Mit Autismus Stärken zeigen - Schleswig
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Mit Autismus Stärken zeigen - Schleswig
Förderschwerpunkt „Autistisches Verhalten“ Mit Autismus Stärken zeigen – am Beispiel sprachlicher Kompetenzen Innenwelten IQSH Impressum Handreichungen Förderschwerpunkt „Autistisches Verhalten“ 1. Netzwerkarbeit in Schleswig-Holstein 2. Förderliche Bedingungen für Schülerinnen und Schüler mit autistischem Verhalten in Schulen Schleswig-Holsteins 3. Mit Autismus Stärken zeigen – am Beispiel sprachlicher Kompetenzen: Innenwelten Herausgeber: Institut für Qualitätsentwicklung an Schulen Schleswig-Holstein (IQSH) Anette Hausotter Schreberweg 5, 24119 Kronshagen Kontakt: BIS-Autismus im IQSH Anette Hausotter Tel.: +49 (0)431 5403-196 [email protected] Bestellungen: Brigitte Dreessen Tel.: +49 (0)431 5403-148 Fax: +49 (0)431 5403-200 [email protected] www.iqsh.schleswig-holstein.de Autorinnen und Autoren: Anette Hausotter Arne Andersen Dr. Christiane Andersen Christoph Enneking B. Naefe-Storm Johanna Stribrny Schülerinnen und Schüler aus Arnes Klasse Fotos: privat Foto Umschlag: privat (Arne; im Hintergrund ein von Arne gestaltetes Kunstprojekt) Gestaltung Innenteil: Elke Wiechering (IQSH) Gestaltung Umschlag: bdrops Werbeagentur, Kiel Druck: Pirwitz Druck & Design, Kronshagen © IQSH 2009 Auflagenhöhe 2.000 Best.-Nr. 12/2009 Inhaltsverzeichnis Vorwort...........................................................................................................................5 1. 1.1 Einleitung ...........................................................................................................7 Schülerinnen und Schüler mit dem Förderschwerpunkt Autismus in Gymnasien des Landes Schleswig-Holstein (Anette Hausotter) .....................7 1.2 Autismus und Hochbegabung – Überschneidungen .........................................12 2. 2.1 Arne – Allgemeine Aussagen und Ist-Stand ...............................................13 Förderschwerpunkt Autistisches Verhalten – Die Rolle der BIS-Autismus (Anette Hausotter)..............................................13 Arnes schulischer Werdegang (Christoph Enneking)........................................16 Asperger-Autismus und das Erleben von Welt aus meiner Sicht – Arnes Selbstbild..............................................................................................22 Bericht von Arnes Mutter: Arnes Autismus und ich – ein Tag aus unserem Leben ....................................33 Sicht der Schule: Die Deutschlehrerin (B. Naefe-Storm)...................................40 2.2 2.3 2.4 2.5 3. 3.1 3.2 3.3 3.4 4. 4.1 4.2 5. Die Träumer – Ein Schulprojekt im Rahmen der AbiturVorbereitungen ................................................................................................41 Die Bedeutung der Jahresarbeit in der zwölften Klasse der Waldorfschule (B. Naefe-Storm)........................................................................41 Erlebnisbericht mit Arne Andersen – eine Mitschülerin als „Mentorin“ (Johanna Stribrny) .......................................42 Die Träumer – das Theaterstück 2007 (Arne Andersen)...................................44 Nach dem Stück – Feedback der Schauspieler/innen.......................................76 „Innenwelten“ – Gedanken, Gedichte und Geschichten (Arne Andersen) ........................78 Einführung in meine Texte.................................................................................78 Gedichte und Geschichten in zeitlicher Abfolge aus den Jahren 2000 bis 2009 ..........................................85 Ausklang (Anette Hausotter) ..........................................................................128 Ausblick (Arne Andersen) ..............................................................................130 Epilog .........................................................................................................................130 4 Vorwort Das IQSH möchte mit seinen Publikationen dazu beitragen, die Weiterentwicklung des Unterrichts in den Schulen Schleswig-Holsteins zu unterstützen. Dies geschieht in Form von Handreichungen zu unterschiedlichen Schwerpunkten – in der Regel didaktisch-methodisch und fachbezogen ausgerichtet. Die Publikationen der Reihe „Förderschwerpunkt Autistisches Verhalten“ verfolgt eher das Ziel der systemischen Unterstützung. Dieses richtet sich nicht ausschließlich an Fachlehrkräfte, sondern an das gesamte System Schule mit seinem Umfeld wie Eltern, Schülerinnen und Schüler, außerschulisches Fachpersonal oder am Thema interessierte Menschen. Nachdem unsere Broschüre „Förderschwerpunkt ‚Autistisches Verhalten’ – Netzwerkarbeit in Schleswig-Holstein“ auf große Resonanz gestoßen ist, hat sich das IQSH mit seiner BIS-Autismus dazu entschlossen, diese Reihe fortzusetzen. Auf diese Weise sollen die Lehrkräfte unseres Landes, aber auch alle anderen betroffenen oder involvierten Personen und Institutionen, durch Beispiele guter und gelingender Praxis ermutigt werden, sich dieser besonderen Problematik zu stellen. Behinderungen oder sonderpädagogischer Förderbedarf sind nicht immer gleichzusetzen mit Schwächen und Defiziten. Im Gegenteil: Die Stärken sollten eine Herausforderung für jeden Lehrenden und Lernenden sein! Von den Stärken ausgehen – das ist der beste Weg, mein Gegenüber kennenzulernen und auch wertzuschätzen. Hans Asperger, nach dem das Asperger-Syndrom 1944 das erste Mal beschrieben wurde, macht mit seiner Aussage „Es scheint uns, als wäre für gewisse wissenschaftliche oder künstlerische Höchstleistungen ein Schuss Autismus geradezu notwendig ...“ deutlich, dass trotz dieser Beeinträchtigung Höchstleistungen erbracht werden können. Die „Behinderung“ beim Asperger-Syndrom ist unsichtbar. Das heißt aber nicht, dass die Schwierigkeiten unbedeutend sind. Für viele Mitmenschen ist es unlogisch und schwer nachzuvollziehen, dass ein höflicher, freundlicher, sich sehr klug ausdrückender Mensch nicht in der Lage ist, beispielsweise zu einer bestimmten Zeit an einen bestimmten Ort zu kommen, oder gar kein Gefühl für Zeit und Zahlen zu haben scheint. Durch Zahlen bestimmt ist die Welt wiederum bei anderen Betroffenen, diese verstehen nicht, was Liebe oder Traurigkeit bedeutet. Häufig erleben sich betroffene Menschen als außerhalb der sozialen Gemeinschaft stehend, was für ihre Mitmenschen oft unfassbar ist – teilweise empfinden sie sich als "Fremde im eigenen Land" oder als "Außerirdische". 5 Sie sehen die Welt aus einer anderen Perspektive. Aber wenn es gelingt, ihre spezifischen Fähigkeiten, Stärken und Schwächen zu erkennen und wenn das schulische und soziale Umfeld diese berücksichtigt, besteht eine gute Chance, ein selbstständiges Leben zu führen. Arne hat die Hauptrolle in diesem Werk. Er ist nicht nur derjenige, der uns seine besonderen literarischen Fähigkeiten in Form von Gedanken, Gedichten und Geschichten präsentiert, er führt uns auch ein Stück in seine „Innenwelt“. Er hilft uns „Nicht-Autisten“ zu verstehen, was ihn und „seine Welt“ ausmacht. Ein mutiger Weg, denn es ist nicht einfach, „ein Inneres nach Außen zu kehren“. Ich möchte Arne und seiner Mutter dafür sehr danken, dass sie durch ihren Beitrag helfen, unsere eigene Wahrnehmung für diese Problematik zu sensibilisieren! Ich möchte aber auch der Schule und vor allem Arnes Deutschlehrerin, Frau Naefe-Storm, und Arnes ehemaligem Klassenlehrer, Herrn Enneking, danken für ihre Zuversicht, ihren Glauben an Arnes Fähigkeiten und die Bereitschaft, sich auf manchmal unorthodoxe Wege einzulassen. Ohne die konstruktive Zusammenarbeit zwischen der BIS-Autismus am IQSH und unserem Bildungsministerium wäre Arnes erfolgreicher schulischer Werdegang vermutlich so nicht möglich gewesen. Mein Dank gilt auch der Oberen Schulaufsicht, die stets bemüht ist, gemeinsam konstruktive Lösungen zu finden. Anette Hausotter Leiterin der BIS-Autismus 6 1. Einleitung 1.1 Schülerinnen und Schüler mit dem Förderschwerpunkt Autismus in Gymnasien des Landes Schleswig-Holstein (Anette Hausotter) Schleswig-Holstein hat eine über 20-jährige Erfahrung mit der Integration behinderter und nicht behinderter Schülerinnen und Schüler. Auch die Gymnasien des Landes haben in diesem Prozess integrative Erfahrungen sammeln können. Während sich das Gymnasium in Bad Segeberg als erstes der Herausforderung stellte, auch Kinder mit dem Förderschwerpunkt „Lernen und geistige Entwicklung“ durch zieldifferente Unterrichtsangebote zu integrieren, hat die Integration von Sinnesgeschädigten oder jungen Menschen mit dem Förderschwerpunkt „Motorische Entwicklung“ bei zielgleichem Unterrichtsangebot schon eine Tradition. Der Förderschwerpunkt „Autistisches Verhalten“, insbesondere das AspergerSyndrom, stellt eine ganz neue Herausforderung an das System Schule: Diese Form der Beeinträchtigung ist nicht auf den ersten Blick sichtbar. Im Gegenteil, diese jungen Menschen können sich in der Regel sehr gewählt ausdrücken, häufig mit einem über der Altersnorm liegenden Wortschatz. Sie erstaunen uns auch immer wieder durch ein ausgeprägtes Sachwissen und hohe Gedächtnisleistung auf der Faktenebene. Im Bereich der sozialen und emotionalen Kompetenz zeigen sich jedoch deutliche Defizite, die leicht missverstanden werden können, da diese für uns weder logisch erscheinen noch in ein Gesamtbild passen. Auf der Erscheinungsebene wirkt dieses Verhalten häufig arrogant, provokant, ungezogen, unangepasst, zerstörerisch, rechthaberisch oder auch faul. Schleswig-Holstein hat sich im Rahmen der integrativen Entwicklung dieser Herausforderung gestellt: Im Schuljahr 1995/96 wurde ein Pilotprojekt zur integrativen Förderung von Kindern und Jugendlichen mit autistischen Störungen in der allgemein bildenden Schule entwickelt. Nach einer dreijährigen Erprobungsphase, die der Bedarfsanalyse, der Konzeptbildung und der Erprobung dieses Unterstützungssystems diente, wurde die „Beratungsstelle für die schulische Bildung von Kindern und Jugendlichen mit autistischem Verhalten – BIS-Autismus“ in das Bildungssystem implementiert. Örtlich eingebunden ist die BIS-Autismus in der „Beratungsstelle Inklusive Schule“ (BIS) am IQSH, dem Institut für Qualitätsentwicklung an Schulen Schleswig-Holstein. Die 1994 durch die Kultusministerkonferenz (KMK) entwickelten Empfehlungen zur sonderpädagogischen Förderung verfolgten die Zielsetzung, Kindern und Jugendlichen mit Behinderung durch eine verbesserte Qualität von Fördermaßnahmen in den Regel- und Sonderschulen gleichwertige Bildungschancen zu bieten. Im Juni 2000 wurde der Förderschwerpunkt „Unterricht von Kindern und Jugendlichen mit autistischem Verhalten“ neu mit aufgenommen. Auf diese Weise soll die Förderung von Kindern und Jugendlichen mit autistischem Verhalten im deutschen Bildungssystem anerkannt und legitimiert werden. 7 Diese Empfehlungen verfolgen das Ziel eines unterstützenden Rahmenkonzepts, um Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischen Förderbedürfnissen angemessen zu fördern. In diesem Sinne verstanden und implementiert, bieten sie eine Grundlage für den Gemeinsamen Unterricht, indem eine Passung zwischen dem jeweiligen Lehrplan der Regelschule und dem individuellen Förderbedarf geschaffen wird. Schleswig-Holstein ist das erste Bundesland, das die Empfehlungen der KMK in seine Rechtsvorschriften zum 01. 08. 2002 implementiert hat (vgl. Lehrplan „Sonderpädagogische Förderung“, Kap. 4.8). Mit Inkrafttreten dieser Verordnung haben die Kinder und Jugendlichen mit autistischem Verhalten einen Anspruch auf eine angemessene Förderung in der Schule. Als Konsequenz hat die Landesregierung alle Schulen dazu verpflichtet, für Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf einen Förderplan/Lernplan zu erstellen. Auf diese Weise ist es möglich, die individuellen Lernfortschritte dieser Kinder und Jugendlichen durchgängig und angemessen zu dokumentieren. Heute besuchen 72 Schülerinnen und Schüler mit dem Förderschwerpunkt Autistisches Verhalten ein Gymnasium (Stand: Januar 2009). Einige Gymnasien verfügen über langjährige Erfahrungen mit einem kontinuierlichen Anteil an autistischen jungen Menschen (unter anderem das Werner-HeisenbergGymnasium in Heide, die Meldorfer Gelehrtenschule, die Hermann-Tast-Schule in Husum, die Lornsenschule in Schleswig, die Gymnasien in Rendsburg) und konnten erfahren, dass keines dieser Kinder mit anderen mit autistischem Verhalten vergleichbar ist – das heißt, jedes Kind muss „neu übersetzt“ werden und benötigt individuelle Fördermaßnahmen. Einige Gymnasien haben Lehrkräfte als verantwortliche Koordinatoren und Ansprechpersonen für diese Schülergruppe benannt. Manche Schulen haben sich strukturell verändert. Regelmäßig stattfindende Netzwerk- und In-ServiceRunden mit der BIS-Autismus oder kollegiumsinterne Fortbildungsveranstaltungen haben das Fachwissen und somit auch die Kompetenz für den Umgang mit dieser Schülergruppe erweitert. Denn: Je mehr ich darüber weiß, warum Schüler X versetzt reagiert oder auf den Arbeitsauftrag nicht reagiert, desto eher bin ich in der Lage, mein eigenes Verhalten zu reflektieren und gegebenenfalls anzupassen. In Einzelfällen und auf Antrag der BIS-Autismus können die Gymnasien aus ihrem Pool eine bis maximal zwei zusätzliche Lehrkraft-Wochenstunden erhalten. Diese werden genutzt für regelmäßige Rückmelderunden mit der betreffenden Schülerin beziehungsweise dem betreffenden Schüler zur Stärkung der Selbsteinschätzung und des Selbstvertrauens, zur Anbahnung sozialer Kompetenz sowie zur Entwicklung von Problemlösungsstrategien. Weitere Inhalte können Anregungen zur Strukturierung des Schulalltages und Hilfen zur Orientierung sein. In einigen Fällen kann es auch Sinn machen, ab und zu eine Stunde mit der gesamten Klasse zu nutzen. Was bedeutet Intelligenz und wie ist diese beeinflussbar? Intelligenz ist eine angeborene Fähigkeit, Erfahrungen zu sammeln und diese sinnvoll auszuwerten. Sie baut auf einer Reihe verschiedener Faktoren auf und ist in ihrer Verwirklichung abhängig von Gefühls- und Willenslage, Gedächtnis, Fantasie und allgemeinem Antriebsgeschehen. 8 Besteht eine deutliche Diskrepanz zwischen intellektuellen und emotionalsozialen Fähigkeiten, merken diese Menschen ab einem bestimmten Lebensalter, dass sie anders wahrnehmen und anders reagieren – dennoch können sie dieses Phänomen nicht immer adäquat verändern oder beeinflussen. Die Reaktionsmuster zeigen sich sehr unterschiedlich: Manche Menschen reagieren mit Ängsten, andere mit Vermeidungsverhalten, manche zeigen ein aggressives Potenzial, andere wiederum resignieren: Sie sind beeinträchtigt in der Fähigkeit, ihr wirkliches intellektuelles Potenzial zu nutzen; viele leiden darunter. Was bedeutet das Asperger-Syndrom? Das Asperger-Syndrom ist neben dem Frühkindlichen Autismus und dem Atypischen Autismus eine Variante des Autismus-Spektrums. Autismus erfasst ein weites Spektrum an Symptomen. Es variiert von einer vergleichsweise milden Ausprägung bis hin zu sehr auffälligen Problemen in ihrer emotionalen und sozialen Kompetenz. Alle haben eines gemeinsam: eine Beeinträchtigung der sozialen Interaktion und Kommunikation mit anderen Menschen. Die Probleme treten meist schon im frühen Lebensalter auf. Menschen mit dem Asperger-Syndrom verfügen über eine normale bis sehr hohe Intelligenz, bei einem häufig sehr heterogenen Leistungsprofil zwischen Handlungs- und Verbalintelligenz. Das Asperger-Syndrom ist keine Krankheit, denn nach der Definition des BGH „ist Krankheit eine Störung der normalen Beschaffenheit oder normalen Tätigkeit des Körpers, die geheilt werden oder zum Tode führen kann“. Es handelt sich um eine nicht heilbare, lebensbegleitende, tiefgreifende Entwicklungsbeeinträchtigung. Forscher sind sich noch nicht einig und tappen eigentlich immer noch im Dunkeln. Eine mögliche Ursache wird in einer Veränderung der Spiegelneuronen vermutet: Die Fähigkeit der Empathie ist abhängig von speziellen Nervenzellen in der Hirnrinde. Ist dieses Netz der Spiegelneuronen gestört, weil sie zum Beispiel in einer Dopplung auftreten, fehlt der intuitive emotionale Zugang. Die Betroffenen versuchen, emotionale Anforderungen dann eher mit rationalen Strategien zu lösen. Eine weitere Möglichkeit wird zunehmend auf genetischer Ebene vermutet. Man nimmt an, dass bestimmte Erbgutvariationen als Grund für Probleme bei der Signalübermittlung zwischen den Nervenzellen verantwortlich sein können. Aus diesem Grund gibt es auch weder das diagnostische Verfahren noch die therapeutische Intervention. Eine ausführliche Differenzialdiagnose ist erforderlich. Checklisten allein ersetzen nicht die klinischen Erfahrungen und könnten so zu Fehleinschätzungen führen. So können zum Beispiel schizoide Störungen, psychotische Erkrankungen, Zwangsstörungen, depressive Erkrankungen, manchmal auch reaktive posttraumatische Störungen dem Asperger-Autismus auf der Erscheinungsebene ähneln und könnten verwechselt werden. In einigen Fällen kann es vorkommen, dass mehrere Störungsbilder zusammentreffen, was den Umgang mit diesen Menschen und die Therapie erschwert. 9 Was bedeutet diese Diagnose für die Betroffenen und deren schulischen Alltag? Sie weisen ein heterogenes Leistungsprofil auf. Meist ist ihre theoretische Intelligenz gut bis sehr gut ausgeprägt, während der Bereich der Handlungsintelligenz deutliche Abweichungen erkennen lässt. Auch Arne verfügt über eine hohe theoretische Intelligenz, die im sprachlichen Bereich als Hochbegabung bezeichnet werden kann. Er ist in der Lage, in herausragender Weise auf der Faktenebene oder im psychologischen oder philosophischen Kontext Schlüsse zu ziehen, Analysen und Interpretationen zu erstellen. Er zeichnet sich durch eine außergewöhnlich reiche Sprache und Fantasie aus. Er hat ein fast eidetisches Gedächtnis für Fakten und Ereignisse. Seine Handlungsintelligenz weist dagegen deutliche Schwächen auf – Arne bezeichnet sich selbst als „Dyspraktiker“, der die täglichen Alltagshandlungen kaum nachvollziehen kann oder diese allein bewältigen kann (vgl. Kap. 2.3). Zahlen haben für ihn keinen sinnvollen Bedeutungswert. Alltagsrituale, wie pünktlich aufzustehen, zu bestimmten Zeiten an vereinbarten Orten zu sein, sich zu strukturieren und zu sortieren, scheinen ihm manchmal unleistbar. Was bedeutet dies für den schulischen Kontext? Wir beurteilen Schüler häufig nach ihrem Auftreten, ihrer sprachlichen Ausdrucksfähigkeit oder Wortgewandtheit und ihrem Wissen. Das bedeutet, wenn ein Schüler oder eine Schülerin eine hohe sprachliche Kompetenz zeigt – zum Beispiel über einen über der Altersnorm liegenden Wortschatz oder eine solche sprachliche Ausdrucksfähigkeit verfügt (hinzu kommt möglicherweise ein Faktenwissen, das Lehrkräfte staunen lässt), fällt es schwer, anzuerkennen und logisch nachzuvollziehen, dass genau dieser Schüler beziehungsweise diese Schülerin sich einfachste Handlungsanweisungen oder -abläufe nicht merken kann – geschweige denn diese selbstständig umsetzt. Professor Volkmar von der Yale-Universität in den USA beschrieb dieses Phänomen wie folgt: “Wir haben es mit einem 14-jährigen Jungen zu tun, der von seiner theoretischen Intelligenz her 18 Jahre alt ist, aber seine soziale emotionale Intelligenz entspricht der eines Achtjährigen.“ Je älter die Schüler sind, desto eher lässt sich diese Diskrepanz mit naivem Verhalten vergleichen – aufgrund mangelnder empathischer Fähigkeiten und der dadurch eingeschränkten Fähigkeit, das Ursache-Wirkung-Prinzip zu verstehen, nachzuvollziehen und anzuwenden. Sie scheinen nicht über Konsequenzen, Ursachen, Begründungen und Bedingungen nachzudenken. Manche reagieren im Hier und Jetzt. Auf den ersten Blick scheint es schwer, dieser Herausforderung gerecht werden zu können. Vieles erscheint uns unlogisch. Haben wir es mit einer blinden Schülerin zu tun, ist es einleuchtend und selbstverständlich, dass diese nicht von der Tafel vorlesen kann. Bei einem Menschen mit Asperger-Syndrom fällt die Gewährung eines Nachteilsausgleiches schon schwerer, denn ich kann diese Beeinträchtigung nicht wirklich sehen. So beschreibt Sean Barron beispielsweise: „Bei Menschen passen oft die Dinge nicht zusammen, selbst wenn ich sie oft sah, waren sie immer noch unzusammenhängende Stücke 10 eines Puzzles und ich hatte keine Möglichkeit, sie zusammenzusetzen.“ (Sean Barron und Judy Barron: „Hört mich denn niemand“, S. 28). Die verminderte Fähigkeit, zum Beispiel Menschenmengen, Lärm, Farben und spontane Begegnungen zu ertragen, beruht auf einer extrem empfindlichen Wahrnehmung. Als Lehrkräfte sehen wir es als unserer Aufgabe an, Kinder gruppenfähig zu machen. Häufig scheitert dieser Versuch. Man könnte es mit einem Querschnittsgelähmten vergleichen, von dem wir erwarten, dass er den Rollstuhl verlässt und die Treppe hoch geht – oder einem stummen Kind, das ein Gedicht aufsagen soll. An autistische Kinder werden häufig Anforderungen gestellt, die bedeuten, ihre Beeinträchtigung einfach zu ignorieren. Dies würde man von Kindern mit sichtbaren Behinderungen nicht erwarten. Asperger-Autisten haben manchmal einen hohen Grad an Anpassungsvermögen. (Sie möchten nicht auffallen.) Ihr starker Wille, Normalität zu lernen, lässt sie Anforderungen erfüllen, die sie zu diesem Zeitpunkt total überfordern und von anderen wichtigen Bereichen abhalten. 11 1.2 Autismus und Hochbegabung – Überschneidungen Die hier beschriebenen Merkmale treffen in vielen Fällen zu, sind jedoch nicht immer zu beobachten: Kinder und Jugendliche mit: soziale Kompetenz Empathie Blickkontakt Gestik / Mimik Hochbegabung HB und ASS Asperger- Syndrom / HFA meist unauffällig, u. U. sekundäre Probleme vorhanden unauffällig normal eingeschränkt, kognitive Kompensation eingeschränkt wenig ausgeprägt wenig sozial moduliert oft eingeschränkt in Verständnis und Verwendung Suche nach Freunden (auf gleicher Entwicklungsstufe) Sprache Ja, i.d.R sozial integriert wenig ausgeprägt wenig sozial moduliert oft eingeschränkt in Verständnis und Verwendung vorhanden, aber z.T. eingeschränkt sehr früh, unauffällig normale Entwicklung, „erwachsene“ Sprache normale Entwicklung, „erwachsene“ Sprache Prosodie unauffällig wenig moduliert, „roboterhaft“ Pragmatik normal Humor, Witze, Ironie, Zweideutigkeiten verstehen Motorik Geschlecht gesamt - IQ Intelligenzprofil unauffällig bis gut wenig moduliert, „roboterhaft“ Probleme mit Gesprächsregeln, Hang zum Monologisieren Verständnisprobleme, Kompensation durch Lernen ungeschickt, steif mehr männlich IQ > 130 inhomogen, charakteristisches Profil eher unflexibel sehr gut, bes. auf bestimmten Gebieten einseitig, außergewöhnlich (aber auch wechselnd) eher nicht wenig Toleranz für spontane Änderungen teilweise, eher in Kindheit und bei Aufregung ungeschickt, steif mehr männlich IQ > ca. 80 inhomogen, charakteristisches Profil eher unflexibel sehr gut, bes. auf bestimmten Gebieten einseitig, außergewöhnlich: (aber auch wechselnd) eher nicht wenig Toleranz für spontane Änderungen teilweise, eher in Kindheit und bei Aufregung Denkstil Gedächtnis Interessen Interesse an Sport Routinen Stereotypien (v.a. motorische) unauffällig gleich verteilt IQ > 130 inhomogen, unterschiedlich flexibel, kreativ sehr gut vielseitig, wechselnd normal meist flexibel im Alltag keine vorhanden, aber z.T. eingeschränkt Probleme mit Gesprächsregeln, Hang zum Monologisieren oft Verständnisprobleme Aus Knorr: http://www.autismus-hochbegabung.de/page4.php (Zugriff: 21.01.09) Die Zusammenstellung (Knorr, 2007) bezieht sich auf: Burger-Veltmeijer, A.E.J. (2007). Gifted or autistic? The 'grey zone'. In: K. Tirri & M. Ubani (Eds), Policies and programs in gifted education. Helsinki: University of Helsinki. Download: http://www.agnesburger.nl/ Gallagher S. A. & Gallagher J. (2002). Giftedness and Asperger's Syndrome: A New Agenda for Education. Understanding our gifted, 14 (2), 7-12. Henderson, L. (2001). Asperger's Syndrome in Gifted Individuals. Gifted Child Today, 24 (3), 28-35. Spitczok von Brisinski, I. (2003). Asperger-Syndrom, AD(H)S, Hochbegabung – differentialdiagnostische Aspekte. Forum der Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, 13 (4) , 52-72. 