00
15.00
17.00
17.30
18.00
18.30
18.45
19.05
19.40
20.15
23.00
0.00
0.30
1.30
Punkt 12 – RTL-Mittagsjournal
Verdachtsfälle
Verdachtsfälle Spezial
Betrugsfälle
Unter uns
Explosiv – Das Magazin
Exclusiv – Das Star-Magazin
RTL Aktuell
Alles was zählt
Gute Zeiten, schlechte Zeiten
5 gegen Jauch
Geht's noch?! Kayas Woche
RTL Nachtjournal
Hotel Zuhause – Bitte stören!
Die Trovatos
23.30 The Voice of Germany
1.30 Sechserpack
PRO 7
12.20
13.15
13.45
14.15
15.35
17.00
18.00
18.10
19.05
20.15
22.10
0.45
2.15
2.25
SAT.1
Richter Alexander Hold
Auf Streife
Im Namen der Gerechtigkeit
Anwälte im Einsatz
Mein dunkles Geheimnis
Schicksale
In Gefahr
Navy CIS: Wettlauf mit demTod.
USA 2006
19.55 SAT.1 Nachrichten
20.15 The Voice of Germany
22.30 Schwarz Rot Pink
12.00
14.00
15.00
16.00
17.00
17.30
18.00
19.00
Two and a Half Men
2 Broke Girls
New Girl
The Big Bang Theory
How I Met Your Mother
taff
Newstime
Die Simpsons
Galileo
Das gibt Ärger. Komödie, USA
2012. Regie: McG. Mit Reese
Witherspoon, Chris Pine
Constantine. Comicverfilmung,
USA/D 2005. Regie: Francis
Lawrence. Mit Keanu Reeves,
Rachel Weisz
Wrong Turn. Horrorfilm,
USA/D 2003. Regie: Rob
Schmidt. Mit Desmond Harrington, Eliza Dushku
Steven liebt Kino – Spezial: Love
Rosie – Für Immer Vielleicht
Trick 'r Treat – Die Nacht der
Schrecken. Fantasyfilm, USA
2007. Regie: Michael Dougherty. Mit Quinn Lord, Leslie Bibb
KI.KA
8.00
8.30
8.50
9.00
9.25
9.45
9.55
10.25
10.50
11.15
11.35
Sesamstraße
Zigby, das Zebra
Löwenzähnchen
Kleine Prinzessin
Raumfahrer Jim
Dreckspatzplatz
Au Schwarte!
Tabaluga
Ben & Hollys kleines Königreich
Das Dschungelbuch
Hexe Lilli
12.00
12.30
12.50
13.15
13.40
14.10
15.00
15.25
15.50
16.20
17.10
17.35
18.00
18.15
18.40
18.50
Heidi
Garfield
Raymond
Die Wilden Kerle
Die Pfefferkörner
Schloss Einstein – Erfurt
Lenas Ranch
Wendy
Tracey McBean
Die Schule der kleinen Vampire
Monster Allergy
Hexe Lilli
Der kleine Nick
Ben & Hollys kleines Königreich
Zoés Zauberschrank
Unser Sandmännchen
8.30
8.55
10.55
11.20
12.05
12.50
13.20
13.40
X:enius
Hunger! Durst! (1/2)
Die Spur der Steine
Wasserwelten (5/5)
360° Geo Reportage
Frankreichs mythische Orte
ARTE Journal
Der Mann der Friseuse.
Melodram, F 1990. Regie: Patrice Leconte. Mit Anna Galiena,
Jean Rochefort
Zwischen Himmel und Erde
Das Glück liegt auf dem Teller
Die Welt der Oliven
X:enius
Die Dino-Cowboys
Die Donau – Lebensader
Europas
ARTE Journal
Grenzenloses Frankreich (5/5)
Akte Grüninger. Kriegsdrama,
CH/A 2013. Regie: Alain Gsponer. Mit Stefan Kurt, Max Simonischek
Alkoholsucht: Wundermittel
Baclofen?
Der stärkste Mann
23.30
0.20
0.50
2.25
3SAT
18.30
19.00
19.20
20.00
20.15
21.00
21.30
22.10
22.35
ARTE
15.25
15.50
16.20
17.05
17.30
18.25
19.10
19.30
20.15
21.45
22.40
Kurzschluss – Das Magazin
Solange uns Pumpguns bleiben
Lilyhammer (1/8)
Track
0.25
0.55
1.40
3.20
nano
heute
Kulturzeit
Tagesschau
Überfall am Arbeitsplatz
makro: Neue Macht am Main?
auslandsjournal extra
ZIB 2
Ein Jahr in der Hölle. Politdrama, AUS 1982. Regie: Peter
Weir.MitMelGibson,Sigourney
Weaver
10vor10
extra 3
Leergut. Komödie,
CZ/GB/DK 2007. Regie: Jan
Sverák. Mit Zdenek Sverák, Daniela Kolárová
Ein Jahr in der Hölle
BAYERN
18.00
18.45
19.00
19.45
20.15
21.00
21.45
22.00
22.45
23.15
23.25
0.15
0.45
1.45
Abendschau
Rundschau
Unser Land
Landfrauenküche
Hubert und Staller: Finger im
Brot. A/D 2012
Lebenslänglich Mord
Rundschau-Magazin
Heißmann & Rassau
Die Komiker
Rundschau-Nacht
Vereinsheim Schwabing
PULS
Heimatsound Concerts –
Dreiviertelblut / Ganes
Umzug!
SWR
18.00 SWR Landesschau aktuell
18.15 Fahr mal hin
18.45 SWR Landesschau RheinlandPfalz
19.45 SWR Landesschau aktuell
20.00 Tagesschau
20.15 Expedition in die Heimat
21.00 Unsere schönsten Vereine
21.45 SWR Landesschau aktuell
22.00 Nachtcafé
23.30 Alfons und Gäste
0.00 Hannes und der Bürgermeister
0.30 SWR3latenight
1.00 StandUpMigranten – Comedy
mit allem und scharf
1.45 Alfons und Gäste
2.15 Nachtcafé
3.45 SWR3 New Pop Festival 2014 –
Nico & Vinz
HESSEN
18.00
18.20
18.45
19.15
19.30
20.00
20.15
21.00
21.45
22.00
0.00
0.30
1.15
2.45
maintower
Brisant
Hessentipp
alle wetter!
hessenschau
Tagesschau
Deutsche Urlaubsparadiese:
Sachsens schönste Seiten
Verrückt nach Meer
hessenschau kompakt
Tietjen und Hirschhausen
strassen stars
Dings vom Dach
Wer weiss es?
Deutsche Urlaubsparadiese:
Sachsens schönste Seiten
WDR
18.05 Hier und Heute
18.20 Servicezeit Reportage
23.30
0.15
0.45
1.10
1.40
2.10
2.40
3.00
Aktuelle Stunde
Lokalzeit
Tagesschau
Heimatabend Bonn
Lichters Schnitzeljagd (4/7)
Kölner Treff
Bus mit lustig – Die Aftershow zum Comedy
Festival
Heimatabend Siegen
Besuch aus dem Jenseits
Lebendig begraben
Die Außerirdischen kommen
Das Grauen kommt über Nacht
Die Invasion der Körperfresser
Erlebnisreisen-Tipp
Lokalzeit
18.00
18.15
18.45
19.30
20.00
20.15
21.15
21.45
22.00
0.00
1.00
3.50
Ländermagazine
Lust auf Norden
DAS!
Ländermagazine
Tagesschau
die nordstory – Alte Berufe
Die Reportage
NDR aktuell
Tietjen und Hirschhausen
NDR Comedy Contest
Der Norden rockt
Tagesschau – Vor 20 Jahren
18.50
19.30
20.00
20.15
21.00
21.45
23.15
NDR
RBB
18.00 rbb um sechs – Das Ländermagazin
18.30 zibb
19.30 Abendschau
20.00 Tagesschau
20.15 Kesslers Expedition
21.45 rbb aktuell
22.00 Tietjen und Hirschhausen
0.00 Auf los geht's los
2.05 Berliner Abendschau
2.30 Abendschau
3.00 Brandenburg aktuell
3.30 zibb
MDR
18.05
19.00
19.30
19.50
20.15
21.45
22.00
0.00
0.20
1.35
2.20
3.50
Heute im Osten unterwegs
MDR Regional
MDR aktuell
Elefant, Tiger & Co.
André Rieu – Das große
Jubiläumskonzert
MDR aktuell
Unter uns
Kino Royal spezial
Ausgerechnet Bananen
Heute im Osten unterwegs
Sagenhaft – Der Thüringer
Wald
SachsenSpiegel
PHOENIX
12.00
14.30
15.15
16.00
17.05
17.15
17.30
18.00
18.30
20.00
20.15
22.30
23.00
0.00
0.35
0.45
3.00
3.30
Vor Ort
Katharina von Bora
China auf zwei Rädern
maybrit illner
Augstein und Blome
Hoffen auf ein neues
Leben
Vor Ort
Was vom Leben übrig bleibt
Bruce Parry: Abenteuer am
Polarkreis
Tagesschau
Bruce Parry: Abenteuer am
Polarkreis
Die Hurtigruten
Der Tag
Im Dialog
Das Tal von Jiuzhai
Bruce Parry: Abenteuer am
Polarkreis
Die Hurtigruten
Planet der Drachen
18
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FREITAG, 31. OKTOBER 2014  TAZ.DIE TAGESZEITUNG
WISSENSCHAFT
Argwohn gegen Zahlen:
Wenn die Statistik schief ist
ZAHLENSPIELE Drei Wissenschaftler haben sich
zur Aufgabe gemacht, auf windiger Statistik
beruhende Aussagen zu hinterfragen
Auch Ausländerfeinde untermauern ihre Argumente gern
mit Zahlen, zum Beispiel mit der
polizeilichen Kriminalstatistik.
Der zufolge ist in Städten mit einem hohen Ausländeranteil die
Kriminalität nun mal höher. Diese Beweisführung verwechselt
allerdings eine Korrelation – das
heißt Gleichzeitigkeit – mit einer
Kausalität.
Denn Bevölkerungsgruppen
mit hohem ausländischem Hintergrund wohnen meist in Großstädten. Dort werden ohnehin
mehr Straftaten verübt als in
kleinen Gemeinden. Viele Migranten haben auch viel Nachwuchs. In aller Welt aber ist die
Kriminalität unter Menschen
Anfang zwanzig sehr viel höher
als unter älteren Erwachsenen.
Last not least begehen Verbrechen in einem Gemeinwesen
nicht nur dessen Bewohner, sondern auch Besucher, wie Touristen und Taschendiebe. Deshalb
wäre der weltweit kriminellste
Staat nach dieser Beweisführung
der Vatikan. Im Jahre 2011 waren
dort 492 BürgerInnen gemeldet,
es gab aber immerhin 866 Zivilund Strafverfahren.
Viele solcher kurioser und bedenklicher Beispiele führt nun
ein Buch über Risiken und Nebenwirkungen der Unstatistik
auf, sein Titel: „Warum dick nicht
doof macht und Genmais nicht
tötet“ (Campus-Verlag). Autoren
sind Thomas Bauer, Professor für
Empirische
Wirtschaftsforschung in Bochum, der Psychologe Gerd Gigerenzer, Direktor am
Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin, und
Walter Krämer, Professor für
Wirtschafts- und Sozialstatistik
an der TU Dortmund. Sie hatten
sich schon wiederholt am Rande
von Konferenzen über unsinnige
Statistiken mokiert, als sie sich
vor zweieinhalb Jahren fragten:
„Weshalb ziehen wir nicht regelmäßig vor einer dieser Desinformationen den Unschuldsschleier weg?“ Dies war die Geburtsstunde der „Unstatistik des Monats“ im Internet (www.unstatistik.de).
Da geht es um Forschungsresultate der Pharmaindustrie,
um Arbeitslosenzahlen, Armutsgrenzen, Zahlen zur Situation
der Frau und immer wieder um
Faktoren, die dumm und dick
machen sollen. Dabei werden
gern Prozentpunkte zueinander
in Relation gesetzt, um beeindruckende Ergebnisse zu erzielen.
Beispiel: In einem Test an über
3.500 älteren Spaniern mit hohem Infarktrisiko erkrankten im
Laufe von vier Jahren 6,9 Prozent
von einer Versuchsgruppe an Diabetes-Typ-2-Personen, welche
pro Woche je einen Liter natives
Olivenöl zu sich nahmen. In der
ölarm ernährten Kontrollgruppe
waren es 8,8 Prozent, also um
1,9 Prozentpunkte mehr.
Doch die Initiatoren setzten
die Anzahl der Prozentpunkte
zueinander in Relation: 1,9 Prozentpunkte machen 21 Prozent
von 8,8 Prozentpunkten aus –
und mit ein paar Korrekturen im
Hinblick auf Alter und Geschlecht kommt man so schnell
auf 30 Prozent: eine sensationell
wirkende relative Risikoreduktion durch die Öldiät.
So kann man nicht nur große
Ängste erzeugen, sondern auch
unrealistische Hoffnungen. Es ist
das Verdienst der Verfasser, diesen und andere Tricks in ihrem
Buch systematisch vorzustellen.
Ihr wichtigster Rat: Fragen Sie
sich bei jeder Untersuchung, was
zuerst da war: das statistische
Material oder die These?
Bauer, Gigerenzer und Krämer übertreiben es selbst aber
auch. Als statistisch nicht signifikant können sie Versuchsresultate des Franzosen Gilles-Éric Séralini entlarven, denen zufolge
mit gentechnisch modifiziertem
Mais gefütterte Ratten häufiger
an Krebs starben. Um diese Ergebnisse aber einordnen zu können, wäre es nötig, sich auch einmal die Versuchsreihen der Gentech-Lobby und -Industrie anzuschauen. Dort werden ähnlich
„designte“ Studien genutzt, um
die Unbedenklichkeit der Gentech-Nahrung zu beweisen.
BARBARA KERNECK
APPELL FÜR MEHR VORBEUGENDE MASSNAHMEN
Turnschuhe statt Tabletten
Der Vorsitzende der Deutschen
Gesellschaft für Innere Medizin
(DGIM) hat an die Ärzte appelliert, ihre Patienten mehr vorbeugend zu behandeln. Das Motto „Turnschuhe verordnen statt
Tabletten“ müsse mehr in den
beruflichen Alltag der Mediziner
integriert werden, sagte Professor Michael Hallek auf der Tagung „Vorbeugen oder Behandeln – Wohin geht die Innere Medizin?“.
Gerade bei Wohlstandskrankheiten wie Herz-Kreislauf-Beschwerden, Übergewicht und
Bluthochdruck könnten einfache Dinge wie mehr Sport oder
eine gesündere Ernährung viel
bewirken. Auch bei Krebserkrankungen könne die Begleitung
mit Sport die Lebenszeit verlängern. Dieses Bewusstsein müsse
bei Ärzten und bei medizinischen Fachgesellschaften immer
wieder erneuert werden.
DPA
STUDIE WEIST MIKROPLASTIK IN KLÄRANLAGEN NACH
Verspeiste Plastikteilchen
Unsere Kläranlagen können die
Belastung des Abwassers mit Mikroplastik nur zum Teil verhindern. Das ergab eine Studie des
Alfred-Wegener-Instituts für Polar- und Meeresforschung im
Auftrag des Oldenburgisch-Ostfriesischen
Wasserverbands
(OOWV) und des Niedersächsischen Landesbetriebs für Wasserwirtschaft, Küsten- und Naturschutz (NLWKN).
Es geht dabei um Plastikteilchen von weniger als 5 Millime-
ter Größe, wie sie etwa in gebräuchlichen Körperpflegeprodukten enthalten sind. Die Partikel sind ein Problem, weil sie
leicht Schadstoffe an sich binden
und von Lebewesen im Wasser
rasch aufgenommen werden. Je
nach Anlagengröße gelangen
pro Jahr zwischen 93 Millionen
und 8,2 Milliarden Partikeln in
die Vorfluter und damit in unsere Flüsse. Auch im Klärschlamm
wurden große Mengen MikroDPA
plastik gefunden.
Lieber Fußfall als Krieg: Türkische Roboter stehen neben einem deutschen Roboter beim „Robogol 2014“ Foto: dpa
Revolution der Maschinenwesen
ROBOTER Autonom
agierende
Maschinen werden
in vielen Bereichen
den Menschen
ersetzen. Sie sollen
nicht nur Pflege- und
Haushalts-dienste
übernehmen.
Investiert wird
auch in die
Entwicklung von
Kampfmaschinen
für zukünftige
Kriege
VON FRANK HEINZ DIEBEL
„Er fühlt weder Mitleid noch
Reue noch Schmerz, und er wird
vor nichts haltmachen, vor gar
nichts, solange Sie nicht tot sind“,
hörte das staunende Kinopublikum 1984 Michael Biehn alias
Kyle Reese in dem Kult-ScienceFiction-Film „Terminator“ sagen.
Die Rede war vom „Terminator“,
einem von dem Computernetzwerk Skynet konstruierten Cyborg, dessen Aufgabe – nomen
est omen – darin bestand, zu „terminate“, sprich zu beenden. Was
in den 1980er Jahren als spinnerte Kopfgeburt von Sci-Fi-Geeks
galt, kommt der Realität inzwischen näher, als Otto Normalverbraucher lieb sein dürfte.
Schon jetzt werden Roboter
zum Entschärfen von Minenfeldern, als Wachleute oder als Helfer im Haushalt eingesetzt. Die
japanische Regierung will bis
zum Jahr 2020 eine „Roboter-Revolution“ initiieren: Die Bots sollen in Hotels, Pflegeheimen und
für Lieferdienste eingesetzt werden. Amerikanische und japanische Unternehmen wie Boston
Dynamics und Schaft stellen
heute bereits leistungsfähige
und geschickte Roboter her, die
im Vergleich zum Schweißbot an
der Fertigungsstraße eines Automobilherstellers durchaus als
Tausendsassas gelten dürfen. Die
Maschinenwesen steigen Treppen, räumen Geröll beiseite, machen
Kniebeugen,
rennen
schneller als Menschen und
schleppen Hunderte von Kilo
durch unwegsames Terrain.
Mit dem technologischen
Fortschritt erwacht aber auch
das Interesse von Wirtschaft und
Industrie an den vielseitig einsetzbaren Blechdroiden. Anfang
des Jahres ging der Internetkonzern Google nach der Präsentation des „Google Driverless Car“
(fahrerloses bzw. autonom fahrendes Auto) einen weiteren
Schritt in Richtung Roboter-Revolution „Made in America“: Der
Internetgigant erwarb die im USamerikanischen Waltham beheimatete Robotikfirma Boston Dynamics, deren geschickte Roboter mit klangvollen Namen wie
Big Dog, Petman, Cheetah und
Atlas bereits auf YouTube Furore
gemacht haben.
Das 1992 als Ableger des Massachusetts Institute of Technology von Professor Marc Raibert gegründete Forschungsunternehmen bildet die technologische
Speerspitze bei der Herstellung
von autonomen Robotiksystemen. Finanziert wurden die Forschungstätigkeiten von Boston
Dynamics bislang in erster Linie
von den amerikanischen Streitkräften, genauer gesagt der US
Defence Advanced Research Projects Agency (Darpa), der US-Armee, der US-Marine und der USMarineinfanterie. Als eines der
technologisch innovativsten Produkte aus dem Hause Boston Dynamics dürfte der 2005 entwickelte „BigDog“ gelten. Wie der
Name bereits nahelegt, handelt
es sich hier um einen vierbeinigen, hundeartigen Laufroboter,
der ohne fremde Hilfe und mit
bis zu 155 Kilogramm beladen
Steigungen von bis zu 35 Grad hinaufklettern kann.
„BigDog“ ist mit einem Verbrennungsmotor, einem hochentwickelten Computersystem
und zahlreichen Sensoren ausgestattet, die es der Maschine ermöglichen, sich auch in unwegsamem Gelände mit Geschwindigkeiten von bis zu 6 Stundenkilometern autonom fortzubewegen. Wem das zu langsam ist,
für den haben die Roboter-Geeks
aus Massachusetts „Cheetah“ im
Programm. Der einem Geparden
nachempfundene Laufroboter
erreicht Geschwindigkeiten bis
46 Stundenkilometer und gilt als
schnellster Blechdroide der Welt.