12 2. Arne Allgemeine Aussagen und Ist-Stand 2.1 Förderschwerpunkt „Autistisches Verhalten“ Die Rolle der BIS-Autismus (Anette Hausotter) Im November 2007 hörte ich das erste Mal von Arne. Seine Mutter hatte sich seinerzeit mit der Bitte um Unterstützung an unser Ministerium gewandt. Arne besuchte die 12. Klasse und sah für sich große Probleme und Unsicherheiten – war sein Ziel doch, auf alle Fälle das Abitur zu schaffen. Diese Unsicherheiten ließen ihn zu diesem Zeitpunkt in tiefe Depressionen fallen, die außerdem von Zwangsstörungen begleitet waren. Die BIS-Autismus hat sich umgehend darum bemüht, ein Netzwerk aller Beteiligten zusammenzuführen, eine Anamnese aller wichtigen Informationen erstellt und Arne in seiner Lerngruppe besucht, um entsprechende förderliche Bedingungen zu entwickeln. Das Kollegium der Waldorfschule hat gemeinsam an einer Informationsveranstaltung der BIS-Autismus beim IQSH zum Thema „Das Asperger-Syndrom und besondere Begabungen – Arnes Anderssein“ teilgenommen. Gemeinsam mit den Fachlehrkräften wurde der Nachteilsausgleich im Hinblick auf die Zulassung zum Abitur beschrieben – wie zum Beispiel: Klausuren in einem reizarmen Raum schreiben, die Gewährung eines größeren Zeitfensters, eindeutige Aufgabenstellung und Ähnliches. Die obere Schulaufsicht des Ministeriums für Bildung und Frauen wurde in den Entscheidungsprozess für die Rahmenbedingungen mit einbezogen: So müsste Arne mindestens einen Punkt in Mathematik erreichen, damit die allgemeine Reifeprüfung mit den entsprechenden Ausgleichen in allen anderen Fächern anerkannt werden könnte. Für Arne wurde eine Sonderpädagogische Stellungnahme erstellt, die folgende Bereiche berücksichtigt: Bei Arne wurde eine autistische Störung im Sinne des Asperger-Syndroms, gepaart mit emotionalen und Zwangs-Störungen, diagnostiziert, bei gleichzeitigem Vorliegen einer überdurchschnittlichen Begabung. Gemäß § 2 der Landesverordnung über sonderpädagogische Förderung gehört Arne somit zur Gruppe der Schülerinnen und Schüler, die einen sonderpädagogischen Förderbedarf haben – mit dem Förderschwerpunkt „Erziehung und Unterricht von Schülerinnen und Schülern mit autistischem Verhalten“ bei partiell weit überdurchschnittlichen bis durchschnittlichen allgemeinen intellektuellen Leistungsfähigkeiten. Arne hat ein sehr heterogenes intellektuelles Leistungsprofil, wie es im Zusammenhang mit dieser Diagnose häufig der Fall ist: Es besteht eine Diskrepanz zwischen weit überdurchschnittlichen, sprachlichen Fähigkeiten (schreibt Theaterstücke, zeigt herausragende literarische Fähigkeiten, lernt Sprachen) und gleichzeitigen Schwächen im mathematischen Bereich sowie geringen lebenspraktischen Fähigkeiten. „Geistig fühlt Arne sich wie ein 20-Jähriger, sein Körper dagegen ist für ihn erst fünf Jahre alt. Er sucht eher Kinder, mit denen er philosophieren kann und über Erich Kästner reden kann, als Kinder, mit denen er balgen und Fußball spielen kann.“ (Auszug aus Therapie-Gutachten 12/2002). Arne besucht den 12. Jahrgang der Freien Waldorfschule in Flensburg. Er hat einen Anspruch auf die Gewährung eines Nachteilsausgleichs, der ihn dabei 13 unterstützen soll, die Nachteile, die ihm durch seine Beeinträchtigung entstehen, auszugleichen, ohne die fachlichen beziehungsweise intellektuellen Anforderungen geringer zu bemessen. Die Gewährung des Nachteilsausgleichs fließt nicht in die Notengebung mit ein. Arnes Schwierigkeiten werden überwiegend in seiner ausgeprägten Einschränkung im Bereich seiner emotionalen Störungen, verbunden mit wechselnden Ängsten und Zwangsverhalten, der ausgeprägten Dyspraxie, geringer Empathie und seiner oftmals unflexiblen Denkweise deutlich. Die hohe Diskrepanz zwischen enormen sprachlichen, aber mangelnden mathematischen Fähigkeiten erschwert die schulische Arbeit und die Bewertung seiner Leistungen erheblich. Erlebens- und Erfahrenebenen werden durch sein ausgeprägtes Spezialinteresse für Sprache in den Hintergrund gedrängt. Das gleichzeitige Vorhandensein ausgeprägter und zum Teil angstgesteuerter/angstauslösender Zwangsstörungen führt dazu, dass er häufig unter extremer Anspannung steht und sich nicht auf aktuelle Anforderungen konzentrieren kann, bis hin zu zeitweise totaler „innerlicher“ Erschöpfung. Auf der Erscheinungsebene wird Arnes autistisches Verhalten unter anderem in folgenden Bereichen deutlich: • Arne verfügt über überdurchschnittliche intellektuelle Fähigkeiten im sprachlichen Bereich – sogenannte Inselbegabungen – vor allem auf den Gebieten Literatur, Geschichte, Philosophie und Psychologie. Hier zeigt er eine enorme Wissensfülle, die in Teilbereichen, zum Beispiel was das sprachliche und literarische Niveau angeht, an einen „autistischen Savant“ erinnert. So hat er ein Theaterstück geschrieben, das durch die Schule aufgeführt wurde. • Im krassen Gegensatz hierzu erschließt sich ihm die Welt der mathematisch-naturwissenschaftlichen Fähigkeiten kaum. Er hat kaum ein Gefühl für Zeit, Zahlen oder Geld. • Er verfügt über eine erstaunliche psychologische Einschätzungsfähigkeit von Menschen, erfasst Stärken und Schwächen. Andererseits zeigt er erhebliche Störungen im Bereich der Empathie im emotionalen Bereich – so ist er kaum in der Lage, Betroffenheit gegenüber anderen oder einer emotional-sozial geprägten Situation zu zeigen. Das Ursache-WirkungPrinzip erschließt sich ihm ebenso wenig wie, „aus Erfahrungen zu lernen“. Im Rahmen literarischer Themenarbeit ist Arne in der Lage, sich in Rollen hineinzuversetzen, empathisch zu deuten und exakt zu beschreiben. Interpretation durch Hineinversetzen in eine fremde Rolle gelingt – während Empathie, bezogen auf seine (reale) Person und sein jeweiliges Gegenüber, nicht gelingt. Diese paradox erscheinenden Verhaltensweisen können bei Menschen, die ihn nicht kennen, zu Fehleinschätzungen führen. • Arne ist im lebenspraktischen Bereich unselbstständig und auf die Unterstützung anderer angewiesen (Strukturen schaffen, Ablaufpläne entwickeln, Erinnern an bestimmte Abläufe oder Vorhaben, usw.). • Arne hat eine sehr akzentuierte Sprache, zum Teil überbetont, manchmal laut, dann wieder ohne Modulation, sehr leise, zu schnell oder exaltiert. • Seine sozialen Fähigkeiten sind eingeschränkt; in unstrukturierten, fremden Situationen gelingt es ihm kaum, angemessene Kontakte zu knüpfen oder 14 einen wirklichen Dialog zu führen – es sein denn über seine Interessengebiete. • Arne speichert soziale Verhaltensweisen in einer Art „Manuskript“ ab; er lernt dies wie eine Rolle für ein Theaterstück – sodass er diese auch in bestimmten Situationen passgenau anwenden kann, aber in anderen Situationen wiederum total aus der Rolle fallen kann. (Beispiel: Wenn er sich in einer fremden Situation unsicher fühlt, lächelt Arne, da aus seiner Sicht Lächeln nie verkehrt sein kann und eine höfliche Geste ist.) Im Laufe seiner Schulzeit wurden ihm immer wieder Eigenschaften wie Abgekapseltheit, Verträumtheit und Unangepasstheit zugeschrieben. • Arne hat ein geringes Gefühl für zeitliche Abläufe, kann auch sich selbst noch nicht gut einschätzen. Sein Arbeitsstil, seine Wahrnehmungsstörungen und sein extremer Hang zum Perfektionismus behindern ihn häufig bei Anforderungen, die von seinen speziellen Interessen abweichen. • Arne ist in einigen Bereichen sehr festgefahren in seiner Sichtweise – kann das Ursache-Wirkung-Prinzip nicht verstehen und umsetzen. • Wahrnehmungsstörungen zeigen sich in einer Hypersensibilität seiner Sinne einerseits – aber auf der anderen Seite hat er nur ein gering ausgeprägtes Körpergefühl (geringes Gespür für Wärme, Kälte, wetterbedingte Kleidung, …). Seine motorischen Fähigkeiten sind gering, am Sportunterricht hat er bisher kaum teilgenommen. Akzeleration ist ihm kaum möglich (Schwimmen, Ballfangen, …). Sein Schriftbild ist verkrampft, was zum Teil mit der permanenten Anspannung, unter der er steht, erklärbar ist und bei den meisten jungen Menschen mit diesem Syndrom besteht. • Arne beharrt auf einem Gleichbleiben seiner Umgebung, hält an ritualisierten Abläufen fest. Diese geben ihm Sicherheit und verringern die diffuse Angst vor Neuem. (So hat er eine Zeit lang immer mit demselben Satz begonnen zu sprechen). • Sein Selbstwertgefühl schwindet mit zunehmender Ängstlichkeit. In guten Phasen dagegen kann er ausgesprochen selbstbewusst auftreten – auf eine Weise, dass keiner auf die Idee käme, welche Zwänge und Ängste ihn quälen. Arnes Stärken liegen in den sprachlich orientierten Wissensfächern und in sachbezogenen Inhalten. Hier bereichert er den Unterricht durch seine Beiträge. Er kann Sachzusammenhänge schnell erkennen und logische Schlussfolgerungen ziehen, wenn diese für ihn eindeutig dargeboten werden und er diese für sinnvoll hält. Regelmäßige Rückmeldungen mit den Lehrkräften seines Vertrauens konnten Arnes Selbsteinschätzung und Selbstsicherheit stärken helfen. Regelmäßiger Kontakt zwischen Frau Andersen (Arnes Mutter), Arne, Frau Naefe-Storm (seiner Deutschlehrerin) und mir trug maßgeblich dazu bei, dass Arne im letzten Jahr zunehmend entspannter und ausgeglichener geworden ist, da er merkte, dass er sich auf seine Lehrkräfte verlassen kann. Auf ihn zukommende schulische Abläufe wurden ihm zeitnah mitgeteilt, manchmal erklärt und begründet. 15 2.2 Arnes schulischer Werdegang (Christoph Enneking) Arne begegnete ich das erste Mal am 4. November 2002 in der Aufnahmeuntersuchung für meine damalige 7. Klasse. Von seiner Körperlänge und -entwicklung und von seinem Gesichtsausdruck her beurteilt, hätte er in eine vierte oder fünfte Klasse gehen können. Mit seinen wachen, großen, tendenziell vorstehenden, blauen Augen, den langen Wimpern und den geschwungenen dünnen Augenbrauen, der kleinen Nase, dem runden Kinn und den weichen und glatten Gesichtszügen wirkte das Gesicht sehr kindlich. Auf den schmalen Schultern sah sein Kopf mit den aschblonden Haaren und dem Wirbel im Stirnbereich eher groß aus. Arne begrüßte mich mit einem schwachen, weichen Händedruck. Seine Arme wirkten kurz, seine rosigen, feuchtwarmen Hände klein und nicht durchplastiziert. Erstaunlich war, wie schnell, geschickt und gewählt er redete, auch wenn er gar nicht gefragt war. Die rhythmischen Klatsch-, Stampf- und Stabübungen im Unterricht bewältigte Arne zufriedenstellend. Beim Singen traf er stellenweise die Töne nicht. Beim Kopfrechnen löste er die gestellten Kettenaufgaben und Bruchrechenaufgaben sicher, die anspruchsvolleren, schriftlich zu lösenden Bruchrechnungen gelangen ihm gar nicht. Das Diktat schrieb er fehlerfrei. Arne war bei allen Übungen offen und freudig dabei. Sein Blick machte nicht vor meinen Augen halt, er forschte tiefer. Arne eroberte sich einen Platz in meinem Herzen. Arnes Mutter machte meine Kollegin und mich im anschließenden Gespräch ohne Beisein von Arne darauf aufmerksam, dass Arne nur das mache, was er für richtig hielte, durch keine Strafe zu irgendetwas zu bewegen sei und er keine Regeln akzeptiere. Sie erwähnte Arnes Autismustherapie und dass er im Sozialen schwierig sei. Auf der einen Seite bewegte er philosophische Themen, auf der anderen spielte er von sich aus noch Tiger und Bär. Auch sei er Dyspraktiker. Der Umgang mit anderen Kindern sei für ihn in traumatischer Erinnerung; er wurde im Alter von zwei Jahren von anderen Kindern verprügelt und war auch im Kindergarten stets der Prügelknabe. Die Mutter wünschte sich, dass Arne in der neuen Klasse und Schule von allen anerkannt und akzeptiert würde. Nun, das klang nicht gerade einladend, aber das Beeindruckende war die Offenheit und Ehrlichkeit, mit der die Mutter dies schilderte. Wäre da nicht die persönliche Begegnung gewesen, hätte ich Arne wahrscheinlich nicht in meine Klasse aufgenommen. Gott sei Dank war aber der Funke übergesprungen und mein Interesse an Arnes Persönlichkeit geweckt. Zunächst telefonierte ich mit seiner damaligen Klassenlehrerin und einer mir vertrauten Fachlehrerin, um mein erhaltenes Bild auch von dieser Seite zu erweitern. Nachdem ich einige Tage damit umgegangen war, ob Arne in meine reguläre Klasse mit 30 Jugendlichen aufgenommen und von dieser getragen werden könne oder nicht, formulierte ich für die Pädagogische Konferenz folgende Bedingungen für eine eventuelle Aufnahme: „Eine Aufnahme in unsere Schule bedeutet für Arne eine Aufnahme in die Gemeinschaft der Klasse 7 B, in der gewachsene Strukturen tragend sind, und für die Mutter eine Aufnahme in die gemeinsame pädagogische Zusammen- 16 arbeit. Der schulische Rahmen gilt als Pflichtrahmen, damit Arne von Anfang an „normal“ in die Schule gehen können wird und „die neuen Kinder ihn gleich als neuen Arne kennenlernen werden.“ (Zitat aus Arnes Aufnahmeantrag!) Somit wird von Anfang an auf eine Sonderrolle verzichtet. Mit Arnes Aufnahme in die Schulgemeinschaft wird zugleich eine medizinische Betreuung durch unseren Schularzt und unsere Therapeuten erwünscht.“ Nachdem ich Arne in der Konferenz beschrieben und die Bedingungen genannt hatte, unterstützten die Kollegen eine Aufnahme. Als Klassenlehrer konnte ich Arne intensiv begleiten, da ich ihn täglich in den ersten beiden Stunden, dem Epochenunterricht und in sechs weiteren Fachstunden, wie Musik, Bildende Kunst, Mathe- und Deutsch-Übungsstunden, begleitete. Einen Schultag, bevor Arne am 11. 11. 2002 in meine Klasse kam, hatte ich die Kinder auf bestimmte Besonderheiten Arnes vorbereitet, ohne jedoch das Wort Autist in den Mund zu nehmen, um ihm die Möglichkeit zu geben, als Mensch immer wieder neu wahrgenommen zu werden und nicht als Krankheitsbild an der Vorstellungswand zu hängen. So erwähnte ich zum Beispiel seine Körperlänge, sein philosophisches Interesse, seine Kenntnisse in der Literatur, in der Oper und im Theater, seine geistreiche Redegewandtheit und seine Fähigkeit zu dichten. Ich las zwei Gedichte von ihm vor (11. September). Ebenso schilderte ich seine bisher für ihn oftmals negativen Erfahrungen mit anderen Kindern und dass es schön wäre, wenn sich alle um ihn bemühten und ihn gegebenenfalls schützten. Das Interesse der Klasse war geweckt und alle erwarteten ihn mit großer Spannung. Als Arne den Klassenraum betrat, wurde er sehr herzlich aufgenommen und ein freudiges Schmunzeln ging durch die Klasse. Anna Lena, die bis dahin Kleinste, sagte, als sie den einen Kopf kleineren Arne sah: „Oh, Sünde für ihn, dass er so klein ist!“ Arne selbst strahlte die ganze Zeit; er schien sich von Anfang an wohlzufühlen. In scheinbar für ihn gewohnter Weise holte er, als er an seinem Platz saß, seine Lektüre hervor und las. Ich forderte ihn auf, diese beiseitezulegen und sich am Unterrichtsgespräch zu beteiligen. Arne berief sich auf sein Gewohnheitsrecht, folgte dann aber meiner weiteren Aufforderung und Ergänzung, dass es hier aber anders sei. Beim Verabschieden nach der letzten Stunde drehte er sich freudestrahlend zu den anderen Schülerinnen und Schülern um und sagte: „Tschüss!“ Nie vergesse ich den Moment, als Arne glücklich beschwingt, zuweilen hüpfend und sich immer wieder umdrehend, nach seinem ersten Schultag an unserer Schule den Pausenhof verließ. In der Musikstunde in den folgenden Tagen bekam er eine Leihblockflöte zum Mitspielen. Als er einige Musikstunden später zum Vorspielen an der Reihe war, bekam er plötzlich Angst, verschränkte sitzend seine Arme und sagte: „Oh, das kann ich nicht, da muss ich streiken!“ Ich erwiderte, dass ich ihm helfen würde und wir es bestimmt zusammen schaffen würden und außerdem Fehler erlaubt seien, allein die Übung zähle. – Es ging erstaunlich gut. Beim gemeinsamen Sprechen von dramatischen Balladen im sogenannten rhythmischen Teil des Epochenunterrichtes fiel Arne durch seine engagierten eigenen Betonungen und Rhythmen auf, die von der Klassengemeinschaft wohlwollend mit einem Schmunzeln getragen wurden. An Arnes leicht erhobe- 17 nem Blick war dabei zu erleben, dass er dabei ganz in den Bildgeschehnissen lebte und sein Körper, ähnlich wie beim Drachenfliegenlassen, Impulse gab oder Bewegungen ausglich. Dieses „ganz im Bilde leben“ war auch zu beobachten, als Arne ein Referat über das Sternbild Perseus hielt. Sein Sprechen glich einer sprudelnden Quelle, die zuweilen stockte, um hiernach munter weiter zu springen. Der Erzählraum weitete sich unglaublich. Außer bei den meisterhaft formulierten Nacherzählungen, Inhaltsangaben oder selbst erfundenen Geschichten zu einem Thema, die jedes Mal für den Leser ein Erlebnis waren, brauchte Arne regelmäßig Hilfe bei der Heftarbeit. Diese wurde durch seinen Tischnachbarn oder durch mich gewährleistet. Dabei spielte die Aufmunterung eine wichtige Rolle, da er schnell verzweifelte und resignierte. Auch mussten die Aufgaben auf ihn abgestimmt werden, besonders die Hausaufgaben. Die verlässlichen Rückmeldungen seiner Mutter waren dabei sehr hilfreich. So war mit jeder Aufgabenstellung versucht worden, ihn so weit wie möglich an der gemeinsamen Arbeit zu beteiligen, auch wenn er sich am liebsten aus dieser herausgezogen hätte, sofern sie ihm nicht lag oder er dafür zu ungeschickt war. Zusammen mit Arnes Mutter vereinbarten wir, wie ein gesunder Zeitrahmen für die Hausaufgaben aussehen könnte. Zum Schuljahresende durften die Schüler auch mir ein Zeugnis schreiben. Arne schrieb: 1 1 Zeugnis für Christoph Enneking Zeugnisspruch: Durch brausenden Wind Bei sternklarer Nacht Segelt das Schiff geschwind Auf der Brücke Columbus wacht Nichts kann ihn erschrecken Und mag’s ihm werden schwer: Er weiß, er wird es entdecken Das Land, weit über das Meer A. Andersen Herr Enneking hat in diesem Schuljahr die Klasse gut geführt. Ihm gelang es, mit dem richtigen Maß an Strenge, die Klasse zu lobenswerten Leistungen anzuspornen. Er ist offen und ehrlich mit den Schülern umgegangen und konnte den Stoff immer spannend und interessant gestalten. Besonders gefreut hat mich, dass er die Themen vielseitig beleuchtet hat und auch die geistige Sicht nicht vernachlässigte. 18 Im letzten Quartal der siebten Klasse fiel die Entscheidung für das Theaterstück, welches in der achten Klasse zur Aufführung kommen sollte. In der Entscheidungsrunde waren Lessings „Nathan der Weise“ und C. F. Meyers „Die Richterin“. Bis auf vier Schüler wollten alle gerne „Die Richterin“ spielen. Bei den Schauspielproben in der achten Klasse fiel es Arne zunächst sehr schwer, mit seinen Mitspielern in Beziehung zu treten. Ich forderte ihn auf, seinen Mitspieler anzuschauen, Kontakt aufzunehmen, auf ihn zuzugehen und ihn anzufassen. So kam er langsam aus seiner Vorstellungswelt heraus und auch das Sprechen bekam einen Atem. Erfreulich war in der Zusammenarbeit mit Arne, dass er stets offen und willig die Anregungen umsetzen wollte. Bei den Aufführungen gewann Arne von Anfang an das Publikum und begeisterte dieses. Seine deutliche Aussprache und sein Engagement, ganz in die Rolle einzusteigen, wurden bewundert. Vor den Aufführungen wirkte Arne sehr aufgeregt, und ich war mir nie sicher, ob seine Auftritte gelängen. Jeder Schüler musste die Schauspielarbeit dokumentieren, hier nun ein kleiner Auszug von Arnes Dokumentation: „Ich stand auf der Seite von „Nathan dem Weisen“, und damit, wie sich herausstellen sollte, auf verlorenem Posten ... Lessings dramatische Geschichte „Nathan der Weise“ hielt ich aufgrund der versöhnlichen Botschaft für wertvoller.“ Zur „Richterin“ schrieb Arne: „... So kann einem das Stück den Mut zur Wahrheit vermitteln, welcher sich befreiend auswirken kann. In Lebenslagen, wo man sich zwischen dem edlen Mut zur Wahrheit und den vorteilhafter erscheinenden Lügen zu entscheiden hat, wirkt dieses Stück bereichernd.“ – Nun die Charakterisierung seiner Rolle: 19 „Die Bewegungen und die passenden Gesten zu finden, besonders das ruhige, aber dennoch bestimmte Gehen und die Herausarbeitung der Dramatik in der 3. Szene des 3. Aktes, nahm viel Zeit und Geduld in Anspruch. ... Ich bemühte mich stets, die Einfälle des Regisseurs umzusetzen. ... Die Szene in Pratum regte in mir an, darüber nachzudenken, wo in unserem Alltagsleben noch unterschwellig extreme Gefühle brodeln, unter einer scheinbar geordneten Oberfläche. ... Ich sprach ohne Pausen, das heißt, ich war für das Publikum nicht zu verstehen. Auch wurde ich auf mein eiliges, fast gehetztes Gehen aufmerksam, welches Ausdruck von Nervosität war und auch im Alltag störend wirkte. Diese zwei Gewohnheiten möchte ich im Alltag gerne verändern. ... Ich fühlte mich, wenn mich Mitschüler tadelten, von ihnen abgelehnt und beleidigt, weshalb es bei diesem Punkt einige dramatische Szenen gab. Ich reagierte übertrieben emotional, was meine Mitschüler oft überraschte, da sie mein Spiel und nicht meine Person kritisiert hatten. ... Leider konnte ich einige schlechte Gewohnheiten nicht ablegen, zum Beispiel das unbewusste stille Mitsprechen. ... Ich lernte viel Neues von Herrn Enneking. ... Entwickeln möchte ich eine größere Hilfsbereitschaft.“ Am Ende der achten Klasse machten wir eine Fahrradtour zu verschiedenen dänischen Inseln. Trotz anfänglich großer Bedenken der Mutter durfte Arne mit. Lasse, ein vertrauter Mitschüler Arnes, kümmerte sich vorzüglich um ihn. Dabei 20 gewann Arne viel Mut und die Verbindung zur Klassengemeinschaft wuchs noch einmal erheblich. Zum Abschluss nun ein Ausschnitt aus dem Zeugnis, welches mir Arne zum Schuljahresende schrieb: 21 2.3 Asperger-Autismus und das Erleben von Welt aus meiner Sicht Arnes Selbstbild Anette Hausotter hat mich gebeten, auf meine besondere Lage als Autist aufmerksam zu machen. Wie alle anderen Menschen sind auch Autisten jeder für sich einzigartig. Ich versuche im Folgenden, mein persönliches Erleben mit meinen autistischen Symptomen anhand einiger Schwerpunkte darzustellen. Abwesenheit Das für mich deutlichste Zeichen meines Autismus ist meine Flucht in Fantasieund Gedankenwelten; ich besitze keine sichere Bodenhaftung. Oft werde ich von Stimmen bedrängt, von mächtigen Gefühlen jeder Sorte überflutet, werde von Ideen, von Gedanken und Bildern so beherrscht, dass ich alles um mich herum vergesse. Oder ich verliere mich, meist überanstrengt von den vielfältigen Eindrücken des Lebens, in einer wohligen Trägheit, in der ich Zeit und Raum vergesse. Meine Mutter schrieb einmal über mich: „Er ist nie wirklich da, immer in Fantasiewelten, in Vorfreude auf etwas Kommendes, müde und träumend, „festgesaugt“ an irgendeinem zufälligen oder gezielten Lesestoff oder besessen von einer Idee, einem Vorhaben, das ihn wiederum seine Umwelt komplett vergessen lässt.“ Und an anderer Stelle: „Arne befindet sich scheinbar hinter Glas, ist so abwesend und in Gedanken versunken, dass man ihn nicht erreichen kann.“ Ich selbst schrieb mit zehn Jahren in der Bonner Kinder- und Jugendpsychiatrie in einen Fragebogen: „Ich möchte wissen, warum ich mich so zerstreue und solche Probleme habe, mich anzustrengen. Ich bedauere, dass ich mich nicht konzentrieren kann, sonst hätte ich viel mehr Freizeit. Wenn ich zu Bett gehe, finde ich das immer schade, dass so schnell die Zeit vergeht und ich die Dinge gar nicht gemacht habe. Ich sorge mich über meine Zeit, die mir durch meine Träumerei und Zerstreutheit so durch die Finger gleitet, obwohl ich so viele schöne Dinge machen könnte. Ich leide an der winzigsten Selbstverständlichkeit, die mir wie riesengroße Aufgaben erscheint. Ich soll z. B. Zähne putzen. Ich träume stundenlang, lutsche die Zahnbürste ab und wundere mich dann, wenn eine halbe Stunde vergangen ist. Das Schlimmste ist aber für mich, dass ich meine Konzentration nicht steuern kann und ich meine Träumerei erst merke, wenn es zu spät ist. So kriege ich viel weniger Freizeit, als ich hätte haben können. Das Problem ist, dass ich eigentlich alle Aufgaben gut kann, aber ich träume und so nützt mir mein Können gar nichts.“ Ich hatte damals den Eindruck, den ganzen Tag unaufhörlich arbeiten zu müssen, weil ich für die geringfügigste Aufgabe Stunden brauchte. Meine Mutter versuchte, mich auf alle möglichen Arten zu motivieren, ich erinnere mich noch, dass wir eine „Sterne-Liste“ führten, wo ich für jede gut erledigte Arbeit einen Strich bekam und bei einer bestimmten Anzahl Striche einen Stern und eine 22 besondere Belohnung. Noch zu meinem 13. Geburtstag wollte sie mir einen Anreiz zum Erlernen der französischen Sprache geben und versprach mir für jede erarbeitete Lektion ein Geschenk ... Und alles war bei mir letztlich wirkungslos, weil es mir ja weniger an dem Willen mangelte, zu arbeiten, als an der Fähigkeit, mich überhaupt erst zu sammeln. Wie viele Auseinandersetzungen hatten ich und meine Mutter deswegen! Alle Arbeit wuchs sich bei mir zu einer ewigen Belastung aus. Eine halbe Seite Grundwortschatz Englisch und Französisch täglich war so anstrengend für mich, dass mir deswegen oft die Tage ganz verdorben waren. Die Ferien waren wunderbare Paradiese für mich, weil ich einmal frei war von dem immerwährenden schlechten Gewissen, das mich damals wegen der nicht gemachten Aufgaben andauernd begleitete. Weil es mir nicht gelang, meine Arbeit zu strukturieren, fühlte ich mich hilflos wie ein Schiffbrüchiger in einem Ozean aus Aufgaben, die mir nie und nimmer erfüllbar vorkamen. An meiner Mutter blieb die ärgerliche Pflicht hängen, mich ständig auf meine Versäumnisse aufmerksam zu machen. Sie wurde sehr enttäuscht, wenn sie sah, dass ich trotz all ihrer Bemühungen so nachlässig war. Und ich empfand eine große Wut bei ihren Ermahnungen, weil ich doch nicht konnte. Es war ein furchtbares Missverständnis, wir wussten beide nicht, dass tägliche, konzentrierte Arbeit außerhalb meiner Möglichkeiten lag. In dieser Weise wurde die Beziehung zwischen meiner Mutter und mir oft durch Symptome belastet, die niemand als solche erkannte. Auch meine häufige innere Abwesenheit führte immer wieder zu Spannungen. Da ich meistens in meinen Träumen und Gedanken, in meiner inneren Welt verschwunden war, lebte meine Mutter wie mit einem Gespenst zusammen. Das führte – und das ist eine weitere Facette der genannten Abwesenheit – zu ungezählten quälenden Auseinandersetzungen mit ihr. Was meine Mutter mir sagte, behielt ich selten. Ich hörte ihr einfach nicht wirklich zu. Und dass das so war, war mir in keiner Weise bewusst! Noch heute ist das manchmal so: Ich bin innerlich so in meiner Welt beschäftigt, dass ich die Worte meiner Mutter einfach ausblende, ich nehme sie dann nur noch als Laute wahr, die gar nicht mehr in mein Bewusstsein vordringen, und gebe mechanische Antworten. Und so behielt ich natürlich nichts von dem Gesagten und richtete mich nicht danach. Das führte zu zermürbenden Konflikten. Immer wieder schrie meine Mutter: „Aber das habe ich dir doch tausend Mal gesagt!“ Und ich konnte mich nicht erinnern. Die Lage verschlimmerte sich in solchen Augenblicken dann dadurch, dass ich gar keine Betroffenheit, keine Reue zeigte. Aber wie konnte ich etwas bereuen, was ich doch nicht verbrochen hatte, es war ja nicht meine Schuld, dass ich ununterbrochen von einer inneren Welt so aufgesogen wurde, dass ich meine Umgebung kaum noch wahrnahm ... Nicht einmal während eines Streits konnte ich bei klarem Bewusstsein bleiben, im Gegenteil: Sobald ich eine Konfrontation nahen spürte, war ich sekundenschnell „in mich hinein verschwunden“. Weg. Nicht greifbar. Nicht angreifbar. Unbetroffen. Insbesondere die Unbetroffenheit machte meine Mutter regelmäßig sehr wütend und brachte sie an den Rand der Verzweiflung. Dabei machte ich das noch nicht einmal absichtlich – sobald eine Lage für mich beängstigend wurde, senkte sich wie von selbst eine “Glasglocke“ über mich: Ich nahm dann alles nur noch verschwommen wahr, meine Augen wurden glasig, und alles, was ich hörte, wurde ein Geräusch. Ein paar Mal versuchte ich sogar, aus diesem Zustand selbstständig herauszukommen, aber dann war mein Kopf wie 23 benebelt. Wenn meine Mutter mich dann empört fragte „Was hast du dir denn dabei gedacht?!“, schienen sich die Worte gegen mich verschworen zu haben, denn in meinem Kopf ergaben sie keinen Sinn mehr. Dabei? Wobei denn? Gedacht? Dachte ich? Woran dachte ich wobei? Vielleicht ja an den neuen Kinofilm, der morgen anläuft ... Die Wörter zerlegen sich in solchen Augenblicken selbst, rufen merkwürdige Assoziationen hervor, verwirren mich ... Sobald die „Glasglocke“ über mir ist, bin ich gesprächsunfähig. Besessenheit Hobbys wuchsen sich schnell zu übertriebenen Leidenschaften aus, in denen ich ganz aufging, was bedeutete, dass sie mich ganz aufsogen, und für mich somit auch zu Fluchtmöglichkeiten wurden. Dabei waren meine Interessen meistens ausgefallen, sogar seltsam. Mit irgendeinem „Tick“ war ich so gut wie immer beschäftigt, aber mir fallen jetzt nur noch wenige ein: Eine Zeit lang war ich getrieben von dem Vorhaben, selbst einen Zeichentrickfilm zu malen, weil mich sich bewegende Bilder so faszinierten. Ich begeisterte mich über die Maßen für Mozart und seine Musik und wollte eine eigene Oper komponieren. Nie konnte ich von den Rollenspielen, die ich mit meiner Mutter spielte, genug kriegen: Ich weiß noch, dort konnte ich der Tiger sein, der die abenteuerlichsten Dinge erlebte oder ein Graf Heinrich von Hessen, der Turniere veranstaltete, in Kriege zog und Festmahle in großem Glanz veranstaltete. Diese Rollenspiele boten einen Raum, in dem ich meine unerschöpflichen Ideen verwirklichen konnte. Wäre es nach mir gegangen, hätte ich mein ganzes Leben in einem solchen Rollenspiel verbracht. Bis ich etwa 12 Jahre alt war, waren diese Rollenspiele meine Lieblingsbeschäftigung. Auch von schriftstellerischen Projekten konnte ich mich derart beflügeln lassen. Dann schrieb ich ganz beseelt von meiner Idee an einem Einfall, ohne etwas anderes zu tun, bis die Begeisterung dann plötzlich einfach erloschen war und mich etwas Neues fesselte. Oder ich entdeckte einen an sich ziemlich durchschnittlichen und beinahe vergessenen Komponisten des 19. Jahrhunderts und verbrachte Monate damit, seine Person und sein Werk genaustens zu studieren, las alle Biografien, derer ich habhaft werden konnte, und versuchte, in der Bibliothek so viele CDs zu bekommen wie möglich, und da war ich schon 13 Jahre alt! Das alles waren für mich Versuche, meine große Begeisterungsfähigkeit auszuleben, der großen Kraft, die ich auch habe, aus meiner damaligen Sicht lohnende Objekte zu geben. Die Folge war natürlich, dass ich in dem namenlosen Rausch, in den mich so ein Hobby versetzen konnte, alles andere vernachlässigte und den Kontakt zur Wirklichkeit verlor. Soziale Schwierigkeiten Wirklich großes Leid bereitete mir meine autistische Unfähigkeit im sozialen Bereich. Ich fühlte mich immer zerrissen zwischen meinem übergroßen emotionalen Bedarf an Freunden und meiner autistisch bedingten Unsicherheit. Mein ganzes Leben hindurch litt ich unter dem Gefühl, ein Außenseiter zu sein. Das wird anschaulich in den Anfängen meines ersten Romanversuchs – „Der dunkle Guru“ – aus der späten Grundschulzeit: 24 „Im Sommer 1998 verschwand Martin M. Rosenberg, ein Mann, über den es schon immer viel Gerede gab. (...) Das zeigte sich schon in der Schule. Dort fiel er zunächst dadurch auf, dass er Mozarts Musik als die „beste Musik der Welt“ betrachtete und seine für die anderen Kinder unverständliche Meinung ungeschickterweise auch noch laut preisgab. Daher hatte er von Anfang an wenig Freunde. Und den wenigen, die über seine „komischen“ Musikansichten hinwegsehen konnten, vertraute er dummerweise sofort seine ganzen Geheimnisse an. Und so was Dummes tat er nur, weil er meinte, er müsse ihnen danken. Danken für ein einziges nettes Wort. Das ist vielleicht unverständlich für Menschen, denen nette Worte selbstverständlich sind, aber das sind sie nicht für jeden, und für Martin waren sie das ganz und gar nicht. Für die Kinder war sein Verhalten jedenfalls sehr befremdend. (...)“ In meiner Kindheit hatte ich vor Gleichaltrigen eigentlich immer nur Angst. Im Kindergarten wurde ich von einer Gruppe von Jungen verprügelt, vor denen ich mich sehr gefürchtet hatte. Ich erinnere mich, dass mich auch Kinder aus der Nachbarschaft geschlagen haben. Gut verstanden habe ich mich entweder mit Erwachsenen oder mit kleineren Kindern. Meine Lieblingsbeschäftigungen ähnelten denen der anderen Kinder nicht: Ich konnte noch nicht richtig schreiben und hatte keinerlei Ahnung von Musik – ich habe nie auch nur ansatzweise gelernt, ein Instrument zu spielen –, aber ich träumte davon, eine Oper zu schreiben. Dafür lernte ich Noten und füllte damit jede Menge Notenpapier. Dass meine Fremdheit gegenüber anderen Kindern autistisch bedingt war, erfuhr ich erst mit zehn Jahren. Ich dachte immer, dass all meine Schwierigkeiten mit den Kindern meine eigene Schuld waren. Als ich von der Diagnose erfuhr, beeindruckte sie mich wenig. Dass ich mich von meinen Klassenkameraden auf unbestimmte, aber deutliche Weise unterschied, war mir längst klar, und die Wunden, die durch unsachgemäßen Umgang mit meinem Verhalten entstanden waren, waren längst geschlagen. An die Ungeduld mancher Lehrer, die sich über meine Langsamkeit ärgerten, und an das Befremden meiner Klassenkameraden, die sich über meine Unsicherheit wunderten, hatte ich mich schon fast gewöhnt. Für mich war das Wort „Autismus“ nur ein Name, für das, was andere meinten, wenn sie sagten, ich sei der Arne „vom anderen Stern“. Auch dazu gibt es einen Absatz im „Dunklen Guru“: „So hatte er während seiner ganzen Schulzeit keinen Freund. (...) Indes ging es in der Schule immer weiter bergab. Nicht nur, dass er keine Freunde hatte, nein, die Klasse hatte immer mehr Probleme mit ihm. (...) Er fing an zu träumen, weil er ja in der Klasse eh nichts sah, was ihm auf irgendeine Art Freude bereiten konnte. Also machte er sich Freude in seiner Fantasie. Er dachte dort nur noch an Zuhause, weil es ja das Einzige war, worauf er sich freuen konnte. Demzufolge passte er im Unterricht nicht auf, und wenn sein Lehrer ihn fragte, wusste er dann natürlich nichts – und bekam eine Sechs. So ist es kaum verwunderlich, dass er schon im ersten Schuljahr sitzenblieb.“ So hatte die Schule zunächst recht herbe Erlebnisse für mich. Meine erste Klassenlehrerin wollte mich schon in der zweiten Klasse nicht mehr haben. Der Grund war, dass ich mich nur sehr schwer in die Klassengemeinschaft einfand. 25 Das war besonders augenscheinlich im rhythmischen Teil des Unterrichts – „Wenn alle Kinder links herum laufen sollen, läuft Arne rechts herum!“, klagte die Lehrerin. Auch zu diesem Unverständnis, das mir in der Schule häufig begegnete, gibt es eine Stelle in diesem Text: „Es gab, abgesehen von seiner Mutter, nur einen Menschen auf der Welt, der Martin richtig verstand. Das war der alte Mathelehrer Rafaehl. Er sah als Einziger hinter der traurig-trübseligen Maske ein hellwaches Kind, das stets zu lächeln bereit war, wenn man ihm nur Grund dazu gab. Er verstand auch als Einziger Martins Lage in der Klasse. Er wusste auch, dass Martin nicht dumm war, nein, im Gegenteil! Er wusste, dass Martin sehr schlau sein konnte – wenn er nur wollte. Kurz: Er war der Einzige in der ganzen Schule, der Martin richtig kannte. Er war auch der einzige aller Lehrer, der sich Mühe mit dem kleinen Martin gab.“ Ungeachtet der Tatsache, dass es für mich keine bessere Schule gibt als die Waldorfschule, war ein Lehrer, der mich verstand, tatsächlich die Ausnahme. Es ist aber hier wichtig, darauf hinzuweisen, dass es für Lehrer, wie für alle anderen Menschen, einfach unmöglich ist, das Verhalten eines autistischen Kindes zu verstehen und anders zu bewerten als das anderer Kinder, wenn sie nicht entsprechend fortgebildet werden. Und das findet an den Waldorfschulen als privaten Schulen, welche doch hervorragende gesellschaftliche Arbeit leisten, bedauerlicherweise im Regelfall nicht statt. Wir wussten gar nicht, dass es das überhaupt gibt. In der Schule hatte ich das erste Mal einen Freund, der mir bald sehr wichtig war. Ich habe schon immer eine übergroße Sehnsucht nach Freunden gehabt, welche ich aus purer Angst nicht ausleben konnte. Heute weiß ich auch, dass ich schon immer im Umgang, selbst mit Freunden, sehr befangen war. Sobald ich einen Freund hatte, war meine größte Sorge, ihn zu verlieren. Diese Freundschaft konnte mich aber nicht darüber hinwegtrösten, dass sich meine Lage in der Schule stetig verschlimmerte: Ich war immer sehr verletzlich und wurde zunehmend Opfer von verbalen Übergriffen. Ich erinnere mich an einen Religionsunterricht, in der vierten Klasse war es, glaube ich, wo jemand sagte: „Jetzt melden sich alle, die Arne doof finden!“ Und, soweit ich mich erinnere, hoben alle die Hand, selbst der Junge, den ich bis dahin für meinen Freund hielt ... Manchmal konnte ich meiner Verzweiflung nur Luft machen, indem ich mich blindlings auf den Boden warf und schreiend um mich trat. „Ach, solche Anfälle hat der manchmal“, kommentierte ein Mitschüler trocken. In dieser Zeit schrieb meine Mutter über mich: „Arne fiel immer wieder durch seine vorlauten, kritischen Kommentare und seine eigensinnige Art auf: Er ist unheimlich böse geworden, wenn er sich gemeldet hat und die Lehrerin ihn gleichwohl nicht drangenommen hat. Isoliert vom Unterrichtsgegenstand hat er immer wieder versucht, sich mit seinen Interessengebieten in den Vordergrund zu spielen, z. B. hat er in jedem Fach immer einen, wenngleich noch so fernen, Anknüpfungspunkt für seine Geschichtskenntnisse gefunden. Viele Kinder mögen ihn deshalb und wegen seiner kontaktmäßigen Unfähigkeit nicht und greifen ihn immer wieder verbal und physisch an. Solche Attacken führen immer wieder zu Schrei- und Kreischanfällen, von denen Arne selbst sagt, dass er dann durchtickt, weil er sich nicht zu wehren weiß. Bei 26 anderen Gelegenheiten rächt er sich an der Klasse, indem er immer das Gegenteil von dem, was die anderen bevorzugen, macht oder sagt.“ In der vierten Klasse eskalierte die Situation, und ich ging beinahe ein Jahr nur zu den ersten beiden Stunden. Danach beruhigte sich die Lage, aber fremd fühlte ich mich immer noch. In der sechsten Klasse spielten wir beispielsweise ein Theaterstück – „Emil und die Detektive“ – und bekam keine Rolle innerhalb der „Bande“, offenbar, weil ich weiterhin große Schwierigkeiten damit hatte, mich ungezwungen und unauffällig in einer Gruppe Gleichaltriger zu bewegen. Es war damals ein großer Wunsch von mir, ein Kind aus der Bande zu spielen. Wenigstens auf der Bühne, zumindest als Rolle, wollte ich einmal dazugehören, wollte ich einmal Teil einer Clique sein, von den anderen angenommen und gemocht. Es war sehr schlimm für mich, dass ich eine solche Rolle nicht bekam.1 Und das Ausgeschlossensein war nicht nur innerhalb der Schule so, wie meine Mutter notierte: „Er geht gerne in die Theatergruppe, aber wenn man ihn dort beobachtet, ist er meistens alleine, nie richtig „dazwischen“. Ein größeres Mädchen – mit denen scheint er immer noch am ehesten zurechtzukommen – erzählte mir, dass Arne so oft angeschrien werde, weil er nicht tue, was er tun solle. Aber sie wunderte sich, dass er das gar nicht übel zu nehmen scheine.“ Ich erinnere mich nur noch daran, dass ich mich auch in dieser Theatergruppe ausgeschlossen fühlte; dass ich oft angeschrien wurde, weiß ich gar nicht mehr. Ich vermute, dass ich mir gegen die häufigen Zurechtweisungen nicht anders zu helfen wusste, als dass ich mich zum Selbstschutz, wie so oft, in mich hinein flüchtete und so nach außen unempfindlich wurde. Dyspraxie Ein weiteres Handicap, welches mir den Alltag erschwert, ist meine Unfähigkeit im alltagspraktischen Bereich. Im Kindergarten hatten wir eine Zeit lang sehr strenge Erzieherinnen. Die schimpften mit mir, weil ich nicht anständig genug aß, und setzten mich regelmäßig an den Katzentisch. Da saß ich dann alleine und wiederum ausgeschlossen. Weil ich mich nach dem Mittagschlaf nicht selbst wieder anziehen konnte, ließen sie mich auf der Matratze sitzen, bis ich abgeholt wurde. Stundenlang. Dabei war beides nicht mein Fehler, sondern reine Unfähigkeit. In der Folgezeit machte sich die Dyspraxie vor allem in scheinbaren Nachlässigkeiten bemerkbar, die mir alltäglich passierten: Ich vergaß alles, täglich etwas anderes: Jacken, Mützen, Mäntel, Handschuhe, meinen Ranzen, meinen Schlüssel, mein Fahrrad, meine Federtasche, Schulhefte, Besorgungen, Einkäufe ... Anlässlich meines Geburtstags gab mir meine Mutter einmal einen Beutel selbstgebackene Plätzchen für meine Klasse mit und befestigte diesen am Lenker meines Rads. Dort hing er immer noch, als ich wieder nach Hause 1 Was man möglicherweise einem autistischen Kind nicht zutraut: Ich war und bin schauspielerisch begabt, habe in dieser Zeit den Raben Abraxas aus der „Kleinen Hexe“ vor Hunderten von Zuschauern mit Erfolg gespielt. Auch andere Rollen. Allerdings mussten mir immer einige autistische „Macken ausgetrieben“ werden. 27 kam. Alle Termine vergaß ich, und als ich einen Kalender bekam, um dort meine Termine einzutragen, vergaß ich, in den Kalender zu gucken. Meine Mutter führte Strukturzettel und später ein Buch ein, in dem sie alle anstehenden Erledigungen für mich mit Datum und Tageszeit notierte, und ich konnte mir lange nicht angewöhnen, diese zu beachten. Ich vergaß einfach, hineinzusehen. Und so etwas ist heute auch noch an der Tagesordnung. Nie konnte jemand mich einkaufen schicken, ohne dass ich stundenlang wegblieb und dann meistens noch die Hälfte der – auf dem Einkaufszettel notierten – Dinge vergessen hatte. Wegen meiner vergesslichen Nachlässigkeit und meiner Ungeschicklichkeit ging mir auch andauernd alles kaputt: Mein Füller lief immer wieder aus und versaute meine Hefte. Mein Fahrrad war so häufig defekt, dass der Fahrradhändler sagte, er habe so etwas noch nie erlebt. „Was macht der bloß damit?!“ Auch die liebevoll von mir gemalten Bilder aus dem Kunstunterricht – die meine Mutter gerne für mein Zimmer einrahmte – kamen immer zerrissen und zerknickt zu Hause an. Diese – wie Nachlässigkeit wirkende – Zerstreutheit fiel auch in der Schule auf: Unsere Klassenlehrerin hatte in der ersten Klasse einen Trick, die Schüler zu disziplinieren. Die Stuhlreihe, die als Erste nach dem Unterricht mit dem Einpacken der Sachen fertig war, durfte als Erste in die Pause. Bei dieser Methode hatte ich bei meinen Mitschülern einen schweren Stand: Ich konnte einfach nicht mithalten und hielt immer meine ganze Reihe auf. Heute noch bestimmt diese aus Zerstreutheit herrührende Dyspraxie oft meine Tage: Ich brauche phasenweise täglich ganze Vormittage, um ein wenig Ordnung in mein Zimmer zu bringen. Da ich immer wieder innerlich „abdrifte“, ist das ein außerordentlich anstrengendes Unterfangen, ich muss mich für jede Ecke meiner Räume neu sammeln: Schreibtisch, Regale, Bett ... Meistens übersehe ich Dinge einfach, die am falschen Platz sind, und bemerke es noch nicht einmal, wenn ich genau hinsehen will. Schulbrotbeutel im Bücherregal sind nur ein Beispiel dafür: Immer noch bin ich hilflos, wenn ich meine Bekleidung selbst auswählen soll, und schaffe es regelmäßig, bei warmem Wetter winterlich und bei Kälte sommerlich herumzulaufen. Beschäftigt in meiner inneren Welt, ziehe ich mechanisch an, was gerade zur Hand ist. Aus dem Fenster zu gucken, welches Wetter gerade ist, konnte ich bisher nicht lernen. Ein anderer Aspekt der Dyspraxie tritt in den Schwierigkeiten zu Tage, die mir feste Werte, Maßstäbe und Größen verursachen. Dazu gehört das Rechnen, und zunächst das Einmaleins. Ewigkeiten musste sich meine Mutter mühen, diese Zahlen in meinen Kopf zu bekommen. Es waren für uns beide quälende Zeiten. Wir waren im Urlaub in einem dänischen Ferienhaus und ich hatte mich darauf gefreut, auf langen Spaziergängen viel Zeit für meine geliebten Rollenspiele zu haben, ich war vielleicht acht Jahre alt. Statt zu spielen jedoch verbrachten wir unsere Spaziergänge damit, mir das Einmaleins einzutrichtern. Das war in etwa so, als ob ich einen Text in einer fremden Sprache hätte auswendig lernen sollen, ohne auch nur die Bedeutung der Wörter ansatzweise zu kennen. Es wollte mir nicht in meinen Kopf. Ich glaube, ich kam damit deshalb so schwer zurecht, weil ich mir unter Zahlen nie etwas vorstellen konnte. In der neunten Klasse musste ich einsehen, dass ich dem Mathematikunterricht schlicht nicht mehr folgen konnte. Ich saß in der Stunde mit dem Gefühl, die Ziffern an der Tafel seien rätselhafte Hieroglyphen. Was meine Orientierung in „Zeit und Raum“ anbetrifft, bin ich noch heute überfordert. Neulich erfuhr ich davon, dass ein Bekannter 200.000 Euro Verlust gemacht hatte, und überlegte ernsthaft, ob ich meine Ein-Zimmer-Wohnung 28 - welche 250 Euro kostet - nicht einen Monat untervermieten könnte, um diesem Bekannten die Summe wiederzugeben ... Aus diesem Grund habe ich in der Vergangenheit auch schon oft Geld verloren, weil ich mir des Wertes nicht bewusst war und ich dementsprechend nicht darauf achtete. Zu schaffen machte uns auch immer mein fehlendes Zeitempfinden. Da ich so oft, beschäftigt mit Zwängen oder auch einfach in Gedanken, alles um mich herum vergaß, verfloss mir die Zeit unentwegt, und später vermochte ich über sie nicht Rechenschaft zu geben. Weitere Symptome Seit der Pubertät bereitet mir meine Zwangsstörung die heftigsten Schmerzen. Diese psychische Krankheit begleitete mich, solange ich zurückdenken kann. Ich habe deutliche Erinnerungen an meine Erlebnisse, die ich als vielleicht Dreioder Vierjähriger mit dieser Krankheit hatte: Damals hatte ich seltsame Spielkameraden: Es waren Wesen mit regenbogenbunt schillernden, geschuppten Körpern, und eine ganze Gruppe von ihnen umgab mich damals immer. Sie konnten so tun, als seien sie gute Freunde, aber insgeheim waren sie falsch, bedrohlich und böse, und ich fürchtete mich vor ihnen. Ich weiß noch, dass ich unentwegt versuchte, sie loszuwerden. Einmal gab ich in meinem Kinderzimmer ein Abschiedsfest für sie, und sie hatten mir versprochen, danach zu gehen, aber sie blieben einfach da. Manchmal zwangen sie mich, Dinge zu tun. Ich musste beispielsweise ein bisschen Salz holen und den gegen die Bilder werfen, die an der Wand hingen. Mehr Angst als vor ihnen hatte ich aber vor dem „Weißen Mann“. Das war eine große, nebelweiße Gestalt, eigentlich nur ein Umriss, ohne Haare, ohne Gesicht. Er hatte einen bedrohlichen, schweren Gang und versteckte sich in unserem Keller. Auch in meinen Träumen tauchte er regelmäßig auf. Als ich einmal meiner Mutter von diesen Wesen erzählte, verstand sie nicht sofort, wie viel Furcht ich hatte. Sie antwortete, dass es Menschen gäbe, die über solche Figuren Geschichten schrieben, und dass ich vielleicht einmal so etwas machen würde ... Erst später konnte ich ihr meine Ängste deutlich machen, und wir sprachen dann viel darüber. Ich glaube, dieser weiße Mann spielte für mich noch im Alter von acht Jahren eine so große Rolle, dass ich meinem ersten Psychologen davon erzählte, der mir aber nicht geholfen hat. Im Sommer 2002 brach die Zwangsstörung besonders heftig aus. Ich weiß noch genau, ich war mit meiner Mutter im Urlaub in unserem kleinen Wohnmobil, und nachts sah ich Skelette, die mich umstellten und nach mir griffen. Ich wusste, wie es bei meinen Zwangsbildern immer war und noch ist, im gleichen Augenblick, in dem ich diese Skelette sah, dass es sich um eingebildete Bilder handelte, und trotzdem machten sie mir fürchterliche Angst und nötigten mir Zwangshandlungen ab, ich musste mit den Fingern schnippen, im Kreis laufen, später bestimme Wörter in einer bestimmten Reihenfolge immer wiederholen – nur so konnte ich mich eine Weile beruhigen. Seitdem bin ich an dieser Zwangsstörung erkrankt – bis heute. Natürlich lösen die unterschiedlichsten Dinge meine Zwänge aus, die Skelette waren nur ein Beispiel aus jener Zeit, an das ich mich noch erinnere. Als ich im neuen Schuljahr in die siebte Klasse kam, fielen meine Zwänge natürlich auch 29 meinen Klassenkameraden auf: Ich schloss die Augen, schnitt unfreiwillig Grimassen – ich sagte dann immer zur Erklärung, ich hätte gerade an etwas Ärgerliches gedacht. Auch meine Mutter litt unter den „Anfällen“, wie ich meine Zwänge ihr gegenüber nannte – sie bekam ja das meiste davon mit. Eine Zeit lang habe ich sie unentwegt gefragt: „Mama, die Ängste haben doch nicht Recht?“ Und sie musste antworten: „Nein, Arne, die Ängste haben nicht Recht.“ – Dann hatte ich eine Weile Ruhe. Die Zwänge prägen meinen Alltag: Beispielsweise muss ich sie nach dem Aufstehen sofort als Erstes „bearbeiten“, auch wenn ich noch nicht richtig wach bin. Aber ich bin diese Zwänge inzwischen so gewohnt, dass ich sie schon beinahe automatisch behandle. Man könnte sich das vielleicht wie das Programmieren eines Computers vorstellen. Ich versuche mich mit den Zwängen selbst zu regeln, mich selbst einzustellen. Ich beginne also nach dem Erwachen, eine festgelegte Reihenfolge Wörter innerlich herunterzubeten. Darin enthalten sind unter anderem Sätze, ohne die ich mich nicht traue, das Radio einzuschalten: „Egal, was ich im Radio höre, es hat nichts mit mir zu tun.“ Wenn ich das nicht sage und die Nachrichten von einem Mord melden, dann flüstern mir die Stimmen: „Du wirst auch ein Mörder!“ So etwas macht mich ganz panisch, und dann muss ich lange und heftig innerlich auf mich einreden und viele Zwangshandlungen ausführen, bevor ich mich wieder beruhige. Wenn ich mich aber vor dem Einschalten des Radios darauf vorbereite, fühle ich mich sicher. Und so betreffen alle Sätze, die ich mir nach dem Erwachen aufsage, verschiedene Situationen, auf die ich mich innerlich vorbereite, damit ich mich geschützt fühle. Seit ich etwa zwölf Jahre alt war, kämpfe ich auch gegen extreme Stimmungsschwankungen. Selten erlebe ich inneren Frieden, meistens fühle ich entweder ein überdrehtes, rauschhaftes Glücksgefühl oder tiefe Traurigkeit. Das Bezeichnende und Angsteinflößende an diesen extremen Gemütszuständen ist: Wenn ich niedergeschlagen bin, dann sehe ich oft gar keine Hoffnung mehr, keinen Trost, und kann mir gar nicht mehr vorstellen, dass ich vor kurzem noch guter Laune war. Seit Langem kann ich mich dann kaum anders trösten als mit regelrechten Fressanfällen. Ich fühle mich dann so angespannt, so ausgebrannt, so zermürbt, dass ich mich richtig zustopfe. In solchen Augenblicken empfinde ich Essen als etwas Beruhigendes und kann gar nicht mehr damit aufhören. Das Essen rettet mich dann: Ich entspanne mich, mir wird leichter um das Herz. Und im umgekehrten Fall: Bin ich fröhlich, liegt mir die Welt zu Füßen, und ich bin mir sicher, für immer so ausgelassen zu sein. Meine Stimmungen erfordern keinen Anlass, sie wechseln oft vollkommen grundlos und überraschen mich; ich bin hin- und hergeworfen und fühle mich demgegenüber machtlos. Das Schreiben hilft mir meistens, in allen Verfassungen. In den hoffnungslosen ... Der Nebel zieht, der alles weiß verwischt. Mein Herz, das ist so leer ... ein Kerkerraum ... Ein kleiner Schritt nur und die Welt erlischt, ein kleines Gift, in meinen Trank gemischt, und alles wär’ zerstoben, wie ein Traum. 30 ... wie in den übermütigen: Ich tanz so froh, ich lache und ich lebe. Ich fliege durch mein Leben, singe Lieder. Nun liegen andere im Schmerz danieder ... Derweil ich heiter schwebe, heiter schwebe. Und immer wieder beschleicht mich ein verstörendes Gefühl der Entfremdung, innerhalb dieses wilden Tanzes der Gefühle. Weil ich oft wie ein Clown durch das Leben hüpfe und mich manchmal im nächsten Augenblick schon wieder melancholisch fühle, weiß ich gar nicht, wer ich selbst bin. Ich denke manchmal: Tausend Masken und dahinter bin nicht ich. Tausend Narren voller Faxen allesamt umringen mich. Tausend Spiegel, mich zu täuschen, zeigen deutlich mein Gesicht – ganz betäubt von den Geräuschen – bin ich's wirklich? Bin ich's nicht? Das Leben kommt mir immer wieder wie ein Traum vor. Nicht unbedingt beängstigend, aber unwirklich. Diesen verstörenden Eindruck, von dem mir gesagt wurde, dass er eines der typischsten Kennzeichen von Autismus ist, beschrieb ich einmal so: „Das Leben ist leise. Manchmal ist es so still, dass man hinhören muss, um es zu vernehmen. Es verflüchtigt sich wie Rauch. Und es geschah mir manches Mal, dass ich mein Leben nicht mehr finden konnte in dem Wirbel der Welt. Wenn ich andere Menschen, die ich nicht kenne, erblicke auf der Straße oder wo immer, fühle ich Angst, weil sie mir wie Puppen erscheinen, wie Marionetten in einem Puppentheater. Oder wie Wolken. Mir ist oft so, als ob alle Menschen Wolken wären, die sich nach geheimen Gesetzen, von denen sie selber nichts ahnen, teilen und zusammenfinden, die sich vereinen und auseinandergleiten, getrieben vom Wind, willenlos. ... Die Welt ist leer. Das heißt, die Welt quillt über von Pracht, von Himmel, Nacht und Wind, aber mir erscheint sie leer, weil ich keine Geborgenheit darin finde und ich deshalb die Schönheit der Welt letztlich nicht schätzen kann. Neulich Abend stand ich vor einer Wiese, auf der eine Herde Kühe im Abendlicht weidete. Es dämmerte bereits und da fühlte ich: Diese Welt ist leer, wunderschön und leer. Für mich, denn ich bin allein auf der Welt, getrennt von der Welt. Weil ich keinen Bezug zur Welt habe, keine Berührung mit ihr. Ich sitze im Kino und sehe einen schwermütigen Film. Das ist mein Gefühl von der Welt. Das Leben zieht an mir vorbei wie bunte Gemälde in einer Ausstellung; und so, wie man die Blumen auf den Bildern der Maler nicht berühren kann, kann ich die Steine, die Bäume, die Blätter nicht berühren. Ergreife ich einen Kiesel und wiege ihn in meiner Hand, so will es mir scheinen, als wöge ich einen magischen Gegenstand – ich bin unfähig, den Kiesel zu halten und ihn einen Kiesel sein zu lassen.