Aber Boston Dynamics macht
nicht bei vierbeinigen Maschi-
nenwesen halt. 2012 wurden die
Robotik-Freaks von Darpa beauftragt, humanoide Roboter zu entwickeln. 10,8 Millionen US-Dollar wendeten die US-Streitkräfte
für das Forschungsprojekt auf
und die Erfolge können sich sehen lassen. Der menschenähnliche Roboter „Petman“ (Protection Ensemble Test Mannequin,
auf Deutsch: Puppe zum Testen
von Schutzkleidung) steht auf eigenen Füßen, kann die Arme recken und Kniebeugen machen.
Aus „Petman“ wurde 2013 „Atlas“,
der zwar nicht das Himmelsgewölbe auf den Schultern trägt,
aber sehr wohl in der Lage ist,
freistehend durch unwegsames
Terrain zu spazieren und zu klettern. In naher Zukunft sollen die
Hände des „künstlichen Menschen“ mit Sensoren bestückt
werden, die es ihm ermöglichen,
für Menschenhand entworfene
Werkzeuge zu benutzen.
Neben Boston Dynamics hat
sich Google bereits sechs weitere
Roboterhersteller
einverleibt.
Dazu gehören zum Beispiel das
japanische Unternehmen Schaft,
dessen Bots Leitern hoch- und
herunterklettern können, Redwood Robotics, die einen vollfunktionsfähigen Roboterarm
(inklusive Daumen und Fingern)
im Programm haben, und Industrial Perception, das es sich zur
Aufgabe gemacht hat, Robotern
mithilfe eines Infrarotsystems
dreidimensionale,
visuelle
Wahrnehmung beizubringen.
Will Google Roboter für den zivilen Einsatz als Massenprodukt
vermarkten, ähnlich wie Bill
Roboter sind die
perfekten Kontrollund Tötungsmaschinen, und wer sie
beherrscht, der
beherrscht vielleicht
dereinst die Welt
Gates dereinst den Personal
Computer? Müssen wir uns auf
einen Blechkameraden in jedem
Haushalt gefasst machen? Das japanische Unternehmen Softbank hat bereits für 2015 angekündigt, seinen Haushaltsroboter „Pepper“ in den USA auf den
Markt zu bringen. Laut Hersteller
soll der humanoide Helfer in der
Lage sein, Emotionen zu lesen.
Branchenkenner sind zwar skeptisch, weil „Peppers“ Funktionsumfang aufgrund des geringen Verkaufspreises von 2.000
Dollar relativ gering sein dürfte,
aber es kommt Bewegung in den
Markt der Haushaltsroboter – für
Google anscheinend Grund genug, massiv in den Bereich der
Robotik zu investieren.
Angesichts der immensen
Herstellungskosten dieser Maschinen dürfte bis dahin noch eine Weile vergehen, aber die britische und amerikanische Presse
befindet sich bereits in Angst
und Schrecken, was angesichts
von Schlagzeilen wie „I, Frankenstein“ (Slate), „Google‘s drive into
robotics should concern us all“
(The Guardian) deutlich wird.
Die Argumente, die gegen einen weit verbreiteten Einsatz
von halbwegs intelligenten Bots
sprechen, sind dabei nicht aus
der Luft gegriffen: Roboter geben
hervorragende Befehlsempfänger und Untergebene ab – wie bereits eindrücklich in den Terminator-Filmen oder Sci-Fi-Klassikern wie Stanley Kubriks „2001:
Odyssee im Weltraum“ thematisiert: die künstlichen Menschen
besitzen keine Gefühle, keinen
eigenen Willen, kein Gewissen,
keine Skrupel, werden nicht
krank und können repariert werden – sprich: die perfekten Kontroll- und Tötungsmaschinen,
und wer sie beherrscht, der beherrscht vielleicht dereinst die
Welt.
Was ebenfalls gegen Roboter
im Alltagseinsatz, zum Beispiel
als Haushaltshilfe, spricht, ist die
Frage, wer die Maschinen letzten
Endes kontrolliert bzw. was mit
den Daten geschieht, die das Maschinenwesen im Verlauf seiner
Tätigkeit sammeln kann. Der beunruhigendste Gedanke gilt vielleicht weniger den Blechdroiden,
die eines Tages autonom die
Weltherrschaft an sich reißen
könnten, als vielmehr den
Strippenziehern, die hinter der
„Roboter-Revolution“ stecken.
LEIBESÜBUNGEN
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FREITAG, 31. OKTOBER 2014  TAZ.DIE TAGESZEITUNG
Aufklärung light
19
SAN FRANCISCO GEWINNT DIE WORLD SERIES
Gigantische Giants
DAILY DOPE (681) Die Universität Freiburg drängt auf ein schnelles Ende der Aufarbeitung
ihrer Dopingvergangenheit. Erkenntnisverluste nimmt man dafür bereitwillig in Kauf
VON JOHANNES KOPP
Seit Mittwochabend ist nun endgültig klar: Die Lage ist so verfahren, dass eine unabhängige Instanz eingreifen muss. Der schon
lange währende Streit um die
Aufarbeitung der Dopingvergangenheit an der Freiburger Universität ist in den letzten Wochen
immer weiter eskaliert. Genau
genommen geht es gar um die
Aufarbeitung der westdeutschen
Dopingvergangenheit, dessen
Zentrum Freiburg gleich nach
dem Zweiten Weltkrieg wurde.
Die Uni Freiburg und die von ihr
2007 mit einem Aufklärungsauftrag versehene Evaluierungskommission finden keinen gemeinsamen Nenner mehr.
Wegen der Behinderungen ihrer Arbeit, die sie in einem über
hundertseitigen Rechenschaftsbericht dokumentiert hat, hatte
die Kommissionsvorsitzende,
Letizia Paoli, unlängst ein Ultimatum gestellt. Falls sich nichts
ändert, will sie am 7. November
zurücktreten. Am Mittwochabend drängte nun der Senat der
Albert-Ludwigs-Hochschule die
Kommission in einer Stellungnahme zum „unverzüglichen“
Abschluss der Arbeit und beharrte damit auf einer Position, die
eine Lösung des Konflikts sehr
unwahrscheinlich werden lässt.
Denn ein schnelles Ende ihrer
Untersuchung hatte Paoli zuletzt
aufgrund der Datenmenge für
unmöglich erklärt. Nach ihren
Klagen hatte etwa die Stadt Freiburg 18.000 Seiten Akten über
den früheren Doping-Arzt Ar-
min Klümper herausgerückt, um
welche die Kommission schon
2012 gebeten hatte.
Im Freiburger Dopingsumpf
scheint die gebürtige Italienerin
Paoli, eine renommierte MafiaExpertin, an ihre Grenzen zu stoßen. Im Zusammenhang mit ihrem Ultimatum warnte sie, mit
einer voreiligen Beendigung der
Kommissionsarbeit würde alles
wichtige nicht bearbeitete Mate-
„Was da passiert,
ist systematische
Vertuschung
krimineller
Straftaten“
DOPINGEXPERTE WERNER FRANKE
rial gelöscht werden müssen.
Das ginge aus einem Gutachten
hervor, das die Uni in Auftrag gegeben hätte. Dieser Darstellung
konnte der Uni-Rektor Hans-Jochen Schiewer nur bedingt widersprechen. Er sagte, die Behauptung von Paoli sei „in dieser
Allgemeinheit unzutreffend“. Im
Umkehrschluss stellt sich die
Frage, wieso sich die Uni mit einer möglichen Teilvernichtung
von wichtigem Beweismaterial
arrangieren kann?
Auch die Rolle der badenwürttembergischen
Wissenschaftsministerin Theresa Bauer
(Grüne) wirft Fragen auf. Zuerst
stellte sie sich nach Paolis Ultimatum mit der Forderung nach
einem baldigen Abschlussbericht hinter die Position der Universität Freiburg. Dann lud sie
die Streitparteien zu einem
Schlichtungstermin. Ein solches
Treffen bei der Ministerin hatte
es aber bereits vor einem Jahr gegeben, ohne dass sich an den Problemen etwas geändert hätte.
Paoli erklärte deshalb, sie wolle
erst wichtige Fragen mit Theresa
Bauer klären, bevor sie sich an einen runden Tisch setzen würde.
Inwieweit die politische Ebene
in Baden-Württemberg zum
Schlichten des Konflikts taugt, ist
indes auch zu hinterfragen. Die
Akten, die der Kommission zugänglich sind, beinhalten laut Paoli „Informationen über die Rolle
damaliger CDU-Landesregierungen, CDU-Minister, Angehöriger
der Freiburger Staatsanwaltschaft sowie der Universitätsund Klinikumsleitung“ im Zu-
sammenhang mit Ermittlungen
gegen Prof. Klümper. Die Gefahr,
dass bei dieser brisanten Gemengelage politischer Seilschaften
ihre Wirkung entfalten, ist groß.
Dopingexperte Werner Franke,
der bis 2012 selbst der Kommission angehörte, sagte: „Da kommen noch kriminelle Hämmer,
brutale Sachen raus.“ Recht behält er aber wohl nur, wenn die
Landesregierung entsprechend
reagiert. Die gegenwärtige Situation deutet eher auf einen anderen Ausgang des Geschehens
hin. So wetterte Franke: „Was da
passiert, ist systematische Vertuschung krimineller Straftaten.“
Auch das noch aktuelle Kommissionsmitglied Eberhard Treutlein äußerte sich deutlich: „Der
Wunsch nach dem Platzen der
Evaluierungskommission“ sei
bei der Uni größer als „der nach
einer sinnvollen Beendigung“.
Dabei hat Paoli mit ihrem Mitarbeiterstab gar so nebenbei interessante Unregelmäßigkeiten
aufgedeckt. Die Habilitationen
von sechs Freiburger Sportmedizinern stehen derzeit wegen Plagiatsverdacht auf dem Prüfstand. Uni-Rektor Hans-Jochen
Schiewer versteht sich derweil
weiter als Aufklärer. Er kündigte
an, dass man eine Forschungsstelle einrichten wolle, die sich
mit der Aufarbeitung der Freiburger
Dopingvergangenheit
auf Grundlage der Arbeit der
Kommission befassen soll. Paoli
entgegnete: Eine hauseigene Forschung könne naturgemäß „keine Aufklärungsarbeit universitätsinterner“ Belange leisten.
So spannend ging es schon lange
nicht mehr zu in einem Endspiel
einer nordamerikanischen Profiliga. Das Baseballteam der San
Francisco Giants konnte mit einem knappen 3:2 im entscheidenden Duell gegen die Kansas
City Royals die World Series gewinnen. Bereits im sechsten
Spiel gab es für die Giants die
Chance, die Meisterschaft vorzeitig für sich zu entscheiden. Doch
die Kansas City Royals erzwangen vor heimischer Kulisse eine
weitere Begegnung. Sie scheiterten jedoch vor allem am Most Valuable Player (MVP) der Saison,
Madison Bumgarner (Foto: dpa).
In der Regel benötigen Starting
Pitcher mindestens drei Tage
Pause zwischen den Spielen, um
nicht an Wurfgewalt einzubüßen
– doch nicht Bumgarner, der
maßgeblich zum Sieg beitrug.
Sein entscheidender Wurf sorgte
dafür, dass Royals-Schlagmann
Perez den Ball nicht optimal traf.
Die dritte Meisterschaft innerhalb von fünf Jahren für die
Giants war perfekt. Im Mission
District feierten einige Fans die
Meisterschaft sehr exzessiv. Es
kam zu schweren Ausschreitungen. Pyrotechnik wurde gezündet und Polizisten wurden attackiert. Diese erwiderten die Angriffe mit Schlagstöcken und
Tränengas.
DFB-POKAL
2. Runde
Hamburg - Bayern München
1:3
Hoffenheim - FSV Frankfurt
5:1
Bielefeld - Hertha BSC 4:2 i.E.
Wolfsburg - Heidenheim
4:1
Offenbach - Karlsruhe 1:0
Eintracht Frankfurt -Gladbach 1:2
Chemnitz - Bremen
0:2
Aalen - Hannover
2:0
Dresden - Bochum
2:1 n.V.
ACHTELFINALE
Duisburg - Köln
1:4 i.E.
Bayer Leverkusen - 1. FC Kaiserslautern,
Kaiserslautern - Fürth
2:0
Kickers Offenbach - Mönchengladbach,
St. Pauli - Dortmund
0:3
Bayern München - Eintracht Braunschweig,
Magdeburg - Leverkusen
4:5 i.E.
VfR Aalen - 1789 Hoffenheim, RB Leipzig -
Würzburg - Braunschweig
0:1
VfL Wolfsburg, Arminia Bielefeld - Werder Bremen,
1860 München - Freiburg
2:5
SC Freiburg - 1. FC Köln, Dynamo Dresden -
Leipzig - Aue
3:1 n.V.
Borussia Dortmund
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Mit diesem Topf bewässern
sich die Pflanzen über einen
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Allein 18.000 Seiten Akten über Doping-Guru Prof. Armin Klümper (Mitte) gilt es zu analysieren Foto: imago
WAS ALLES NICHT FEHLT
Eine Erhöhung: Die Nationale
Antidopingagentur (Nada) plant
für 2015 das Budget von 7,7 Millionen auf 10 Millionen zu erhöhen. Die Aufstockung ist notwendig, weil das Abkommen der
Welt-Antidopingagentur,
das
2015 in Kraft tritt, eine solche
vorschreibt. Nada-Vorsitzende
Andrea Gotzmann sagte: „Es
kommengroßeAufgabenaufdie
Nada zu. Es ergibt sich eine Vielzahl von international geforderten Auflagen. An der Finanzierung müssen sich Politik und
Sport beteiligen.“
Ein Sieg: Im WM-Testspiel gewann die DFB-Elf gegen Schweden mit 2:1 (0:0). Nachdem die
Schwedinnen durch Lotta Schelin (68.) in Führung gingen, gelang es Dzsenifer Marozsan (76.)
und Alexandra Popp (79.) in drei
Minuten, das Spiel zu drehen.
Eine Sanktion: Der VfL Bochum
muss eine Geldstrafe von 4.000
Euro zahlen. Das entschied das
Sportgericht des DFB. In der
Zweitligapartie gegen Fortuna
Düsseldorf hatten Bochumer
Fans gegen Ende des Spiels Feuerzeuge auf den Platz geworfen.
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FREITAG, 31. OKTOBER 2014  TAZ.DIE TAGESZEITUNG
DAS WETTER: MYSTERIENMIX
Doch Resomation ist beileibe
nicht der letzte Trend der Beseitigungsszene. Dass Tote zu Diamanten gepresst oder gefriergetrocknet werden, ist in Kanada
allmählich Standard. Wem das zu
unspektakulär ist, der lässt sich
in Karbonit einfrieren und lebt
als Wandschmuck bei der Sippe
fort.
Eine weitere, extravagante
Konkurrenz: Die Sprengbestattung, sie begeistert wohl vor allem Extremsportler, moderne
Performer und religiöse Fundamentalisten. „Viele haben für ihren letzten Gang nur einen
Wunsch: mit einem Knall ins Jenseits gleiten und dabei möglichst
viele Unschuldige mitnehmen“,
weiß Kim Kevorkian-Kusch von
TNT/RIP in Montreal. Das explo-
sive Verfahren ist nicht ganz billig. Aus Sicherheitsgründen werden die Zeremonien nur auf abgelegenen, eigens angemieteten
Freiflächen durchgeführt; zudem braucht es Schutzbrillen,
Ohropax und Regencapes. Auch
der Sprengstoff kostet – logisch,
dass Hinterbliebene von fülligeren Personen mehr zahlen.
Auch in anderen Teilen der
Welt gibt es morbide Innovationen. Das „Newspaper funeral“
des britischen Nicht-nur-Kochs
Jamie Oliver ist auf der Insel Kult!
Der Leichnam wird mit Knoblauch und Olivenöl eingerieben,
mit Koriander, Zitronengras und
rotem Chili bestreut und in Zeitungspapier eingewickelt. Dreißig Minuten auf glimmender
Holzkohle liegen lassen, auswi-
DIE RELIGION DER FUSSBALLISTEN
Bisher dachte ich immer, Fußball sei eine tolerante und friedliche Religion. Fußball, dachte
ich, existiere in Harmonie mit
anderen Glaubensrichtungen.
Auch wenn seine Anhänger es
sich nicht verkneifen können,
auf vergleichbares Gehampel
wie Handball oder Volleyball
mitleidig herabzuschauen.
In Sure 23 heißt es: „Er ist
Sport,außerdemeskeinenSport
gibt. Er ist der hochheilige König,
dem das Heil innewohnt. Er ist
es, der Sicherheit und Gewissheit gibt, der Mächtige, Gewaltige und Stolze. Fußball sei gepriesen!“ Regelmäßig besuchen die
fußballfürchtigen Gläubigen ihre Gottesdienste in Stadien:
„Und ihr Gebet beim Haus ist
Pfeifen und Klatschen“ (Sure 8).
Ganz offensichtlich aber hat
der Fußball ein Gewaltproblem.
Und das nicht erst, seit 6.000
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Hooligans „mehrheitlich friedlich“ die Innenstadt von Köln in
Schutt und Asche gelegt haben.
Nein, die Gewalt gehört zum
Fußball wie der Fußball zu
Deutschland. Was selbstverständlich längst nicht für alle
Fußballgläubigen gilt.
Ich kenne mich aus, einige
meiner besten Freunde sind welche. Fans von Mainz, Wolfsburg
oder München, die sich für aufgeklärt halten und dennoch von
den archaischen Ritualen nicht
lassen können. In ihrer Bequemlichkeit machen sie sich vor, die
Gewalt auf und neben dem Platz
sei ein „Auswuchs“ ihrer ansonsten fairen bis barmherzigen Religion. Dabei ist sie ihr Kern.
Kein Wunder, dass diese Gewalt gerade jetzt aus dem Stadion ausbricht. Gesellschaftliche
Grabenkämpfe sind eben auch
Grabenkämpfe. Und Freunde
Der Sensenmann gibt sich in dieser Saison ein ganz neues Kleid Foto: reuters
ckeln, mit Kaffernlimette beträufeln – lecker! (Serves four mourners.) Und in Südostasien spielen
jetzt, in Anlehnung an die Riten
der Parsen, die ihre Toten zur
Vertilgung durch Geier auf
VON ARNO FRANK
des Ersten Weltkriegs wissen,
dass sich aus dem Graben keine
Gebietsgewinne machen lassen.
DieInfanteriehocktdumpfinihren Unterständen, während die
gegnerischen Gesinnungsgeschütze einander beharken. In
Leitartikeln oder Talkshows tobt
ein lähmender Meinungsstellungskrieg wie weiland 1915, als
Oberstleutnant Willy Rohr den
Stoßtrupp erfand. Damit brachte er wieder Bewegung in den
Krieg und verhalf nebenbei dem
Fußball zu seinem Siegeszug.
Rohrs legendäres „Sturm-Bataillon Nr. 5“ war ein effizientes
und dizipliniertes Team von
Spezialisten am Maschinengewehr, Minen- und Flammenwerfer. Mithilfe konsequenten Pressings und der richtigen mentalen Einstellung sollte das zweikampfstarke Team rechtzeitig
seine Leistungen abrufen und
die Lücken in der gegenerischen
Abwehrdurchbrechen.Undfortan war nicht mehr Schwimmen,
Rudern oder Klettern angesagt.
Offizieller Wehrsport wurde das
Fußballspiel, dem sogar „die Offiziere sich anschließen“, wie die
französischen Spione staunten.
Schließlich ging es um „Kameradschaft“ und darum, „an
die Stelle der Masse die Elite zu
setzen“, wie SS-Obergruppenführer Felix Steiner 1939 betonte. Es ist „die Idee der Spontaneität, des schnellen Angriffs“, mit
der allein sich die Verhältnisse
auf dem Schlachtfeld, dem Platz
oder im gesellschaftlichen Diskurs aufbrechen lassen. Ist so.
Steht alles bei Friedrich Kittler.
Ich will nicht fußballophob
klingen. Aber ich finde, dass moderate Fans sich deutlicher von
ihren radikalen Glaubensgenossen distanzieren sollten.