“ 31 Mit 17 Jahren hatten sich alle diese Herausforderungen meines Lebens so verschlimmert, dass ich in äußerster Not einen – so qualvollen wie erfolglosen – Psychiatrieaufenthalt antrat. Danach brauchte ich ein Dreivierteljahr, um wieder zu mir selbst zu finden. In der Psychiatrie war das Schlimmste geschehen, was ich nie für möglich gehalten hatte: Mein Lebenswille war erlahmt, meine Lebensfreude, die mich alle Jahre hindurch aufrechterhalten hatte, war verschwunden, mein Kampfgeist, um dessen Willen ich nie aufgegeben hatte, war erloschen. Am Ende dieser Zeit war ich nur noch zutiefst traurig, gefangen in einer quälenden Apathie. Ich hatte nicht einmal mehr genug Motivation, nach Hause zu gehen. Zu meinem Glück holte meine Mutter mich daraus und dank ihrer Pflege gelang es mir langsam, zu meinen Kräften zurückzufinden. Dazu hat natürlich auch meine Klasse beigetragen, die mir sehr an das Herz gewachsen und für mich wie eine Familie geworden ist – und das ist eine sehr beglückende Erfahrung, weil ich mich ja immer nach Freunden gesehnt habe, die mich trotz meiner Andersartigkeit mögen. In der vierten Klasse, wo ich solche Angst vor meinen Klassenkameraden hatte, hätte ich nie für möglich gehalten, dass für mich die Schule einmal einer der schönsten Orte der Welt werden würde! Ich habe beschlossen, die Schwierigkeiten meines Lebens als Herausforderungen anzunehmen, und will es schaffen, trotz aller Probleme nun ein gutes Abitur zu machen. Darauf freue ich mich jetzt. Dabei hilft es mir natürlich sehr, dass ich im Sinn des Nachteilsausgleiches von dem Fach Mathematik befreit wurde. Ich habe meinem Lebenswillen wieder gefunden. Ich will mich von nichts mehr unterkriegen lassen. Arne Andersen Flensburg, 02. 11. 2008 32 2.4 Bericht von Arnes Mutter: Arnes Autismus und ich1 – ein Tag aus unserem Leben Mein Tagebucheintrag vom 18. September 20042 Am Morgen stehe ich ganz wohlgemut auf. Es ist Samstag. Wir wollen heute Arnes Sachen für das Forstpraktikum, die ich schon seit einiger Zeit zusammengetragen habe, sichten und anprobieren, damit Arne weiß, was er zu welcher Gelegenheit anziehen muss. Er will außerdem noch immer fleißig Französisch lernen. Ich gehe also in die Küche und will uns ein feines Frühstück machen. Arne isst zurzeit gerne ein Bananenmüsli. Ich bereite Tee für mich und frage ihn, als er verschlafen in die Küche kommt und sich erstmal in meine Arme kuschelt, ob er auch süßen Tee haben möchte. Das möchte er! Er geht ins Badezimmer und kommt gleich wieder. Ich will gerade die Tüte Müsli aus dem Küchenschrank holen, und da trifft mich der Schlag. Ich hatte sie vorgestern gekauft, es waren 500 g. Davon sind jetzt noch wenige Esslöffel übrig. – Das kann ja wohl nicht wahr sein – sage ich und setze mich mit der Tüte in der Hand auf meinen Küchenstuhl. – Du hast gestern, als ich weg war, nahezu ein Pfund Müsli genascht! So fängt mein Tag schon wieder an! Ich hatte dir gestern doch gerade vor dem Weggehen ein Müsli gemacht. Und zwei dicke Brote für den Abend! In seinem Gesicht geht jene Veränderung vor, die ich schon so lange kenne, und mit der ich immer noch nicht umzugehen weiß. Es wird irgendwie zu etwas Vordergründigem, hinter dem ich es arbeiten sehe. Angst steht in seinen Augen und ich weiß um seinen fieberhaften Versuch, jetzt etwas zu finden, mit dem er sich rausreden und mich beruhigen kann. – Ich musste mich irgendwie trösten beim Arbeiten – sagte er schließlich. – Das Französisch war so schwer. Ich dachte, ich könnte dann besser weiterarbeiten. – Das hatten wir schon so oft – schreie ich – das ist Sucht, und du weißt das. Suchtmittel muss man meiden. Ich gebe mir so viel Mühe, dich so zu ernähren, dass du aufgrund der Vollwertigkeit deiner Nahrung kein nennenswertes Bedürfnis nach Süßkram hast. Und kaum verlasse ich das Haus, da stopfst du es massenhaft in dich hinein. Kann es denn nicht einmal einen Tag ohne irgendwelche bösen Überraschungen geben? - Doch, Mama. Heute mache ich alles gut. Und ich werde auch nicht mehr 1 2 Christiane Andersen, [email protected] Bei der Lektüre dieses Tagebuchauszugs bitte ich zu bedenken, dass Arne mir vor nunmehr vier Jahren noch nicht erklären konnte, was mit ihm abgeht. Mir selbst war das damals auch nicht so klar wie heute. Außerdem war ich mit Burnout-Symptomen in einer sehr schlechten körperlichen und seelischen Verfassung. Wenn ich heute diesen Text lese, weiß ich natürlich, dass ich anders mit Arne hätte umgehen müssen. Schon lange denke ich das und immer wieder. Dabei gelingt es sogar heute noch nicht immer. Arne und ich haben schon lange das Gefühl, dass unsere so genannten Dramen – dazu unten auch noch mehr – musterhaft und in gewisser Weise in unser Zusammensein eingewebt sind. Wir empfinden nicht nur seinen Autismus als schicksalhaft, sondern auch die Verfassung gerade meiner sehr verletzten Seele, für die Arnes Sosein oft verheerend war und ist. Das ist auch der Grund, warum ich ein lange geplantes Buch über mein Leben mit meinem autistischen Kind noch nicht schreiben konnte. Wie kann ich Arnes Autismus von meiner verletzlichen Seele und ihren Traumata trennen? Arne ist vierzehn Jahre alt und sieht aus wie zehn. Er hat noch seine kindlich hohe Stimme – von Pubertät ist äußerlich noch wenig zu spüren. 33 naschen. Gestern hatte ich das nicht im Griff, aber in Zukunft gelingt mir das. Ganz bestimmt. – Er glaubt, was er da sagt. Er geht lieber in den Wahn1, als dass er seine Felle oder, wie in diesem Fall, das Fell eines schönen Tages mit mir, und das ist ihm sehr wichtig, davon schwimmen sieht. – Du gehst in den Wahn – schreie ich. Und er: – In den Wahn gehe ich nur, weil du so ein Drama machst! Ich weiß, dass daran etwas Wahres2 ist. Gleichwohl: Es tut mir weh, alles. Ich habe immer so schöne Bilder. Heute waren das die von einem schönen gemeinsamen Frühstück zum Wochenendbeginn. Und nun wieder diese Enttäuschung und dieser Schmerz. Immer ist irgendetwas anderes. Immer ein anderes Symptom, das zutage tritt. Beängstigende Symptome, die ich immer wieder aushalte, obwohl sie auch mir Angst machen, so wie jetzt diese Fressanfälle. Wie oft waren es seine Ängste und die von ihnen hervorgerufenen Zwangshandlungen. Zeitweilig hat er den ganzen Tag gesagt: – Mama, die Ängste haben doch nicht Recht? – Und ich musste immer sagen: – Nein, die Ängste haben nicht Recht. – Oft kam dann noch: – Die Ängste sagen, dass die Ferien nicht schön werden, dass du stirbst, dass.... Das stimmt doch nicht? – Nein, Arne, das stimmt nicht. Ich war die Einzige, die seine Ängste aushebeln konnte. Mit diesem einen rituellen Satz. Gleichwohl ist er dann immer ins Badezimmer gegangen und dreimal im Kreis gelaufen, hat mit den Fingern geschnippt und was der Dinge sonst noch waren, die seine Ängste ihm diktierten. Zurzeit ist das Grimassenschneiden besonders heftig. Er nennt das „gute Energien sammeln“. Er schließt dann beispielsweise die Augen, und man sieht, wie sich hinter seinen geschlossenen Lidern die Augäpfel verdrehen. Dabei nimmt er eine Kopfhaltung ein, als wollte er den Himmel anflehen und wird dann ganz starr. Ich erschrecke mich jedes Mal, wenn ich das sehe. Oft habe ich ihn gefragt, was er da macht und ob das sein muss. Es muss sein. Er muss gute Energien sammeln. Schon vor Jahren sollte Arne wegen dieser Ängste und Zwangshandlungen in die Psychiatrie, schon vor Jahren sollte er chemische Medikamente3 dagegen bekommen. Ich habe mich immer dagegen gewehrt. Er hat bis heute nicht ein einziges Mal solche Medikamente bekommen. Nur Homöopathie. Und ich habe auch nicht zugelassen, dass er eingewiesen wird. Wenn ich Menschen, die Arne kennen, erzähle, dass er in die Psychiatrie überwiesen werden sollte, wollen sie es nie glauben. Gut, von seinen Ängsten und all den anderen Symptomen haben wenige etwas wirklich mitbekommen. Er ist so intelligent, dass er das außen zum großen Teil verstecken kann. Hier zuhause ist es dann umso schlimmer. Gleichwohl: Wie viele Menschen werden wohl in Psychiatrien gehalten, um die es nicht anders steht als um Arne? Eine grausame Vorstellung. Arne lebt bei mir – bei allem täglichen Auf und Ab und bei allem täglichen Drama – ein glückliches und erfülltes Leben. Ein Leben, das er in einer solchen Einrichtung niemals führen könnte. Nun also wieder das Thema Sucht. Nicht nur dass er eine Milcheiweiß-, eine 1 2 3 34 So nenne ich seine Ausflucht in Illusionen. Siehe dazu auch unten, Fußnote 7. Als er solche dann 2007 in der Psychiatrie – ich wusste keinen Ausweg mehr – bekommen hat, waren die Folgen verheerend. Eiklar- und diverse Getreideallergien hat, er reagiert auch süchtig auf Mehlspeisen und Zucker. Er weiß das alles. Und er hat von mir auch erfahren, was die Folgen sind. Und das hat er auch verstanden. Es gibt auch lange Zeiten, in denen er anwenden kann, was unsere gemeinsamen Grundsätze sind. Dann kommt er nach Hause von einer Schulveranstaltung und sagt: – Den Süßkram habe ich heute nicht gegessen, es gab auch gesunde Sachen, die habe ich genommen. In diesen Zeiten kann ich auch steuern, was er hier isst. Nun scheint aber wieder eine seiner schwachen Zeiten zu sein. Dann nutzt er jede Gelegenheit und geht in die Küche und nascht. Massenhaft. Müsli am liebsten, Rosinen, Nüsse, Honig, aber auch Butter. Er liebt Butter über alles und kann sie so essen wie andere Leute Eis. An diesem Morgen stehe ich schließlich wieder auf von meinem Küchenstuhl und mache aus dem Rest des Müslis sein Frühstück. Dann will ich mir ein Brot schmieren, und da trifft mich der Schlag ein weiteres Mal: Das Butterfass ist auch leer! Die Diskussion geht von vorne los mit demselben Ergebnis. Danach habe ich Kopfschmerzen und mein Mut und meine Kraft1 sind für diesen Tag erstmal hin. Es geht nicht um die vernaschten Lebensmittel. Es geht darum, dass er mir das wenigstens sagt und ich nicht so ahnungslos überrascht werde. Und es geht darum, dass ich panisch werde, weil ich all der Symptome nicht mehr Herr werden kann. Ich habe einfach Angst, es nicht mehr zu schaffen. Es hört nie auf. Wenn uns nicht das eine Symptom zu schaffen macht, ist es das andere. Ich frühstücke appetitlos und mache dann die Küchenarbeiten, während er ins Bad geht. Anschließend gehen wir in die Stube, wo ich alle seine Sachen „aufgebaut“ habe, die er mitnehmen soll in das Forstpraktikum, das zwei Wochen lang in einem entsprechenden Heim auf dem Lande abgehalten wird. Dazu hole ich meine vorbereitete Liste. Wir gehen sie Stück für Stück und Anlass für Anlass durch und probieren alles an. Ich erkläre und rede unentwegt, damit er sich einprägt, was er bei welchem Wetter und welcher Gelegenheit anziehen soll. Dabei lässt er sich von mir anziehen, wie eine Schaufensterpuppe. Das Geschehen geht vollkommen an ihm vorbei. Aber er sagt immer: –Ja, Mama, das mache ich. Das mache ich so. – Aber ich sehe an seinem Gesicht, dass er es nicht wirklich aufnimmt. – Arne, wo bist du? – Ich bin hier, Mama! – Und dann betet er mir den letzten Satz, den ich gesagt habe, aus dem Nachhall in seinem Gedächtnis wieder runter: – Ich soll die Regenhose und die Regenjacke anziehen, wenn es gießt. Das mache ich, Mama! Seine Antworten sind mechanisch – immer wieder macht er seine Grimassen. Als wir schließlich fertig sind, ist es gegen Mittag und ich bin sehr erschöpft. Wir sind die Liste durchgegangen und haben alles besprochen. Danach gibt es viele hingeworfene Kleiderhaufen auf dem Boden, welche ich alle ordne, falte und wieder sorgfältig hinlege. Arne kann das nicht. Wir haben es geübt. Er braucht für ein Kleidungsstück unvorstellbar viel Zeit. Und Übung scheint hier – wie bei allen seinen dyspraktischen Fehlleistungen – nicht den Meister nicht zu machen. Einen Pullover zusammenzulegen ist und bleibt für ihn ein Kraftakt. 1 Meine Vorräte an Kraft verbrauchen sich immer schneller, schon 2004 war ich seit Jahren ausgebrannt. 35 Irgendwann habe ich beschlossen, seine ohnehin minimierten Kräfte und seine ständig fehlende Zeit für noch Wichtigeres zu verwenden. Und mache diese Dinge selbst. Was nicht heißt, dass es mir nicht wehtut, wenn er seine Hilfe nicht wenigstens anbietet. Und das tut er nicht. Wobei – es geht wohl nicht um sein Hilfsangebot. Es geht darum, dass er mich und das, was ich tue, wahrnimmt. Und das tut er auch nicht. Nie. Er ist an seinen Schreibtisch gegangen. Mein Rücken tut so weh. Ich war noch nicht im Bad und trage immer noch mein Schlafzeug. Als ich wieder Ordnung in unserer Stube habe, gehe ich nach ihm sehen. So, wie die Tür zu seinem Zimmer aufgeht, sehe ich ihn zusammenzucken und sich eilig seinem Buch zuwenden. Auf mein Herz fällt ein weiterer Schatten. Das bedeutet, er arbeitet nicht. Seit Wochen ist vereinbart, dass ich ihn morgen in Französisch prüfe, und er hatte gesagt, dass er noch daran arbeiten müsse. – Arne, hör auf. Das hat keinen Zweck. Ich sehe es dir an. – Doch, Mama! Ich arbeite! Stör mich nicht! Ich müsste ihn zwingen, den Schreibtisch zu verlassen. Ich sehe es seinem Gesicht an, dass er nicht arbeiten kann. Wenn Arne gerne und gut lernt, dann leuchten seine Augen, dann hört man ihn mit Papier und Gerät rascheln, dann spricht er – nicht nur bei den Sprachen – oft laut vor sich hin. Heute sind seine Augen stumpf, das Gesicht leblos und in unseren Diskussionen kalt und abwesend. Er wirkt träge und dumpf. Seine Antworten sind mechanisch. Ich müsste ihn zwingen rauszugehen. Ich schlage es ihm auch vor: – Geh jetzt zum Bäcker, das wird dir gut tun! – Aber er will nicht. Und gegen seinen Dickkopf anzugehen, ist mir nicht immer gegeben. Heute jedenfalls nicht. Nicht in meiner Verfassung nach dieser schrecklichen Woche. Also resigniere ich und lasse ihn da sitzen. Ich bitte ihn nicht einmal, mit mir in den Keller zu gehen und die Reisetasche heraufzuholen. Ich mache das allein. Ich bin zu erschöpft, um ihm überhaupt zu erklären, was zu tun ist. Meine Kopfschmerzen werden schlimmer. Gegen 1 Uhr, als ich sein Zimmer betrete, um Wäsche hereinzubringen, finde ich ihn einen Roman lesend. Der Punkt X ist da. Mich durchfährt ein wahnsinniger Schmerz. Meine Kopfschmerzen brüllen, ich könnte alles kaputt schlagen, schreien wie am Spieß, ich würde ihm am liebsten in seine Eisfresse schlagen, und zwar solange, bis er Berührung zeigt. Was ich in solchen Augenblicken durchmache, entzieht sich jeder Beschreibung. Ein physischer Schmerz zwischen Herz und Magen, der mich zu zerreißen droht. Ich habe das Gefühl, dass der Schmerz mich umbringt. Und habe nur einen Gedanken: – Ich kann nicht mehr. Er muss ins Heim. Da nimmt niemand persönlich, wenn er sein Ding nicht macht. Jedenfalls halte ich es nicht mehr aus. – Ich gehe in die Küche und nehme einen Schluck aus der Wodkaflasche und kippe das Zeug mit Todesverachtung in mich hinein. Wenn es mir nur den brennenden Schmerz ein wenig nimmt. Das tut es nach einer Weile und einer Zigarette auf dem Balkon. Ich komme wieder in sein Zimmer. In seinen Augen steht Angst1. Sein Gesicht 1 36 Bei autistischen Kindern „dringt wenig oder gar nichts nach außen, und auch kein äußeres Ereignis dringt in ihre Eingeschlossenheit in den Wassern der Gebärmutter. Keine emotionale Erfahrung überwindet ihre Barrieren, wo sie außer panischer Angst oder Wut noch andere erkennbare Reaktionen bewirken könnte.“ So Liz Greene, Neptun, 1996, 419. – Heute, im September 2008, als ich diesen Artikel für die INNENWELTEN vorbereite, ist mir klarer als damals, dass dies die Grundlage unserer langjährigen, sich immer wiederholenden Dramen beschreibt. Arne hat sich bei dem geringsten Anlass emotional manipuliert gefühlt und dann immer nur Angst gezeigt und Wut unterdrückt. Ich aber wollte, je nach täglich vielfälti- ist blass und kalt, abweisend und erstarrt. Es zeigt verhohlene Wut und eiskalte Distanz gleichzeitig. Dieses Gesicht macht mich rasend. Da ich aber mein Beruhigungsritual gerade hinter mich gebracht habe, bin ich in der Lage, einigermaßen ruhig zu fragen: – Arne, wo bist du? – Ich bin gar nicht da. – Wo bist du denn? – Ich träume. – Von was? – Ich bin mit meiner Klasse beim Forstpraktikum. – Seine Antworten sind so einsilbig wie widerwillig. – Arne, ich werde verrückt. Nicht nur, dass du wieder nicht arbeitest, du nimmst mich auch den ganzen Morgen nicht wahr, nicht mich und nichts von dem, was ich für dich tue und die ganze Woche für dich und diese Reise schon getan habe. – Das tut mir leid, kommt es aalglatt von ihm. – Aber es tut ihm nicht leid. Man kann das sehen. Und fühlen. Es kommt nichts an ihn heran. Ich kenne das schon. Aber ich gewöhne mich nie an den Schmerz. – Gibt es irgendetwas, was ich für dich tun kann? – kommt es ebenso glatt von ihm. – Ja, geh Brot holen – sage ich müde. Er zieht los und ich glaube es selbst kaum: Im Treppenhaus höre ich ihn singen. Vermutlich ist er auf seiner Klassenfahrt und sie singen gerade am Lagerfeuer ... Ich nehme eine Aspirin. Dann ein Bad. Brot holen beim Bäcker kostet mich hochgegriffen 20 Minuten. Arne wird eine Stunde brauchen. In der Zeit kann ich baden. Es soll mich entspannen. Nach dem Bad kommt er wieder. Ich sage: – Ich lege mich höchstens eine Stunde hin. Danach mache ich uns was zu essen. Für den Fall, dass du es bis dahin nicht aushalten kannst, gibt es Möhren in der Küche und noch einige Scheiben Brot. Davon kannst du einen Happen essen. – Ich lege mich hin. Als ich nach einer knappen Stunde wieder komme, hat er jede Menge Brot gegessen, also alles, was geschnitten war, und alle Möhren sind weg. Er ist nun satt. Enttäuscht koche nur für mich alleine. Während ich esse, sprechen wir. Seine professorale Wortwahl ist selbst für mich immer noch auffallend. Ich kann sie heute gar nicht wiedergeben. Er spricht im Tonfall eines Gelehrten über sich und seinen heutigen Zustand. Und es ist stimmig, was er sagt. Er geht wieder an seinen Schreibtisch. Ich hole die Wäsche rein und bügele. Etwas in mir signalisiert nach einiger Zeit, dass er nichts tut. – Arne, ich höre nichts. gem Anlass, Betroffenheit sehen und Mitgefühl und Anerkennung für so Vieles. Das habe ich nie bekommen. Erst in der Rückblende oder wenn er selbst nicht beteiligt ist, kann Arne solche Gefühle zeigen. Auch ist mir bis heute nur theoretisch klar, dass er, wenn er spürt, dass er emotional gefordert wird, außer Angst und Wut nichts fühlen kann. Meine „emotionalen Forderungen“ erscheinen mir nicht als solche. Ich will einfach nur wahrgenommen werden. Meine Seele wird nie begreifen, dass er mich und alles, was ich für ihn tue, nicht wahrnimmt – „das kommt bei mir nicht an“, sagt er einfach, dass er „im Paradiesgarten eingesperrt ist und jenseits der Mauern dieses Gartens außer der Gefahr des Ausgelöschtwerdens nichts mehr erkennen kann“. – Liz Greene, ebenda. 37 – Mama, ich muss mich gerade sammeln. Ich arbeite weiter. Das Gefühl stellt sich wieder ein. – Arne, ich höre nichts. – Ich muss erst wieder reinkommen, Mama! Nach einer weiteren Weile: – Arne, ich höre nichts! – Mama, ich lerne!!! Eine Stunde vergeht. Das signalisierende Gefühl ist immer noch da. – Arne, hör auf! Hör' endlich auf! Es hat keinen Sinn! – Nein!!! So geht es hin und her. Ich bin erschöpft. Kann nicht mehr. Mein Rücken will durchbrechen, meine Kopfschmerzen sind dumpf. Meine Seele fühlt sich missachtet. Er sitzt da untätig oder liest Romane und ich rackere mich mit aller Härte gegen mich selbst für ihn und seine Reise ab. Ich habe die Mutter seines Freundes gefragt, wie lange sie gebraucht haben, die Sachen für die Reise zu richten. – Wir haben das hier und da besprochen. Bent hat das selbst zusammengetragen. Ich hatte weiter nichts damit zu tun. – Das war ihre Antwort. Und mich kostet das jetzt schon seit Tagen viele planerische Gedanken, Überlegungen, mit welcher Kleidung er wohl am einfachsten zurechtkommt; Listen habe ich erstellt, die er mitnimmt und die ihn an alles erinnern sollen, nicht zuletzt habe ich das Fahrrad aus dem Keller geholt und überprüft und jemanden gebeten, das Licht zu reparieren und Luft zu pumpen – und die ganze Arbeit heute. – Arne, du arbeitest nicht und du hilfst mir auch nicht. Du vertust die ganze Zeit und ich weiß nicht, wie ich es schaffen soll. Er ist nicht zu bewegen. Er kann einfach nicht sehen, was mit mir ist. Ich brülle ihn an: – Raus! Du gehst jetzt raus. Ich halte es nicht mehr aus! – Gut, dann nehme ich mein Buch und setze mich auf die Treppe im Hof! – Tu, was du willst, aber geh!! Es ist wieder so weit, dass nur eine räumliche Trennung weiter hilft. Wir wissen das beide. Er geht nach unten und da sehe ich ihn gemütlich auf der Treppe sitzen. Ich arbeite weiter. Nach einer halben Stunde fängt es an zu regnen, und er kommt wieder herein. Sein Gesicht ist belebt und seine Augen sind nicht mehr so stumpf. – Das hat mir gut getan – sagt er aufmunternd –, jetzt kann ich hier gut weiter machen! Das Gefühl in mir stellt sich nach einer Weile wieder ein. – Arne, das hört sich nicht nach Arbeiten an. – Stimmt! Das Telefon klingelt. Ich telefoniere eine Weile. Dann kommt er herein und will wissen, was es Neues gibt. Ich sage es ihm und frage dann: – Was tust du? 38 – Nichts. – Hör jetzt endlich auf! – brülle ich wieder und er stimmt zu. Er braucht nun 45 Minuten, um seinen Ranzen für den ersten Schultag zu packen. Auf dem Klo finde ich das Buch „Cäsar lässt grüßen“ versteckt. Ich mache uns ein feines Abendessen. Habe zum ersten Mal heute Appetit. Arne kommt strahlend in die Küche und isst mit Vergnügen und Genuss. – Jetzt bist du wie ausgewechselt – sage ich erstaunt, obwohl ich das ja schon ungezählte Male erlebt habe –, warum? – Weil es Essen gibt, Mama! Das erdet mich! Essen bringt mich wieder in die Welt. Ich war den ganzen Tag nicht da. Das fing schon heute Morgen an mit der Vorstellung, dass ich heute Französisch machen musste. Ich gehe dann einfach weg und immer weiter weg, weil es nichts gibt, das mich anmacht. Ich muss funktionieren, auch ohne, dass mich das anmacht, aber in diesem Augenblick bin ich nur froh, dass wir wieder Kontakt haben. Arne ist wirklich wie ausgewechselt. Sein Gesicht ist lebendig, sein Tonfall sprühend und seine Worte sind warm, wenn sie sich an mich richten. Da sitzt ein vollkommen anderer Junge! Er strahlt mich an und sagt voller Optimismus. – Mama, wir schaffen das! Ich weiß das! Wir haben schon so viel geschafft. Morgen arbeite ich noch einmal mit aller Kraft und dann bestehe ich deine Prüfung und dann machen wir nach dem Forstpraktikum eine herrliche Reise. Darauf freue ich mich ja schon so! Er steckt mich an mit seiner Begeisterung1 und mir geht es viel besser. Das erste Mal eigentlich heute, dass ich mich einigermaßen wohlfühle. Ich leide wohl mehr, als mir selbst klar ist, wenn ich keinen Zugang zu ihm finde, wenn wir keinen Kontakt haben. Nach dem Essen mache ich die Küche und er soll baden. Dann haben wir das nicht morgen noch zu tun. Er richtet sich das Bad mit meiner Hilfe und mit dem Badezettel, den ich ihm nachtrage und auf dem notiert ist, an was er denken muss. Auf dem Zettel steht nichts von einem CDPlayer. Aber den vergisst er nie. Das erste, was er ins Badezimmer trägt, wenn er baden will, ist sein tragbarer roter CD-Player, den er letztes Jahr zu Weihnachten bekommen hat. Dann holt er sich seine augenblickliche Lieblingsoper und legt sie ein. Und dann braucht er bis zu drei Stunden, bis er wieder aus dem Wasser kommt. Ich höre lauter, als mir lieb ist, seine Opernarien. – Wenn du wüsstest, wie ich das genieße – sagt er anschließend strahlend und sauber und entspannt zu mir. Dann gehen wir ins Bett. In der Nacht werde ich wach von seiner liebsten Kinderstimme, die ich durch die offene Tür höre: – Mama! – Ich komme aus dem tiefsten Schlaf: – Was ist? – Ich hab dich so lieb! – Ich dich auch, mein Nasenbär – murmele ich verschlafen. Und als ich gerade wieder in den Schlaf sinken will: – Mama! – Was ist, Arne? – Ich lieb dich so! Dr. Christiane Andersen 1 ... und ich realisiere nicht, dass er mich in seine Illusionen verwickelt. 