Schweigetürmen ablegen, bei
Gutbetuchten Tiere eine Rolle.
Deren sterbliche Überreste jagt
man durch einen Gartenhäcksler; eine seltene Schleichkatzenspezies frisst sie und scheidet sie
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CMY 30
Es tot sich was. Die Niederlande
und Belgien diskutieren jetzt die
Zulassung einer in den USA bereits praktizierten chemischen
Bestattungsform namens Resomation. Wie hierzulande auch
sind in unseren Nachbarländern
bisher nur Erd-, Feuer- und Musealbestattung erlaubt. Die Resomation gilt bei Befürwortern als
„schnelle, günstige und umweltfreundliche“ Alternative, wie die
Welt schrieb. Dabei wird der tote
Körper in einen dampfgarerartigen Hochdruck-Apparat gelegt
und mit Kaliumhydroxid und
Heißwasser besprüht. „Am Ende
bleibt weißes Pulver, das in einer
Urne aufbewahrt oder als Pflanzendünger eingesetzt werden
kann“, erklärt Resomator-Designer John Heskes.
CMY 50
FRIEDHÖFE IM HERBST Die neuen Bestattungstrends sind endlich da!
aus. Die so veredelten Leichenteile kosten bis zu 1.200 Dollar pro
Kilo und werden fürderhin im
Haus der zahlungswilligen Familie gelagert (Tupperdose).
Die deutsche Bestattungszunft steht bei diesen Entwicklungen nicht hintan, wartet bloß
noch auf Gesetzesanpassungen.
„Ich habe ein Patent eingereicht,
das Pietät mit Nachhaltigkeit
verbindet“, verspricht Unternehmer Dr. Leo Fink. „Diese ganzen
alten Wäschemangeln, die im
Land verstauben, will ich nachnutzen, um die sogenannte Plättungsbestattung zu etablieren.
Die Idee dafür kam mir bei einem Tom-und-Jerry-Cartoon.“
Und das ist nicht Finks einzige
Idee. „Für die lieben Kleinen, die
ja leider auch manchmal abnippeln, sollen es ausrangierte
Schrotmühlen sein“, lacht das
Schwein. „Aus den Körnern lassen sich dann die Konturen der
Racker nachbilden.“
Tod, wo ist dein Stachel?
CMY 70
Gevatter Tod mal anders
ment mit sich zu führen. Glüht
der Herd, Vater anrufen und
nach dem Rezept für Waldmeisterbowle fragen. Nach dem Ferngespräch Reine in die Feuerstätte schieben, dabei Altgriechisch
für Anfänger studieren. Falls gutes Schuhwerk vergessen, Koffer
umpacken und ein Paar Treter
zuführen. So tun, als ob man
Waldmeister im Haus hätte, und
das Kraut zügig ins bereitgestellte Goldfischglas geben. Nicht
vergessen vor der Abreise: Vater
testamentarisch bedenken. Bei
Abreise: Messer, Gabel, Schere,
Licht ausmachen und auf Los!
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Man nimmt eine feuerfeste Reine, mariniert sie beherzt mit
ausgelassener Vorfreude, verkleidet sie mit allerlei Fallobst
aus aller Herren Länder und
überlegt sich dann, wohin die
Reise geht. Anschließend üppig
Baiser obenauf geben und Kofferpacken nicht vergessen. Dabei beachten: Sperrgut nach unten, Seidenblusen on top und
Pullunder rollen. Den Umluftherd auf volles Rohr schalten,
sich der mit Fallobst und Baiser
aufgehübschten Reine erinnern,
außerdem nicht vergessen, auf
der Reise stets ein Ausweisdoku-
K 30
Was alles so auf deutschen Autobahnen landet, wenn Laster einen Unfall haben: Gestern verlor
erst ein Lkw „auf der A7 in Unterfranken 17 Tonnen Speisequark“, dann „rollten in Nordrhein-Westfalen tonnenweise
Speisezwiebeln über die A30“.
Hätte man das nicht besser koordinieren können? Und mittendrin noch einen Hänger mit
Speisekartoffeln verunglücken
lassen? Dann wäre ein ganz großes Gericht beisammen: Pellkartoffeln mit Quark und Zwiebeln. Deutsche Autobahnen:
auch ohne Maut einfach lecker.
K 50
GURKE DES TAGES
DIE WAHRHEIT
K 70
20
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Die Sammlerin

taz.berlin
Lilian Masuhr hat eine Website ins
Leben gerufen, auf der gepostet
Geschichten des sozialen Netzwerkes erzählt werden SEITE 23
16 SEITEN
TAZPLAN AM
DONNERSTAG
Lilian Masuhr Foto: Julia Baier
FREITAG,
31. OKTOBER 2014
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„Der Bezirk ist jetzt am Ende“
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FLÜCHTLINGE Monika Herrmann vollzieht die Kehrtwende: Wenn die Besetzer die ehemalige Gerhart-Hauptmann-
Schule nicht verlassen, werde sie die Polizei um Räumung bitten, erklärt die grüne Kreuzberger Bürgermeisterin
INTERVIEW ALKE WIERTH
UND SUSANNE MEMARNIA
taz: Frau Herrmann, die Besetzer sollen bis zum heutigen
Freitag die Schule verlassen.
Wann wird geräumt?
Monika Herrmann: Wir haben
das Amtshilfeersuchen an die
Polizei noch nicht gestellt. Wir
haben angeboten, dass sich die
Leute am heutigen Freitag Hostelgutscheine abholen. Wir bieten auch Beratung dazu, was es
für Möglichkeiten über das Jobcenter gibt. Es wohnen ja einige
Leute dort, die eine Duldung
oder eine Aufenthaltserlaubnis
haben. Unsere Wohnungsangebote haben sie aber abgelehnt.
Ihr Sprecher hat angedeutet, es
werde diese Woche geräumt.
Nein. Man muss ja so ein Amtshilfeersuchen erst einmal unterschreiben. Und wir sind immer
noch sehr optimistisch, dass wir
das gar nicht machen müssen.
Aber wenn doch?
Wenn alle Angebote abgelehnt
werden, dann werden wir die Polizei um Amtshilfe bitten.
Wer denn genau?
Ob ich unterschreibe oder die
Immobilienstadträtin, ist egal.
Wir haben einen einstimmigen
Beschluss des Bezirksamts. Das
war im Sommer anders.
Als Stadtrat Hans Panhoff damals die Polizei rief, waren Sie „Wir haben alles getan“: Bürgermeisterin Herrmann Foto: Wolfgang Borrs
dagegen.Washatsichgeändert?
.....................................................................................................................
Damals standen Leute auf dem
Widerstand gegen Räumung Der Senat hat seine Versprechen gegenüber den FlüchtDach und haben gedroht, herun- ...............................................................
lingen nicht erfüllt. Könnte der
terzuspringen. Damit waren wir ■ Gleich zwei Solidaritätserkläim Bezirksamt überfordert, das rungen mit den Flüchtlingen wur- Bezirk ihnen ein Refugium lassen?
ist nicht unser Alltagsgeschäft. den am Donnerstag veröffentDas ist eine Illusion. Der Bezirk
Meine Einschätzung war, dass licht: Der Aufruf des Bündnisses
hat über zwei Jahre sein Optiwir eventuell mit Toten zu rech- „Zwangsräumung verhindern“
mum geleistet und ist jetzt am
nen haben, wenn die Polizei da kündigt Widerstand gegen eine
reinmarschiert. Da habe ich ge- mögliche Räumung an. Auch in ei- Ende. Wir können das nicht finanzieren, ihnen keine Wohsagt, wir frieren den Status quo ner unter anderem vom Maxim
erst mal ein, um die Eskalation zu Gorki Theater unterzeichneten Er- nung geben, keine legale Arbeit
und keine Papiere verschaffen.
verhindern.
klärung heißt es, man werde
Sie bleiben, solange ihr Status so
Auch jetzt könnten Menschen „nicht tatenlos zusehen“. Die Bezu Schaden kommen.
wohnerInnen erklärten am Nach- ist, wie er ist, in der sogenannten
Illegalität. Alle, die sich solidaDas kann passieren, ja. Aber wir mittag, dass sie die Schule nicht
risch erklären, kann ich nur aufhaben inzwischen alles getan, freiwillig verlassen werden.
was man tun kann, haben alle ■ Am Mittwochabend fanden eine fordern, die Leute aufzunehmen.
Angebote gemacht, die wir ma- Kundgebung und ein Solidaritäts- Würden Sie rückblickend die
Besetzung des Oranienplatzes
chen können. Wenn Leute da drin konzert vor der Schule statt. 170
sind, die einfach maximal kämp- Polizisten waren im Einsatz, sechs und der Schule noch einmal erlauben – wie es Ihr Vorgänger
fen wollen, dann ist das ihre Ent- KundgebungsteilnehmerInnen
Franz Schulz getan hat?
scheidung.
wurden festgenommen. (mgu)
21
Damals, ohne das Wissen von
heute, war das ein logischer
Schritt. Auf dem Oranienplatz
lag Schnee, die Leute haben gefroren und wir hatten dieses leer
stehende Gebäude, das beheizt
wurde. Der Fehler, den ich im
Nachhinein selbstkritisch sehe,
war, dass wir es dann haben laufen lassen. Wir haben die Menschen lange sich selbst überlassen, sie sollten sich selbst organisieren. Das war auch der Anspruch der Unterstützer. Aber jeder, der WG-Erfahrung hat, weiß,
wie schwierig Selbstverwaltung
ist. Und vielen Bewohnern der
Schule ging es nicht darum, die
wollten weg von der Straße. Als
Panhoff später regelmäßig hingegangen ist, hat er gesagt: Leute,
ich brauche Ansprechpartner,
wir brauchen ein Plenum, dies
und jenes sind unsere Angebote.
Aber eine richtige Zusammenarbeit war nicht möglich.
Käme bei der bevorstehenden
Räumung jemand zu Schaden,
was wäre dann die Konsequenz?
auf dem Gelände eingeplant. Es
finden derzeit Gespräche mit
dem Lageso und Trägern statt,
denn wir können als Bezirk nicht
Träger der Einrichtung sein.
Was für Projekte?
Mir ist wichtig, dass eine medizinische Erstversorgung in das
Haus kommt. Und ich hätte gerne ein Angebot, bei dem es um
Beschäftigung geht.
Und gemeinnützige Träger bekämen Kredite, um das Haus
entsprechend auszubauen?
Ja, aber nur, was das Wohnen betrifft. Für die Projekte müssen
wir andere Lösungen finden.
Trotzdem wird das in den Augen der jetzigen Bewohner eins
der Lager sein, die sie ablehnen.
Lager ist ein politischer Kampfbegriff, den ich vom Grundsatz
her auch nicht falsch finde. Es
gibt Einrichtungen, die einen solchen Charakter haben. Die zwei,
die wir bislang in Kreuzberg haben, unterscheiden sich aber davon. Und das, was wir hier jetzt
aufbauen, unterscheidet sich
noch einmal.
Die Schule soll eine Art Vorzeigeeinrichtung werden?
Den Ehrgeiz habe ich nicht. Aber
ich möchte, dass das eine Einrichtung wird, wo die Menschen
sich willkommen fühlen und
sich nicht zu Tode langweilen
müssen, weil sie sich nicht beschäftigen können. Und es wäre
gut, wenn das Haus sich in den
Kiez hinein öffnet. Der ist ja sehr
solidarisch, auch wenn sich jetzt
manchmal Leute aufregen.
Was passiert mit den Leuten
vom Oranienplatz und der
Schule?
Sie müssen entscheiden, ob sie
zurück in das Bundesland gehen,
wo ihr Verfahren läuft, oder nach
Italien, wenn sie dort Aufenthalt
haben. Oder sie versuchen, hier
Fuß zu fassen. Das können sie
aber nur, wenn ihnen Leute
privat helfen. Anders haben sie
keine Chance.
Demokratiedefizit soziale
Gerechtigkeit?
Ein feministischer und verteilungspolitischer Blick auf die Krise der
repräsentativen Demokratie
Nancy Fraser (New School, New York City)
und Uta Ruppert (Goethe Universität,
Frankfurt a.M.)
im Gespräch mit Ulrike Baureithel
Montag, 3. November 2014, 19.00 Uhr im
Haus der Demokratie und Menschenrechte,
Greifswalder Str. 4, 10405 Berlin
Die Teilnahme ist kostenfrei
Weitere Infos unter:
www.bildungswerk-boell.de
Von Bullen
und Ziegen
KREUZBERG Tiergehege
im Viktoriapark gerettet
Kreuzberger Nächte sind lang
und unterhaltsam, und zwar
ganz besonders dann, wenn die
Bezirksverordnetenversammlung (BVV) tagt. Am Mittwochabend fand diese unter Polizeischutz statt. Zwei Hundertschaften sowie ein gutes Dutzend Security-Männer
kontrollierten
mit strenger Miene Ausweise
und schickten BesucherInnen
auf dem Weg zur Toilette konse„Wenn Leute da drin
quent in die falsche Richtung.
sind, die einfach
Die letzte BVV musste schließlich vorzeitig abgebrochen wermaximal kämpfen
den, weil ein Flüchtlingsunterwollen, dann ist das
stützer erst laut pöbelte und
dann nicht gehen wollte.
ihre Entscheidung“
Dieses Mal war also vorgeWenn man ein Amtshilfeersusorgt. Gepöbelt wurde allerdings
chen stellt, ist man nicht mehr
trotzdem, wenn auch nicht von
Herr des Verfahrens. Die Polizei
Flüchtlings-, sondern von Zieentscheidet dann darüber, wie
genunterstützerInnen: Ein Dutweiter vorgegangen wird. Ich
zend BesucherInnen protestierte
gehe davon aus, dass sie so prolautstark gegen die Schließung
fessionell und mit Augenmaß
des Tiergeheges im Viktoriapark,
agiert, dass nichts passiert.
durfte aber trotzdem bleiben.
Was passiert mit der Schule
„Bezirk lässt Ziegenfreunde räunach der Räumung?
men“ – diese Schlagzeile wollte
Wir haben ein Konzept, das für
man sich wohl doch ersparen.
das Haupthaus eine Frauen-, eine
Stattdessen überboten sich die
Männer- und eine Familienetage
Bezirksverordneten gegenseitig
für Flüchtlinge vorsieht. Da solin ihrer möglicherweise erst
len aus den recht großen Klaskürzlich entdeckten, dafür aber
senzimmern
abgeschlossene
umso flammenderen Ziegenlie..............................................................................
Wohneinheiten mit Appartebe. Am Ende wurde ein Antrag
Monika
Herrmann
mentcharakter, also jeweils mit ...................................................................................
auf Rettung des Geheges angeeigenem Bad und eigener Koch- ■ Jahrgang 1964, ist seit gut einommen, der Bezirk muss die
gelegenheit, entstehen. Projekte nem Jahr Bürgermeisterin von
Tiere nun aus ihrem Marzahner
sind im Haupthaus sowie im Pa- Friedrichshain-Kreuzberg. AufgeExil auf den Kreuzberg zurückMGU
villon und in mobilen Einheiten wachsen ist die Grüne in Rudow.
holen. Mäh!
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Woidke fordert Klarheit von Vattenfall
AUF DER HÖHE
ENERGIE Greenpeace kritisiert möglichen Verkauf der Braunkohlesparte, Gewerkschaft freut sich
Brandenburgs
Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) hat
vom schwedischen Energiekonzern Vattenfall schnelle Entscheidungen zu den Verkaufsabsichten beim Braunkohlegeschäft in der Lausitz gefordert.
„Offenbar bestehen in der Unternehmensführung als auch beim
Eigentümer weiterhin nur vage
Vorstellungen zur zukünftigen
Ausrichtung des Unternehmens“, kritisierte Woidke.
Vattenfall hatte angekündigt,
einen Verkauf seiner Kraftwerke
und Braunkohletagebaue in
Brandenburg und Sachsen zu
prüfen. Dafür gebe es aber noch
keinen bestimmten Zeitplan, so
ein Sprecher. Vattenfall betreibt
alle Braunkohletagebaue in
Brandenburg:
Welzow-Süd,
Reichwalde,
Nochten
und
Jänschwalde. Laut Statistischem
Landesamt verursachen die
Kraftwerke 65 Prozent aller CO2Emissionen in Brandenburg.
Greenpeace kritisierte die
Verkaufsabsichten. Es sei zwar zu
begrüßen, dass Vattenfall klimafreundlicher werden wolle, sagte
Greenpeace-Mitarbeiter Karsten
Smid. Aber dafür könne der Konzern das klimaschädliche Geschäft nicht einfach abstoßen:
„Ein Verkauf löst das Problem
nicht, sondern reicht es lediglich
weiter.“ Nach Zählung von
Greenpeace hat der Abbau von
Braunkohle in Brandenburg bis-
her zu 135 zerstörten Dörfern
und über 27.000 umgesiedelten
Menschen geführt.
Ein Ausstieg aus der Braunkohle kommt für Ministerpräsident Woidke allerdings nicht in
Frage. Er teilte mit, die Braunkohleverstromung bleibe nach
dem Atomausstieg ein unverzichtbarer Baustein der Energiewende. Die Tagebaue seien
für Wirtschaft und Arbeitsmarkt
in der Lausitz auch weiterhin von
größter Bedeutung. Woidke begrüßte, dass Vattenfall einen Dialog mit der Politik angekündigt
hatte: „Meine Erwartung ist, dass
die Unternehmensführung zügig zu Beratungen in die Lausitz
kommt.“
Nach Ansicht der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie,
Energie kann der Verkauf „eine
neue Chance für die Beschäftigten und die betroffenen Regionen“ eröffnen. Die Bedingung
dafür sei aber, dass das Braunkohlegeschäft von Vattenfall mit
voller Leistungskraft, Zukunftsfähigkeit und Investitionsstärke
erhalten bleibe, so der Gewerkschaftsvorsitzende Michael Vassiliadis. Er warnte Vattenfall vor
einer Zerschlagung der Braunkohlesparte. Die Gewerkschaft
werde sich einer „etwaigen Filetierung des Unternehmens zur
Kaufpreismaximierung widersetzen“.
SEBASTIAN HEISER
Wirtschaft + Umwelt SEITE 8
Diagnosen zur Zeit
#E
Empörung
Wie der Skandal im digitalen
Zeitalter funktioniert
Mit Bernhard Pörksen
Klassische Medien büßen ihr Monopol
auf Meinungsproduktion ein, politische
Diskussionen verlagern sich in Blogs und Soziale
Netzwerke. Der Wettbewerb um Aufmerksamkeit macht
aber Skandalisierung zur Pflicht. Bernhard Pörksen seziert
Mechanismen der Empörungsdemokratie.
Montag, 3. November 2014, 19.30 Uhr
Heinrich-Böll-Stiftung, Schumannstr. 8, 10117 Berlin
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22
L
FREITAG, 31. OKTOBER 2014  TAZ.DIE TAGESZEITUNG
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ARBEITSLOSENQUOTE
KUNDGEBUNG VON HOOLIGANS AM BRANDENBURGER TOR
Zahl weiter gesunken Henkel ist für ein Verbot der Demonstration
Die zuletzt gedämpfte konjunkturelle Stimmung hat sich noch
nicht auf den Berliner Arbeitsmarkt niedergeschlagen: Die Arbeitslosenquote sank im Oktober auf den niedrigsten Stand
seit 1997 gemäß der aktuellen Berechnungsgrundlage. Die Regionaldirektion der Bundesagentur
für Arbeit meldete am Donnerstag 195.425 Erwerbslose. Das entspricht einer Quote von 10,7 Prozent. Im Vormonat lag die Quote
noch bei 10,8 Prozent, vor einem
Jahr bei 11,2 Prozent. Damit waren im Oktober 2.575 Berliner weniger ohne Beschäftigung als im
September und 6.387 weniger als
im Oktober 2013. (dpa)
Berlins Innensenator Frank Henkel (CDU) will nach den Hooligan-Krawallen in Köln eine ähnliche Demonstration in der
Hauptstadt verhindern. „Wir
werden jedenfalls alles tun, um
zu einem Verbot zu kommen“,
sagte er am Donnerstag im ZDF„Morgenmagazin“. Die Versammlungsbehörde solle intensiv prüfen, ob ein Verbot möglich
sei. „Ich möchte vor allem solche
Bilder wie in Köln nicht noch einmal erleben.“
Die rechte Hooligan-Szene
will nach den Ausschreitungen
in Köln mit vielen Verletzten
auch in Berlin gegen Islamisten
auf die Straße gehen. Laut Behör-
den wurde für den 15. November
eine Kundgebung mit rund
1.000 Teilnehmern am Brandenburger Tor angemeldet.
In sozialen Medien verabreden sich laut Senator Henkel jedoch deutlich mehr Teilnehmer
für das Treffen. Er sei sich der juristischen Risiken und der Debatten in Deutschland bewusst, sagte Henkel. Man laufe Gefahr, dass
solche Gruppierungen aufgewertet werden, sollte ein Verbot
scheitern. Zudem sei das Versammlungsrecht ein hohes Gut.