39 2.5 Sicht der Schule: Die Deutschlehrerin (B. Naefe-Storm) Arne kam in der sechsten Klasse in die Freie Waldorfschule Flensburg. Er kam in eine recht große Klasse, die, wie in der Waldorfschule üblich, nicht nach Leistungskriterien ausgelesen ist. Bis heute befindet Arne sich in diesem Klassenverband. Arne fiel von Anfang an auf, die Gestalt eher schmächtig, die Augen riesengroß, die Stimme fast immer zu laut, überbordend, ohne erkennbaren Regulator. Sehr schnell gelang es der Klasse, Arne zu integrieren. Man kennt ihn, weiß um ihn, schätzt ihn, hält ihn aus, wie jeden anderen Schüler, jede andere Schülerin auch. Die pädagogischen Prinzipien der Waldorfschule kamen und kommen Arne sehr entgegen. Der Klassenverband besteht von der 1. bis zur 12. Klasse und wird in den ersten acht Jahren von ein- und derselben Lehrkraft betreut. Ab der 9. Klasse übernimmt ein Team die Klassenbetreuung, welches wiederum bis zum Ende der Schulzeit die Klasse begleitet. Diese stabilen Rahmenbedingungen machen es Arne möglich, sich einzustellen und adäquate Rollenmodelle zu entwickeln. Zu den Mitschülerinnen und Mitschülern haben sich ebenso stabile Beziehungen entwickelt; Arne mag sich zurzeit ein Leben ohne diese verlässliche und vertraute Peergroup gar nicht mehr vorstellen. Natürlich trägt auch seine hohe Begabung zu seiner Akzeptanz nicht unwesentlich bei. Ich begleite die Klasse seit der Neunten in Deutsch und Geschichte: Wann immer mir etwas entfallen ist, ein historischer Zusammenhang, eine Jahreszahl, ein Autorenname oder Werktitel, kein Problem – Arne weiß es. Er ist akzeptiert als Instanz, sein Wissen wird geschätzt, auch bewundert. Mag er den einen oder anderen auch mal nerven damit, dass er alles weiß: Arne ist ein unverzichtbares Mitglied der Klasse. Ganz besonders stolz und glücklich sind wir als Klassen- und Schulgemeinschaft, dass es mit der großartigen Hilfe von Frau Hausotter gelungen ist, Arne trotz seiner gravierenden Teilleistungsschwäche in Mathematik in den Abijahrgang aufzunehmen. Es ist mir und meinen Kolleginnen und Kollegen immer eine Herausforderung gewesen, diesen so begabten jungen Menschen so zu integrieren, dass er beschulbar ist. Dass dies so erfolgreich gelingen konnte, ist ein Glück und eine große Bereicherung. Es wäre aber niemals gelungen, wenn nicht Arnes Klasse als Gemeinschaft dazu in der Lage gewesen wäre, ihn anzunehmen. Erst im Erkennen und Aushalten der Stärken und Schwächen des anderen bildet sich wahre Gemeinschaft, in der Individuen so sein dürfen, wie sie sind. So entwickeln sich gelebte Toleranz und Freiheit. Letztendlich verdanken wir Arne diesen Lernprozess – aber auch einen belesenen, klugen Gesprächspartner auf Augenhöhe – für mich als Lehrerin ein Glück. 40 3. Die Träumer – ein Schulprojekt im Rahmen der Abiturvorbereitungen 3.1 Die Bedeutung der Jahresarbeit in der zwölften Klasse der Waldorfschule (B. Naefe-Storm) Die 12. Klasse der Waldorfschule hat zwei Höhepunkte: Als Kollektiv stellt sich die Klasse der Aufgabe, ein Theaterstück zu inszenieren und zu spielen; jede einzelne Schülerin, jeder Schüler stellt sich der individuellen Herausforderung, sich ein ganzes Jahr, also seit der 11. Klasse, ein Thema zu erarbeiten. Egal ob das Thema eher theoretisch, handwerklich oder künstlerisch ist, die Ausarbeitung soll auf zwei Ebenen geschehen, theoretisch und praktisch. Dies kann z. B. heißen, das Thema „Schlaf und Traum“ wird theoretisch abgehandelt und künstlerisch in selbst gemalten Bildern thematisiert. Jede Arbeit wird von einer Mentorin oder einem Mentor begleitet, der über den Fortgang der Arbeit und die Qualität wacht. Die Jahresarbeiten werden in einem individuellen Vortrag und einer flankierenden Ausstellung der Öffentlichkeit präsentiert. Die Beurteilung durch den Mentor fließt ins Abschlusszeugnis ein, als besondere Lernleistung. Der Prozess der Jahresarbeit beinhaltet alle Stufen eines Entwicklungsweges inklusive Frust, Verzweiflung, Langeweile, Leistungsdruck, Freude, Stolz und ein ungeheures Gefühl des Triumphes, wenn das fertige Ergebnis präsentiert wird. Die Schülerin oder der Schüler trägt die Verantwortung für das, was sie oder er tut, die Korrektur kommt aus der Materie selbst. Es ist eine wichtige Erfahrung, wenn man von der Wirklichkeit korrigiert wird und nicht von abstrakten Parametern. Wenn man an einem Werkstück zu viel abraspelt, in einem Bild die Farbe nicht trocknen lässt – überzeugt das Ganze nicht mehr und es lässt sich nicht mit einem Mouseclick wieder in Ordnung bringen. Dies sind geradezu heilsame Prozesse. Arne hat als Jahresarbeit ein Theaterstück geschrieben – „Die Träumer“, das von einigen Mitschülerinnen und -schülern aufgeführt und inszeniert wurde. Das Schreiben eines Stückes ist der einsame Prozess des Autors! Das auf die Bühne Bringen des eigenen Stückes ist ein brisanter Prozess, der nicht nur für einen autistischen Verfasser eine große Herausforderung bedeutet! 41 3.2 Erlebnisbericht mit Arne Andersen – eine Mitschülerin als „Mentorin“ (Johanna Stribrny) Meine ersten Begegnungen mit Arne liegen zeitlich schon etwas zurück, genauer gesagt: vier bis fünf Jahre. Damals war es schwer, sich ein ernsthaftes Bild von ihm zu machen, da er an dem allgemeinen Schulleben nicht besonders auffällig teilgenommen hat – meist sah man ihn in der Pause in ein Gespräch oder Buch vertieft oder völlig in Gedanken, teils sogar so tief, dass er kaum ansprechbar war und oft richtig erschrak, wenn man ihn ansprach. Doch in den nächsten Jahren bekam ich durch gemeinsame Freunde einen näheren Zugang zu ihm; das heißt, wir sahen uns im Bus oder in der Schule öfter und kamen so ins Gespräch. Manches Mal erzählte er mir von den Problemen mit seiner Krankheit. In dieser Zeit habe ich ihn, wenn er mit Freunden unterwegs und zusammen war, entspannt, interessiert und aufgeschlossen erlebt – bereicherte er doch alle Gespräche durch sein Wissen. Oft änderte sich seine Stimmung jedoch zunehmend. Er wurde teils stiller, wirkte beinahe abweisend und zog sich in sich zurück – kurz, er schien mit den Gedanken ganz woanders zu sein. Dieses Phänomen der Stimmungsschwankungen habe ich bei ihm oft beobachtet. Meist hat er jedoch eine positive, freundliche und offene Ausstrahlung, die einige Menschen vielleicht als verträumt oder gar kindlich deuten könnten, was es ihnen dann aber unmöglich macht, seine optimistische Grundeinstellung zu verstehen und anzunehmen. Diese Grundeinstellung kam ihm und mir während der Theaterproben zu seiner Jahresarbeit, dem selbst geschriebenen Stück „Die Träumer“, zugute. Mit so einer Einstellung lässt sich, meiner Meinung nach, nämlich viel mehr erreichen, als mit ständiger Kritik und Stress. Die Proben waren trotzdem nicht immer einfach, was aber hauptsächlich an der Unkoordiniertheit einiger Mitspieler und Arne lag. Arne fiel es oft nicht leicht, seine Ideen, Wünsche und Vorstellungen von den Szenen des Stückes so zu formulieren, dass es allen verständlich war. Vor allem waren die Vorstellungen davon, wie diese oder jene Person gespielt werden sollte, doch unterschiedlich, und so war es schwierig, alles unter einen Hut zu bringen. Den Großteil der Probenzeit brachten wir mit Textproben und dem Ausprobieren der verschiedenen Darstellungsweisen von Personen und Szenen zu. Das alles hat sehr viel Geduld, Kraft und vor allem Nerven gekostet; doch Arne hat das alles gut gemeistert; erst, als in der Hauptprobe die Texte immer noch nicht richtig saßen, war auch bei ihm das Maß voll. Natürlich kam es auch vorher hin und wieder zu Spannungen, welche sich aber bald in Luft auflösten. Im Allgemeinen habe ich Arne als einen geduldigen, höflichen und verständnisvollen Regisseur erlebt, jedoch auch immer wieder durch seine Krankheit hilflos und haltlos. So bat er mich nach einiger Zeit, ob ich bei den Proben mal dabei sein könnte, da er sich teilweise nicht ernst genommen fühlte und seine Weisheit in Sachen Durchsetzungsvermögen ziemlich am Ende war. Während der Proben war er dann ganz in seinem Element, der Sprache. Er blühte richtig auf und zeigte soviel Begeisterung und Euphorie, dass es eine wahre Freude war. Leider sprang dieser Funke erst spät oder schwach auf die Schauspieler über und trotzdem gab Arne nicht auf, was ich doch sehr bewunderte, da alle Schau- 42 spielerinnen und Schauspieler Laien und gleichzeitig Mitschüler waren, was natürlich die Hürde noch größer machte, sich etwas von ihm sagen zu lassen oder ihn, in seiner fallweise ausbrechenden Rage, wirklich ernst zu nehmen. Nachdem ich mich in das Stück und die einzelnen Rollen und Schauspieler eingearbeitet hatte, blieb nicht mehr viel Zeit – die Aufführung stand bevor, wir hatten noch zwei Wochen. Es wurde dann auch immer stressiger und wir hatten große Mühe, alle Beteiligten bei Laune und vor allem bei den angesetzten Probenterminen zu halten. Arne gelang es nun immer öfter, sich durchzusetzen, und seine Vorschläge, sowohl für Regie als auch für Kostüme und Requisiten, fanden immer mehr Anklang. Ich begab mich nun immer öfter in Einzelproben und Arne übernahm die Gesamt- und Durchlaufproben. Wirklich alles fertig war, glaube ich, erst bei der Aufführung, aber das reichte ja nun auch. Die Aufführung wurde allerdings wegen der Realschulklausuren verschoben und somit hatten wir wieder eine lange Durststrecke, die es durchzuhalten galt. Das ganze Stück und auch die Herangehensweise aller Beteiligten veränderten sich nun deutlich, leider nicht immer positiv, da einige schon keine Lust mehr hatten. Trotz allem war die Aufführung ein voller Erfolg und Arne strahlte am Ende von einem Ohr zum andern. Letztendlich glaube ich, dass diese lange Phase des Durchhaltens und bei einem Thema bleiben nicht nur Arne sehr viel gebracht hat: Es hat die allgemeine Geduld doch sehr gefördert – für Arne ein wunderbarer Lernprozess fürs ganze Leben. Ich bin sehr froh, dass ich diese ganze Zeit begleiten durfte und so viele tolle Menschen erleben konnte. Letztendlich, denke ich, ist Arne auf einem guten Weg und es freut mich, dass ihm nun auch die Möglichkeit gegeben wird, das Abitur zu meistern; dabei wünsche ich ihm, dass er die Fähigkeiten, die er in diesen Probenphasen erlangt hat, anzuwenden weiß. 43 3.3 Die Träumer – das Theaterstück 2007 (Arne Andersen) Einführung – 21. Februar 2008 Das Theaterstück „Die Träumer“ habe ich auf Anregungen aus meiner Klasse geschrieben. Wir suchten ein Theaterstück für die zwölfte Klasse. Einige hatten die Idee, dass ich uns doch ein Stück schreiben könnte. Erst wollte ich nicht, aber eines Abends habe ich mich hingesetzt. Am Mittag zuvor hatte ich die Idee gehabt, dass das Stück von Jugendlichen handeln sollte, die sich Geld stehlen, um sich ihre größten Wünsche erfüllen zu können. Man hat mich gefragt, wie ich auf die einzelnen Inhalte und Gestalten gekommen bin. Darüber musste ich nachdenken. In der Tat war es so, dass – einmal angefangen – mir die Handlung wie von selbst einfiel. Immer, wenn ich schrieb, setzte sich die Geschichte dieser Gruppe von Jugendlichen wie ein Puzzle zusammen. Während ich schrieb, erinnerte ich mich an viele verschiedene Eindrücke, Nachrichten und Erinnerungen, die mich seit Längerem beschäftigten. Es entstanden Szenen vor meinen inneren Augen, die ich nur noch beschreiben musste. So erinnerte ich mich an einen Bericht, den ich im Radio gehört hatte und der aufzeigte, wie viele Flüchtlinge hier in Deutschland in Asylantenheimen in elenden Verhältnissen hausen. Es wurde auch gesagt, dass man sich angesichts der Ausweglosigkeit ihrer Lage nicht wundern müsse, wenn diese Jugendlichen wütend und gewalttätig würden. Auf einer schulinternen Veranstaltung „Tag gegen Rechts“ stieß ich auf einen Zeitungsartikel, der von einem Fall rechtsradikaler Gewalt handelte. Dort wurde gezeigt, wie neonazistische Gewalttäter sich an einem kleinen Jungen ausländischer Herkunft vergingen. Ich fragte mich, was aus dem Opfer geworden war und wie es mit seinen seelischen Verletzungen fertig wurde. Dieses Geschehnis regte mich zu der Figur des indischen Jungen Ravi an, der als Zwölfjähriger von zwei Skinheads grausam verprügelt wurde und dessen größter Wunsch es ist, diese beiden für ihre Taten büßen zu lassen. Er will es ihnen heimzahlen, er will ihnen die Qual und damit die Entwürdigung zurückgeben. Er will so seine Würde wiedererlangen, und seine Fähigkeit, dazuzugehören. Ein anderes Thema, welches mich während des letzten Jahres beschäftigte, war die Sterbehilfe. Die bekannte und beliebte Barbara Rütting, die mit 80 Jahren als Abgeordnete der Grünen im Bayrischen Landtag sitzt und deren neuestes Buch gerade wieder die Bestsellerlisten erstürmt hat, vertritt mit Selbstbewusstsein ihre Mitgliedschaft in „Dignitas“, einer schweizerischen Sterbehilfeorganisation. Sie möchte nicht von den Möglichkeiten der modernen Medizin am Leben gehalten werden, um dann in einem unbrauchbaren, leidenden Körper gefangen zu sein. In Deutschland ist es den Ärzten jedoch verboten, Sterbehilfe zu leisten. Hier muss man sich selbst töten, wenn man nicht mehr leben will. Darf das Gesetz einen Menschen überhaupt zum Leben zwingen? In meinem Stück lasse ich einen alten Mann auftreten, der zermürbt, gequält und seines Lebens müde ist. Er hat keine Angehörigen und ist Insasse einer 44 Psychiatrie, von wo er weggelaufen ist. Er wünscht sich zutiefst, in Frieden zu sterben. Er sehnt sich nach Erlösung. Ihm wird dieser Wunsch erfüllt – gegen alle Gebote. Auch andere alarmierende Nachrichten ereilen uns immer wieder: zum Beispiel solche von Jugendlichen, die sich auf so genannten Flatratepartys um ihr Leben trinken. In der öffentlichen Diskussion, die solchen Ereignissen zu folgen pflegt, werden schnell Rufe laut, den Jugendlichen den Zugang zum Alkohol noch mehr zu erschweren. So, als ob der Alkohol daran schuld sei, dass die jungen Menschen danach greifen, und als ob man nur den Alkohol verbieten müsste, um allen Schwierigkeiten ein Ende zu bereiten. Niemand scheint sich die Frage zu stellen, warum Drogen unter Jugendlichen so begehrt sind und warum so viele junge Menschen ihnen verfallen und sogar daran sterben. Vielleicht gibt es ja so viele Unsicherheiten und Ängste in ihrem Leben, dass sie sich betäuben müssen. Und wenn dem so ist, dann kann man ihnen doch nicht helfen, indem man einfach nur die Drogen verbietet und sie ansonsten mit ihrer Hilflosigkeit und Ungeborgenheit allein lässt. So ist Jana in meinem Schauspiel ein Mädchen, welches ohne ihren Vater groß geworden ist und welches sich zutiefst wünscht, diesem Mann einmal nur zu begegnen. In der heutigen Zeit, wo es immer weniger intakte Familien gibt und wo immer mehr Kinder einen ihrer Elternteile entbehren müssen, ist Vater- oder Mutterlosigkeit eine schwere seelische Last. Jana fühlt sich unvollständig und in gewisser Weise auch außen vor, weil Vollständigsein für sie Geborgenheit in einer Familie bedeutet, und Familie bedeutet, einen Vater zu haben. Mark hat zwar beide Eltern und lebt zudem in wohlhabenden Verhältnissen, aber er wird von seinen Eltern nicht beachtet. Er ist seelisch nicht versorgt und – trotz bestehenden Wohlstands – auch nicht materiell. Das macht ihn einsam, ungeborgen und bitter. Er wünscht sich ein Motorrad, mit dem er fahren kann, wohin und so schnell er will. Julia und Aline kommen beide aus sehr ärmlichen Verhältnissen und fühlen sich in einer Welt des Konsums, in der sie allabendlich am Fernseher so verlockende wie wirklichkeitsfremde Werbespots sehen, frustriert und von der Möglichkeit der Teilhabe ausgeschlossen. Sie sehnen sich nach Geborgenheit im Sinne des Dabeiseins, des Mitmachenkönnens, des Sich-etwas-leisten-Könnens: Einmal eine richtige Reise machen. Das ist ihr Wunsch. Auch Joel ist vereinsamt: Er ist homosexuell und fühlt sich deshalb von seinem Umfeld ausgegrenzt. Er suchte den Anschluss an diese bunt zusammengewürfelte Gruppe, weil er als Außenseiter sich nur unter Außenseitern angenommen fühlt, angenommen und gemocht, so wie er ist. Er wünscht sich ein Date mit einem Strichjungen. Vielleicht, so glaubt er, geht selbst bei so einem Ersatz für das unerreichbare Eigentliche das Gefühl der Einsamkeit einmal verloren. Das sind also die Träumer und ihre Wünsche. Ihre Wünsche sind – auch diejenigen, die auf den ersten Blick so aussehen, wie die, ein Motorrad zu haben oder eine Fernreise zu machen – nicht materiell. Sie sind vielmehr Ausdruck ihrer Sehnsucht nach Geborgenheit: Jana wünscht sich einen Vater, Julia und Aline wünschen sich die wärmende Decke materiellen Komforts, Mark wünscht sich wahrgenommen und Joel und Ravi wünschen sich, in ihrem Anderssein angenommen zu werden. 45 Und warum sind sie Träumer? Träumer sind sie, weil sie glauben, ihre Sehnsucht nach Geborgenheit, ihre Sehnsucht nach Erlösung von ihrer Abgetrenntheit stillen zu können, indem sie sich ihre Wünsche erfüllen. Sie wissen, dass ihnen das nicht endgültig gelingt, dass sie ja von den Folgen ihrer Taten eingeholt werden. Sie wissen, dass sie festgenommen werden. Vielleicht ähneln wir alle ein wenig den Träumern. Vielleicht sind wir alle isoliert und sehnen uns ein Leben lang nach einer Geborgenheit, die es nicht gibt. Vielleicht sind wir alle hier und da Träumer und suchen, dieser Isolierung auf untaugliche Art und Weise zu entkommen. Aber die meisten von uns können im Allgemeinen leben mit dieser Sehnsucht und in ihrem Alltag bestehen. Das konnten die Träumer nicht. Und das war nicht ihr Fehler. Die Träumer sind nicht nur vereinzelt, wie letztlich vielleicht wir alle, nein, sie sind zudem Außenseiter, sie sind heimatlos und arm, sie sind hilflos und verängstigt, mutlos und abgestumpft. Und niemand hilft ihnen. Und das kann nicht hingenommen werden. Das deutlich zu machen, war mein Hauptanliegen bei den „Träumern“. 46 1. Szene Auf der Bühne ist es dunkel. Man hört einen Radiosprecher. Radiosprecher: Und hier die Regionalnachrichten. Garmsdorf. – Herr Schulze aus der psychiatrischen Klinik Garmsdorf wird vermisst. Herr Schulze ist geistig verwirrt und benötigt dringend Medikamente. Herr Schulze trägt einen blauen Pullover und Jeans. Wenn ihn jemand sieht, bitte umgehend die Polizei benachrichtigen. Graunstein. – Heute Vormittag ereignete sich eine Serie von Überfällen auf Tankstellen in der Umgebung. In allen Fällen werden Jugendliche als Täter vermutet. Entwendet wurde Geld in noch unbekannter Höhe. Die Straftaten scheinen miteinander im Zusammenhang zu stehen. Das Landeskriminalamt Elbershausen fahndet nach den Tätern, die bis jetzt auf freiem Fuß sind. Das Radio wird ausgeschaltet. Auf der Bühne geht das Licht an. Wir sehen ein Wohnzimmer, welches stilvoll ausgestattet ist, aber augenblicklich unordentlich und chaotisch wirkt. Sechs Jugendliche sitzen um den Tisch herum, dicht gedrängt, vor sich einen Haufen Gegenstände – darunter bündelweise Geldscheine – ausgebreitet. Schweigen. Mark ein großer, dunkelhaariger Junge, blass: Scheiße. Jana: Was hast du denn gedacht? Dass wir die ersten Einbrecher sind, die sie nicht suchen? Joel sehr ängstlich: Die haben uns schon. Ich geb ihnen die Nacht. Jana: Was willst du? Wir haben das Geld. Und vielleicht 12 Stunden, was damit zu machen. Vielleicht auch zwei Tage. So etwas gab's schon. Alain: Dass wir danach ins Kittchen kommen, wussten wir schon, das ist Teil des Spiels. Tom: Die Kassiererin hat so ängstlich geguckt. Die hat sich echt erschreckt. Mark: Denk nicht dran. Wir haben nur 12 Stunden. Ravi: Jetzt ist es endlich so weit. Wir steigen aus. Das ganze Leben wird einem gepredigt: Du musst gut sein. Du musst gute Noten in der Schule haben, um einen guten Abschluss zu bekommen. Du musst einen guten Abschluss haben, damit du einen guten Beruf bekommst. Du musst einen guten Beruf haben, damit du genug Geld hast, um anständig leben zu können. Jetzt streiken wir. Wir haben das Geld und jetzt werden wir uns alle unsere Wünsche einmal erfüllen. Danach werden wir eingesperrt, das ist besser, als ein Leben als Roboter zu verbringen. Jana: Wie lang muss man für so was eigentlich ins Gefängnis? Nur so aus Interesse. Joel: Weiß nicht. 47 Tom: aufgebracht: Ich will nicht ins Gefängnis! Verzweifelt. Freiheitsstrafe! Wisst ihr überhaupt, was das heißt? Sechs Monate? Ein Jahr vielleicht? In leeren Zellen mit winzigen Fenstern? Mark: Jetzt mach' bloß nicht schlapp! Wir haben uns alle dafür entschieden! Tom: Ja, schon ... Ich wollte ja auch nicht so weiterleben, wie bisher ... Ich wollte nicht weiterhin zusehen, wie mein ganzes Leben an mir vorbeiläuft wie auf einem Fließband ... Da ist es wirklich besser, sich seine Sehnsüchte zu erfüllen, auch wenn der Preis dafür hoch ist und mir angst macht. Auf einmal wütend. Was ist das für eine Welt, in der man zum Verbrecher werden muss, wenn man keine Maschine werden will? Die Sechs sitzen um den Tisch herum, als frören sie. Schweigen. Alain steht auf und knallt eine Bierkiste auf den Tisch. Die anderen schrecken zusammen. Alain: Scheiß drauf. Jetzt wollen wir feiern. Nimmt eine Flasche. Tom: Ich ruf' einen Pizzaservice an und bestelle ein ganzes Blech für alle. Tom geht zu einem Telefon im Hintergrund der Bühne und telefoniert kurz. Mark: Hat jemand eine Zigarette? Die anderen verneinen. Mark: Ich geh noch mal und hol mir 'n Päckchen. Ab. Alain dreht das Radio wieder an: Discomusik. Jana nimmt sich eine Bierflasche und trinkt. Jana brüllt übermütig zu Alain: Ich bin mir sicher, mein Vater wird stolz auf mich sein! Alain brüllt zurück: Du kennst ihn doch gar nicht! Jana ausgelassen: Ja, eben deshalb! Welche Tochter überfällt schon erst einen Laden, nur um herauszufinden, wer ihr Vater ist! Tom fröhlich: Und ich fahre nach Berlin! Ravi: Du kannst ja nach Babelsberg gehen und eine Stinkbombe in die Studios von „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ werfen! Tom sachlich: Das klappt nicht, so lange werde ich da nicht bleiben können. Das ist unrealistisch. Vorher werd' ich eingebunkert. Alain: Ist doch egal, was realistisch ist! Wir sind Träumer. Alles ist möglich. Wir lassen uns das Träumen nicht verbieten. 48 Jana, begeistert: Wir wollen doch mal sehen, was wir aus unseren Träumen machen. Joel macht das Radio aus und sagt ernsthaft: Ja, wir träumen, und ich habe jetzt schon Angst vor dem Augenblick, in dem wir wieder erwachen müssen. Das wird wehtun. Unten klingelt es. Jana: Das ist unsere Pizza! Sie geht ab und kommt kurze Zeit später mit einer großen Pizzaschachtel wieder. Dann schneidet Tom ein Paar Stücke und alle setzen sich um den Tisch und essen. Ravi kauend: Wisst ihr noch, wie wir uns kennen gelernt haben? Jana kichert: Das war doch vor zwei Jahren auf dieser lächerlichen Demo in Elbershausen, oder? Da hattet ihr euch doch mit irgendeinem Polizisten angelegt. Alain: Ja, der hatte was dagegen, dass wir unsere Schals und Mützen übers Gesicht zogen. Tom: Und schließlich hat er uns in Gewahrsam genommen. Jana: Und ich bin mit euren Namen und Adressen zum Ermittlungsausschuss gedackelt, damit die euch da wieder herausholen. Alain gähnt: Ich bin auf solche Demos ohnehin nur gegangen, weil ich Krawall machen wollte, nie aus Überzeugung. Ich bin einfach dorthin gegangen, um meine Wut loszuwerden, meine Wut auf diese Welt, die nun mal so ist, wie sie ist. Ich hätte insofern auch bei den Nazis mitlaufen können, aber die hätten einen solchen Chaoten wie mich wahrscheinlich nicht in ihren Reihen geduldet. Politische Meinungen waren mir damals egal, ich wollte nur, dass sich irgendwas verändert. Ravi: Das ist nicht dein Ernst! Nazis sind Verbrecher! Jana: Mach dir keine Sorgen, Alain: Jetzt verändert sich etwas. 49 2. Szene Ein Schrei hinter der Bühne. Die Stimme eines alten Mannes schreit. Die Tür des Wohnzimmers geht auf. Mark kommt herein und wird von einem alten Mann panisch umklammert. Der alte Mann weint und spricht panisch. Mark lachend zu den anderen: Seht mal, wen ich euch da mitgebracht habe! He, ich glaub, das ist der Typ gerade aus den Nachrichten! Alle sehen ihn überrascht an. Der alte Mann flehend: Bitte bringt mich nicht zurück, bitte, bitte, bitte. Dann kommen sie wieder. Schreit. Dann kommen sie wieder. Bitte! Jana schrill zu Mark: Spinnst du? Was wollen wir denn mit dem machen. Wir können nicht einfach die Polizei benachrichtigen, falls dir das noch nicht klar ist. Tom: Wo hast du ihn aufgegabelt? Mark: Hier um die Ecke. Alain: Ist ein weiter Weg von der Psychiatrie in Garmsdorf bis hier hin. Der alte Mann panisch: Ihr bringt mich nicht zurück, oder? Ich bin ganz normal. Mark schaut Jana an: Wir bringen dich nirgendwohin. Können wir ja gar nicht. Schweigen. Joel steht auf und geht zu dem alten Mann und legt ihm den Arm um die Schulter. Joel zu den anderen: Natürlich bleibt er bei uns. Es muss doch furchtbar sein, in der Psychiatrie eingeschlossen zu sein. Bei jeder Veranstaltung, bei jeder Party, bei jedem Fest sind Menschen außen vor – aber nicht hier. Wir schließen niemanden von unserem Traum aus. Zum alten Mann: Willkommen im Verein der Träumer. Der alte Mann blickt ihn verständnislos an. 50 Alain laut: Ja, wir sind alle Träumer. Zum alten Mann. Wir halten alle den Alltag nicht mehr aus. Und jetzt leben wir unsere Träume. Für 24 Stunden. Tom: Wir sind alle pleite. Unsere Eltern haben selber kein Geld. Mark: Meine Eltern haben es sogar, aber sie geben es mir nicht. Alain stellt dem Mann die Gruppe der Reihe nach vor. Alain: Das ist Tom, der will unbedingt mal nach Berlin, da fährt er morgen hin. Und das ist Joel, der will einmal mit einem Stricher – du weißt schon. Und das ist Jana. Die hat nie einen Vater gehabt. Und wir suchen ihr jetzt ihren. Das ist Ravi. Dem wurde mal der Unterkiefer von 'nem Skin zertreten. Der möchte Rache. Und Mark will ein Motorrad. Und ich will an die Südsee oder wenigstens nach Sylt. Der alte Mann blickt ihn weiterhin verständnislos an. Dann schreit er wieder. Der alte Mann schreit: Sie kommen, sie kommen! Sie finden mich! Ich halt das nicht aus! Eher sterb ich. Jana: Um Gottes Willen, bei dem ist nicht alles ganz klar in der Birne. Hieß es nicht, er braucht Medikamente? Der alte Mann bittend: Ihr bringt mich doch nicht zurück? Tabletten sind furchtbar. Sie vergiften mich. Ich bin wirklich ganz normal. Jana und Mark tauschen Blicke. Alain redet langsam und sehr deutlich: Heute darf sich jeder seinen Traum erfüllen. Hast du auch einen Traum? Der alte Mann antwortet nicht. Jana: Es ist fast zehn. Machen wir uns an die praktischen Vorbereitungen. Jeder bekommt nur soviel Geld, wie er wirklich braucht - den Rest spenden wir an die CDU. Sie kichert. Jana: Vergiss nicht, wir werden bald eingelocht. Also, hopp, hopp. Mark, du bist der einfachste Fall. Weißt du schon, welches Motorrad du haben willst? Mark nickt verträumt. Jana: Okay, das kaufst du dir morgen einfach. Dann tankst du's voll und fährst die erste und letzte Motorradtour deines Lebens. Bin mal gespannt, wie viel Kilometer du geschafft hast, bis sie dich anhalten. Der alte Mann, ängstlich: Sie? Sie halten dich an? Sie kommen, sie kommen, sie kommen. Joel: Sie kommen. Aber noch nicht jetzt. 