Andererseits stelle sich die Frage,
ob die Ereignisse in Köln etwas
mit Demonstrationsfreiheit zu
tun gehabt hätten. (dpa)
URTEIL ZUR KASTANIENALLEE
Freie Fahrt für Radler
Das Verwaltungsgericht hat in einer am Mittwoch veröffentlichten Entscheidung die Radwegebenutzungspflicht für die Kastanienallee in Prenzlauer Berg aufgehoben. Immer wieder war es
dort zu Konflikten gekommen,
weil Radfahrer im Bereich der
Tram-Haltestellen vorschriftsmäßig den Fahrradweg benutzten. Der rund ein Meter breite
Radweg verläuft genau zwischen
Wartehäuschen und Bordsteinkante – schnell fahrende Radler
erschreckten oft auf die Tram
wartende Fahrgäste. Wird das Urteil rechtsgültig, können die
Radfahrer hier wieder auf der
Straße fahren. (ah)
Internetverbot für Ordnungsamt
DATENSCHUTZ Das Verbot von Ferienwohnungen steht auf der Kippe: Die Bezirke
dürfen nicht auf den einschlägigen Internetportalen nach illegalen Angeboten suchen
21. Internationales Theaterfestival Potsdam
28.Oktober -- 01.November 2014
unidram
Die Bezirke werden in Zukunft wohl nach neuen Wegen suchen müssen, um illegalen Vermietern auf die Spur zu kommen Foto: Paul Langrock/Zenit
VON RAINER BALCEROWIAK
Tickets unter 0331-719139 | www.unidram.de | www.t-werk.de
Bezirken zu melden, um eine befristete Übergangsgenehmigung
für zwei Jahre zu erhalten. Von
dieser Möglichkeit machten allerdings nur rund ein Drittel der
Betreiber Gebrauch. Bis Ende
September gab es insgesamt
6.000 Meldungen, teilweise in
Form von Bürgerhinweisen, aber
auch durch Antragsteller, die um
eine Nachfrist baten. Daher wollten die Bezirke nunmehr die einschlägigen Internetportale systematisch durchforsten, um ille-
„Die ganze Welt nutzt
das Internet, und wir
dürfen das nicht“
Mit einem Paukenschlag durchkreuzt der Landesdatenschutzbeauftragte das Verbot von Ferienwohnungen, das Berlin nach
STADTRAT STEPHAN VON DASSEL
jahrelanger Debatte beschlossen
hatte: Er hat verfügt, dass die Bezirke nicht im Internet nach den
galen Anbietern auf die Spur zu
dort angebotenen Ferienwohkommen. Von Dassel hatte daher
angeregt, dass ein Auftrag für ein
nungen suchen dürfen. Damit
können die Bezirke das Verbot
Programm ausgeschrieben werfaktisch nicht mehr durchsetzen,
de, das diese Daten ermittelt und
erklärte der im Bezirk Mitte für
zuordnet, da bei vielen Angeboten Vermittler wie AirBnB und
Soziales und Bürgerdienste zu............................................................................
HouseTrip zwischengeschaltet
ständige Stadtrat Stephan von
Ferienwohnungen
Dassel (Grüne) am Donnerstag. ..................................................................
werden.
Jetzt muss das Abgeordneten- ■ Das Gesetz über das Verbot der
Doch Paragraf 5 des Gesetzes,
das die Ferienwohnungen verhaus das Gesetz nachbessern.
Zweckentfremdung von WohnMit dem Gesetz sollte vor al- raum trat am 1. Januar 2014 in
bietet, erlaubt nur die Datenablem die Nutzung von Mietwoh- Kraft und wurde am 1. Mai rechts- frage bei Bürger-, Wirtschaftsnungen als Ferienwohnungen wirksam.
und Grundbuchämtern, im Hanunterbunden werden. Dies sollte ■ Mit dem Gesetz werden sowohl delsregister und bei der Investiden Mietmarkt entspannen und die Nutzung von Miet- als Ferientionsbank Berlin. Auf Nachfrage,
so der Stadtrat, habe man ihm
Preissteigerungen entgegenwir- wohnungen als auch längerer
bei der Senatsverwaltung erklärt,
ken. Senat und Bezirke gehen da- Wohnungsleerstand untersagt.
diese Aufzählung sei „abschlievon aus, dass es in Berlin rund Restriktionen gibt es auch für anßend“, eine Nutzung von Inter12.000 Wohnungen gibt, die un- dere Formen gewerblicher Nutnetdaten scheide daher aus.
ter das Verbot fallen. Rund 4.000 zungen.
Von Dassel stellt sich jetzt die
sollen es allein im Bezirk Mitte ■ Für Besitzer, die die Zweckentsein, auch in Friedrichshain- fremdung anzeigten, gilt ein zwei- Frage, ob dies „Absicht oder DiKreuzberg, Pankow und Charlot- jähriger Bestandsschutz, allen an- lettantismus“ bei der Formulietenburg-Wilmersdorf gibt es deren kann die Nutzung untersagt rung des Gesetzes gewesen sei.
„Die ganze Welt nutzt das Interüberdurchschnittlich viele sol- werden.
net, um Ferienwohnungen zu becher Angebote für Touristen.
■ Erfasst wurden bislang rund
Bis zum 31. Juli hatten die Feri- 6.000 Meldungen über Zweckent- treiben und zu nutzen, und wir
enwohnungsanbieter die Mög- fremdungen, die Dunkelziffer wird dürfen das nicht.“ Nicht einmal
Printmedien könnten herangelichkeit, die Wohnungen bei den auf 50 Prozent geschätzt.
zogen werden. Das sei „bizarr“.
Während die illegalen Anbieter
nun darauf hoffen könnten, bis
auf Weiteres unentdeckt zu bleiben, seien diejenigen, die ihre
Wohnungen gemeldet haben
und lediglich eine zweijährige
Übergangsfrist erhalten, „die Gelackmeierten“.
Der Stadtrat hat sich in dieser
Angelegenheit schriftlich an den
zuständigen Senator für Stadtentwicklung, Michael Müller
(SPD), sowie an die wohnungspolitischen Sprecher aller Fraktionen im Abgeordnetenhaus gewandt, bislang aber keine Rückmeldung erhalten. Von Dassel
fordert, dass das Gesetz so
schnell wie möglich rechtssicher
nachgebessert wird, da andernfalls das Verbot von Ferienwohnungen faktisch nicht möglich sei.
Eine Sprecherin der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung bestätigte auf taz-Nachfrage den Eingang des Schreibens.
Man werde die Problematik prüfen, teilte sie mit. Dabei gehe es
sowohl um mögliche Hemmnisse bei der Durchsetzung des Verbots als auch um Belange des Datenschutzes. Für die Betreiber
von illegalen Ferienwohnungen
dürfte dies eine gute Nachricht
sein: Sie haben erst mal nichts zu
befürchten.
BERLIN
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FREITAG, 31. OKTOBER 2014  TAZ.DIE TAGESZEITUNG
23
„Was macht Facebook im Alltag mit uns?“
WORLD WIDE WEB Lilian Masuhr hat mit bluestory.de eine Website ins Leben gerufen, auf der Menschen Geschichten über sich erzählen,
die ohne das soziale Netzwerk nie passiert wären. Sie will damit zeigen, wie sehr das Unternehmen unser aller Leben beeinflusst
INTERVIEW KLAAS-WILHELM
BRANDENBURG
taz: Frau Masuhr, Sie schreiben
auf bluestory.de: „Liebes Facebook, seit 10 Jahren bin ich in
Dich verliebt.“ Geht es Ihnen
wirklich so?
Lilian Masuhr: Die 10 Jahre kommen daher, weil es Facebook
mittlerweile so lange gibt. Aber
sonst ist das ja eine fiktive Lilian,
die da schreibt: „Ich wache morgens auf, und manchmal bin ich
direkt am Rechner dran, noch bevor ich mir einen Kaffee mache.“
Weil das ja viele Leute auch so
machen. Das heißt: Man ist so
nah mit einer Sache, als ob es eine Person wäre. Und man will
unbedingt wissen, was da alles
passiert, dass es fast wie ein Verliebtsein ist: Man will alles miteinander teilen, man hat diese
Glücksgefühle und es hat so einen wahnsinnigen Stellenwert,
und es ist ja auch die ganze Zeit in
unseren Gedanken.
Auch in Ihren?
Ich habe da eine Entwicklung
durchgemacht: Ich war am Anfang sehr fasziniert von Facebook, denn ich mag es, mich auszutauschen. Aber ich habe sehr
schnell für mich entdeckt, was
mir da gefällt und was nicht. Ich
würde zum Beispiel keine zu persönlichen Sachen erzählen, sondern mache mehr auf der neutralen, informativen Ebene. Ich
habe auch Zeiten, wo ich so gut
wie nie auf Facebook bin, am Wochenende zum Beispiel. Und ich
gehe auch mit meinem Smartphone nur selten ins Internet.
Wie kamen Sie auf die Idee, ausgerechnet über die Webseite
Facebook eine Webseite zu machen?
Mir schwirrte schon lange die
Frage im Kopf: Was macht Facebook eigentlich im Alltag mit
uns? Mit Freunden und Bekannten habe ich darüber unglaublich viele Gespräche geführt. Im
Januar gab es dann die Konferenz
„Einbruch der Dunkelheit“ in der
Volksbühne, da ging es um Snowden und die NSA. Viele Wissenschaftler, Aktivisten, Experten
für Netzpolitik waren da, und alle sagten am Ende: Wir müssen
jetzt was machen, wir müssen
unsere Daten schützen! Aber wir
sind ja immer noch weiter auf
Facebook – und das blieb dann so
im Raum stehen. Dann kam zufällig auch noch das zehnjährige
Jubiläum von Facebook, und da
dachte ich: Jetzt müssen wir, bevor die Leute doch letztendlich
aus Facebook austreten, noch
schnell alle Geschichten sammeln, die wir dort erleben!
Was macht Facebook für Sie so
interessant?
Ich bin seit sechs Jahren bei Facebook, und bei meiner aktuellen
Arbeit für Leidmedien.de bin ich
quasi auch Social-Media-Managerin, wie man das so nennt. Da
nutze ich Facebook als Raum, um
Menschen mit und ohne Behinderung zusammen zu bringen,
und finde das eine große Chance.
Vielleicht habe ich durch mein
Kulturwissenschaftsstudium angefangen, auch nochmal die Metaebene zu reflektieren. Und es
ist mir einfach aufgefallen, dass
in jedem Gespräch, das ich mit irgendwem führe, Facebook immer das Thema ist, immer! Und
es stellen sich durch Facebook
natürlich ganz neue Fragen.
Welche denn?
Mein Exfreund und ich, zum Beispiel, wir haben uns nach der
Trennung auch auf Facebook die
Freundschaft gekündigt, aber
gleichzeitig haben wir immer
noch 50 gemeinsame Freunde.
Unsere Freunde kriegen jeweils
das aus dem Leben der oder des
einen mit, aber wir nicht voneinander. Und das gab es halt früher
nicht. Früher hat man den Exfreund vielleicht irgendwo getroffen, aber auf Facebook kriegen jetzt alle meine Freunde jeden Tag mit, was er macht. Und
„Ich sammle Alltagsgeschichten, Emotionen, Begegnungen“
LILIAN MASUHR, BLUESTORY.DE
das ist irgendwie absurd: Der
Schnitt ist da, zwischen ihm und
mir, aber nicht zwischen allen
Freunden. Und ich würde auch
nie sagen: Hey, kündigt dem mal
die Freundschaft oder so!
Auf Ihrer Webseite sammeln Sie
Geschichten, die ohne Facebook
so nicht passiert wären. Welche
ist Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?
Eine, wo ein Mädchen eigentlich
bloß einem alten Freund, mit
dem sie schon länger keinen
Kontakt mehr hatte, auf Facebook zum Geburtstag gratulieren wollte. Also schreibt sie ihm
an die Pinnwand. Als sie am
nächsten Tag wieder auf Facebook ist, hat sie eine private
Nachricht von einem Unbekannten: Er schreibt, das Geburtstagskind sei schon Anfang des Jahres
gestorben, in der Dusche gestürzt. Das ist natürlich ziemlich
heftig.
Was sind das für Menschen, die
Ihnen solche Geschichten schicken?
Die meisten wollen anonym bleiben, auf Wunsch ändere ich auch
den Namen. Aber ich habe jetzt
auch drei Leute gehabt, Freunde
..........................................................................................
und Bekannte von mir, die gesagt
Bluestory.de
...........................................................haben: Ich möchte es mit meinem Namen. Die teilen es dann
■ Seit Anfang dieses Jahres samwieder auf ihren Kanälen. Ich
melt Lilian Masuhr auf bluestoglaube, jede und jeder einzelne
ry.de Geschichten, in denen das
kann eine Blue Story erzählen.
soziale Netzwerk Facebook eine
Das sind ja keine großen RomaRolle spielt. Außerdem gibt es
Videos, Texte von anderen Medien ne, sondern Situationen, die jede
und jeder mal erlebt hat.
und kurze Gedanken, die sich kriSind Sie manchmal erstaunt,
tisch mit Apps, sozialen Netzwerwie freimütig Menschen über
ken und ihrer Wirkung auf unser
sehr intime Sachen erzählen,
alltägliches Leben auseinandersobaldesaufFacebookpassiert?
setzen.
Ja. Und witzig ist, dass die Leute,
■ Die Macherin Lilian Masuhr (29)
die jeden kleinen Gedanken, den
ist Journalistin und arbeitet seit
sie haben, auf Facebook posten,
zwei Jahren für die NGO „Sozialdiejenigen sind, die mir keine
helden“. Dort ist sie ProjektleiteBlue Story schreiben wollen. Die,
rin von Leidmedien.de – einer
Webseite, die sich kritisch mit der die die ganze Zeit da drin sind,
Berichterstattung über Menschen schaffen es also nicht, rauszutremit Behinderungen auseinander- ten. Oder sie wollen es einfach
setzt. Nebenbei studiert sie Kultur- nicht.
Wenn Sie Leute auffordern, Ihwissenschaft und französische
nen Geschichten zu schicken,
Philologie an der Uni Potsdam.
machen Sie damit nicht genau
dasselbe wie Facebook: Intimität ins Öffentliche tragen?
Es ist ja in dem Sinne nicht ganz
so intim, weil es anonym ist. Und
es ist ja nur ein kleiner Ausschnitt aus dem Leben einer Person. Namen anderer Leute werden auch nicht erwähnt. Dadurch geht es eher um das Gefühl und die Situation, die Atmosphäre, die Gedanken – die ja
lustigerweise so viele von uns
haben! Wenn ich selbst diese
Geschichten lese, denke ich
manchmal: Das ist mir auch
schon mal passiert! Und das ist
eigentlich das, was ich möchte:
dass man nicht so das Individuelle sieht, sondern sich selber wiedererkennt und sagt: Da geht’s
mir genauso wie der oder dem
anderen.
Haben Sie nicht Angst davor,
dass Sie mit bluestory.de letztendlich selbst Werbung für
Facebook machen?
Nein. Die Geschichten sind bisher meist eher negativ – da geht
es viel um Sachen, die Leute sehr
bewegt haben, und die eben
nicht Facebook glorifizieren. Neben den Geschichten sammle ich
auch Artikel und Videos, die kritisch sind. Mich hat mal jemand
per E-Mail gefragt, der nicht bei
Facebook arbeitet, ob ich Lust habe, für Facebook zu arbeiten, und
ob es das ist, was ich eigentlich
will. Das ist aber gar nicht meine
Absicht. Mir geht es darum, diese
Geschichten zu sammeln, die eigentlich die Gefühle von Menschen zeigen, wenn sie auf Facebook sind. Facebook hat selber
auch eine Webseite, wo Geschichten gesammelt werden,
und ich möchte mich echt davon
abgrenzen, weil die Geschichten,
die dort erzählt werden, Erfolgsstorys sind: wie Facebook geholfen hat, Menschen wieder zusammenzubringen, zum Beispiel. Ich dagegen will die Alltagsgeschichten, die kleinen
Emotionen, die kleinen Begegnungen zeigen.
Also haben Sie eine Mission?
Nein, gar nicht! Und wenn ich ein
Video poste, heißt das auch
nicht, dass ich das gut finde. Ich
sammle das einfach und stelle
das zur Diskussion. Ich fühle
mich da eher wie eine Kuratorin.
Wie soll es mit bluestory.de weitergehen?
Ich möchte auf jeden Fall noch
viel mehr Geschichten sammeln. Und ich wünsche mir, dass
mehr Leute von dem Projekt erfahren, damit auch unterschiedlichste Leute und nicht nur Menschen, die ich auch irgendwie
kenne, Geschichten schreiben.
Geld verdienen will ich damit auf
jeden Fall nicht. Das ist für mich
einfach eine Sache, die mich interessiert. Es kann auch sein,
dass das Projekt irgendwann vorbei ist. Aber die Idee ist da, das
Projekt steht da, die Geschichten
sind gesammelt, darum geht es
eigentlich, und im Moment glaube ich noch nicht, dass es aufhört. Selbst ich könnte wahrscheinlich noch ganz viele Geschichten erzählen, die ich irgendwann noch alle aufschreiben werde.
Und wenn irgendwann keine
neuen Geschichten mehr kommen?
Dann soll bluestory.de einfach
weiter im Internet stehen. Facebook provoziert das ja so, dass
man ständig was Neues bringen
muss und sich da fast schon
Druck macht. Aber diesen Druck
will ich mir gar nicht machen.
Die Sachen, die da sind, sind ja
auch weiter da.
Gibt nichts Persönliches auf Facebook preis, sucht dort aber Geschichten: Lilian Masuhr Foto: Julia Baier
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FREITAG, 31. OKTOBER 2014  TAZ.DIE TAGESZEITUNG
BERLIN | kultur
Dada Tribalismus
KONZERT Super in Sachen Style und Stimmführung –
Dakha Brakha aus Kiew im proppevollen Badehaus
VE RWEIS
No Signs
of Crime
Der Kehrer Verlag aus Heidelberg
unterhält inzwischen eine schöne
Galerie in der Potsdamer Straße
100. Dort ist noch bis zum 30. November „Postcards from Europe 10/
14“ von Eva Leitolf zu sehen, ihre fotografische Langzeituntersuchung
zum Umgang der europäische Staaten mit den Außengrenzen der Europäischen Union und den damit verbundenen Konflikten im Inneren. Im
Künstlergespräch mit dem Konstanzer Literaturwissenschaftler und
ausgewiesenen Fotospezialisten
Bernd Stiegler heute Abend um 19
Uhr fragt sie, wo die Grenzen der
Darstellbarkeit in Bild und Text liegen können oder gar müssen: Welches Bild ist adäquat, welcher Text
informativ und wo beginnt die mediale Manipulation?
BERLINER SZENEN
FUTTERLUKE REUTERKIEZ
Samstags im Sudan
Der junge Mann hinter der Theke
ist vielsprachig. „Sandwich Makali? Come with grilled tofu and
vegetables“ – „Si, hay fritz-kola“ –
„Cinq euros fifty, danke.“ Der
Neuköllner Imbiss mit Gastrofokus Sudan ist an diesem fortgeschrittenen Sonnabend Futterluke für Kiezbewohner und Touristen. Sie machen Selfies vor einem Dattelpalmenplakat oder
fotografieren eine beige Pappkiste mit der Aufschrift „Luxus-Servietten, 33cm x 33cm – 1/4-Falz“.
Zwei astreines Hinglish sprechende Youngsters sprechen
über ihre akute Wohnsituation.
„It’s so cold, it’s so cold in our flat,
is the heater on?“, fröstelt der eine. „No, but sooner or later – yes“,
stellt der andere lakonisch fest.
Während er isst, wischt er jedes
einzelne Stück Tofu mit einer
Serviette ab, bevor es in den
Mund kommt und anschließend
sehr lange gekaut wird.
Der eine ist derweil schon fertig und flirtet mit seinen glänzenden Augen eine Ganzkörpertätowierte an. Die betrachtet ihn
mit dem Blick eines hurtigen
Eichhörnchens, das eine kurze
Verschnaufpause
auf
dem
Sprung von Ast zu Ast macht,
dann tippt sie auf ihrem Telefon
It’s so cold, it’s so cold
in our flat, is the
heater on?
herum. Der
Getränkekühlschrank röhrt vor sich hin, die
Luft im Imbiss nimmt ab.
Ein Spanisch sprechender,
graubärtiger Gartenzwerg mit
Baumwollzipfelmütze
sucht
nach der passenden Grundierung für eine Leinwand; der lienzo sei widerspenstig, widersetze
sich im Atelier seinen Zähmungsversuchen. Und im Übrigen sei ihm zum 1. Januar gekündigt worden, ob man was wisse,
einen Arbeitsraum unter 500 Euro hier im Reuterkiez? Sein Gegenüber zieht die Augenbrauen
hoch, es sieht aus wie eine versuchte Grimasse. Am Nebentisch
hat sich eine vom zeitgenössischen Styling her alles richtig
machende Frau niedergelassen.
„Er ist witzig, der Ben“, textet sie
in ein Headset hinein, „wenn er
so ist, wie er ist, nicht er, also sozusagen situativ. Schon ein krasHARRIET WOLFF
ser Typ.“
Szene aus „Rosa de Areia“ (1989), einem völlig abstrakten, experimentellen und antinarrativen Film Foto: Arsenal
Entrückte Welt hinter
nordöstlichen Bergen
FILMREIHE Das Kino Arsenal zeigt „Im Zeit-Kontinuum – Die Filme
von António Reis und Margarida Cordeiro“ und damit fünf ganz
wesentliche Werke des portugiesischen Cinema Novo
VON LUCAS FOERSTER
Wovon die Filme von António
Reis und Margarida Cordeiro, denen das Kino Arsenal ab morgen
eine Retrospektive widmet, handeln, kann man nach dem Verlassen des Kinos nicht immer
exakt ausmachen. Eines jedoch
bleibt stets deutlich in Erinnerung: eine Landschaft. Trás-osMontes, wörtlich übersetzt „hinter den Bergen“, heißt die bis
heute nur dünn besiedelte, landwirtschaftlich geprägte Gegend
im Nordosten Portugals, der Reis
und Cordeiro ihr schmales, aus
lediglich drei Langfilmen bestehendes Hauptwerk gewidmet
haben. Der erste der drei (entstanden 1976) trägt gleich denselben Namen wie die Region,
auch die beiden Nachfolger,
„Ana“ (1982) und „Rosa de Areia“
(1989) werden dominiert von Panoramaaufnahmen einer grünbräunlichen Weite, in der die wenigen Menschen, die sie bewohnen, wie kaum signifikante Besucher wirken.
Reis und Cordeiro bedienen
sich dabei zwar des Modus der
Fiktion, ihre Filme fügen sich jedoch nicht in die geschlossene
Form des Spielfilms, führen einen nicht zügig von A nach B,
sondern versetzen einen in
tranceartig entschleunigte Möglichkeitsräume. Ana zum Beispiel beschreibt in Bildern von
fast schon majestätischer (dabei
aber nie prunkvoll verkitschter)
Schönheit die letzten Tage im Leben einer alten Frau, die Erinnerungen der Sterbenden vermischen sich mit ethnologischen
Diskursen und Rilke-Gedichten.
Insbesondere „Trás-os-Montes“ und „Ana“ zählen zu den
Schlüsselwerken des sogenannten Cinema Novo, einer Erneuerungsbewegung, die eng verbunden ist mit dem politischen Umbruch im Portugal der 1970er
Jahre. Politisch besonders explizit ist „Jaime“, die erste gemeinsame filmische Arbeit des Duos.
Dieser mittellange Dokumentarfilm entstand unmittelbar vor
der sogenannten Nelkenrevolu-
tion, die 1974 ein totalitäres Regime beseitigte, das zuvor 48 Jahre lang die Politik des Landes bestimmt hatte. Reis und seine hier
noch als Regieassistentin geführte Ehefrau Cordeiro porträtieren
einen unlängst verstorbenen Insassen einer psychiatrischen Klinik, auf den Cordeiro während
ihrer Arbeit als Psychiaterin gestoßen war. Genauer gesagt,
macht der Film sich auf die Suche nach Spuren, die dieses eine
periphere Leben in der Welt hinterlassen hat – und findet dabei
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Nur
noch
3 Ta
ge
unter anderem bizarre, klaustrophobisch anmutende Zeichnungen, in denen der psychisch Erkrankte über Jahrzehnte hinweg
seine Isolation verarbeitet hatte.
Sehr unmittelbar sprechen diese
Zeichnungen, spricht Jaime auch
von den endlosen, bleiernen Jahren der Diktatur.
Auch die späteren, längeren
Arbeiten sind politisch ambitio-
Auch die späteren, längeren Arbeiten sind
politisch ambitioniert
– aber emphatische
Zeitgenossenschaft
und die Teilhabe an
aktuellen Kämpfen interessieren sie kein
bisschen
niert – aber emphatische Zeitgenossenschaft und die Teilhabe
an aktuellen Kämpfen interessieren sie kein bisschen. Den Filmen ab „Trás-os-Montes“ geht es
gerade nicht darum, zu zeigen,
was nach der Revolution kommt;
die (inzwischen wieder krisenhafte) urbane Moderne jenes
Portugals, das nach der Nelkenrevolution schnell den Weg in die
Europäische Union gefunden
hatte, ist dem Kino von Reis und
Cordeiro zutiefst fremd. Stattdessen bleiben Reis und Cordeiro
der archäologischen Methode
von „Jaime“ treu, auch wenn sie
in den späteren Werken nicht
mehr von einzelnen Menschen,
sondern eben von einem Ort ausgehen: Sie tasten den damals von
allen Modernisierungsantrengungen noch weitgehend unberührten portugiesischen Nordosten, diese weltabgewandte
Welt hinter den Bergen, nach
Spuren verschütteter Erzählungen, Erinnerungen, Mythen, historischer wie individueller Leiden ab, nach Spuren, die teilweise weit hinter die Salazar-Diktatur zurückreichen.
Diese Methode findet ihre
Entsprechung in den Landschaftsaufnahmen. Die offenbaren weniger einen Ort, der aus
der Zeit gefallen ist, als dass sie
dem Betrachter eine eigene Zeitlichkeit aufdrängen, die mit der
Zeitlichkeit der Moderne, insbesondere mit deren Gegenwartsbesessenheit, wenig gemein hat.
Und der man auch ansonsten ansieht, dass sie auf die Menschen
im Zweifelsfall gut verzichten
könnte. Etwas Schroffes hat diese
Landschaft, wenn der Wind
durch die Gräser weht, erinnert
sie mit ihren Hügeln und nackt
aus der sonst üppigen Vegetation
ragenden Felskuppen an ein wildes, unschiffbares Meer. Immer
wieder filmen Reis und Cordeiro
diese Wiesen und Felsen von
oben, entrücken sie damit erst
recht jeglichem menschlichen
Maßstab.
■ Bis 9. 11., www.arsenal-berlin.de/
kino-arsenal/programm
Man sieht es auf den ersten Blick,
die Band Dakha Brakha hat was
Spektakuläres. Man kann diesen
Schauwert sogar messen. Schätzungsweise sechzig Zentimeter
hoch sind die riesenhaften Fellmützen, die sich die drei Frauen
bei den Auftritten des Ensembles
auf den Kopf stülpen. Ein echtes
Ausrufezeichen. Ein ins Extrem
gesteigerter Fingerzeig auf einen
folkloristischen Fundus genauso
wie schieres Dada.
In Sachen Stylefragen ist das
vor zehn Jahren gegründete und
auch mit einem Avantgardetheater verbandelte Ensemble also
schon mal weit vorn. Nur der
Mann des Quartetts verzichtet
auf dieses traditionell mal wohl
eher den Männern zugeordnete
Mützenaccessoire. Mit einem
trockenen „We are Dakha Brakha
from free Ukraine“ begrüßte er
am Mittwochabend das Publikum im dicht gedrängten Badehaus auf dem RAW-Gelände.
Und das war so proppevoll,
weil es sich doch herumgesprochen hat, dass man es bei den
Vieren nicht einfach nur mit einem netten neuen Musikantenstadl aus dem Weltmusikregal zu
tun hat. Allein im vergangenen
Jahr wurde Dakha Brakha (oder
auch – in anderer Transkription
aus dem Kyrillischen – Dracha
Bracha) bei so Bescheidwisseroder einfach großen Popfestivals
wie Sziget, Transmusicales Rennes, Roskilde oder dem FusionFest herumgereicht.
Wilde Schönheit
Diese Bandbreite an Auftrittsorten zeigt aber schon an, dass man
es bei Dakha Brakha mit einer
Band zu tun hat, die alle, die sich
vielleicht mit Le Mystère des
Voix Bulgares als Einstiegsdroge
am liebsten mit den wilden
Schönheiten der Balkanmusiken
beschäftigen, interessieren muss
– und eben auch die, die sich eigentlich mehr mit experimentellem HipHop beschäftigen.
„Minimal Ethno“ oder „Psycho-Folk“ und „Acoustic TripHop“ sind so Stichworte, mit de-
nen man versucht hat, die Musik
des Ensembles einzufangen. Eine Stilvielfalt, die erst mal die traditionellen ukrainischen Lieder
und Melodien zum Ausgangspunkt nimmt, und auch ernst genug, als Material, um nicht nur
beim Ausgangspunkt stehen zu
bleiben und in einer irgendwie
getreuen Wiedergabe dieser Lieder und Melodien zu verharren.
Dakha Brakha wollen sich keineswegs ins Folkloremuseum
singen – obwohl sie auch da, wie
im Badehaus zu hören war, allemal einen höchst respektablen
Platz einnehmen könnten. Hier
geht es um Anverwandlungen
und Einverleibungen, um Allianzen und Ausblicke. Mit einem in
der Tradition rückversicherten
Instrumentarium – Akkordeon,
traditionelle Tröten, ein Cello. Im
Schlagen der Trommel hörte
man im Badehaus tribale Musiken genauso wie Four-to-thefloor-Markierungen.
Archaik
und moderner Tanzboden, vor
allem im Gesang.
Da war dieser kehlige Gesang,
die strahlenden und sehnsüchtigen Melodien der slawischen
Folklore, man hörte wilde Jauchzer, ein Glucksen und Schnattern. Das konnte mal nach dem
eigenartigen Gesang der Pygmäen klingen, nach einem ausgelassenen
Kindergeburtstag
oder eben nach einer überdrehten HipHop-Session. Ein singendes Schwatzen. Rede. Widerrede.
Anrufungen. Bestätigende oder
auch bestreitende Erwiderungen, die sich um die stimmführende Melodie rankten, wie man
das auch vom Barbershop-Gesang oder Gospel kennt, diese
kommunikative Struktur des
Singens.
Mit dem Auskosten dieses
Prinzips kommt man eben wie
bei Dakha Brakha auch ohne fades Crossover von Folklore zum
HipHop. Und wieder zurück zu
einer soghaften Musik, in der
man sich im Badehaus ganz gegenwärtig verlieren konnte. Vergangenheitsgesättigt, der Zukunft nicht bang. THOMAS MAUCH
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taz.nord
WIE MUSIK ENTST EHT
WIE MIKROPLAST IK DAS WASS ER VERGIF TET
Ehrgeizige Jugend
Gefährliche Teilchen
In Bremen erarbeiten sich 90 jugendliche MusikerInnen aus 13 Ländern in nur einer Woche ein äußerst
anspruchsvolles Programm – mit
Schostakowitsch statt Beethoven.
Ein Probenbesuch beim Internationalen Jugendsinfonieorchester
Selbst über das Zähneputzen muss man sich heutzutage aus ökologischer Sicht Gedanken machen. Einige Pasten enthalten schmirgelnde Plastik-Partikel, die die meisten Kläranlagen nicht herausfiltern können. Das
Mikroplastik gelangt ins Wasser und schadet den
Organismen, die es trinken SEITE 22
Foto: dpa
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FREITAG, 31. OKTOBER 2014
21
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Bei der Bremer Tafel wird das Brot nicht immer mit allen geteilt, so der Vorwurf: Flüchtlinge kommen jetzt aber nur noch vereinzelt
Foto: dpa
Almosen doch nicht nur für Deutsche
NOTHILFE Eine Mitarbeiterin der Tafel Bremen hat über einen Aufnahmestopp von Flüchtlingen an den Ausgabestellen berichtet.
Der Vorstand dementiert dies. Der Fall verweist auf Versorgungsprobleme und Grundsatzfragen der Armutsbekämpfung
VON GARETH JOSWIG
Verteilt die Bremer Tafel Almosen zuerst an Deutsche? Unter
der Berufung auf eine Mitarbeiterin berichtete die dpa, dass die
Tafel bis zum Jahresende einen
Aufnahmestopp für Flüchtlinge
verhängt habe. Der Vorstand der
Tafel dementiert das.
Wegen des erhöhten Andrangs hätten seine Mitarbeiter
mit der Leitung der FlüchtlingsErstunterkunft in Bremen gesprochen, sagt Oskar Splettstößer, der Vorsitzende der Bremer
Tafel. Dabei sei vereinbart worden, dass die Flüchtlinge von der
Tafel keine Unterstützung erhielten, da sie in der Unterkunft voll
versorgt würden. Seitdem den
Asylbewerbern dort erklärt worden sei, dass es bei der Tafel für
sie keine Unterstützung gebe, habe sich die Situation beruhigt,
sagt Splettstößer.
Die Tafel verteilt Lebensmittelspenden von Supermärkten
und Großhändlern an Bedürftige. Dabei sei es in jüngster Zeit zu
Konflikten zwischen „alten und
neuen Kunden“ gekommen, sagt
der Landesvorstand der Tafeln
Niedersachsens und Bremens,
Karl-Heinz Krüger. Es gebe eine
„erkennbar steigende Tendenz
von Flüchtlingen“ an den Ausgabestellen, sagte er der dpa. Wegen sprachlicher Barrieren sei es
nicht einfach, den Flüchtlingen
zu erklären, dass die Tafeln keine
staatlichen Einrichtungen seien,
in denen Ansprüche geltend gemacht werden könnten. Der taz
bestätigte er seine Aussagen.
Im Leitsatz der Tafeln heißt es:
„Die Tafeln helfen allen Menschen, die der Hilfe bedürfen.“
Offiziell ist dieses Bedürfnis allerdings nachweispflichtig: Um
eine Berechtigungskarte für die
Lebensmittelausgabe zu erhal-
ten, benötigt man beispielsweise
eine Bescheinigung über Hartz
IV. Über diesen Weg seien allein
seit August 180 Asylbewerber
und ihre Familien bei der Bremer
Tafel aufgenommen worden,
sagt Splettstößer.
Wenn überhaupt, gebe es in
Notlagen einen generellen Aufnahmestopp. Und selbst dann
würde niemand ohne Lebensmittel nach Hause geschickt, versichert der 80-jährige Ehrenamtler. Wie der dpa-Bericht zustande
gekommen sei, könne er sich nur
mit der Formel „stille Post“ erklären. Die dpa betont allerdings die
Richtigkeit der Aussage.
Wie Splettstößer sagt, kommen die Flüchtlinge jetzt nur
noch vereinzelt. Spricht es nicht
für deren Bedürftigkeit, wenn
Flüchtlinge an den Ausgabestellen Lebensmittel verlangen?
„Viele denken, sie seien bedürftig“, antwortet Splettstößer. „Das
heißt nicht, dass sie es tatsächlich sind. Wir sind verpflichtet,
das zu überprüfen.“
Zudem verfügten die Flüchtlinge in der Erstunterbringung
mangels einer Kochstelle nicht
über die Möglichkeit, selbst Essen zuzubereiten. Daher hätten
sie ohnehin keine Verwendungsmöglichkeit für Lebensmittel an
der Ausgabestelle.
Auch beim Bundesverband
der Tafel wiegelt man ab: „Es wäre falsch, die Tafel jetzt in eine
rassistische Ecke zu drängen“,
sagt dessen Sprecherin Stefanie
Bresgott. Auch sie sagt nach einer
internen Prüfung, es habe lediglich Absprachen mit dem Flüchtlingsheim vor Ort gegeben, „um
die Kapazitäten der Tafeln nicht
weiter zu belasten“.
In den Zentralen Erstaufnahmestellen für Flüchtlinge (Zast)
wie der Unterkunft in Bremen
werden Asylbewerber nach ih-
........................................................................................
rem Antrag maximal drei MonaKritik
an der Tafel
...............................................................................................
te untergebracht. Sie sollen dort
voll versorgt werden. FlüchtOrganisationen wie das Kritische
lingsinitiativen kritisieren jeAktionsbündnis 20 Jahre Tafeln
oder der Deutsche Caritasverband doch, dass die Verpflegung in
haben folgende Kritik am Konzept den Erstaufnahmeeinrichtungen oft unzureichend bis unzuder Tafel:
mutbar sei.
■ Die Tafeln sind ungeeignet,
Angesichts der prekären Verstrukturelle und individuelle Ursasorgungslage stellt sich die Frachen von Armut zu bekämpfen.
ge, ob hier durch Almosen geleis■ Die Tafeln tragen dazu bei, sozitet wird, was eigentlich Sache des
ale Ungleichheiten zu verschärfen, in dem die eigentliche Hilfe in Staates wäre. Aus Sicht des Soziologen Stefan Selke verbessern die
der Not als institutionalisierte
mildtätigen Ausgabestellen zwar
Dauereinrichtungen und Lückengrundsätzlich die Lage von Arbüßer für sozialstaatliche Sichemen. Damit entlasteten sie aber –
rung missbraucht wird.
wenn auch ungewollt – die Poli■ Die Tafeln werten es als Erfolg,
tik von der Aufgabe, die Armut
dass immer mehr Menschen ihre
Dienste in Anspruch nehmen. Da- nachhaltig zu bekämpfen.
Ein stärkeres Engagement des
bei sei genau das ein Symbol manStaates fordert auch der Landesgelhafter Armutsbekämpfung.
vorstand der Tafeln: „Wir können
nicht alles tun und vor allem den
Staat nicht aus seiner Verantwortung entlassen“, sagt Krüger.
Schlechter Gastgeber
Sicherheitskonzept wird verschärft
Der Hamburger SV hat gegen
den Flitzer beim DFB-Pokalspiel
gegen Bayern München (1:3) am
Mittwochabend Strafanzeige gestellt. Zudem wird der Bundesligist gegen den Täter ein Stadionverbot verhängen. Ein Fan war in
den Schlussminuten der Partie
auf den Rasen gelaufen und hatte
Bayern-Profi Franck Ribéry mit
einem Schal ins Gesicht geschlagen. Außerdem zeigte er
dem Franzosen beide Stinkefinger. Der Mann wurde der Polizei
übergeben. „Das geht ja wohl gar
nicht“, ereiferte sich ein Vereinsvertreter gegenüber dem südwester. „Da geben sich die Sportsfreunde Westermann und Drobny alle Mühe, gute Gastgeber zu
sein und schenken den Bayern
jeder ein Tor – und dann macht
dieser Typ alles wieder kaputt!“
Nachdem zwei Männer aus dem
niedersächsischen
Maßregelvollzug ausgebrochen sind, werden nun die Sicherheitsmaßnahmen verschärft. „Wir brauchen
eine genaue Begutachtung des
Konzeptes“, sagte Niedersachsens Sozialministerin Cornelia
Rundt (SPD) am Donnerstag. Erste Konsequenzen seien bereits
gezogen worden. Bei Hofgängen
werde künftig mehr Sicherheitspersonal eingesetzt und auf dem
Dach der Anstalt in Moringen sei
Nato-Draht angebracht worden.