51 Jana: Tom, dein Zug fährt morgen ab, 6.45 vom Bahnhof. Du bist um 11 Uhr beim Bahnhof Zoo. Sie lächelt. Jana: Natürlich kaufst du dir ein 1.-Klasse-Ticket. Und du fährst ICE. Für dich Alain gilt dasselbe. Du fliegst morgen Last Minute nach Lanzarote. Hoffentlich schnappen sie dich nicht schon am Flughafen. Der alte Mann: Sie schnappen uns. Sie kommen. Sie schnappen uns alle. Mark: Du gehst mir auf den Wecker. Der alte Mann guckt ihn verängstigt an. Joel: Mark! Zum alten Herrn. Wir haben alle die gleiche Angst. Mark: Die Letzten, die von uns hier im Haus sind, müssen alle Schränke umwerfen und ein riesiges Tohuwabohu anrichten, damit meine Eltern einen schönen Schreck bekommen. Ravi: Wo sind die eigentlich? Mark: Sie machen einen Kurzurlaub in der Schweiz. Mein Vater hat mir immer gepredigt, ich solle ein nützliches Mitglied der Gesellschaft werden. Tja, jetzt bin ich ein Verbrecher. Er lacht. Jana: Immerhin kennst du deinen Alten. Alain: Glaub mir, man kann Väter haben, die will man gar nicht kennen. Joel: O. K., Jana, wir finden deinen Daddy. Irgend 'ne Ahnung, wo er sein könnte oder was mit ihm passiert ist? Jana: Meine Mutter hat nie über ihn gesprochen. Alain: Und du hast nichts herausgefunden? Jana: Ich glaub, er ist Soldat gewesen. Er hat mich wahrscheinlich einfach so zwischendurch gezeugt. Mark: Jana, bist du dir sicher, dass es ihm gefällt, eine pazifistische Tochter zu haben? Soldat! Ravi: Alle Väter freuen sich, ihre Kinder wiederzusehen. Tom: Was ist mit dem Internet. Wer weiß, vielleicht ist dein Papi inzwischen Bestsellerautor? Weißt du, wie er heißt? Jana: Major Georg Friedrichstein. Tom: Mark, oben habt ihr doch 'n Rechner stehen. Gleich guckt irgendwer mal 52 nach Major Georg Friedrichstein, oder so. Er lacht. Jana: Ravi. Du musst auch jemanden identifizieren. Ohne Wiedererkennung keine Rache. Ravi: Ich will nicht darüber reden. Peinliche Stille. Die anderen sehen sich an. Jana: Ravi, du kannst es ihnen jetzt heimzahlen. Joel: So etwas Grausames kann man niemandem heimzahlen. Egal, wie hart man sich rächt. Ravi verzweifelt: Hört auf! Vergesst die ganze Sache! Ich halte es einfach nicht mehr aus! Stille, dann schreit er plötzlich: Ravi: Ich hasse sie, ich hasse sie, sie haben mein Leben zerstört. Der alte Mann leise: Ich hasse sie auch. Aber sie kommen trotzdem. Ravi: Ich war erst 12 Jahre alt und erst seit sechs Jahren in Deutschland. Wisst ihr, was die mit mir gemacht haben? Die haben mich gezwungen, ihnen ihre dreckigen Springerstiefel abzulecken. Ich hasse sie. Schweigen. Auf einmal weint Ravi. Alle stehen hilflos und sehen ihn an. Jana wütend: Wir finden die Wichser. Weißt du was? Wir zwingen sie dazu, dass sie dir deine Schuhe ablecken, bis deine Sohlen wie frisch geputzt aussehen! Ravi weint leise. Der alte Mann: Ich hab ja so eine Angst. Sicher kommen sie bald. Ravi verlässt leise den Raum. Joel steht auf und folgt ihm. Mark: Noch jemand 'ne Flasche Bier? Der alte Mann bedeutungsvoll: Als ich jung war, war ich genau wie ihr. Ich habe mich immer mit dem Wachtmeister des Dorfes angelegt. Ich war nämlich ein Kommunist. Und das war damals verboten. Bekommt plötzlich wieder Angst. Jetzt verfolgen sie mich wieder. Alain: Wie wohl das Leben im Gefängnis ist? Jana: Ist doch so egal. Ich sag dir was: Bis vor zwei Tagen war mein Leben jeden Tag das Gleiche: Ich ging zur Schule. Ich kam nach Hause. Ich aß was und setzte mich vor den Fernseher. Und dann ging ich irgendwann ins Bett. Ich glaube, das Furchtbarste war die Langeweile. Und die Einsamkeit. In zwei 53 Tagen werden sie mich holen und dann wird es genauso sein: ein fest gefügter Alltag im Gefängnis mit irgendwelchen Pflichten und immer und immer das Gleiche. Mir kann niemand meine Freiheit nehmen, ich war nie frei. Mark: Dafür haben wir jetzt ein paar schöne Stunden. Vielleicht sind wenige schöne Stunden jahrelanges Gefängnis wert. Wer kann das sagen. Der alte Mann: Ich war auch gefangen. Gefangen zwischen Pflegern und Ärzten. Die holen mich aber schon noch. 3. Szene Ravi kommt mit Joel wieder hinein. Ravi: Ich brauch jetzt 'ne Mische. Jana: Mach dir doch gleich 'n Joint. Alain: Der kann keinen Joint drehen. Lass mich mal. Jana: Der Letzte, Joel. Auch du bekommst dein heiß ersehntes Ziel. Sie seufzt. Jana: Joel, im Budget ist alles drin, was sich deine jungfräuliche Seele nur erträumen kann. Du musst uns nur ein paar Angaben machen, in welche Richtung deine Wünsche gehen. Joel grinst. Mark: Deine große Stunde, Mann. 54 Jana: Wie alt soll der Boy sein? Eher 16 bis 20 oder 30 bis 40? Mit oder ohne Brusthaar? Es gibt natürlich auch gänzlich rasierte Kerle. Sie kichert. Tom: Typ, ich begreif dich immer noch nicht. Wieso gehst du nicht auf 'ne stinknormale Schwulenparty und schleppst einen ab. Alain: Dann fändest du deine große Liebe und ihr könntest zusammen eine Regenbogenfamilie aufmachen! Joel: Das ist ganz einfach: weil ich einen Traum habe, einen Traum, der leider unerfüllbar ist, egal, wie viel Geld man hat. Jana; Himmel, jetzt wird’s schnulzig. Joel ohne sie zu beachten: Ich träume davon, einem Jungen zu begegnen, ihn zu umarmen und nie wieder loslassen zu müssen. Einmal im Leben sich beschützt und geborgen fühlen. Ein für alle Mal und für immer getröstet sein. Jana verständnislos: Und wieso soll es so was nicht geben? Joel traurig: Das ist so. Träume, die man sich nicht erfüllen kann, soll man sich wenigstens nicht zerstören. Natürlich könnte ich mit irgendwem eine Beziehung haben, und nach drei Tagen würde er wahrscheinlich Schluss machen, weil er niemanden ertragen könnte, der sich so an ihn klammert. Er zuckt die Schultern. Und wenn es wirklich einen Jungen geben sollte, der jede Minute mit mir verbringen würde und der immer bei mir wäre, würde ich nach drei Tagen weglaufen – weil ich mich langweilen und mich belästigt fühlen würde. Für manche Menschen ist der Traum von Liebe einfach unerfüllbar, und deshalb bleibe ich eher mein Leben lang alleine, als dass ich mir diesen Traum von der Wirklichkeit zerstören lasse. Alain: Du hast ganz einfach einen Schuss weg! Joel: Vielleicht. Aber deshalb will ich einen Stricher. Das ist das Einfachste. Du bezahlst etwas, du bekommst etwas. Erledigt. Ich habe so eine Angst, Angst davor, verletzt zu werden. Versteht ihr nicht. Mark: Nee, tun wir nicht. Jana: Gibt's nicht Callboyagenturen auch im Internet? Da kannst du dir einen aus Bildern auswählen. Und wo soll der Typ hinkommen? Hier hin? Oder gehst du in sein Etablissement? Überleg's dir. Alain: Okay, alle Mann hoch zum Computer. Ravi bleibt sitzen. Alain: Was ist, kommst du? Ravi schüttelt den Kopf. Alle außer ihm und dem alten Mann ab. Er kauert sich in die Ecke und zittert. Dann schläft er ein. Es wird dunkel. 55 4. Szene Der Vorhang schließt sich wieder, ein gedämpftes Licht scheint. Wir sehen Ravis Traum. Zunächst nur zwei laute Männerstimmen. Die Männerstimmen: Sieh dir den schwarzen Drecksjungen an. Lauter. Der hat 'ne Tracht Prügel verdient. Hämisch. Damit er ein braver Junge wird. Es treten zwei Skinheads auf. Zwischen ihnen auf dem Boden liegt Ravi und windet sich. Die Szene ist grausam, aber wirkt nicht ganz realistisch, es ist ein Traum. Die Männerstimmen während sie zutreten: Dir Dreckskanacke sollte man doch gleich den Hals umdrehen. Pass auf, wenn du groß bist, bringen wir dich um. Die Stimmen werden immer lauter. Die Männerstimmen: Los, leck uns die Stiefel, das ist eine Ehre für dich! Es ertönt ein gellender Schrei. Das Licht geht aus, der Vorhang geht auf, es war Ravi, der im Traum geschrien hat. Er setzt sich auf und sieht mit glasigen Augen um sich. Es dauert, bis er wieder zu sich gefunden hat. Der alte Herr, der über ihm steht und sich zu ihm hinunterbeugt, fasst ihm besorgt an die Stirn. Der alte Mann: Mich verfolgen sie ja auch. Vorhang. 5. Szene Das Zimmer der ersten Szene. Es ist dunkel. Ein Wecker piept. Jemand stellt ihn aus. Man hört ein Gähnen, das Geraschel von Stoff – von Bettdecken – und einen Menschen, der sich tastend umherbewegt. Schließlich findet er den Schalter und knipst das Licht an. Schlagartig ist es hell. Es ist Ravi. Er ist in T-Shirt und Boxershorts und hält sich den Kopf. Auf dem Boden des Wohnzimmers liegen Matratzen, auf denen die Jugendlichen schlafen. Mark stolpert über einen von ihnen. Jana verschlafen: Du Volltrottel! Mach das verdammte Licht wieder aus. Ravi: 'Tschuldigung. Muss auf Klo. Jana: 2. Tür rechts im Flur. Licht aus!! Das Licht erlischt wieder. Schweigen. Man hört die Tür zu- und wieder aufgehen. Ravi leise: Alain! Du musst aufstehen! Dein Flug geht in drei Stunden von Hannover! Alain müde: Klar. Komm gleich. Ravi rüttelt Tom wach: Du musst auch zum Bahnhof, Tom! 56 Tom: Was? Jetzt schon? Man sieht ein Handy in der Dunkelheit aufblinken. Tom: Gott, es ist tatsächlich schon sechs. Schweigen. Tom und Alain ziehen sich an. Alain: Verdammt, ich brauch Licht. Sonst find ich hier gar nichts. Jana entnervt: Na gut! Alle Mann aufstehen, ein schöner, neuer, frischer Tag liegt vor euch, der letzte in Freiheit, vergesst das nicht. Wie kommst du zum Flughafen, Alain? Die Bühne wird ganz hell. Mark setzt sich auf und reibt sich die Augen. Alain: Bus. Tom: Fährt um? Alain: Haben wir ausgedruckt, um sieben, glaub ich. Jana zu Mark: Deine Eltern werden sich freuen, wenn sie nach Hause kommen. Die Bude im Chaos und der Sohn im Knast. Sie lacht. Joel setzt sich auf. Jana: Joel, bleib liegen. Dein Macker kommt erst um elf. Da könnt ihr euch das Ehebett von Marks Eltern teilen. Joel: Will noch Tschüss sagen. Joel steht schwerfällig auf. Jana zu Alain und Mark: Stimmt, wir sehen uns wahrscheinlich nie wieder. Ich komm in'en Frauenknast und sehe keine Männer mehr in den nächsten Jahren. Es herrscht plötzlich Stille. Tom: Ja, dann. Der alte Mann geht gebückt durch das Zimmer. Alle gucken ihn überrascht an. Sie hatten ihn vergessen. Der alte Mann leise zu Alain und Tom und Jana: Abschiednehmen ist etwas sehr, sehr Schweres. Ich habe einen Freund im Krieg verloren. Er starb im Lazarett. Als ich ihn das letzte Mal besuchte, war es klar, dass er sterben würde und ich ihn nie wiedersehen würde. Verächtlich: In seinem Krankenzimmer saß noch so ein Priester, der meinen Kameraden bedrängte, irgendwelche Sünden zu bereuen. Den habe ich aber hinausgezerrt! Der wollte meinen besten Freund in der Stunde seines Todes mit der Bibel quälen! 57 Ravi; Wir geben auch nichts auf die Bibel. Irgendwo im Alten oder Neuen Testament steht nämlich in etwa: Wer nicht arbeitet, der soll auch nicht essen! Na – wir arbeiten hier alle nicht und wir essen nicht nur, sondern wir erfüllen uns auch noch unsere Träume! Jana blickt ihre beiden Freunde an. Dann umarmt sie beide. Jana: Glücklicherweise haben wir hier ja keine Priester. Mark hat gestern zu mir gesagt: Wer kann sagen, ob ein paar schöne Stunden es nicht wert sind, jahrelang im Gefängnis zu sein. Und wer kann schon sagen, welche Menschen in dem eigenen Leben wirklich wertvoll waren? Vielleicht sind Menschen, die man nur ganz kurz kannte, manchmal wichtiger als irgendwelche, mit denen man schon immer zu tun hatte. Joel steht auf und umarmt die beiden auch. Joel: Ich wünsch euch ein paar wirklich schöne Stunden. Fangt eure Träume ein. Auch Mark und Ravi verabschieden sich. Jana: Ich begleit euch noch ein Stück. Ihr anderen macht Ordnung! Jana ab mit Alain und Tom. 6. Szene Die Übrigen beginnen, aufzuräumen. Matratzen werden herausgetragen, Bettdecken gefaltet und so weiter. Die Drei sind müde. Mark dreht einen Joint. Die Drei setzen sich auf den Boden und lassen den Joint herumgehen. Mark spöttisch: Morgens 'n Joint und der Tag ist dein Freund. Joel: Der Tag heute ist sowieso unser Freund. Ravi: Was glaubt ihr, wie sie aussehen, wenn sie uns sehen. Ich kenne die beiden ja, es sind Brüder. Als ich in die Grundschule ging, kam ich immer an ihrem Haus vorbei. Tage, bevor sie mich verprügelten, drohten sie mir schon, wenn ich sie auf der Straße sah. Ich hatte so eine Angst. Er beißt sich auf die Unterlippe. Mark: Wieso wohnen die eigentlich noch bei sich zuhause? Die sind doch mindestens seit vier Jahren mit der Schule fertig. Joel: Du weißt doch, wie das mit solchen Typen ist. Hauptschule ohne Abschluss, dann zwei bis drei abgebrochene Ausbildungen, zwischendurch ein paar Mal ins Gefängnis. Ravi: Ich hasse sie! Mark: Wieso sind deine Eltern nie zur Polizei gegangen? 58 Ravi schweigt. Er schluckt. Ravi: Ich habe es ihnen nie erzählt. Die anderen schweigen fassungslos. Ravi: Ich hatte solche Angst. Die Wichser hatten mir gesagt: "Wenn du es irgendwem sagst, verprügeln wir auch noch deine Schwester." Meine Schwester war damals erst vier. Er schweigt. Ravi: Damals wären wir ohnehin fast nach Indien zurückgebracht worden. Meine ganze Familie lebte in der Angst, zurück nach Bombay abgeschoben zu werden. Ein Jahr lang fürchteten wir ständig, die Koffer packen zu müssen. Wir lebten in so einem Asylantenheim, die ganze Familie, vier Menschen, in einem Zimmer. Dass ich überhaupt zur Schule gehen durfte, habe ich meiner Mutter zu verdanken – mein Vater sah das zuerst gar nicht ein. „Was soll der Junge Deutsch lernen“, fragte er, „wo wir doch ohnehin wieder abgeschoben werden?“ Er wollte, dass ich mit ihm mitkomme und ihm bei der Arbeit helfe. Mark: Solltet ihr denn einfach so wieder zurückreisen? Ravi: Das hätten wir beinahe gemusst. Wenn wir Pech haben, müssen wir das sogar heute noch, wenn die Aufenthaltsgenehmigung abläuft ... Die Behörden fragen nämlich nichts danach, ob du dich inzwischen hier eingelebt hast. Die würden mich nach Indien zurückschicken, auch wenn ich kein Wort Indisch mehr sprechen würde. In der ersten Zeit war ich so unsicher. Alles war fremd und bedrohlich. Er raucht. Ravi: Ich hatte damals keinen einzigen Freund. In der Schule wurde ich gehänselt und zu Hause musste ich auf meine Schwester aufpassen, damit meine Eltern arbeiten konnten. Die Tür geht auf. Herein kommt Jana. 59 Jana schwungvoll: So haben wir es gern, meine Herren, was? Kaum aufgestanden, schon der erste Joint. Sie nimmt sich den Joint und inhaliert tief. Mark: Wie geht's unseren beiden Zugvögeln? Jana: Sind auf ihrem Weg. Ich glaube, beide freuen sich sehr. Am Bahnhof hätten sie trotzdem fast geweint. Sie lacht. Ihr Blick fällt auf den alten Mann, der friedlich auf einem Stuhl schläft. Jana: Was machen wir eigentlich mit dem? Lassen wir den ganz alleine hier zurück? Mark: Sollen wir ihn etwa zur Polizei bringen? Oder ihm sagen: Los, lauf zurück zur Klapse? Joel: Wir fragen ihn, was er sich am meisten wünscht. Das erfüllen wir ihm. Das Geld reicht. Jana geht vorsichtig zum alten Herrn und schüttelt ihn sanft. Der alte Mann aufwachend: Geht ... geht ... geht weg ... Wo bin ich ... Panisch. Ihr bringt mich nicht wieder zurück, oder? Jana: Nein, wir bringen dich nicht zurück. Was wünscht du dir am meisten auf der Welt? Der alte Mann: Wünsche ... Früher hieß es immer in den Märchen: In einer Zeit, in der das Wünschen noch geholfen hat ... Joel: Das Wünschen hilft wieder, ab heute. Der alte Mann: Früher, ganz früher, hätte ich gesagt: Am allermeisten wünsche ich mir die Weltrevolution, damit es Gerechtigkeit für alle gibt ... Alles nichts als Schwindel ... Herrje, was hat man nicht alles für Träume, wenn man jung ist. Mark: Du hättest dir auch einfach Geld klauen sollen! Dann hättest du dir damals auch deine Träume erfüllen können! - Was wünschst du dir jetzt am allersehnlichsten? 60 Der alte Mann: In Frieden sterben. Weit weg von den lächelnden Schwestern und den geduldigen Ärzten. Umgeben von Leuten, denen ich wertvoll bin. Das wünsche ich mir. In Frieden und ohne Schmerzen. Weit weg von ihnen. Ich will sie nie, nie, nie wiedersehen! Jana beruhigend: Du siehst sie nie wieder. Zu den anderen. Jana: Was bietet sich hier an? Schlaftabletten? Mark: Schlaftabletten. Dann schläft man ganz friedlich ein. Jana: Wir werden bei ihm sein. Wir alle. Und werden ihm die Hände halten und ihn verabschieden. Der alte Mann: Ich komme nämlich in die Hölle. Ängstlich. Ich habe nie auf unseren Pastor gehört. Ich habe so viele Menschen unglücklich gemacht. Joel lächelnd: Wir kommen alle in die Hölle. Wir haben einen Laden ausgeraubt. Und eine Kassiererin zu Tode erschreckt. Mark: Meine Mutter hat einen Medizinschrank oben im Bad. Ich will gucken, was sich finden lässt. Sonst müssen wir noch eine Apotheke ausrauben. Mark ab. Es wird dunkel. 7. Szene Es wird wieder hell. Es ist das Zimmer. In der Mitte der Bühne liegt eine einzelne Matratze. Darauf liegt der alte Mann, auf viele Kissen gestützt. Um ihn herum sitzen die Vier. Jana hält eine Wasserflasche in der Hand. Jana: Fünfzig müssten genügen. Der alte Mann: Und ich werde keine Schmerzen leiden müssen? Mein Freund, damals im Lazarett, der ist so qualvoll gestorben. Ravi: Du schläfst nur ein. Der alte Herr seufzt. Der alte Mann: Es ist so schön, das alles vorbei ist. Ich sehe, wie die Welt verschwindet, wie ein Leuchtturm an der Küste, wenn man aufs offene Meer hinausschwimmt. Er ruft froh. Der alte Mann: Sie bekommen mich nicht mehr. 61 Joel: Was war das Wichtigste in deinem Leben? Der alte Mann: Ich bin desertiert. Es war vor der großen Schlacht. Ich war ein junger Soldat, und uns jungen Soldaten wurde erzählt, es sei eine Ehre, fürs Vaterland zu sterben. Gebt euer Leben dem Führer, hieß es! Und ich bin abgehauen! Ich habe meinen Freund sterben sehen, und da wusste ich: Das ist kein Vaterland wert. Kein Ziel ist es wert, das eigene Leben dafür zu lassen. Wir standen mit unseren Truppen in Frankreich und es war so sinnlos. Wir wussten nichts Genaues, aber alle wussten wir: Deutschland wird verlieren. Da bin ich getürmt. Bei Nacht und Nebel floh ich aus dem Lager und ins nächste französische Dorf. Dort habe ich einen Bauern kennen gelernt. Und von da aus zum Rhein. Da war ich so stolz auf mich. Das war das Beste in meinem Leben! Jana: Hast du wirklich Angst vor der Hölle? Der alte Mann guckt sie lange an, dann spricht er. Der alte Mann: Wir Soldaten hatten einen Eid auf Hitler geschworen. Ich bin abgehauen. Kommen Eidbrüchige nicht in die Hölle? Joel: Mach dir nichts draus: Schwule kommen auch in die Hölle. Für Papst Benedikt sind sie nämlich das Böse in Person. Und Gott hat ganz Sodom und Gomorra wegen ein paar Homosexuellen dem Erdboden gleichgemacht. Mark zum alten Mann: Du mischst die Hölle ein bisschen auf! Joel: Heiß uns willkommen, wenn wir dort ankommen. Jana schüttet die Tabletten aus kleinen Dosen in eine Schale. Dann öffnet sie die Wasserflasche. Jana zum alten Mann: Ich geb dir jetzt einen Löffel Tabletten, dann trinkst du einen großen Schluck Wasser. Das machen wir so lange, bis die Schale leer ist. Sie gibt ihm behutsam einen Löffel und hält dann die Flasche an seine Lippen. Während sie das immer wieder macht, spricht sie. Jana: Du bekommst ein schönes Grab, im Garten. Einen Grabstein besorgen wir auch noch. Wie heißt du eigentlich? Der alte Mann: Ich heiße ... Plötzlich voller Angst. Ich weiß es nicht mehr! Sie haben mir meinen Namen gestohlen! Sie haben mir alles gestohlen! Jana gibt ihm einen weiteren Löffel. Joel: Wir schenken dir deinen Namen wieder. Du heißt Felix. Das bedeutet "Der Glückliche". Jana füttert den alten Herrn weiter. Schweigen. 62 Jana: Die Schüssel ist leer. Leg dich zurück. Der alte Mann lässt sich in die Kissen sinken. Der alte Mann: Jetzt können sie mich nicht mehr finden! Ich bin gerettet! Sie finden mich nicht mehr. Ravi: Hast du Lieblingsblumen? Der alte Mann leiser werdend: Lilien. Sie finden mich nicht mehr, ich bin erlöst ... Ravi: Du bekommst Lilien auf dein Grab. Der alte Mann: Sie finden mich nicht mehr ... Der alte Mann schläft ein. Das Licht wird gedämpft. Eine Kerze wird angezündet. Der Vorhang fällt. 8. Szene Vor dem Vorhang. Jana, Joel, Ravi und Mark treten, mit Baseballschlägern bewaffnet, auf. Die Bühne ist leer, am Rand steht eventuell eine Straßenlaterne, um anzudeuten, dass die Szene auf einer Straße spielt. Jana zählt Straßennummern ab. Jana: 13, 15, 17, 19. Nummer 19 war es, hast du gesagt. Ravi nickt. Mark: Und was, wenn ihre Alten öffnen? Joel: Dann sollen die ihre Söhne holen. Sonst bekommen die auch was ab. Ravi stellt sich vor den Vorhang und drückt den Klingelknopf. Es schrillt eine Klingel hinter der Bühne. Man hört Schritte. Der Vorhang öffnet sich einen Spalt. In dem Spalt steht ein junger Mann, ungefähr 23 Jahre alt, mit Glatze und Bomberjacke. Ravi holt mit seinem Schläger aus und trifft den Mann am Kopf. Der sinkt zusammen. Ravi grimmig: Das ist der Jüngere. Jana: Dann suchen wir jetzt den anderen. Sie gehen durch den Spalt hinter die Bühne. Man hört hinter der Bühne einen Schrei. Kurz darauf schleifen sie einen zweiten Mann aus dem Haus heraus. Joel: Wir sollten sie fesseln. Damit sie keine Probleme machen. Haben sie so praktische Gürtel? 63 Die beiden werden mit ihren Gürteln an den Oberkörpern gefesselt. Joel gehässig: Okay, wir halten jetzt Lynch-Justiz. Mark: Oder doch lieber Gericht? Darf ich der Verteidiger sein? Mit verstellter Stimme, boshaft. Euer Ehrwürden, Einspruch, Einspruch, die beiden hatten eine traumatische Kindheit! Jana: Sie kommen schon wieder zu sich. Die beiden gefesselten Männer regen sich und öffnen die Augen. Sie wirken verwirrt. Jana zeigt ihnen ihren Baseballschläger. Jana: Ihr bleibt schön liegen, sonst bekommt ihr einen vornüber, okay? Ravi, bring dich ihnen in Erinnerung. Ravi guckt den Männern ins Gesicht, wütend: Erinnert ihr euch noch an mich? Den kleinen ausländischen Jungen, den ihr misshandelt habt? Oder habt ihr so viele kleine Kinder gequält, dass ich euch nicht mehr einfalle? Pause. Ravi: Ich war 12 Jahre. Das erste Mal, als ich euch gesehen habe, musste ich einkaufen gehen. Als ich aus dem Supermarkt kam, war ich in Eile, weil ich den Bus noch kriegen wollte. Da habt ihr mich eingeholt und angepöbelt. Ich wollte vor euch weglaufen, und ihr seid immer hinterher, wisst ihr noch? Dann habt ihr mir hinterhergerufen, dass ihr mir mein Zuhause anzünden werdet. „Damit deine ganze Drecksfamilie verbrennt“, habt ihr gebrüllt, wisst ihr noch? Ich habe nächtelang danach nicht mehr geschlafen und traute mich nicht, das meinen Eltern zu erzählen, um denen nicht noch mehr Sorgen zu machen. Pause. Und dann kam dieser furchtbare Tag. Es war ein heißer Mittag im Juni. Ich kam von der Schule. Ihr standet da vorne an der Ecke. Ich hatte euch nichts getan, ich bin nur an euch vorbeigelaufen. Da habt ihr mich an meinen Haaren zurückgezerrt. Ravi sieht auf die Männer. Ravi: Wisst ihr, was ihr zu mir gesagt habt? Ihr habt mich einen schwarzen Drecksjungen genannt. Warum? Was war an mir schmutziger als an euch? Ihr habt Freude an meiner Angst gehabt. Und dann habt ihr mich verprügelt. Warum? Ich war ein kleiner Junge. Ich hatte euch nichts getan. Auf einmal schallen, aus dem Nirgendwo, die grausamen Männerstimmen, die Ravi im Traum gehört hat, über die Bühne. Die Männerstimmen laut und brutal: Dir Drecksjungen sollte man doch gleich den Hals umdrehen! Pass auf, wenn du groß bist, bringen wir dich um! 64 Jana, Joel und Mark werden von einer plötzlichen Wut ergriffen und schlagen die beiden brüllend zusammen. Ravi steht daneben und schaut mit weiten Augen in die Ferne. Das Licht erlischt. Stille. Dann scheint das Licht noch einmal auf und lässt die Zuschauer die beiden Männer sehen, die übereinander in dem Vorhangsspalt liegen. Ihre Kleidung ist rot von Blut. 9. Szene Das Zimmer. Mark kommt mit Joel herein, sich die Hände an der Hose abwischend. Mark: Verbrecherblut! Bekommt man gar nicht abgewaschen. Joel: Jetzt kann die Polizei uns noch besser finden. Jugendliche Verbrecherbande begeht Diebstahl und Körperverletzung. Mark: Sei's drum. Pause. Mark grinsend: Du, meinst du nicht, wir sollten das Bett mit Handtüchern auslegen für gleich? Joel grinst ebenfalls: Was, du hast Angst, dass wir das Bett deiner Eltern beschmutzen? Das Bett wird hinterher ohnehin nicht besonders ordentlich aussehen. Jana kommt mit einem Glas Orangensaft herein. Jana: Erst die Arbeit, dann das Spiel, Joel. Du hilfst uns jetzt noch bei der Beerdigung. Jana zeigt auf den alten Mann, der immer noch auf der Matratze liegt. Jana: Du kannst den Pfarrer spielen, Joel, du kannst doch so gut predigen. Mark: Was is' eigentlich mit Ravi? Jana: Er wollte ein bisschen alleine sein. Nicht allzu schwer verständlich, oder? Sie taucht ihre Finger in den Orangensaft und tropft damit auf den Kopf des alten Mannes. Jana: Das war das Weihwasser. Joel, du bist dran. Joel stellt sich würdevoll hinter den alten Mann und wendet sich an das Publikum als Gemeinde. 