„Und man wird sicherlich sehr
genau und in Zukunft vermutlich noch genauer schauen müssen, für wen der Freigang geeignet ist“, sagte Rundt. Generell
müsse aber am Freigang als Teil
des Maßregelkonzeptes festgehalten werden.
SÜDWESTER
KNAST Drei Männer sind
in den letzten Wochen
aus Niedersachsens
Maßregelvollzug
geflohen. Nun zieht die
Sozialministerin
Konsequenzen und will
auch über die FreigangRegel nachdenken
Auch CDU und FDP forderten
verschärfte Sicherheitskonzepte
als Konsequenz aus den Fluchtaktionen. Immer mehr Straftäter, die früher in den Regelvollzug gekommen wären, würden
nun in den drei Kliniken für den
Maßregelvollzug in Niedersachsen untergebracht, kritisierte
Sylvia Bruns (FDP). „Die Landesregierung muss dafür sorgen,
dass die Einrichtungen so ausgestattet werden, dass Fluchtversuche deutlich erschwert werden“,
sagte CDU-Fraktionschef Björn
Thümler. Da die Insassen gefährlich seien, müssten an deren Bewachung genau so hohe Anforderungen gestellt werden wie im
Justizvollzug.
Das sieht Sozialministerin
Rundt auch so. Die Gerichte würden inzwischen auch bei schwe-
ren Straftätern wegen Suchtproblemen oder psychischen Erkrankungen eine Unterbringung
im Maßregelvollzug anordnen,
sagte sie. Dem müsse zum Schutz
der Bevölkerung auch durch entsprechende Sicherheitsmaßnahmen Rechnung getragen werden.
In den vergangenen sechs Wochen sind drei Männer aus dem
niedersächsischen
Maßregelvollzug geflohen. Einer der Entflohenen konnte wieder festgesetzt werden, aber zwei junge
Männer sind noch auf freiem
Fuß. Flüchtige Straftäter bereiten der Justiz in Niedersachsen
seit einigen Wochen Probleme.
Insgesamt waren zum Stichtag 1.
Juni in Niedersachsen 1.262 Patienten im Maßregelvollzug untergebracht, etwas mehr als in den
Vorjahren. (dpa)
Schweinswale
gezählt
Nord- und Ostsee sind wichtige
Aufenthalts- und Durchzugsgebiete für Schweinswale. Das ist
das Ergebnis des diesjährigen
Monitorings des Bundesamtes
für Naturschutz (BfN). Im deutschen Teil der Nordsee hielten
sich im Frühjahr rund 54.000
Schweinswale auf, zumeist im
Bereich Sylter Außenriff, wo sie
sich zur Paarung treffen. Zurzeit
schwimmen vor Deutschlands
Nordseeküste immer noch
15.000 Schweinswale. Experten
halten einen Bestand von etwa
300.000 Schweinswalen in der
gesamten Nordsee für realistisch. Die aktuelle Bestandsschätzung für die deutsche Ostsee beträgt lediglich 960
Schweinswale. (dpa)
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FREITAG, 31. OKTOBER 2014  TAZ.DIE TAGESZEITUNG
UND HEUTE
… startet eine ComicTagung an der Uni
Comics sind ja eigentlich nichts
für die Wissenschaft – und schon
gar nicht für die Sprachwissenschaft, sind ja schließlich nur
Bildchen. Doch langsam setzt ein
Umdenken ein und an der Uni
Hildesheim startet heute um 13
Uhr eine interdisziplinäre Tagung, die sich ganz dem Comic
widmet. „Übersetzungen und
Adaptionen von Comics“ heißt
sie und es werden rund 100 Teilnehmer aus aller Welt erwartet.
Gesprochen wird bis zum 2. November zum Beispiel über spezielle Sprechblasen-Probleme bei
der Übersetzung von Comics
und es gibt einen Vortrag der Asterix-Übersetzerin.
NACHRICHTEN
Für seinen Einsatz für ausländische Werkvertragsarbeiter ist
der Betriebsrat der Meyer Werft
mit dem Sonderpreis des Deutschen Betriebsrätepreises ausgezeichnet worden. Die Auszeichnung sei in der Kategorie „Fair
statt prekär“ erfolgt, teilte die IG
Metall Küste mit. Gewerkschaft
und Betriebsrat hatten nach dem
Tod zweier rumänischer Arbeiter in ihrer Unterkunft einen Tarifvertrag für Werkarbeiter
durchgesetzt. +++ Die Industrie
in Norddeutschland bleibe
wichtig für die wirtschaftliche
Entwicklung, hat Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) gestern vor den Teilnehmern einer
Gewerkschaftskonferenz
in
Hamburg gesagt. Er forderte ein
positives Bekenntnis zur Industrie, auch wenn sie nicht nur po-
PORTRAIT
Die Dolmetscherin
Ausgezeichnnet für ihr Engagement: Autofan Melanie Dabelstein
ür Melanie Dabelstein ist
Gebärdensprache
ganz
normal. Schließlich ist die
Chefin einer Hamburger
Fahrzeugreinigungsfirma
die
Tochter gehörloser Eltern. Sie
weiß, wie es ist, schon im Kindergarten für die Mutter zu dolmetschen. Ja, sagt sie, etwas isoliert
sei sie aufgewachsen, „aber ich
will das nicht überbewerten“.
Allerdings spricht sie mit einer gewissen Ehrfurcht vom
„Gut des Hörens“. Sie findet, dass
man zwischen Hörenden und
Gehörlosen vermitteln muss.
Deshalb hat sie zur Firmengründung vor 15 Jahren nur Gehörlose
eingestellt. Heute sind es vier
von zwölf Mitarbeitern, und Dabelstein hat gerade den Hamburger Inklusionspreis bekommen.
Sie hat sich darum nicht beworben, und sie spricht auch
nicht groß über ihren Inklusi-
F
onsbetrieb. „Generell werbe ich
nicht damit, möchte aber anregen, dass jeder seinen Beitrag
leistet“, sagt sie. Ihre Philosophie
lautet: Normalität und Toleranz –
weshalb ihre hörenden Mitarbeiter bereit sein müssen, sich auf
die Gehörlosen einzustellen. Gebärdensprache brauchen sie
nicht. „Man kann vieles zeigen
oder aufschreiben“, sagt Dabelstein. „Und wenn Größeres zu besprechen ist, dolmetsche ich.“
Diese Geduld ist für Kunden
nicht immer selbstverständlich,
weshalb im Hol- und Bringservice Hörende arbeiten. Und natürlich fährt Dabelstein selbst oft
den LKW, der die Autos der Kunden transportiert. Diese Branche
ist ihr Traum: „Schon als Kind
hatte ich Spaß an Fahrzeugen
und wusch Autos, um mein Taschengeld aufzubessern.“
Dieses Blitzsaubermachen bereitet ihr Vergnügen, bis heute –
dabei waren die ersten Jahre als
junge Frau in der Branche nicht
leicht. „Ich musste deutlich mehr
beweisen als ein Mann.“
Und die Arbeit selbst, das
Dreck-Wegmachen? „Finde ich
nicht schlimm“, sagt sie. „Jeder
Job ist wichtig, solange man einen Beitrag für die Allgemeinheit leistet.“ Dazu gehört nicht
nur, dass ihr Betrieb „Umweltpartner Hamburgs“ ist, sondern
auch, dass er den Mitternachtsbus für Obdachlose mal günstig
reinigt. PS
Diaspora unter Druck
RELIGION Weil es in
Niedersachsen immer
weniger Katholiken gibt,
reformieren die
Bistümer ihre
Strukturen
Die katholische Kirche in Niedersachsen befindet sich auf
Schrumpfkurs: Binnen zehn Jahren hat das Bistum Hildesheim
die Zahl der Kirchengemeinden
um fast zwei Drittel reduziert.
Einschnitte derselben Größenordnung will das Bistum Osnabrück bis 2018 abschließen.
Wie das Bistum Hildesheim
gestern mitteilte, wird die Zahl
der Kirchengemeinden Anfang
November nur noch 119 betragen. 2004 gab es noch 350 Gemeinden. Die Strukturreform
mit einer Reduzierung war zunächst bis 2020 ins Auge gefasst
worden und wird nun deutlich
früher abgeschlossen. Die Zahl
der Katholiken sank von 2004 bis
Ende 2013 von 657.000 auf
NORD
614.000. Nach den Plänen des
Bistums werden Priester künftig
für größere Gebiete mit mehreren Gemeinden zuständig sein.
Laien – darunter auch Frauen –
sollen mehr Aufgaben erhalten.
Im Bistum Osnabrück sieht eine 2008 begonnene Strukturreform eine Reduzierung der Gemeindezahl von über 250 auf 72
im Jahr 2018 vor. Bei 50 davon
soll es sich um Verbünde mehrerer Gemeinden mit nur noch einem Pfarrer handeln, 22 der
künftigen Gemeinden sollen
durch Fusionen entstehen.
Hintergrund der Reformen ist
nicht alleine der Versuch, auf die
sinkende Zahl von Gläubigen
und Priestern sowie mittelfristig
schrumpfende Steuereinnahmen zu reagieren. Die Kirche will
auch verhindern, dass sie in die
gesellschaftliche Bedeutungslosigkeit abrutscht.
Mit der Zahl der Gemeinden
sinkt auch die Zahl der benötigten Kirchen: Seit 2002 hat allein
das Bistum Hildesheim 53 Gebäude aufgegeben. (dpa)
sitive Auswirkungen habe. +++
Das christliche „Radio Paradiso“ sendet künftig auch in Hamburg und Mecklenburg-Vorpommern. Der Evangelische Presseverband Norddeutschland erhält
freie UKW-Übertragungskapazitäten in Rostock, Schwerin und
Stralsund. In Hamburg wird der
Berliner Sender für ein 24-stündiges Vollprogramm im Digitalradio zugelassen. +++ SchleswigHolsteins Polizisten sollen nach
dem Willen von Innenminister
Stefan Studt (SPD) mehr Geld für
Nachtdienste bekommen. Die
sogenannte Erschwerniszulage
für Nachtdienste bei der Schutzund der Kriminalpolizei solle in
zwei Schritten angehoben werden, sagte ein Ministeriumssprecher in Kiel. Davon sollen 3.900
Polizisten profitieren. +++
KONTROLLE IN TRAVEMÜNDE
JADE-WESER-PORT KRIEGT VIELLEICHT MAL KUNDSCHAFT
Polizei stößt auf
Tchibo testet Wilhelmshaven
Export-Elektroschrott Das Handelsunternehmen Tchi- und Hamburg an. Der Jade-WeDen illegalen Export von Elektonikschrott nach Afrika hat die Polizei in Lübeck-Travemünde verhindert. Bei der Kontrolle eines
Lastwagens fanden die Beamten
gestern auf der Ladefläche einen
Kleinbus, der mit rund 450 Kilogramm gebrauchter Elektrogeräte beladen war – vom Fernseher
bis zum Bügeleisen. Darunter
seien rund 150 Kilogramm als
Elektroschrott geltende, defekte
Geräte gewesen, sagte ein Polizeisprecher. Gegen den aus Nigeria stammenden Versender wird
wegen des unerlaubten Umgangs mit gefährlichen Abfällen
ermittelt. (dpa)
bo will den Warenimport künftig
möglicherweise über den JadeWeser-Port in Wilhelmshaven
abwickeln. Derzeit laufen nach
Angaben des Terminalbetreibers
Eurogate Testverladungen. Es
seien aber
noch keine
Entscheidungen
gefallen.
Bisher
kommen die
Container für
Tchibo in
Bremerhaven
ser-Port ist Deutschlands einziger Tiefwasserhafen. Seit Eröffnung im September 2012 versuchen die Betreiber händeringend, Schiffe und Ladung nach
Wilhelmshaven zu bekommen.
Während in Hamburg und Bremerhaven jedes Jahr
mehrere Millionen Container
umgeschlagen
werden, waren
es 2013 in Wilhelmshaven nur
einige Zehntausend. (dpa)
Containerfoto: dpa
Die unsichtbare Gefahr
MIKROPLASTIK Kunststoffpartikel aus Zahnpasta und Fleece belasten zunehmend Flüsse
und Meere und gefährden Tiere und Menschen. Kläranlagen sind wenig effektiv
Ist, wenn sie Plastikrohre hat, Teil des Problems: Kläranlage
VON SVEN-MICHAEL VEIT
Die deutschen Kläranlagen sind
mit Mikroplastik im Abwasser
überfordert. Nur eine teure
Schlussfiltration könne die Belastung deutlich reduzieren, ergab eine Untersuchung des Alfred-Wegener-Instituts für Polarund Meeresforschung (AWI), die
am Donnerstag veröffentlicht
wurde. Dafür waren Proben aus
dem Ablauf von zwölf Kläranlagen entnommen worden.
Die Belastung durch Partikel
lag zwischen 86 und 714 je Kubikmeter und bei Fasern zwischen
98 bis 1.479 pro Kubikmeter. Einzig die Kläranlage in Oldenburg
verfügt über eine Schlussfiltration (Tuchfilter). Diese reduzierte
die Gesamtfracht von Mikroplastikpartikeln und -fasern um 97
Prozent, sagte der AWI-Mikrobiologe Gunnar Gerdts, der die Proben untersucht hat.
Mikroplastik sind fast unsichtbare Teilchen von weniger
als fünf Millimetern Größe vor
allem aus Polyethylen, Polypropylen, Polyester und Polyamid.
Viele dieser winzigen Partikel
stammen direkt aus Duschgels,
Zahnpasta oder anderen Artikeln mit Peeling-Effekt. Andere
sind Bruchstücke und Fasern, die
durch Abrieb und Zersetzung
von Plastikgegenständen oder
Foto: dpa
Fleecekleidung entstehen (siehe
Kasten). Mikroplastik ist ein ökologisches Problem, weil es Schadstoffe an sich bindet und in die
Nahrungskette gelangt.
Nach Angaben der Umweltorganisation BUND wurde Mikroplastik in Flüssen und im Meer in
Kleinstorganismen, Muscheln,
Fischen und Seehunden nachgewiesen. Über die Nahrungskette
kommt das Material zurück zum
Menschen – in den Menschen,
mit unklaren gesundheitlichen
Folgen. Das sei „besorgniserregend und in den Auswirkungen
kaum abzuschätzen“, sagt der
BUND. Er fordert ein Verbot von
Mikroplastik in Hygiene- und
Kosmetikartikeln sowie von
Plastiktüten. Ein Einkaufsführer,
der über alle Produkte mit Mikroplastik informiert, kann auf
der Homepage des BUND heruntergeladen werden.
Von einem „riesigen Problem“
spricht auch Kim Detloff,
Meeresexperte des Naturschutzbundes (Nabu). Er ist Leiter des
Nabu-Projekts „Fishing for Litter“ auf der Nord- und Ostsee, in
dem Fischer den Müll, der sich in
ihren Netzen findet, in die Häfen
zurückbringen. Dort kümmern
sich die Umweltschützer um dessen Entsorgung oder Recycling.
Jährlich gelangen 20.000 Tonnen Müll in die Nord- und Ostsee.
...............................................................................
An den Stränden der Nordsee
Das
ist Mikroplastik
.................................................
wird seit 2001 der Müll systemaMikroplastik sind kleinste Kunststoffteilchen von weniger als fünf
Millimeter Größe.
■ Zusatz: Mikroplastikperlen sind
in synthetischen Kleidungsstücken sowie in vielen Hygiene- und
Kosmetikprodukten wie Zahnpasta oder Peeling-Produkten enthalten.
■ Zerfall: Zudem entstehen sie
beim Verfall von größeren Produkten wie Plastikflaschen oder Plastiktüten.
■ Menge: Im Abwasser von
Waschmaschinen wurden bis zu
1.900 Mikroplastikteilchen pro
Waschgang gefunden.
tisch untersucht. Im niederländisch-deutschen
Wattenmeer
liegen auf 100 Metern Küstenlinie im Schnitt 236 Müllteile. Auf
Fehmarn wurde eine Müllbelastung von etwa 90 Teilen pro 100
Meter Strandabschnitt nachgewiesen, auf Rügen waren es demnach sogar fast 200 Teile. Vor allem die Kunststoffe sind eine Gefahr für Fische, Seevögel und
Meeressäuger: Sie zerbröseln,
sind häufig giftig und beim Verschlucken nicht selten tödlich.
Die Sedimente hochbelasteter
Abschnitte „bestehen bis zu 25
Prozent aus Textilfasern“, sagt
Detloff. Fleecestoffe drohen zu
einem ökologischen Desaster zu
führen. Der erste Schritt wäre es,
Waschmaschinen mit sehr viel
effektiveren Fusselsieben als bisher auszustatten, sagt Detloff. In
den Kläranlagen müssten die Abwässer noch strenger gesäubert
werden. Und eigentlich, sagt Detloff, „darf der Klärschlamm nicht
als Dünger auf die Äcker kommen, sondern muss als Sondermüll in die Verbrennungsanlage
gebracht werden“.
Und ein weiteres großes Problem seien die Kläranlagen
selbst. Denn deren Rohrleitungen bestünden fast ausschließlich – aus Kunststoff.
NORD
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FREITAG, 31. OKTOBER 2014  TAZ.DIE TAGESZEITUNG
23
VON BENJAMIN MOLDENHAUER
Der Probensaal der Bremer Philharmoniker ist schon am Vormittag von Licht durchflutet, ein
Raum mit hervorragender Akustik, man hört jedes kleinste Geräusch. Normalerweise bereiten
hier gestandene Profis ihre Konzerte vor.
Heute allerdings sind die Musiker, die sich, teilweise noch
nicht ganz wach, auf ihren Plätzen einfinden und routiniert Celli, Violinen und Bratschen auspacken, um einiges jünger: Seit 15
Jahren kommen alljährlich Jugendliche aus der ganzen Welt
nach Bremen, um für knapp zwei
Wochen als „Internationales Jugendsinfonieorchester“ – kurz
IYSO – gemeinsam zu musizieren und zwei Konzerte in der
Stadt und im Umland zu spielen.
Knapp 90 Jugendliche aus einem
Dutzend Ländern sind in diesem
Jahr in der Stadt, die meisten zwischen 13 und 17 Jahren.
Eine so große Gruppe zusammenzuhalten ist nicht immer
leicht. Katharina Wienke, bis vor
zwei Jahren selbst Musikerin im
IYSO und heute eine der Organisatoren, kommt abgehetzt in den
Raum. Die MusikerInnen sind in
Bremer Gastfamilien untergebracht, gestern hätte eine Mutter
aus Polen angerufen, sagt sie. Der
Sohn hatte sich in der Stadt verlaufen, den musste man erstmal
wiederfinden.
Andere Probleme wiegen
schwerer. Drei Musiker, die aus
Syrien anreisen sollten, fehlen.
Sie haben kurzfristig kein Visum
mehr bekommen. Eine weitere
Musikerin, die Cellistin Hadil
Mirkhan aus Damaskus, hat 2013
nach einem Gastspiel in
Deutschland einen Asylantrag
gestellt und lebt jetzt in einem
Bremer Flüchtlingswohnheim.
Wenn man in diesen Tagen
Gäste aus Konfliktherden wie
Ägypten und eben Syrien einlädt, wäre eine „Ode an die Freude“ im Konzertprogramm da
wohl eher fehl am Platze. Deshalb hat Martin Lentz, Dirigent
und Leiter des Jugendsinfonieorchesters Bremen-Mitte, Schostakowitschs 10. Symphonie, das Violakonzert von William Walton
und Einojuhani Rautavaaras
„Cantus Arcticus, Konzert für Vögel und Orchester, op. 61“ ausgewählt.
Gemeinsam ist den Stücken
eine melancholische Schwere
und, im Falle der Schostakowitsch-Symphonie, eine Beklemmung, die angesichts der
Weltlage angemessen scheint.