65 Joel: Liebe Gemeinde, liebe Trauernde, liebe Angehörige und Freunde. Heute ist Felix nach langer Gesundheit friedlich und auf eigenen Wunsch von uns gegangen. Er war kein guter Mensch gewesen. Er hat Hitler nicht die Treue gehalten und seine Kameraden vor einer entscheidenden Schlacht einfach im Stich gelassen. Joel muss lachen. Joel: Dafür möge er auf ewig in der Hölle schmoren – da ist es sowieso viel schöner als im Himmel. Immerhin gibt's da keine Engel. Möge er in unserem Garten in Unfrieden ruhen und täglich um Mitternacht dieses Haus aufsuchen und Marks Eltern aus dem Schlaf reißen. In spätestens 50 Jahren besuchen wir ihn alle in der Hölle, das versprechen wir hiermit. Amen. Joel lacht aus vollem Hals. Joel: So, und jetzt fährt die Trauergemeinde mit zum Friedhof und singt einen ergreifenden Choral dazu. Ich schlage "Durch den Monsun" vor. Zum Publikum. Alle mitsingen! Jana macht eine Tür auf. Zu dritt hieven sie, laut singend, den alten Mann hoch und schleppen ihn heraus. Man hört hinter der Bühne Gelächter. Die Drei kommen wieder hinein. Mark: Schüppen sind im Schuppen. Was nehmen wir als Grabstein? Und was ist mit den Lilien? Jana: Die Lilien hol ich. Und als Grabstein legen wir ihm meinen Kuscheltierhasen aufs Grab. Der heißt auch Felix. Hinter der Bühne läutet es. Jana im Abgehen: Das wird dein Typ sein, Joel! Mark schlägt Joel auf die Schulter: Vergraben tu ich unseren Freund. Kümmer du dich um deine Angelegenheit. Mark geht ab. Joel steht einen Moment lang unschlüssig. 66 Es läutet wieder. Ravi kommt in das Zimmer. Er sieht immer noch mitgenommen aus und ist ganz ernst. Ravi: Warum öffnest du denn nicht? Joel zuckt mit den Schultern. Es läutet zum dritten Mal. Ravi dreht sich um und rennt hinaus. Man hört ihn hinter der Bühne reden. Es vergeht eine kleine Weile. Joel läuft unruhig auf und ab. Die Tür geht wieder auf. Herein kommt Ravi und hinter ihm ein schüchtern wirkender, hübscher Junge. Ravi zu dem Jungen mit einem Anflug von Lächeln: Du weißt ja, was zu tun ist. Lass ihn ganz dabei, wir brauchen ihn noch. Der Junge geht auf Joel zu und hängt sich bei ihm ein. Joel blickt auf Ravi zurück. Der nickt ihm aufmunternd zu. Joel geht mit dem Jungen zu einer anderen Tür hinaus. Ravi blickt ihnen hinterher und dreht sich dann um und geht ab. Es wird dunkel. 10. Szene Jana, Mark und Ravi treten auf, Jana hat einen Geldbeutel und einen Helm in der Hand. Sie händigt Mark den Geldbeutel aus. Jana: So, jetzt kannst du dir dein Prachtstück kaufen und los geht es! Sie denkt nach. Du kannst aber fahren? Wenn die Polizei dich irgendwann anhält, ist das zu erwarten, aber wenn du dich von selbst aufs Gesicht legtest, das wäre bedauerlich. Mark: Mach dir darum mal keine Sorgen. Ravi: Wo willst du hinfahren? Mark: Nach Sizilien natürlich! Da werd ich Pate! Jana: Wenn du die ganze Unterwelt Italiens unter Kontrolle hast, rufst du an! Mark: Was wird das für ein Vergnügen sein! Nur das Motorrad und die Straße. Alles rauscht vorbei, es ist ein Gefühl wie fliegen. Was meint ihr, ob ich mir noch eine Verfolgungsjagd mit der Polizei liefern werde? Jana: Wenn es dir Freude macht. Hab ich eigentlich deine Handynummer? Ich ruf alle Stunde an, und wenn du nicht mehr abnimmst, haben die Bullen dich schon oder du steckst noch in der Verfolgungsjagd. Und wenn ich mit dem Anrufen aufhöre, haben die Bullen mich. Mark: 0170778524. Soll ich sie dir aufschreiben? Jana reicht ihm ein Papier und einen Kuli. Er schreibt, an eine Wand gelehnt. 67 Ravi: Du hast noch 100 Euro zum Nachtanken und zum Fressen und zum Saufen. Flieg davon! Berühr die Erde nie wieder! Die Erde zu berühren, tut weh. Jana: Hopp, stell einen Geschwindigkeitsrekord auf. Jetzt bloß nicht sentimental werden. Jana setzt Mark einen Motorradhelm auf. Jana: Macht sich super! Jetzt aber! Mark: Adios, Amigos! Ab. Jana: Möge er Rückenwind haben und weit kommen! Ravi: Quatsch, er braucht Gegenwind, damit es ihm richtig Spaß macht. Sie gehen gemeinsam ab. 11 . S z e n e Joel und der Junge stehen an der Tür. Sie sind beide wieder angezogen, nur Joel hat noch einen freien Oberkörper. Joel: Möchtest du noch was trinken? Der Junge: Gib mir 'ne Cola. Ich muss wach bleiben. Joel: Du bist müde, nicht wahr? Der Junge: Ich bin's gewohnt. Joel gibt ihm ein Glas mit Cola. Die beiden schweigen unsicher. Der Junge geschäftsmäßig: War es wenigstens gut? Joel: Wie alt bist du? Der Junge: 18. Warst du zufrieden? Joel lächelt: Es war schön. Wenn du mit jedem so lange machst, lässt du dich schlecht bezahlen. Der Junge: Es ist ganz selten ein erstes Mal. Meistens sind es Fünfzigjährige. Joel: Fällt es dir dann schwer? Der Junge: Gewöhnungsfrage. Joel: Wieso – 68 Der Junge unterbricht ihn: Hör' bloß auf: Das hat dich doch auch nicht interessiert, bevor du mit mir ins Bett gegangen bist! Ich mache da einen Scheißjob, ich fertige täglich sieben fette, impotente Opas ab, die alle nach dem Orgasmus plötzlich sentimental werden und ihre Menschlichkeit entdecken. Dann fragen sie mich mitfühlend: „Wieso arbeitest du eigentlich auf dem Strich, so jung wie du bist?“ Denen würde ich am liebsten entgegenschleudern: „Wegen solcher Tattergreise wie euch arbeite ich auf dem Strich!“ Es gäbe keine Prostitution, wenn es keine Kunden gäbe, die sich dort bedienten! Er seufzt. Ich hatte eine beschissene Jugend und dachte mir, dass ich so Geld verdienen kann. Und wenn du einmal damit angefangen hast, kommst du da nicht mehr raus, egal, wie sehr du willst! Ist eben Schicksal. Joel geht zu einem Regal und kramt ein Bündel Geld heraus und gibt es dem Jungen. Joel: Das Schicksal schämt sich. Und deshalb hat es mich beauftragt, dir aus der Misere zu helfen. Er drückt ihm das Geld in die Hand. Joel: Ich komm bald ins Gefängnis und hab keine Zeit mehr, es auszugeben. Gib es an meiner Stelle aus. Der Junge verblüfft: Was soll – Joel hält ihm den Mund zu: Psst! Dem nächsten 50-Jährigen trittst du einfach in die Eier! Joel hat ihm den Arm um die Schulter gelegt und führt ihn zur Tür. Joel: Ich werd dich nie vergessen. Das erste Mal hat man nur einmal. Mach's gut. Er schiebt den Jungen heraus und schließt die Tür hinter ihm. Er holt sich irgendwoher ein T-Shirt und streift es über. Jana kommt mit Ravi schwungvoll zur Tür herein. Jana strahlend: Na – wie war's? Joel: Gut – schließlich war er professionell. Der arme Junge war aber kaum älter als ich. Jana: Das schlechte Gewissen kommt ohnehin erst, nachdem man gekommen ist. Joel: Ich hab ihm noch ein bisschen von unserm Geld gegeben, weil er mir so leidtat. Jana mit gespielter Trauer: Jetzt bleibt ja gar nichts mehr für die CDU übrig. Ravi: Wir haben immer noch ein bisschen. Und die sind schließlich für jede Spende dankbar. Die bekommen unsere letzten 20 Cent. 69 Jana: Ich ruf mal Mark an. Sie zieht ihr Handy aus der Tasche und wählt eine Nummer. Dann wartet sie. Jana: Der geht nicht dran. Ach, Mark, für mich solltest du dein Fahrvergnügen unterbrechen! Bin ich dir das nicht wert? Pause. Dann hellt sich ihr Gesicht auf. Hallo? Mark? Hey! Wie geht's? Hab' ich mir gedacht! Du, Joel ist fertig geworden! Ja, er war zufrieden. Nein, hab ich mir noch nicht angeguckt. Ist doch auch egal. Wo bist du denn? Sie pfeift. Dein Verkehrsverhalten genügt wahrscheinlich, um die Bullen auf dich zu hetzen. Und das auf der Landstraße. Ja, mach ich. Okay, in einer Stunde wieder? Ciao. Zu den anderen. Er ist schon in Schwernhausen. Und hat noch keinen Unfall gebaut. Ich soll euch grüßen. Joel: Ja, Jana, jetzt bist du dran. Jana traurig: Ich weiß es schon. Ravi: Was? Jana: Er ist tot. Schweigen. Jana setzt sich auf einen Stuhl. Joel: Woher? Jana mit Kopfnicken nach oben: Internet. Mein Vater, also falls dieser Major Georg Friedrichstein mein Vater war, aber das ist sehr wahrscheinlich, das Alter kommt hin und so viele Major Georg Friedrichsteins wird's nicht geben, mein Vater hat in irgend 'nem Laiensoldatenorchester gespielt. Und auf der Homepage von diesem Orchester hab ich 'ne Notiz gefunden, dass er vor 'nem Jahr gestorben ist. Als die anderen sie enttäuscht ansehen. Jana: Scheiß drauf. Ich hab meinen Vater gefunden. Der alte Mann, den wir heute Vormittag umgebracht haben, der war auch Soldat. Und der war mir richtig sympathisch. Das war mein Daddy. Lächelt. Wenn ich aus'm Knast wieder 'raus bin, werde ich immer frische Lilien auf sein Grab stellen. Und jedes Jahr bekommt er 'n neuen Stoffhasen von mir. Ravi umarmt sie. Jana: Lass nur. Mein Vater hätte sowieso nicht mein Vater mehr sein können. Dafür ist einfach zu viel Zeit vergangen. Felix war ein guter Papa. Wahrscheinlich viel besser als mein richtiger. Laut und strahlend. Ich habe einen Vater, der Hitler boykottiert hat. Wer kann das schon von sich sagen! 70 Ein Telefon klingelt. Jana holt einen Apparat und geht heran. Jana: Hier Jana Rehl bei Korn. Guten Tag. Nein, Mark ist gerade nicht da. Holt sich Zigaretten. Ich bin nur 'ne Schulfreundin von ihm. Ja. Ja. Nein, nur zu Besuch. In zehn Minuten sicher. Ja. Okay, bis dann. Pause. Jana: Scheiße, wär' ich doch nicht drangegangen. Das waren Marks Eltern. Ravi: Stöppsel's Telefon aus. Joel: Was machen wir, wenn Marks Eltern unerwartet zurückkehren? Ravi: Beichten wir ihnen alles und lassen sie die Polizei rufen. Oder wir mieten uns in ein Hotel ein. Jana: Ihr macht euch zu viele Gedanken. Ich bin mir ganz sicher: Die Polizei lässt nicht mehr lang auf sich warten. Es wird dunkel. 12. Szene Es wird hell im Zuschauerraum. Vor der Bühne, also direkt vor dem Publikum, steht rechts der Tisch eines Cafés, links zwei Sonnenstühle. An dem Tisch sitzt Tom, auf der Sonnenliege liegt, in Badehose und Sonnenbrille, Alain. Dann geht das Licht auf der Bühne an. Rechts am Rand steht Mark an eine Wand gelehnt, den Motorradhelm in der Hand. Auf der Bühne ist das Zimmer, da sitzen Ravi, Joel und Jana am Tisch. Jana und Mark haben ihre Handys in der Hand, sie telefonieren miteinander. Unten kommt ein Kellner herein und bringt eine Speisekarte an den Cafétisch. 71 Kellner zu Tom: Hier ist die Speisekarte. Wissen Sie schon, was sie trinken möchten? Tom: Ja. Bringen Sie mir ein Alsterwasser. Jana auf der Bühne zu Mark ins Handy: Aber wie konnte das denn passieren? So brutal kannst du doch gar nicht gefahren sein – es war doch neu. Mark ebenfalls ins Handy, dabei an seinem Motorrad arbeitend: Weiß auch nicht, der Motor hörte sich schon die ganze Zeit komisch an. Und hier gibt es nicht mal 'ne Werkstatt. Alain erhebt sich von seiner Liege und geht ab. Jana: Du wirst zu schnell gefahren sein. Irgendwann war der Motor überfordert. Mark: Soll das heißen, du verstehst mehr von Motorrädern als ich? Tom winkt. Der Kellner tritt wieder auf. Tom: Bringen Sie mir doch bitte die Pizza Livorno. Kellner: Welche Nummer? Tom schaut in die Speisekarte. Tom: Das ist 25. Der Kellner notiert sich die Bestellung. Jana: Und was machst du jetzt? Mark: Das ist die Frage. Ich trotte hier schon die ganze Zeit durch die Landschaft. Das Motorrad liegt hinten an einer Straßenecke. Hier gibt’s nicht mal einen Kiosk. Alain kommt triefend nass wieder herein. Er nimmt sein Handtuch und trocknet sich ab. Ravi zu Jana, die inzwischen ihr Telefonat beendet hat: Was is' los mit ihm? Jana: Er hat 'ne Panne. Joel: Wo ist er jetzt? Jana: Er weiß es selber nicht. Irgendwo in der Pampa. Der Kellner tritt wieder auf und balanciert ein Tablett mit einer Pizza und einem Glas und stellt es vor Tom. Tom: Dankeschön. 72 Der Kellner: Guten Appetit. Mark läuft über die Bühne rüber auf die andere Seite. Sein Motorrad lässt er liegen. Alain setzt sich in seiner Liege auf, holt einen Stift heraus und schreibt auf ein Blatt Papier. Er spricht das, was er schreibt, und seine Stimme hallt, durch Lautsprecher, geisterhaft über die Bühne. Alain: Liebe Jana, lieber Tom, lieber Ravi, lieber Mark, lieber Joel, ich schreibe diesen Brief an euch, auch wenn ich weiß, dass er euch nie erreichen wird. Was heißt nie? Vergesst nicht, wir sind Träumer. Für kurze Zeit lebten wir einen Traum. Wer träumt, darf an Wunder glauben. Vielleicht kriegt ihr den Brief ja doch. Ihr wart mir die besten Freunde, die ich je hatte. Ich möchte euch nur schreiben, dass ich euch nie vergessen werde. Das Schönste an unserem Traum war nicht die Erfüllung unserer Wünsche, sondern dass wir uns gemeinsam daran gemacht haben, uns unsere Wünsche zu erfüllen. Vielleicht war das die schönste Erfahrung unseres Lebens. Seine Stimme verhallt. Er steht auf, lacht und faltet das Papier und steckt es in eine große Weinflasche. Dann guckt er in die Kulissen, zielt, und wirft die Flasche hinter die Bühne. Ravi: Was wohl mit Alain jetzt ist? Und mit Tom? Jana: Alain lässt sich jetzt die Sonne auf den Bauch scheinen. Und Tom sitzt bei irgendeinem superteuren Italiener und isst seine Lieblingspizza, wie ich ihn kenne. In dem Augenblick schrillt eine Klingel hinter der Bühne. Jana, Joel und Ravi fahren zusammen. Die Stimme des alten Mannes hallt über die Bühne. Die Stimme des alten Mannes: Sie schnappen uns. Sie kommen. Sie schnappen uns alle. Es schrillt zum zweiten Mal. Ravi: Jetzt Haltung bewahren. Jana: Sie sind es. Man hört im Flur eine Tür gewaltsam aufbrechen. Dann geht die Tür auf und zwei Polizisten kommen herein. Zeitgleich fliegen rechts und links im Zuschauerraum die Türen auf und jeweils zwei Polizisten treten zu Alain und Tom. Auch zu Mark kommt ein Polizist. Das geschieht so plötzlich, dass das Theater auf einmal mit Polizisten überschwemmt zu sein scheint. Die 1. beiden Polizisten zu Jana, Joel und Ravi: Jana Rehl, Joel Jorg, Ravi Gajare? Die 2. beiden Polizisten zu Tom: Tom Kelzler? 73 Die 3. beiden Polizisten zu Alain: Alain Torn? Der einzelne Polizist zu Mark: Mark Korn? Die Polizisten legen allen Jugendlichen Handschellen um. Alle Polizisten sagen nacheinander: Bitte folgen Sie mir. Das Licht erlischt, während die Jugendlichen abgeführt werden. 13. Szene Der Vorhang ist geschlossen. Davor stehen Regale, mit Waren gefüllt. In der Mitte eine Theke mit einer Kasse, hinter der eine dicke Frau steht. Es ist eine Tankstelle, irgendwo an einer Landstraße. Wir sehen einen der Überfälle, mit denen alles begann. Ist es ein Traum, den einer der Sechs im Polizeigewahrsam träumt? Oder eine Erinnerung? An der Theke steht ein Kunde, ein alter Mann. Er plaudert mit der Verkäuferin. Der Kunde: Ein schreckliches Wetter draußen. Seit Wochen grau und kein einziger Strahl Sonnenschein. Die Verkäuferin: Seien wir froh, dass es nicht regnet! Letztes Jahr um diese Zeit war dieser Orkan. Der Kunde: Ja, ja das Klima spielt verrückt. Das haben wir jetzt davon. Na ja. Geben Sie mir noch ein bisschen Tee, ist gut gegen die Kälte. Sie gibt ihm eine Packung. Die Verkäuferin: Ja, Herr Hofmeier. Das macht dann 3 Euro. Er zahlt. Die Verkäuferin: Und grüßen Sie Ihren Hund lieb. Vielleicht begegnen wir uns ja mal, wenn Sie mit ihm Gassi gehen. Der Kunde: Auf Wiedersehen, haben Sie noch einen schönen Tag. Er verlässt die Tankstelle. Pause. Die Verkäuferin geht Rechnungen durch. Plötzlich wird die Tür aufgestoßen. Zwei maskierte Menschen stürmen den Laden und umstellen die Verkäuferin. Sie sind mit Baseballschlägern bewaffnet. Die Verkäuferin stößt einen schrillen Schrei aus. Eine Mädchenstimme eiskalt: Alles Geld, was in der Kasse ist, und zwar schnell. Sonst – Das maskierte Mädchen droht mit einem Baseballschläger. Verängstigt gibt die Verkäuferin der Gruppe bündelweise Geldscheine. 74 Das Geld wird von behandschuhten Händen in Jackentaschen gestopft. Die Verkäuferin sinkt hinter der Theke zusammen. Eine Jungenstimme höhnisch: Ihnen noch einen schönen Tag! Zu seiner Komplizin: Ob es bei den anderen auch so einfach lief? Die beiden verlassen die Tankstelle. Eine Kundin betritt den Laden. Eine ältere Dame. Sie sieht sich erst verwundert nach der Verkäuferin um, bis sie sie entdeckt. Die Kundin: Um Gottes Willen, Frau Lerch! Was ist passiert? Die Verkäuferin matt: Ich ... wurde ... bestohlen ... Man ... hat ... mich ... soeben ... bestohlen ... Die Kundin: Um Gottes Willen! Ich hole sofort den Notarzt. Und die Polizei! Das ist ja fürchterlich! Sie eilt zum Telefon und telefoniert. Kurz darauf hört man die Alarmsignale eines Notarztwagens. Es wird dunkel. 14. Szene Man hört einen Radiosprecher. Radiosprecher: Und hier die Regionalnachrichten. Graunstein. Eine Gruppe jugendlicher Verbrecher wurde heute von der Polizei festgenommen. Nach Angaben der Polizei waren die Täter von 16 bis 18 Jahre alt. Die Bande überfiel vergangenen Freitag mehrere Tankstellen in der Innenstadt. Die Jugendlichen sind geständig und gaben an, das Geld zur Erfüllung ihrer Träume ausgegeben zu haben. Zwei von ihnen waren mit dem Geld verreist. Außerdem haben die Jugendlichen zugegeben, am Samstag zwei Azubis aus Graunstein angegriffen und schwer verletzt zu haben. Die beiden mussten wegen schwerer innerer Blutungen zeitweilig auf die Intensivstation, befinden sich aber auf dem Wege der Genesung. Außerdem fand die Polizei im Garten der Wohnung eines der Täter einen alten Mann vergraben, möglicherweise handelt es sich dabei um den seit Freitag vermissten Herrn Schulze. Er ist, ersten Untersuchungen zufolge, an einer Überdosis Schlaftabletten gestorben. Die Polizei machte keine Angaben darüber, in welchem Zusammenhang Herr Schulze mit der Bande stand. Das Radio verstummt. Stille. 75 3.4 Nach dem Stück – Feedback der Schauspielerinnen und Schauspieler „Die Arbeit mit Arne und den anderen an den „Träumern“ war oft nicht einfach für mich. Die Gruppe bestand aus den unterschiedlichsten Menschen und Gemütern. Arne hat bei unseren Besprechungen immer versucht, alle in ein Boot zu bringen; stets hat er auf die Bedürfnisse von einzelnen aufmerksam gemacht, die im Strom der Arbeit und des Geschehens sonst leicht untergegangen wären. Dies verlängerte den Prozess, letztendlich wurde aber jeder auf seine Weise von Arne wertgeschätzt und angehört. Beeindruckt hat mich der ungeheure Wille Arnes, ein Stück auf die Bühne zu bringen. Wir, das Ensemble, standen einmal kurz vor der Auflösung. Es war hauptsächlich Arnes Verdienst, dass wir Probenzeit und Aufführung so verschieben konnten, dass alle Bedürfnisse berücksichtigt werden konnten.“ „Die Zeit der Proben zu den „Träumern“ wird mir wohl ewig in Erinnerung bleiben aufgrund der Tatsache, dass es oft ein heilloses Durcheinander war. Trotz alledem war es wunderbar, dieses Stück von Arne auf die Bühne zu bringen. Er versuchte, alle Wünsche und Gedanken sowie Vorschläge seiner Schauspieler zu berücksichtigen, was die Sache natürlich um einiges erschwerte und Arne oftmals Kopfzerbrechen bereitete. Doch er hat es geschafft, sich durchzusetzen und dies fantastische Stück auf die Bühne zu stellen – dafür vielen Dank, Arne!“ „Das Wichtigste für mich war, wenn ich an die Probenarbeit zurückdenke, dass aus den vielen Proben eine gelungene Aufführung resultierte. Die Reaktionen des Publikums haben die eigene Zufriedenheit bestätigt. Für mich war es ganz wichtig, dass bei den Proben Harmonie herrschte, dies war selten so. Es entstanden Reibereien, bis zu dem Punkt, wo wir hinschmeißen wollten. Eine Pause brachte jedoch neuen Wind in das Vorhaben, sodass wir uns über ein 76 gelungenes Ende freuen konnten. Das Schönste war für mich zu erleben, wie nach der Aufführung von der jetzt zusammengeschweißten Gruppe die große Anspannung abfiel und sich in pure Freude verwandelte.“ „Ich stieß erst später zu der Theatercrew und erlebte eine zum Teil sehr unorganisierte Arbeit. Arne hatte Mühe, sich durchzusetzen, da er immer auf alles, was kritisiert wurde, einging. Das machte die Probenarbeit teilweise sehr nervig. Trotzdem hat es sehr viel Spaß gemacht, in totaler Selbstverwaltung ein Stück auf die Bühne zu stellen.“ „Die Proben mit Arne waren nicht immer leicht. Er versuchte, es allen recht zu machen und auf jeden einzugehen. Dadurch wurden die Proben manchmal chaotisch. Man hat deutlich gemerkt, dass Arne eine tiefe Bindung zu den von ihm geschaffenen Figuren hat, er legte viel Wert auf Details und ließ nicht locker. Es waren spannende Proben und ich danke Arne sehr dafür, dass ich daran teilnehmen konnte.“ 77 4. „Innenwelten“ – Gedanken, Gedichte und Geschichten (Arne Andersen) 4.1 Einführung in meine Texte (2000, 10 Jahre) Schon als ich erst wenige Monate alt war, begann meine Mutter, mir jeden Morgen ein Märchen zu erzählen, ein einfaches in kindlicher Sprache. Sie hatte sich von Grimms Märchen die Geschichte von den Sperlingen ausgesucht, die durch einen großen Sturm aus ihrem Nest geworfen und auseinandergeweht wurden. Die Familie traf sich später auf dem herbstlichen Stoppelfeld wieder und die vier Spatzenkinder berichteten ihrem Vater von ihren Erlebnissen und wie sie es geschafft hatten, ganz ohne ihre Eltern den Sommer zu überleben. Diese Geschichte, sagt meine Mutter, hat mich über Monate immer mehr begeistert, es wurde mir einfach nie langweilig, immer dieselbe zu hören. Und eines Abends, ich war etwa zwei Jahre alt, flüsterte ich meiner Mutter beim Einschlafen die Fabel Wort für Wort zu – in einer Säuglingssprache, die jeder andere für unverständliches Gebrabbel gehalten hätte; aber meine Mutter sagt, sie habe jedes Wort verstanden und es sei auch noch druckreif gewesen. Das kann nur daran liegen, dass ich diese Geschichte allmorgendlich gehört und offenbar präzise abgespeichert hatte. In derselben „Langsamkeit“ folgten mit der Zeit viele andere Märchen. In meiner Kindheit war es das größte Glück für mich, wenn ich Geschichten hören konnte: So gab es neben der Morgen- auch eine Abendgeschichte, neben der Weihnachtsgeschichte auch solche über andere christliche Feste, und es gab besonders ritualisierte Geschichten. Jahrelang war es nicht möglich, mich zu baden, ohne dass dabei der Froschkönig zunächst erzählt und später gespielt wurde. Aus den Geschichten wurden bald Gewohnheiten, die ich einforderte. Um die Weihnachtszeit, also den ganzen Dezember und den ganzen Januar, wollte ich jeden Tag aufs Neue von der Geburt des Christkinds hören. Und meine Mutter erzählte mir dieses Geschehnis in einer selbst erfundenen Fassung aus der Sicht von Öchslein und Eselchen, die im Stall froren und ungeduldig auf den Frühling warteten und dann von Maria und Josef besucht wurden, welche eine Herberge für die Nacht suchten. Das Erlebnis von der Geburt des Jesuskindes machte sie selig. Bald genügte es mir nicht mehr, Geschichten nur erzählt zu bekommen; ich wollte sie selbst erleben: Es war an einem Weihnachtstag, berichtete mir meine Mutter, dass ich verkündete: „Ich bin jetzt der Josef und du unsere Maria und das ist unseres kleines Jesuskind!“ Und dann wurde die ganze Weihnachtsgeschichte Szene für Szene nachgespielt. Und das ging so: Ich spielte meine Rolle mit Leib und Seele, also mit den erforderlichen Bewegungen, und oft mit aus Seidentüchern oder Ähnlichem schnell gezauberten Kostümen, und meine Mutter – häufig bei der Hausarbeit – übernahm immer die nächste Rolle als Sprechrolle. Die „Besetzung“ der Figuren wechselte nötigenfalls automatisch. Damit war geboren, was dann sicher zehn Jahre lang mein Lieblingsspiel war 78 und sich auf alles erstreckte, was mich beschäftigte: Märchen zunächst, von Elfen und Zwergen, von Engeln und Heiligen, das Leben auf dem Bauernhof, Rittersagen, Piraten- und Indianergeschichten, um nur einige zu nennen. Als ich das Buch „Oh wie schön ist Panama“ von Janosch geschenkt bekam, entzündete sich meine Fantasie an den bunten Bildern; die Geschichte dazu musste ich gar nicht erfahren, und ein neues Spiel war geboren: Tiger und Bär. Zu diesem Spiel, welches über Jahre meine Lieblingsbeschäftigung werden sollte, schrieb meine Mutter in ihr Tagebuch: „Juni 1994 Von einem weiteren Rollenspiel ist zu berichten: Eine der fest eingerichteten Spielserien mit endlosen Fortsetzungen und Varianten ist auch die von Tiger und Bär. Sie basiert auf den Bildern des Kinderbuches „Wie schön ist Panama“ von Janosch, das Arne im Alter von etwa zwei Jahren geschenkt bekam. Den Text habe ich Arne nie vorgelesen und so haben ihn alleine die Bilder zu einer eigenen Geschichte inspiriert. Sie beginnt immer mit Tigers Frage: „Bär, wie geht es dir heute?“, worauf der nächste Satz aber durchaus lauten kann: „Jetzt spielen wir alles von Anfang an, wo Tiger und Bär sich freunden!“ Dann treffen sich Tiger und Bär im tiefen Wald, beide sind einsam, und der Bär wünscht sich schon lange einen Tiger zum Freund. Als der Tiger zu ihm sagt, wollen wir uns nicht „freunden“, kann er sein Glück kaum glauben. Sie bauen sich ein muckeliges Häuschen am Fluss, reetgedeckt mit Sonnenblumen am Zaun und einem Schaukelstuhl im Garten, geradeso, wie es die gemütlichen Bilder im Buch zeigen. Der Bär brät am eisernen alten Herd Fische. Überhaupt ist der Bär zuständig für die Küche und alles Geregelte und Vernünftige, der Tiger ist hauptsächlich „rebelli“, das heißt, er macht die unmöglichsten Sachen oder besser solche, die der Bär unmöglich findet. Während nämlich der Bär ein geruhsames Leben mit Gärtchen und Angeln und schönen Mahlzeiten und trauter Zweisamkeit führen möchte, ist der Tiger unentwegt damit beschäftigt, ein aufregendes Abenteuer nach dem anderen zu erleben und den Bär mal in Staunen, mal in Angst, mal in Schrecken, aber immer in tiefe Bewunderung für den Tiger zu versetzen. Zurzeit schafft der Tiger – ohne das Wissen vom Bär – ein Haustier nach dem anderen an. Er geht in Tierhandlungen, auf Bauernhöfe, in den Wald, ja sogar in den Urwald und schleppt dem Bär alle möglichen und unmöglichen Tiere an, weshalb der dann buchstäblich jedes Mal aus allen Wolken fällt: „Tiger, nein, das geht wirklich nicht!