Gerade die Wahl Schostakowitschs zeigt, dass hier jemand
Am Anfang ist nur Chaos, aber plötzlich wird Struktur draus: Probe des Jugendsinfonieorchesters in Bremen
Foto: Michael Bahlo
„Das eiert noch total“
WIE MUSIK ENTSTEHT In
Bremen erarbeiten
sich 90 junge
Sinfoniker aus 13
Ländern in nur einer
Woche ein äußerst
anspruchsvolles
Programm – mit
Schostakowitsch
statt Beethoven. Ein
Probenbesuch
seinen Leuten unbesehen einiges zutraut. Das Programm ist
auch deswegen ungewöhnlich
für ein Jugendklassik-Konzert,
weil die Musik moderner anmutet als die Stücke, die man normalerweise bei solchen Anlässen
zu hören bekommt.
Dass es gewagt ist, mit jungen
MusikerInnen, die sich zum ersten Mal treffen und oft verschiedene Sprachen sprechen, innerhalb so kurzer Zeit derart komplexes Material einzustudieren,
ist Martin Lentz bewusst. „Ich
hab das immer so gehalten“, sagt
er. „Diese Klassikradio-Programme im Jugendbereich haben
mich nie interessiert.“ Aber es sei
schon immer wieder ein Risiko,
„schließlich weiß man nie, wer
da kommt“.
Dass da nicht von Anfang an
alles glatt geht, wundert nicht.
„Einige von unseren Musikern
haben noch nie Schostakowitsch
gespielt. Die erste Probe am
Samstag war die Chaosprobe, da
lernte man sich dann erst einmal
kennen“, erzählt Lentz lachend.
Und die Musiker? Torstein
Kleveland zum Beispiel spielt
zum ersten Mal mit einem so
großen Orchester zusammen.
Für den 17-jährigen Cellisten aus
dem norwegischen Lillehammer
ist das Konzert „eine besondere
Herausforderung“. Die Kommunikation untereinander wiederum sei überhaupt kein Problem,
das laufe schon über die Musik
selbst ganz wunderbar.
Schon routinierter wirkt die
Hornistin Sara Morgante Piano
aus dem italienischen Udine, die
mit ihren 22 Jahren zu den ältesten Mitgliedern des Internationalen Jugendsinfonieorchesters
zählt. Aber auch sie betont den
hohen Anspruch des Dirigenten
Lentz: „Manchmal verlangt er etwas, das schwer zu leisten ist“,
sagt sie. Die Atmosphäre und das
Miteinander seien aber so gut,
dass davon auch die Musik profitiere. Und ein Orchester, das ein-
fach nur routiniert seine Arbeit
mache, würde auch nicht gut
klingen, findet sie.
Man merkt, dass die Beteiligten mehr aus dem Projekt ziehen, als nur eine gelungene Konzertvorbereitung. Denn dass Musik verbindet und die Vorahnung
einer glücklichen Kooperation
zwischen Menschen bedeuten
kann, klingt wie ein Klischee, beschreibt aber eine reale soziale
Erfahrung. Denn die zweite Gesamtprobe vier Tage vor dem
ersten Konzert zeigt, die Sache
funktioniert: Ein Haufen Musiker spielt sich warm, es entsteht
ein wüst dissonanter Klangwirrwarr – der sich fast magisch in einen einzigen klaren Ton auflöst,
als der Dirigent ans Pult tritt.
Die schwierige Dynamik der
Streichersätze Schostakowitschs
bekommen die Celli und der
Kontrabass anfangs aber nur
schwer in den Griff. Immer wieder unterbricht Lentz freundlich,
aber bestimmt, manchmal auf
Deutsch, manchmal auf Englisch: „Die Töne sind ja kein Problem für euch, aber das eiert
noch total, der Rhythmus
stimmt nicht.“
Die Musiker auf das richtige
Tempo einzuschwören und ihnen ein Gespür für den richtigen
Ausdruck zu vermitteln, ist nicht
leicht: „Hier, das ist eine Stimmung von Angst, da müsst ihr
nicht hetzen“, sagt er zum Beispiel. Nach etwa einer Stunde
sind aber plötzlich alle beieinander: Die stakkatohaften Schläge
kommen präzise, und die Musiker bekommen ein Gespür für
die Wut, die aus der 10. Schostakowitsch-Sinfonie spricht. Da
entsteht in kürzester Zeit etwas,
das mehr ist als die Summe seiner Teile. Und das eigentliche
Kunstwerk ist das Orchester
selbst.
Konzerte: 1.11., 19.30 Uhr, Bruchhausen-Vilsen, Schulzentrum
2.11., 20 Uhr, Bremen, Glocke
...........................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................
DIE MILCHKÜHE IN MEINER NACHBARSCHAFT SIND NICHT SO GLÜCKLICH, WIE ICH DACHTE
Becher in Kuheuterform
„Die,mitdenTierversuchen?“
ein
sahneverschmiert Stall, schwer hängen sie unter .......................................................
spiegelt sich in einem Arlamil- Brüllen, zum Brüllen komisch ist
VOGELFLUGLINIE
.......................................................
frage ich, mein Mann zeigt mir
glückliches,
schaden- ausgemergelten Bäuchen. Zwicheuterbecher. „Wenn sie bei ih- das!“ sagt er dabei.
REBECCA CLARE
Mir kommen die Tränen und das kleine Inselchen manchmal
freudig, schadenglück- schen ihren Melkzeiten machen
ren Müttern blieben, bekämen
SANGER
ich esse zum Trost ein großes, wenn wir über die Brücke drüber
sie nicht genug Milch.“
lich „Wer kriegt sonst schon Jer- sie sich das Kratzrad und das
Nun sehe auch ich verwirrt sahneschweres Eis. Mein Jersey- fahren. Ich halte dann immer
seyrohmilch zu trinken“-Milch- Kraftfutter zum Programm oder
milchbauer,
mein
Roh- nach U-Booten Ausschau und
aus.
gesicht wird mir vom „Tag der of- sie schlafen auf ihren ZementkoTraurigkeit und Verlust gibt milchtrumpf, steht neben den fühle mich ganz wie bei James
fenen Tür“ der Landwirtschaft jen. Bevor er nach Dänemark
es überall auf der Welt, nicht nur Arlarepräsentanten und den Eu- Bond. Der Öffentlichkeit ist
vom Gesicht gewischt. Quer kam, hatte der Tierpfleger noch
Foto: privat
auf dem Bauernhof. Im hinteren terbechern herum. Die Käse- nämlich der Zutritt der Insel verdurch Dänemark haben Bauern- gar nicht gewusst, dass es Kühe
höfe ihre Pforten geöffnet, bei mit halb-amputierten Eutern ander lecken. Das ist behördliche Teil des Stalles hängt der Mut- häppchen schmecken immer wehrt und Mitarbeiter dort dürterkuh nach der Geburt ein Teil noch nicht, der Joghurtdrink soll fen zuhause keine Haustiere haluns ist es die Milchfarm von Ben- gäbe, einem Euterbruch folgt die Auflage.
jamin, der sich mit Eis aus eige- Amputation, der Zementboden
Es gibt kein einziges Kalb, wel- vom Kuchen halb vertrocknet versauern und ihnen rosabraun ten.
„Ach so“, sage ich zu Finn.
ner Produktion ganz gut etab- tut in manchen Fällen das seine. ches Lust hat, ein anderes Kalb zu zum Popo hinaus. Ihrem Kalb aus den Petflaschen ins Gesicht
liert hat.
DieKälberstehenauchzurBe- lecken. Sie stehen schließlich hängt 50 Meter weiter in einer schießen.
„Hallo Finn“, sage ich. „Was Rebecca Clare Sanger pendelt mit
Die Sonne scheint. Repräsen- sichtigung aus. Verwirrt stehen nichtineinerScharaufderWeide halb aufgeschnittenen Plastiktanten des Milchkonzerns Arla die tagesalten Kälber einzeln in neben den Kühen und suchen tonne die Nabelschnur zum machst du eigentlich mit deinen Mann und Kindern zwischen
haben vor dem Kuhstall Becher halb aufgeschnittenen Plastik- die Gesellschaft von Gleichaltri- Bauch herunter. Sie werden ein- Kälbern?“ Jerseykälber schme- Hamburg und der dänischen Inin Kuheuterform zum Verschen- tonnen, ihre Ration Milch darf gen. Sie suchen etwas anderes. anderniewiedersehen,obgleich cken nicht. Deshalb ist die Jer- selMøn;wassiedabeierlebt,steht
ken aufgestellt. Sie bieten eine nicht versehentlich vom ver- Sie saugen mit einer derartigen sie auf dem gleichen Hof gehal- seyzucht auch so beschwerlich. alle zwei Wochen an dieser Stelle.
Wo soll man mit dem Nebenpro- Einen Sammelband mit ihren
Verkostung von Joghurtdrinks wirrten Nachbarkalb getrunken Inbrunst an meinen Fingern, ten werden.
Ein stolzer Familienvater dukt der Milchproduktion bloß „Hamburger Szenen“ aus der
und individuell verpackte Käse- werden. Der artgerechten Hal- dass ich erwäge, ihnen meine eihäppchen an.
tung zuliebe stehen die Plastik- gene Brust zu reichen. Kein Kalb macht mit seinem Mobiltelefon hin? Finn hat da eine gute Lö- taz.hamburg hat der Verlag
Michason & May unter dem Titel
Die Kühe sind geduldig. Ihre tonnen nebeneinander und bleibt länger als 24 Stunden bei Bilder von einem Kalb, welches sung gefunden.
„Du kennst doch die Insel „Hamburg Walking“ veröffentEuter sind sehr viel größer als die durch ein wenig Maschendraht der Mutter. „Ist auch gesünder versucht seinem Sohn Milch aus
licht.
Euterbecher draußen vor dem hindurch können die Kälber ein- so“, sagt Benjamin, sein Gesicht den Fingern zu saugen. „Zum Lindholm?“
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M

Das Fahrtauglichkeits-Wetter
taz.bremen
„Ein kompaktes Parkhaus-Fahrtraining“ bietet am Samstag der
Parkhaus-Betreiber Brepark an,
das „ganz konzentriert das Fahren
sowie das Ein- und Ausparken im
Parkhaus trainiert“. Wer weder
fahren noch parken kann, sollte
vielleicht eher zur BSAG wechseln
– oder aufs Rad steigen bei meist
sonnigen 10 bis 17 Grad
FREITAG, 31. OKTOBER 2014
www.taz.de | [email protected] | Pieperstraße 7 | 28195 Bremen | Tel. 960 260 | Trägerdienst 35 42 66
24
Germanistik aus Togo
Wir sind traurig und nehmen Abschied von
KOLONIALISMUS Ein Wissenschaftler aus Togo forscht im Staatsarchiv zur Geschichte der
Kolonialzeit. Dort lagern Autobiographien von Schülern Norddeutscher Missionsschulen
Eva Ehrenberg
VON JAN-PAUL KOOPMANN
Im Bremer Staatsarchiv sucht
ein Wissenschaftler aus Lomé in
Togo nach Spuren deutsch-afrikanischer Geschichte. Dort liegen Autobiographien von Missionsschülern aus dem 19. JahrVorstand und Geschäftsführung
hundert – und Kokou Azamede
gehört zu den wenigen, die sie
der Heinrich Böll Stiftung Bremen
auch tatsächlich lesen können.
Denn die handschriftlichen Dokumente sind in der Ewe-Sprache verfasst, die in Teilen von Togo und Ghana gesprochen wird.
Die Papiere liegen nicht zufällig
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in Bremen.
TJA, FREIMARKT (10): GRUMI STRUNK
Gesammelt wurden sie von
der Norddeutschen Missionsgesellschaft, die in Afrika einheimische Missionshelfer ausgebildet
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hat. Diese Schüler sollten in ihEinmal im Jahr ist Freimarkt – der Nordseeküste“ erfüllten, ren Texten Zeugnis ablegen vom
aber muss man darüber schrei- standen die Leute auf den Ti- Weg aus der „Finsternis ins Licht“,
ben? Kommt auf die Perspektive schen und weinten fast vor Be- sagt Azamede. Das sei die Ideoloan, beweist die taz.bremen-Serie. geisterung. Harte Klänge an der gie der Missionare gewesen. Die
Grenze des Erlaubten.
Dokumente sind damals direkt
Ich trank in jeder sich bieten- nach Bremen geschickt worden Ideologie und Bildung: Schüler einer Missionsschule in der damaligen Kolonie Togo Bild: Norddeutsche Mission Bremen
ch muckte das erste Mal mit der
Tanzband „Tiffany’s“ im Bay- den Pause Bier. Die Wirkung ließ und hier archiviert worden.
ernzelt des Freimarkts. Schon allerdings sehr zu wünschen übWissenschaftler wie Azamade che besonders gründlich maAzamede hat in Lomé studiert versteht. Die heute gebräuchlibeim ersten Song war mir klar, rig: Zeltplörre. Irgendwann – Germanistik. Ein Studiengang, che Schrift der Ewe-Sprache wur- betonen diese Wechselwirkun- chen will.
was die Stunde geschlagen hatte: musste ich mal. Im Toilettenwa- den es in vielen ehemaligen Ko- de erst in den Missionsschulen gen, um zu verhindern, dass sich
An der Bremer Uni wird schon
Der Bandleader musste sich gen stand neben mir ein sehr, lonien gibt. Dort wird allerdings entwickelt.
in der Forschung Sichtweisen der seit einigen Jahren in dieser Richenorm konzentrieren, um die sehr alter Mann. Er stierte mich nicht nur Goethe gelesen, sonDamit haben die Europäer ei- Kolonialzeit unter anderen Vor- tung geforscht. Erste Ergebnisse
Melodie einigermaßen fehler- an und sagte mit unbewegter dern auch die deutschsprachi- nerseits die Grundlage einer ei- zeichen wiederholen: Hier böse waren auf Ausstellungen im
frei zu spielen. Bassist und Miene: „Ach ... die Musik.“ – „Ja, gen Texte über Togo. Sie werden genen afrikanischen GeschichtsÜbersee-Museum oder in der
Schlagzeuger rumpelten unbe- äh, ja, genau.“ – „Jaja ... die Mu- in die Landessprache übersetzt schreibung geschaffen und
Bürgerschaft zu sehen. Auch Azholfen vor sich hin. Dabei guck- sik.“ – „Hmm ...?“ Mir war nicht und der Bevölkerung somit erst gleichzeitig Dokumente von dort
amedes Dissertation ist so entten sie sich angestrengt an und recht klar,was erwollte. Ermach- zugänglich gemacht. Promoviert in Europa lesbar gemacht. Solche Diese Schüler sollten in standen.
taten so, als ob es richtig grooven te noch eine lange Pause und hat Azamede dann aber an der positiven Aspekte der ersten Mis- ihren Texten Zeugnis
Er will diese neuen Materiawürde. Der Keyboarder hatte bei mümmelte dann bedächtig: Uni Bremen. Ein Vierteljahr wird sionsjahre sind bedeutend für
lien auch übersetzen, um sie der
ablegen
von
ihrem
seinem Polysix-Synthesizer ei- „Viel Afrika und wenig Bavaria.“ er nun hier im Archiv verbrin- Azamedes Forschung. Es ist ihm
deutschen Wissenschaft und Öfnen abscheulich Streichersound Da muss man erst mal drauf gen. Anschließend geht es zu- daher auch wichtig, die Ideologie Weg aus der
fentlichkeit zugängig zu machen
eingestellt und griff mit seinen kommen.
– ganz ähnlich wie die Germanisrück nach Togo. Die Forschungs- der Missionare von der wirt- „Finsternis ins Licht“
Gegen zwei leerte sich das ergebnisse wird er dort im Semi- schaftlichen Ausbeutung der KoWurstfingern ständig daneben.
tik es in Togo macht. Den GrundZelt. Am Tresen wurden nun ein- nar mit StudentInnen diskutie- lonialherrschaft zu unterschei- Kolonialherren, dort arme Op- stein dafür haben die Missionare
Schrammelschrammelschrammel,
matschmatsch- schlägige Lieder skandiert: das ren.
den. Damit ist das Projekt gera- fervölker. Anhand der Biographi- gelegt. „Die Missionierung war
matsch. Der Sound: eine Kata- Niedersachsen-Lied, das HorstDie Missionsschüler, deren Bi- dezu mustergültig für die For- en lasse sich beispielsweise auch nichts Gutes“, sagt Azamede.
strophe. Katzenmusik. Dem Pu- Wessel-Lied und noch allerlei an- ographien er im Archiv unter- schungsrichtung der „entangled zeigen, wo die Missionierten die Aber um solche Urteile geht es
blikum war es seltsam egal. Ent- dere Weisen, die man erst singt, sucht, waren Bauern und Fischer. history“, der verknoteten Ge- Ideologie übernommen hätten. ihm auch gar nicht. Er sieht die
weder,weilsieesnichtandersge- wenn es später ist. Wir spielten Größtenteils arme Leute. Die schichte. Gemeint ist damit, dass Oder aber, wo sie mit zunehmen- Dokumente als Möglichkeit, die
wohnt waren, oder, weil das di- zum sechsten Mal an der Nord- Missionsgesellschaft war luthe- die Geschichte der Kolonialisie- der Bildung auch Widerständiges eigene Position zu reflektieren.
lettantische Geklöter bewies, seeküste und der Korn wurde di- rianisch und wollte, dass in der rung nicht nur in den Kolonien enthalten. Aufgeregt politisch Und die Parallelen zu verstehen,
dass die Band wirklich live spiel- rekt aus der Flasche getrunken. Landessprache gepredigt wird, selbst, sondern auch hier in Eur- klingt er dabei nicht – eher wie die zwischen der Kolonialzeit
Dann, endlich, das Abschluss- damit die Bevölkerung sie auch opa Spuren hinterlassen hat.
te.
ein Wissenschaftler, der seine Sa- und ihrer Erforschung bestehen.
In einiger Entfernung zur lied: Blue spanish Eyes.
Als nach dem zweiten Refrain
Bühne stand eine Rotte Freimarktbesucher, die uns argwöh- mein Saxofon-Solo an der Reihe
nisch beäugte. Aus ihren Reihen war, überkam mich eine seltsalöste sich plötzlich ein schwit- me Lust zu spielen: Tröttröttröt.
IN ALLER KÜRZE
zender Teigbrocken und quoll Ich holte alles aus der Rotzkanne
uns erstaunlich behände entge- raus. Bei geschlossenen Augen
Zeit, ihre Beiträge einzureichen,
Beiräte-Studie
gen: „Sag mal, Klaus und Klaus, hätte man denken können, da
teilte die Stiftung am Donners- FLÜCHTLINGE Der Sozialstaatsrat weist Kritik an der
stehe der Saxofonist von Marius unter Verschluss
nä – das habt ihr jawohl drauf?“
tag mit. Inhaltlich und formal Betreuung minderjähriger Flüchtlinge zurück
Bei den ersten Takten von „an Müller-Westernhagen oder Tina Die Bremer Beiräte versuchen of- seien keine Grenzen gesetzt. Alle
der Nordseeküste“ ging ein Ruck Turner auf der Freimarktschen fenbar vergeblich, Einblick in die politischen und religiösen Spiel- Bremens grüner Sozialstaatsrat gendliche Flüchtlinge aufgedurchs Zelt. Die Leute waren von Festzeltbühne. Mindestens. Die von Lothar Probst herausgegebe- arten des Extremismus könnten Horst Frehe weist die Vorwürfe nommen als alle fünf neuen
ihren Bänken aufgestanden, hat- Kollegen guckten staunend zu ne Studie zum Beirätegesetz (die Gegenstand der Auseinanderset- der Flüchtlingsinitiativen hin- Bundesländer zusammen. Im
ten sich eingehakt und sangen mir herüber und als ich mit dem taz berichtete) durch den Senat zung sein. Die drei besten Plätze sichtlich der Betreuung von min- Jahr 2014 seien bis zum verganbegeistert mit. Trotz der einfa- Solo fertig war, bekam ich doch zu erhalten. In einer Mitteilung sind mit 1.500, 1.000, und 500 derjährigen Flüchtlingen zu- genen Mittwoch 319 unbegleitete
chen Melodie ein Festival der tatsächlich Szenenapplaus. Ich der Linken heißt es, Michael Euro dotiert. (epd)
rück. Die hatten kritisiert, dass minderjährige Flüchtlinge angeschiefenTöne.Egal. DieLeutewa- verbeugte mich. Was für feine Horn, Beirätekoordinator der
Jugendliche viel zu lange in der kommen, davon 180 allein in den
Menschen das doch waren. Soll- Linken, habe unter Berufung auf Nordwestbahn fährt noch Zentralen Erstaufnahmestelle vergangenen drei Monaten.
ren total aus dem Häuschen.
Als wir zum dritten oder vier- ten sich andere über sie lustig das Informationsfreiheitsgesetz
(Zast) verbrächten und die JuEs sei daher derzeit unverbis mindestens 2026
ten Mal den Musikwunsch „an machen, ich nicht.
gendhilfe zu schlecht ausgestat- meidbar, dass Jugendliche länmehrmals schriftlich die Senatsger in der Zast betreut würden als
kanzlei gebeten, den Stadtteilpo- Die Nordwestbahn (NWB) wird tet sei (taz berichtete).
Das Jugendhilfesystem, so wünschenswert. Trotz des starlitikerInnen die Evaluation von auch künftig die von ihr bislang
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Juli zur Verfügung zu stellen. Bis gefahrenen Eisenbahnlinien be- Frehe, sei mit hoch qualifizier- ken Zugangs seien von rund 500
heute sei das aber nicht erfolgt. dienen. Sie setzte sich in einem tem Personal über viele Jahre Jugendlichen derzeit rund 90
Europäische Gespräche
Es sei unverständlich, so Horn, europaweiten Wettbewerbsver- darauf eingerichtet gewesen, Prozent in einer Einrichtung des
Eine Zusammenarbeit von Helga Trüpel (MdEP) und dem Theater Bremen
„dass der Senat die Studie über fahren durch, heißt es in einer monatlich drei oder vier jugend- Jugendhilfesystems angekomMonate in seinen Händen hält, Mitteilung der Landesnahver- liche Flüchtlinge aufzunehmen. men. Die Zahl der Plätze sei in
während die Beiräte noch nicht kehrsgesellschaft Niedersachsen In einzelnen Monaten kämen den letzten zwei Jahren um das
25 Jahre Fall des Eisernen Vorhangs
mal
das Deckblatt gesehen ha- (LNVG), der Zweckverband Nah- aber jetzt 60 bis 80: „Kein Ju- Fünffache erweitert worden.
Von der friedlichen Revolution zur
„Leider werden wir beim Ausben“. (taz)
verkehr Westfalen-Lippe (NWL) gendhilfesystem der Welt kann
Europäischen Integration
und Bremens Verkehrssenator diesen Anstieg in so kurzer Zeit bau der Kapazitäten nicht überStiftung schreibt Preis aus Joachim Lohse (Grüne). Der neue bewältigen, ohne dass es zu Eng- all mit offenen Armen empfanVortrag und Diskussion mit
gen“, sagte Frehe mit Blick auf die
Die Konrad-Adenauer-Stiftung Verkehrsvertrag umfasst ein pässen kommt.“
György Dalos, Schriftsteller und Historiker
Wie viele andere Großstädte Debatten in Borgfeld und ReJaroslav Šonka, Autor und Publizist
Fahrtenprogramm
in Bremen hat bundesweit Ju- jährliches
gendliche dazu aufgerufen, sich von knapp fünf Millionen Zugki- auch, werde Bremen derzeit von kum. Die Gespräche mit Beiräten
Sonntag, 2. November 2014, um 11.30 Uhr
kreativ mit dem Thema „Mutig lometern, beginnt zum Fahr- allein geflohenen Jugendlichen und der Bevölkerung seien notTheater am Goetheplatz (noon/Foyer Kleines Haus)
gegen jeden Extremismus“ aus- planwechsel am 11. Dezember in besonders hohem Maße auf- wendig, machten aber auch
Eintritt frei
einanderzusetzen. Bis Ende Feb- 2016 und gilt für zehn Jahre mit gesucht. Das Land Bremen habe deutlich, dass dem Ausbautemim vergangenen Jahr mehr ju- po Grenzen gesetzt seien. (taz)
ruar haben die TeilnehmerInnen Option auf Verlängerung. (taz)
Viel Afrika, wenig Bavaria
I
Frehe wehrt sich

das wetter
taz.hamburg
Es gibt viele Wolken und mit Glück kommt am Nachmittag die
Sonne auch mal raus. Es wird bis zu 15 Grad warm und dazu
weht ein bisschen Wind aus Richtung Süden
FREITAG, 31. OKTOBER 2014
www.taz.de | [email protected] | Harkortstraße 81 | 22765 Hamburg
IN ALLER KÜRZE
Für Kitas demonstriert
Rund 4.000 Menschen haben
gestern unter dem Motto „Ohne
25% mehr gehen Hamburger Kitas unter!“ in der Innenstadt demonstriert. Sie forderten etwa 25
Prozent mehr Personal in den
Kindertagesstätten. Nach Angaben des Bündnisses Kita-Netzwerk Hamburg, das zu der Demonstration aufgerufen hatte,
fehlen in den 1.088 Kitas rund
4.000 Erzieher. Unterdessen haben die Grünen angekündigt,
dass es im Familienausschuss eine öffentliche Anhörung zur Kita-Qualität geben soll. Darauf
hätten sich alle Oppositionsfraktionen verständigt. (dpa)
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BEN HOWARD
I FORGET WHERE WE WERE TOUR
Gespräch verweigert
Die Geschäftsführung der Mopo
weigert sich, den Betriebsrat in
Anwesenheit
von
Gewerkschaftsvertretern über Entlassungen und Umstrukturierungen zu informieren. Ein für Mittwoch vereinbarter Termin wurde abgesagt. Bei der Mopo stehen
im Rahmen eines konzernweiten
Programms Entlassungen an.
Die Gewerkschaften DJU und DJV
wollen einen Sozialtarifvertrag
abschließen. (taz)
Anwohner kritisiert
Sozialsenator Detlef Scheele
(SPD) ist empört über Anwohnerklagen gegen ein geplantes
Flüchtlingsheim in Harvestehude. Lebe man in einer privilegierten Wohnsituation, sagte er der
Zeit, müsse „man hinnehmen,
dass es durch eine solche Unterbringung vielleicht ein wenig enger oder lauter wird“. Die Stadt
möchte im Ex-Kreiswehrersatzamt an der Sophienterrasse 220
Menschen unterbringen. (dpa)
Moscheen gewünscht
25.11. SPORTHALLE
TICKETS UNTER:
WWW.FKPSCORPIO.COM
01806570 000* / WWW.EVENTIM.DE
0,20 €/Anruf aus dem dt. Festnetz, max. 0,60 €/Anruf aus dem dt. Mobilfunknetz
Hamburgs Oberbaudirektor Jörn
Walter wünscht sich mehr repräsentative Moscheen in der Stadt.
Standorte seien die geplante
Neue Mitte Altona oder in Wilhelmsburg neben der Umweltbehörde, sagte er am Mittwoch bei
einer Diskussion. Es gibt in Hamburg rund 50 Moscheen, viele davon in Gewerberäumen oder
Hinterhöfen. (epd)
HEUTE IN HAMBURG
„Eine breite Klaviatur“
WORKSHOP Aktivisten zeigen, wodurch friedliche
Demonstrationen zum Erfolg werden können
24
Uni kann sich kaum retten
WAHLKAMPF CDU verspricht Hochschulen höhere Grundfinanzierung aus Bafög-Millionen.
Bildungssenatorin Stapelfeldt trumpft mit 405 Millionen aus neuem Hochschulpakt auf
VON KAIJA KUTTER
Mit Wissenschaft, so hört man in
Rathauskreisen, lasse sich keine
Wahl
gewinnen.
Dennoch
scheint dies eines der Themen zu
sein, das im Wahlkampf Fahrt gewinnt. Die CDU legte am Donnerstag einen Zehn-Punkte-Plan
vor, mit dem sie Hamburg zur
„führenden Wissensmetropole
Nordeuropas“ machen möchte.
Anders als vom SPD-Senat geplant, würde sie die rund 30 Millionen Euro, die Hamburg spart,
weil der Bund für das Bafög aufkommt, den Hochschulen geben.
„Der Haushalt muss nach der
Wahl ohnehin ganz neu aufgestellt werden“, sagt CDU-Spitzenkandidat Dietrich Wersich.
Die insgesamt die 150 Millionen
Euro, die so in der fünfjährigen
Legislaturperiode zusammenkämen, würde die CDU nutzen, um
den Hochschulen die Tarif- und Versprechungen von allen Seiten: Studierende im Hörsaal Foto: dpa
Preissteigerungen voll zu erset............................................................................
Das Thema ist ohnehin verzen. Gegenwärtig erhalten sie daDer Hochschulpakt
mint. Wie berichtet, hat der früfür nur die 0,88 Prozent im Jahr, ..................................................................
um die der gesamtstädtische Mit dem Hochschulpakt 2020 ha- here Uni-Präsident Lüthje angeHaushalt wachsen darf.
ben Bund und Länder bereits 2007 boten, im Namen der PatriotiDamit habe die SPD den Hoch- auf die steigenden Studienanfän- schen Gesellschaft einen Wissenschulen „die schärfsten Spar- gerzahlen in Folge der doppelten
schaftskonsens zu vermitteln.
maßnahmen seit Jahrzehnten Abiturjahrgänge reagiert:
Nach taz-Informationen haben
aufgezwungen“, behauptet der ■ Der bisherige Hochschulpakt
Uni-Präsident Dieter Lenzen und
CDU-Hochschulpolitiker Thilo brachte Hamburgs Hochschulen
Wissenschaftssenatorin DoroKleibauer. Das solle sich ändern. zwischen 2013 und 2015 insgethee Stapelfeldt (SPD) ihm inzwiDas nach dem Tarif- und Inflati- samt über 60 Millionen Euro.
schen einen gemeinsamen abonsausgleich übrige Geld werde ■ Davon erhielten die Uni-Hamlehnenden Brief geschrieben. Beman für eine höhere For- burg und die Hochschule für Ange- hörde und Hochschulen wollten
schungsförderung verwenden.
wandte Wissenschaften (HAW) je- zunächst selbst den Dialog fortIn Anknüpfung an die jüngs- weils rund 25 Millionen Euro, die
führen. Die Landeshochschulten Vorstöße des Ex-Bürgermeis- Technische Uni Harburg rund siekonferenz arbeitet derweil an eiters Klaus von Dohnanyi und des ben Millionen, die Hafencity-Uni
ner eignen Zukunftsskizze.
früheren Uni-Präsidenten Jür- rund zwei Millionen, die KunstDer
Theologie-Professor
gen Lüthje würde die CDU zu- hochschule 0,6 und die MusikHans-Martin Gutmann sieht in
dem eine „Zukunftskommissi- hochschule 0,4 Millionen Euro.
der Art und Weise wie dieses Theon“ für eine „Wissenschaftsme- ■ Für den Hochschulpakt III gibt es ma in den Medien bewegt wird,
tropole 2025“ einsetzen. Mit den 405 Millionen Euro für die fünf
eine „Kampagne“, die den gegenNamen für deren Besetzung hielt Jahre von 2016 bis 2020. Wie die
wärtigen Uni-Präsidenten Lensich Wersich zurück. Es sollten Mittel verteilt werden, wird jetzt
zen als „Raufbold abstempelt,
schon die „Pioniere“ der Debatte mit den Hochschulen vereinbart.
der zur Räson gebracht werden
dabei sein, aber nicht unbedingt Ferner gibt es Geld für Forschung. muss“. Dabei habe Lenzens 2010
„elder statesman“.
begonnene Präsidentschaft nach
taz: Herr Schüller, sind traditio- Ist Ihnen ein Protest bekannt,
nelle Protestzüge nicht mehr at- der unmittelbare Folgen nach
traktiv genug, um Aufmerk- sich zog?
Es gab in Osnabrück einen Fall zisamkeit zu erregen?
Jochen Schüller: Inhalte müssen vilen Ungehorsams. Das war eiin irgendeiner Weise transpor- ne Sitzblockade, um eine Abtiert werden. Je ansprechender schiebung zu verhindern. Und
und provozierender ein Inhalt das hat funktioniert. Sitzblockaverbreitet wird, desto eher er- den werden seit Jahren von antireicht man die Menschen, Medi- rassistischen Netzwerken, die
en und Politiker. Traditionelle sich gegen Abschiebungen wenFormen des Protests, sei es der zi- den, als Instrument eingesetzt.
RANDALE Nach Antifa-Mobilisierung: In Hamburg
vile Ungehorsam, widerspre- Welche Formen des kreativen
werden
Hools nicht gegen Salafisten marschieren
chen sich nicht mit neuen, krea- Protests gibt es noch?
tiven Formen. Sie sind Teil einer Die „Bonzendemo“ in Köln kari- Die „Hooligans gegen Salafisten“ chen Mittel dagegen prüfen – bis
breiten Klaviatur, die rauf und kierte Ende der neunziger Jahre (HoGeSa) kommen doch nicht hin zu einem Verbot.
Am
Donnerstagvormittag
runter gespielt werden sollte, je die Versuche eines Zusammen- ins Schanzenviertel. Wie die Polinach Zielgruppe, Thema oder schlusses Kölner Geschäftsleute, zei mitteilte, ist die für den 15. meldete das „Hamburger Bündeine Innenstadt ohne Bettler, Ob- November geplante Demonstra- nis gegen Rechts“ eine GegendeGegner.
Gibt es ein Rezept für eine „er- dachlose und Straßenmusiker tion unter dem Motto „Europa monstration an – „auch aus der
durchzusetzen. Mit Slogans wie gegen den Terror des Islami- Erfahrung, dass Verbote keinen
folgreiche“ Demo?
Nein, es gibt Methoden und For- „Bettler besteuern“ oder „Junk- schen Staates“ abgesagt worden. Bestand haben müssen“, sagte Femen des Protests, die besser food statt Junkies“ zogen als Ge- Dem sei ein Gespräch mit dem lix Krebs vom Bündnis. Antifafunktionieren als andere. Man- schäftsleute verkleidete De- Anmelder Benjamin K. voraus- schistische Initiativen riefen im
che Methoden müssen aller- monstranten durch die Innen- gegangen, sagte Polizeipresse- Internet zum Protest auf: „Lasst
dings an die jeweilige Situation stadt. Das wesentliche Element sprecher Andreas Schöpflin der nicht zu, dass sich RassistInnen
und FaschistInnen den Kampf
und das Thema angepasst wer- der „Bonzendemo“ war die soge- taz.
nannte subversive Affirmation,
Anfang der Woche war be- gegen den IS aneignen!“
den.
Diese Ankündigungen haben
also eine überdeutliche Zustim- kannt geworden, dass das NetzWann zum Beispiel?
Im Rahmen des antirassisti- mung, in der sich die Kritik an werk HoGeSa in dem links-alter- offenbar Wirkung gezeigt: „Ihr
nativen Szeneviertel gegen die habt doch überhaupt keine Ahschen Netzwerks „Kein Mensch dem Sachverhalt offenbart.
vermeintlich islamistische Be- nung davon, was hier in Hamist illegal“ gab es die sogenannte INTERVIEW: SHN
drohung aufmarschieren wollte. burg los ist“, warnte die Aktions„Lufthansa Deportation Class“,
Nach der gewalttätigen Demons- gruppe Hamburg der HoGeSa,
eine Kampagne gegen Abschie- Seminar zu kreativen Formen des
tration der HoGeSa in Köln wur- „wenn der FC Sankt Pauli und seibungen auf Lufthansa-Flügen. Protests, 18 Uhr, Haus Drei, Hospiden über Facebook Aktionen in ne Antifa-Szene gegen Euch moDamals war ein Sudanese bei der talstraße 107
Berlin und Hamburg angekün- bilisiert, wenn die autonome Flogewaltsamen Abschiebung in ei..........................................................................................
digt. Mehr als 5.000 Leute aus ra-Szene mobilisiert und die Linner Lufthansa-Maschine ums LeJochen Schüller
der Hooliganszene gaben an, sie ken mal in voller Besatzung anben gekommen. In Folge dessen ............................................................
wurden traditionelle Demons- ■ 51, ist Journalist, Pädagoge, Ak- wollten an dem Protest an der El- treten“. Die Polizei werde hier zudem anders agieren als in Köln.
be teilnehmen.
trationen durch Auftritte von fal- tivist und freier MitarDie Route sollte in dem alter- „Wir unterstützen eure Sache
schen Stewardessen an Flughä- beiter des Bildungsnativ-mulikulturellen Stadtteil deshalb nicht mehr und haben
fen oder bei Tourismusmessen projektes „Peace
beginnen. Die Polizei hatte ange- uns aufgelöst“, teilte die Gruppe
ergänzt, die dort gegen Abschie- Brigades Internatikündigt, sie werde alle rechtli- mit. AS
bungen protestierten.
onal“.
Hooligans blasen Demo ab
den schwierigen Jahren unter
dessen Vorgängerin Monika Auweter-Kurtz der Uni sehr gut getan, und zu „aufrechtem Gang
und offener Diskurs- und Lernkultur“ beigetragen.
Die Konfliktlinien laufen also
kreuz und quer. Gute Nachrichten konnte gestern Dorothee Stapelfeldt aus Berlin überbringen.
Der Hochschulpakt für zusätzliche Studienplätze wird um eine
dritte Phase verlängert. Von 2016
bis 2020 erhält Hamburg 405
Millionen Euro. Das gebe den
Hochschulen Planungssicherheit, sagte Stapelfeldt. „Damit
kann das sehr hohe Niveau der
Studienanfängerzahlen in Hamburg weiterhin beibehalten werden“, ergänzt ihr Sprecher.
Die Grüne Eva Gümbel widerspricht. Ohne den Berliner Geldsegen müssten die Hochschulen
„zusätzlich zum Schrumpfkurs
der SPD“ 2.000 Anfängerplätze
abbauen, sagt sie.
„Nicht für Menschen“
ASYL Flüchtlinge gehen gegen „unwürdige
Zustände“ in der Erstaufnahme auf die Straße
Rund 150 Flüchtlinge und Unterstützer haben am Donnerstag
vor der Innenbehörde am Johanniswall gegen die „menschenverletzenden Zustände“ in der Erstaufnahmeeinrichtung an der
Schnackenburgallee protestiert.
Die Demonstranten forderten,
alle Lager abzuschaffen und den
Flüchtlingen Wohnungen zur
Verfügung zu stellen.
Die Flüchtlinge kostete es einige Überwindung, sich an dieser
Protestaktion zu beteiligen.
Denn der vom städtischen Träger der Erstaufnahmeeinrichtung engagierte Sicherheitsdienst hatte nach Aussagen einiger Flüchtlinge vor einer Teilnahme gewarnt. Das könne sich
negativ auf ihr Asylverfahren
auswirken, so die Drohung.
„Die Sicherheitsleute
haben ein rigides
System der Einschüchterung eingeführt“
MARTIN DOLZER, SOZIOLOGE
Etwa 1.400 Menschen sind
zurzeit in der Erstaufnahmeeinrichtung neben dem HSV-Stadion in Containern und 32-BettenZelten untergebracht. Die meisten von ihnen müssen länger als
die vorgesehenen drei Monate
dort bleiben, bis sie Wohnungen
zugewiesen bekommen. „Wir
sind nicht hierher gekommen,
um in Zelten zu sitzen“, sagte einer der Flüchtlinge. Auf der Demonstration hielt ein Mann ein
Schild mit der Aufschrift „Wir leben in herstellerdefinierten Boxen für Waren und nicht für den
Menschen“ hoch. Auf einem anderen stand: „Wir lieben arbeiten,
helfen sie uns zu beginnen“.
Die Zustände sind dort kurz
vor dem Winter tatsächlich äußerst prekär, sagte der Soziologe
Martin Dolzer, der sich vor zwei
Wochen einen Überblick in der
Einrichtung verschaffen konnte.
Die Sicherheitsleute hätten dort
ein „rigides System der Einschüchterung“ eingeführt, sagt
Dolzer. „Wir wollen auch leben,
lasst uns nicht hängen“, ergänzte
einer der Flüchtlinge. KVA