“ Was der Tiger natürlich überhört und sich daran macht, den nächsten Stall zu bauen. Das begann mit einem verlaufenen Huhn, „Perli“ genannt. Der Tiger liebt Perli über alles. Ich fühle noch heute die kleinen Bubenarme um meinen Kopf, mit denen der Tiger sein Huhn zärtlich umschloss. Es folgten weitere Hühner, und der Bär musste zu dieser Zeit unentwegt Eiergerichte kochen. Dann kamen Schafe, Stute und Fohlen, Hund, Katze, Zebra, Känguru und ein Pfau – kurzum, in dem kleinen Gärtchen am Fluss entstand mit der Zeit eine bunte Mischung aus Zoo und Bauernhof. Der Tiger ging samstags immer zum Tierpflegerseminar und imponierte dort mit seinen vielen Tieren und seinem großen Wissen, während der Bär zuhause die Ställe sauber machte und die Tiere versorgte! Überhaupt überlässt der Tiger dem Bären fröhlich die Arbeit und den Routinekram, während er sich damit begnügt, Abwechslung und Abenteuer in dessen sonst wohl eintöniges Leben zu bringen.“ 79 Bis ich zwölf Jahre alt war, spielte ich „Tiger und Bär“ mit Begeisterung. Rückblickend erkenne ich, dass ich mir auf diesem Wege als kleines Kind schon unbewusst soziale Kompetenzen aneignete, die mir als Autisten nicht ohne weiteres zu Gebote standen. So lernte ich als Tiger telefonieren, einkaufen und plauschen, kurz, kommunikative Fähigkeiten, die im Alltag erforderlich und den meisten Menschen selbstverständlich sind. Derlei Errungenschaften haben wesentlich dazu beigetragen, dass ich verhältnismäßig unauffällig innerhalb meines Umfeldes leben konnte. Ich habe mein Sozialverhalten als Rolle erlernt. Abgesehen davon beflügelten diese Beschäftigungen auch meine Fantasie, und innerhalb meiner selbst erfundenen Welten konnte ich mich – sogar alleine – unermüdlich vergnügen. Dass es bei uns zuhause keinen Fernseher gab, hat mir dabei natürlich auch geholfen. Zufällig hörte ich eines Abends einmal Mozarts „Zauberflöte“ am Radio. Das hat mich für die Oper begeistert. Meine Mutter notierte sich dazu in ihr Tagebuch: „Eines Abends – es muss im Winter vor unserer Reise nach Dänemark und Arne gerade drei Jahre alt gewesen sein – wurde im Radio im Anschluss an die Nachrichten die „Zauberflöte“ gesendet. Arne stand da und lauschte. Das ganze Kind eine einzige entzückte Entrückung: „Mama, sas ist das, Mama, sas ist das?“ Ich brachte es nicht fertig, ihn von diesem sinnlich-geistigen Erlebnis höchster Güte zu trennen, und so haben wir an diesem Abend einen guten Teil dieses Kunstwerks gehört. Arnes Begeisterung veranlasste mich, Musik und Libretto zu besorgen und mich damit zu beschäftigen. Den Inhalt habe ich Arne dann Stück für Stück in Märchenform nahegebracht: „Es war einmal ein Prinz, der hieß Tamino ...“ Wochenlang gab es nur den ersten Teil des ersten Aufzugs, an dessen Ende sich Tamino und Papageno, ausgerüstet mit Silberglöckchen und Zauberflöte, auf den Weg machen, Pamina zu retten: „Lebt wohl, lebt wohl, auf Wiedersehen, auf Wiedersehen!“ Ungezählte Male hat er diese Szene gespielt und zum Abschied gesungen und mit den Ärmchen gewinkt.“ In dieser Zeit waren Opern – zunächst die „Zauberflöte“, dann die „Entführung“ und auch „Le nozze di Figaro“ – für mich Rollenspiele mit wunderschöner Musik. Als ich einen Spielständer geschenkt bekam, benutzte ich diesen bald als Bühne und begann mit Feuereifer, alle Geschichten und Opern, die ich kannte, darauf mit meinen Ostheimer Holzfiguren1 zu spielen und meine Leidenschaft für das Theater war geboren. Die Märchen, die unendlichen Rollenspiele und die Zauberwelt der Bühne: Das alles hat mich zutiefst geprägt und mir ermöglicht, Fantasie, Redegewandtheit und intellektuelle Fähigkeiten zu entwickeln. Außerdem fand ich damit feste und gleichzeitig schöne Rituale, die, so weiß ich rückblickend, für mich als Autisten lebenswichtig waren. Heutzutage setzt sich immer mehr die Erkenntnis durch, dass sich die grundlegendste und bedeutendste Prägung der Menschen in den ersten sechs Lebensjahren vollzieht. Sicher ist mein Werdegang dafür ein gutes Beispiel. 1 80 Von der Krippe über die Märchen bis zum Bauernhof hatte ich zu allen Jahresfesten diese Figuren bekommen, so dass ich gut ausgestattet war und sie für meine Aufführungen nach Belieben einsetzen konnte. Als ich in die Schule kam, konnte ich sehr bald eine erste kleine Ernte dieser Samen einfahren. Das Lesen und Schreiben war ein Geschenk für mich. Da ich für meine Fantasie Nahrung brauchte, wurden Bücher für mich magische Tore zu anderen Welten. Meine Mutter hat mir erzählt, dass ich schon mit sieben, acht Jahren bei den Bibliothekaren in der Stadtbücherei bekannt war. Ich begann Geschichten zu schreiben, ganz mühsam in Druckbuchstaben, die ich vor der Schreibschrift gelernt hatte. Eine der frühesten Erinnerungen, die ich an die erste Klasse habe, war, dass die Aufgabe gestellt wurde, einen Satz zu schreiben. Begeistert krakelte ich mein Blatt voll, und mein Sitznachbar sagte: „Wir sollen nur einen Satz schreiben, aber Arne schreibt gleich ein ganzes Buch!“ In der Folgezeit schrieb ich gern und viel, allerdings immer nur Anfänge. Wenn mir ein neuer Einfall kam, war ich Feuer und Flamme und dachte die ganze Zeit an nichts anderes mehr. Aber innerhalb von wenigen Tagen war die Begeisterung vorbei, und ich ließ die Sache fallen. Inzwischen habe ich viele unvollendete Manuskripte. Eins davon ist mein erster Romanversuch. Ich war wohl neun. Das Buch sollte „Der dunkle Guru“ heißen, warum, weiß ich heute selber nicht mehr. Es begann: „Im Sommer 1998 verschwand Martin M. Rosenberg, ein Mann, über den es schon immer viel Gerede gab. Er war nie ein Mann wie alle anderen, er war auch nie ein Kind wie alle anderen gewesen ...“ Mit zehn schrieb ich erste Gedichte, die meinen Kameraden so gut gefielen, dass sie sich welche bei mir bestellten. Als ich dann am Mittag in den verkehrten Bus stieg und mich lange durch irgendwelche fremden Gegenden fahren ließ, schrieb ich auf dem Rücken meines Ranzens kleine Reimereien. Zwei Beispiele: Die Katze Die Katz’ ist schön und elegant und als königlich bekannt. Sie ist graziös und ist auch schlau. Ihr sagt, ihr mögt sie, und sie sagt „miau“! Roboter Roboter haben nicht viel Grips, denn sie essen Mikrochips. Doch sie können manches machen, Fronarbeit und läst’ge Sachen. Und dass sie das können, das ist gut, weil diese Arbeit man nicht gerne tut. Wir sollten in der Schule mit Worten malen und diese Aufgabenstellung machte mir große Freude: 81 Ein Weg führt durch die Dünen hin. Die Wolken ziehen ohne Sinn. Die Vögel singen, die Mücken springen. Die Sonn’ scheint heiß, der Wind geht leis’. Die Dünen wiegen sich im Wind, das nahe Meer wogt hin gelind. Ich ließ mich immer wieder anregen von Unterrichtsstoff, den wir in der Schule durchnahmen. Als wir uns mit Griechenland beschäftigten und über Homers Epen sprachen, beeindruckte mich das so, dass ich mich prompt hinsetzte und eine eigene Mythologie verfassen wollte. Ich erfand die Welt von „Heklios“ in acht „Gesängen“, das war 2000: Ich soll erzählen von meiner Reise gen Heklios. Ich soll erzählen von Rhidio und Rhodius, den Gründern des heiligen Heklios. Ich soll erzählen, doch ich werde nicht erzählen. Mag es Adrion tun, der Sänger der heiligen Lande. Lauschet ihm, wie ich ihm gelauschet habe. a. Erster Gesang Und er hob zu singen an, sang eine alte Weise. Und mir war, als ob die Götter sangen, als ob alle seligen und unsterblichen Götter sangen: „Es ward geschehen in dem Nichts, in hellweißem, tiefschwarzem Nichts und alles war in diesem Nichts, und das Nichts war alles. Alle Geister schlummerten in diesem Nichts, alles, was wird, alles, was war ... Denn obwohl noch nichts erschaffen war, war alles immer schon da: Alle Geister, alle Dinge träumten einen tiefen Traum. Alle Geister, alle Dinge sehnten sich nach endlichem Erwachen. Doch erst musste noch viel Zeit vergehen, viel Zeit in langen Träumen, viel Zeit – und keine Zeit; denn im Nichts gibt’s keine Zeit. Alle Geister, alle Dinge schlummerten in keiner Zeit. Alle Geister, alle Dinge sehnten sich nach endlichem Erwachen. Da! Ein Feuer ist entflammet. Dieses Feuer lässt sie all’ erwachen! Und alle Dinge, alle Geister wachen auf aus tiefem Schlummer – dies ward die Geburt der Welt. Es ward geschehen im Nichts, im hellweißen, tiefschwarzen Nichts. Es ging weg vom Nichts, es geht hin zum Nichts. Es ist Nichts und es bleibt Nichts, .... 82 Es folgte meine Erich-Kästner-Zeit. Die Gedichte von ihm gefielen mir, sie waren witzig und provokativ. Kurz nach dem 11. September 2001 verfasste ich zwei Gedichte zu diesem Ereignis. Da ich mitbekommen hatte, was meine Mutter dazu dachte, verarbeitete ich dies kurzerhand im Stil der Gebrauchslyrik der Zwanziger Jahre: Mich beunruhigt das Weltgeschehen. Hast du’s auch im Fernsehen gesehen? Wie die großen Flieger rasten, und die World Trade Center zerbarsten? Bleiben die Terroristen Sieger? Oder finden wir uns bald im Kriege wieder? 2002 habe ich als mein letztes unbeschwertes Kindheitsjahr in Erinnerung. Nach einer glücklichen Kindheit im Rheinland zogen wir um nach Flensburg. In der neuen Stadt und insbesondere in der neuen Schule fühlte ich mich sehr wohl. Im nächsten Sommer schrieb ich Kurzgeschichten, und dieses Genre kam meiner Art entgegen: Ich konnte eine solche Geschichte im Augenblick des Einfalls niederschreiben und war fertig, bevor eine neue Idee mich ablenken konnte. Im neuen Schuljahr, der achten Klasse, genoss ich es denn auch sehr, zu dem Unterrichtsstoff Geschichten verfassen zu dürfen und die meiner Klasse vorzutragen. Im Winter 2006/2007 versuchte ich mich erstmals an einem Theaterstück – „Die Träumer“.1 Es geht um eine Jugendbande, die Tankstellen überfällt. Die Teenager wollen sich mit dem gestohlenen Geld ihre größten Träume erfüllen. Das Stück ist erfüllt von einer verzweifelten Wut über ein leeres Leben, welches uns alle umgibt: Leer, weil die meisten Menschen in der vorgezeichneten Alltagsmaschinerie trotten, ohne ihr Leben zu hinterfragen. Leer, weil wir in einer Gesellschaft leben, die uns kaum eine andere Möglichkeit lässt: Die meisten Menschen müssen dem kollektiven Leistungszwang gehorchen, weil sie sonst untergehen würden. Die Jugendlichen begehen ihr Verbrechen, um aufzubegehren. Das Theaterstück ist Ausdruck eines Lebensgefühls, das ich selbst in jener Zeit stark empfand und das ich in meiner Umwelt beobachten konnte. Ich wollte dem Überdruss Ausdruck verleihen, dem Überdruss gegen ein gewöhnliches Leben, das die allermeisten führen, voller Langeweile und ohne eine Möglichkeit, Erfüllung zu finden. Mit 14 Jahren habe ich einige Szenen aus Max Frischs2 „Graf Öderland“ gelesen, die mich zutiefst beeindruckten, da sie von diesem Überdruss handeln und mir aus der Seele sprechen: Ein Mensch von siebenunddreißig Jahren, Kassierer bei einer Bank, brav, gewissenhaft zeit seines Lebens, gewissenhaft und bleich, und eines schönen Abends nimmt er die Axt und erschlägt einen Hauswart, der nichts dafürkann. Warum? (...) Es gibt Augenblicke, wo ich ihn begreife ... (...) ... vierzehn Jahre an der Kasse, Monat um Monat, Woche um Woche, Tag für Tag, ein Mann, der seine Pflicht erfüllt, wie wir alle. Schau ihn dir an! Ein Mensch ohne Laster, alle 1 2 Zum Theaterstück gibt es eine Einführung, welche ich als Referat anlässlich der geplanten – und später erfolgten – Aufführung gehalten habe. aus: Max Frisch „Graf Öderland“, edition suhrkamp, Suhrkamp Verl., Frankfurt/Main, Ausg. 1966, S. 8 - 11 83 Zeugen bestätigen es, ein stiller und friedlicher Mieter, Naturfreund, Fußgänger, unpolitisch, Junggeselle, seine einzige Leidenschaft war das Sammeln von Pilzen, ein Mensch ohne Ehrgeiz, scheu und arbeitsam, ein geradezu vorbildlicher Angestellter. (...) Es gibt Augenblicke, wo man sich wundert über alle, die keine Axt ergreifen. Alle finden sich damit ab, obschon es ein Spuk ist. Arbeit als Tugend. Tugend als Ersatz für die Freude. Und der andere Ersatz, da die Tugend nicht ausreicht, ist das Vergnügen: Feierabend, Wochenende, das Abenteuer auf der Leinwand. (...) Hoffnung auf den Feierabend, Hoffnung auf das Wochenende, all diese lebenslängliche Hoffnung auf Ersatz, inbegriffen die jämmerliche Hoffnung auf das Jenseits; vielleicht genügte es schon, wenn man den Millionen angestellter Seelen, die Tag für Tag an ihren Pulten hocken, diese Art von Hoffnung nehmen würde – groß wäre das Entsetzen, groß die Verwandlung. Wer weiß! Die Tat, die wir Verbrechen nennen, am Ende ist sie nichts als eine blutige Klage, die das Leben selbst erhebt. Gegen die Hoffnung, ja, gegen den Ersatz, gegen den Aufschub ... „Die Träumer“ begehen ihre Verbrechen in vollem Bewusstsein, dass sie dafür gestellt und inhaftiert werden. Für sie sind wenige Augenblicke Glück wichtiger als die Jahre, die sie im Gefängnis verbringen werden ... Arne Andersen 84 4.2 Gedichte und Geschichten in zeitlicher Abfolge aus den Jahren 2000 bis 2009 2000, 10 Jahre Vielztunbaldzrücks Sie gehen, sie laufen, sie stehen in Haufen. In all den Gassen kann man sie finden, dazu noch in Massen unter den Linden. Sie laufen und treten und haken das Kinn, doch was sie tun, es macht keinen Sinn. Selbst wenn sie lachen und Lustiges machen, können sie nicht glücklich sein, denn sie fühlen nur zum Schein. Der Adler Aus hohem Wolkenhimmel stürzt sich ein gewaltig Schatten, und im Bruchteil der Sekunde saust er durch die Täler schon, lässt Wald und Wiese hinter sich, dem Ziel entgegen. Schrille Pfiffe, laute Schreie, große Panik – sieh! Schon hat er eins gefangen, ein Murmeltier, das zappelnd will entfliehn, hält er in seinen Fängen. Oh goldener Vogel! Du König der Lüfte! Du Bild der Menschen, da du aus aller Tiefe wieder schwingst der Sonne zu. 85 2001, 11 Jahre Es beginnt – ein historisches Ereignis Heute wurd’ ein mächt’ges Wort gesprochen von George W. Bush: “Entweder ihr seid mit uns oder mit den Terroristen! Alle ihr Extremisten geht – kusch! Hier spricht George W. Bush, verschwindet all’ ihr Fundamentalisten!“ Das mag der Anfang des Dritten Weltkrieges sein, denn die geh’n nicht „kusch!“ – auch wenn hier spricht George W. Bush. Und die Deutschen sollten’s doch eigentlich wissen! Stattdessen machen sie fröhlich mit: Sie springen auf und schreien beflissen: „Wir fühlen uns auch angegriffen, und deshalb bombardieren wir mit!“ Ich weiß, ihr macht euch keine Sorgen, ihr denkt nicht so viel an Morgen, ihr macht eure Augen ganz fest zu, und bildet euch ein, dann habt ihr Ruh. Ihr sagt: „ Es wird schon nichts passieren!“ und seid bestürzt, wenn sie euch bombardieren. In Afghanistan rufen sie den Heiligen Krieg aus. Tausende von Menschen wandern zur Grenze hinaus. Sie rennen um ihr Leben oder erstreben, in Gräben mit Blechdächern zu überleben. Den Israelis kommt diese Stimmung nur recht, sie nutzen die Chance und machen Jassir Arafat schlecht: „Jassir Arafat heißt unser Osama bin Laden!“ erklärt Sharon. Und übersieht den verursachten Schaden. Ach ja, und in Frankfurt die Börse stürzt, sie rauscht buchstäblich in den Keller – sie hat das ganze Drama noch richtig gewürzt. Die Welt wird dunkler statt heller. Jetzt kommt der Terrorismus richtig in Fahrt: Der Kölner Dom wird wohl nicht mehr lange stehen, der Eiffelturm auch nicht – es sei denn, sie schießen daneben. Die Terroristen werden auf ihre Art auch ein Ende des Krieges erstreben. Sie werden’s den Amis schon zeigen – aber zu welchem Preise! Die Amerikaner schlagen zurück und der teuflische Reigen, der circulus vitiosus, dreht sich im Kreise. Das nennt man Krieg, und das wird es werden, denn man unterliegt nur über seine Leiche. Das wird der Dritte Weltkrieg auf Erden und das Ende von Amerikas stolzem Reiche. 86 So begraben wir dieses Amerika – laut oder still. Es hat’s nicht anders gewollt. In einem großen Geschichtsbuch wird es zusammengerollt für den Fall, dass die Zukunft noch etwas von ihm wissen will. Vielleicht kann sie aus seinen Fehlern lernen – das Morgen wird dann viel besser werden. Ein Brief Liebe, allerliebste Tante, wie geht es dir dort in Kassel? Hörtet ihr auch von dem Schlamassel? Und was sagen die Verwandten? Mich beunruhigt das Weltgeschehen. Hast du’s auch im Fernsehen gesehen? Wie die großen Flieger rasten, und die World Trade Center zerbarsten? Bleiben die Terroristen Sieger? Oder finden wir uns bald im Kriege wieder? Auswandern will die Familie Schmidt, nach Kanada zu ihren Bekannten. Doch Kanada will keine mittellosen Immigranten. Wär’ das nicht so – ich ginge mit. Auch Karsten ginge gern weg von hier, denn wir leben in Köln – einer Großstadt, das wissen wir. Und Karsten meint, Köln wird bombardiert, wollen wir hoffen, dass er sich irrt. Sonst gehen wir vielleicht in die Berge – die Alpen werden nicht so leicht abgeknallt. Mein Traum wär’ ja ein Häuschen am See, inmitten von einem kleinen Wald. Hättest du nicht auch Lust dazu? Überleg’ dir das mal in Ruh: Du kämst mit und gäbst uns ein bisschen Geld, und wir fürchteten uns nicht mehr vor’m Geschehn in der Welt. Na, was hältst du davon? Kann dich das nicht begeistern? Dort könnten wir das Kriegsgeschehen meistern. Nun mach’ schon mit, komm! So, nun mach’ ich Schluss für heute. Und hör’ nicht auf die Reden der Leute, es ist nämlich oft dumm, was sie sagen, und dummes Zeug macht immer Schaden. Ich hoffe auf ein Häuschen am See, in diesem Sinne, dein René ! 87 Morgenspaziergang im November Es riecht nach Schnee. Der Raureif schimmert glitzernd-kalt, und Eiskristalle schwimmen auf dem See. Das Jahr wird alt. Frische Luft bläst mir ins Gesicht. Ich geh auf alten Pfaden. Die Sonne verbreitet gold'nes Licht und geht im Himmelsblauen baden. Die Nebel lichten sich am Horizont. Die Luft ist klarer als Kristall. Man lächelt, während man sich sonnt und findet Freude überall. Alles ist so wunderbar, dass man das Übrige vergisst. Man ist so glücklich, wie man niemals war, und schreibt zu Hause ein Gedicht. 2003, 13 Jahre Eine Geschichte aus dem Sommer 2003 Was wirst du tun, Ali Bey? Ich lernte ihn im „Gyrros“ kennen, einem jener schrecklichen, verrauchten türkischen Imbisse, die nichts als Pommes frites und Döner anzubieten haben. Damals war ich dreißig und hatte eine tiefe seelische Krise. Ich – der äußerlich erwachsen aussah und mich innerlich doch noch so kindlich fühlte – passte nicht in die ernsthafte Umgebung voller Höflichkeit und ohne Freundschaftlichkeit, in der ich als Übersetzer arbeitete. Ich wollte so gerne Schriftsteller werden und traute mir das nicht zu. Damals ging ich manchmal an einsamen, verregneten Tagen über die Straße, um im „Gyrros“ eine Portion Pommes frites zu essen. Und so machte ich die Bekanntschaft mit Ali. Die Bekanntschaft – und die Freundschaft. Ich war so einsam mit meinen dreißig Jahren, mit einer Arbeit, bei der ich nicht ich selbst sein konnte. Auch Ali war einsam in seiner kleinen Wohnung im heruntergekommenen Norden der Stadt. Familie hatte er nicht, er, der Sohn eines türkischen Ehepaares aus Istanbul, das 1962 nach Deutschland emigriert war. Dort wurde er in ein Kinderheim in Münster abgeschoben. In seiner unglücklichen Jugend fiel er immer wieder durch sein aggressives Verhalten auf. „Ich wollte mich einfach bemerkbar machen!“, erzählte er mir später. „Ich wurde wie Luft behandelt. Oder besser gesagt: wie eins von 150 Kindern, die ihren Betreuern vollkommen gleichgültig sind.“ Er wurde erst haschisch-, dann ecstasyabhängig, nur um das Elend zu vergessen. „Ich träumte immer davon, ein Europäer zu sein. Jetzt weiß ich, dass auch nicht jeder Deutsche eine 88 glückliche Jugend hatte, aber alle Kinder, die ich sah, waren glücklich und wohlbehütet, gingen ins Kino oder ins Theater, studierten oder verdienten Geld.“ Drogenabhängig und unglücklich, mit gerade mal 16 Jahren ging er in die Lehre als Kfz-Mechaniker. Das war 1975. Er bekam keine Anstellung und wurde arbeitslos. In diesem Zustand sah er sich gezwungen, Aushilfsstellen anzunehmen. Schon als er noch in der Lehre war, war er, um Münster den Rücken zu kehren, nach Hamburg gegangen. Wie glücklich war er gewesen, als er, nach mehr als sechs Jahren Unsicherheit, im „Gyrros“ eine feste Anstellung gefunden hatte. „Ich hasste den Beruf als Kellner in einem solch heruntergekommenen Haus, aber alles, was ich bisher erlebt hatte, hasste ich noch mehr. Mein Gott, ich war 26 Jahre und noch nie glücklich gewesen. Dabei hatte ich doch – zumindest äußerlich gesehen – alles, was ich brauchte, um ein normales, zufriedenes Leben zu leben. Aber in mir klafften Wunden aus meiner Kindheit, die ich nicht sehen wollte und die mich die ganze Zeit über quälten. Ich hatte mich durch eine geistige Mauer zwar geschützt, aber auch eingeschlossen.“ Im Sommer des nächsten Jahres traf ich ihn. Sein Gesicht sah auf den ersten Blick hart und kalt aus, wären da nicht diese Augen gewesen, die so traurig aussahen und zu sagen schienen: „Hättest du dasselbe erlebt wie ich, würde dein Gesicht auch so hart aussehen.“ Auch ich war unzufrieden, wünschte mir aber etwas ganz anderes als er: Er wollte weg von der Kindheit mit ihren verhassten Erinnerungen von Kinderheim und Drogen. Ich aber wollte zurück in die Kindheit, wo ich noch träumen konnte und glauben, meine Träume gingen in Erfüllung. Ich wollte wieder Schule schwänzen, Streiche machen und abends mit der unschuldigen Miene der Jugend beten können: Breit aus die Flügel beide, o Jesu, meine Freude ... Immer, wenn ich die Orgelkonzerte von Mozart höre, breche ich in Tränen aus. Heute noch. Ich wollte diese Konzerte immer wieder hören und träumte davon, Opernregisseur zu werden. Ja, ich konnte noch träumen. Doch als ich dann 30 war, schien es aus mit allen Träumen. Und so trafen wir uns als Zwei, die sich auf dem Wege zu sich selbst verirrt hatten. Oft kam er nach Ladenschluss noch hoch zu mir und trank noch etwas. Dann saßen wir in meiner Stube, dem größten Raum in meiner Drei-ZimmerWohnung, und sahen uns schweigend an, zu erschöpft, um uns irgendetwas erzählen zu können, aber trotzdem war jeder froh, nicht alleine sitzen zu müssen. An einem dieser Abende gab ich ihm einen Kosenamen, mit dem ich ihn noch heute anrede: Ali Bey. Nach dem ehrlichen, gerechten und ernsten Kurden aus Karl Mays Erzählung „Durchs wilde Kurdistan“, die mich in meiner Jugend so begeistert hatte. Und ich las sie ihm vor, meine Lieblingsstelle, aus diesem Buch. Und wenn ich fertig war, sah mich Ali Bey mit einem lachenden und einem weinenden Auge an. Das ist nun mehr als 30 Jahre her, und wir haben viel erlebt: Erfolge und Misserfolge, Kriege, Hungersnöte und Terroranschläge sind gekommen und wieder gegangen. Aber unsere Freundschaft blieb. Ich bin inzwischen Opernregisseur und Ali Bey hat in seiner Heimat, der Türkei, wenn auch nicht seine Eltern, so doch Familie wieder gefunden und wurde freundlich aufgenommen. Ja, 30 Jahre sind nun herum, und das Wertvollste und Wichtigste ist mir rückblickend die Freundschaft mit diesem Türken, den ich vor 30 Jahren im „Gyrros“ kennen 89 lernte. Ich habe begriffen, was es heißt, dass alle Menschen Brüder sind. An dir habe ich es gelernt, mein lieber, lieber, Ali Bey – vielen Dank. Und als ich dich das letzte Mal gesehen habe, habe ich dir einmal mehr meine Lieblingsstelle aus Karl Mays Buch „Durchs wilde Kurdistan“ vorgelesen. Hier ist sie: -Was wirst du tun, Ali Bey? Du bist der Ältere und der Weisere, ich komme, mir deinen Rat zu erbitten. -Du sagst, ich sei der Ältere. Das Alter liebt die Ruhe und den Frieden. Du sagst, ich sei der Weisere. Die größte Weisheit ist der Gedanke an den Allmächtigen und Allgütigen. Er macht die Schwachen stark, er beschützt die Unterdrückten, er will nicht, dass der Mensch das Blut seines Bruders vergieße. Heute wirst du 64 Jahre alt, Ali Bey. Diese Erzählung ist mein Geburtstagsgeschenk für dich. Winter 2003 Der lange Peter Wenn ich mal wieder in München wäre – ich meine, so ohne Arbeit und Auftrag, einfach nur in München –, wenn ich mal wieder die heißen Sonnenstrahlen im Nacken fühlen könnte, mir mal wieder das überteuerte Großstadteis schmecken lassen könnte, wenn ich wieder bei Freunden kostenlos in Planegg wohnen dürfte, dann würd’ ich mir wohl dafür frei nehmen. Das deutsche Haus, der Hugendubel, der lange Peter ... Die Erinnerungen befallen mich mit sehnsüchtigen Gefühlen ... Der Sehnsucht nach Ausbruch aus dem tristen Alltag einmal nachgeben – was will ich im Norden? In dieser Stadt? Ich gehöre hier nicht hin! Es gab eine goldene Figur, ich erinnere mich nicht mehr, wen sie darstellte, ich weiß nur noch, wie sie im Sonnenlicht leuchtete, auf dem Platz ... Vor dieser prächtigen Kirche stand sie, ach was, es war das Neue Rathaus, ja genau ... Dieser Figur sollte ich meine Memoiren widmen und dann verscheiden! Ach nein, das ist ja unmöglich, ich weiß den Namen der Figur ja nicht, wie soll ich die Memoiren ihr dann widmen? Trübselige Gedanken! Lasst mich los! Im Hugendubel, ich erinnere mich gern daran, gibt es einen Fahrstuhl, der die Gäste in die höheren Etagen bringt, freilich, doch seine Außenwand war aus Glas, und man konnte im Hochfahren das Rathaus und den Marienplatz beobachten, zuerst zu ebener Erde und nach und nach aus der Luft, der Hugendubel war ein hohes Haus, selbst im Maßstab des Rathauses ... Und das Ganze ganz und gar kostenfrei! Es sollte als soziale Vergnügung, ehrenamtlich bereitgestellt, prämiert werden! Auch in meiner Stadt in dem hässlich-modernen Rathaus gibt es einen solchen Lift, doch das gar kein Vergleich ... Trübselige Gedanken! Welche Gefühle! Was soll ich sagen? Lasst mich los? Nein, bleibt da! Lasst mich träumen ... Der lange Peter! ... Ich erinnere mich ganz klar! Ewige Stufen schritt ich frohgemut hinauf – und begann, diese Stadt zu lieben! Von jeder Seite des Turms liebte ich München! Ich wurde gleichsam eins mit dieser Stadt! Ach, 90 ihr Erinnerungen! Und an der hölzernen Treppe stand ein Automat, wo man ein 5-Cent-Stück einwerfen konnte, welches dann zu einem Miniatur-Bild des langen Peter geprägt wurde. Das Kupfer ist noch heute in meiner Brieftasche als Talisman. Ich nehme es oft, wie jetzt, hervor, um es liebevoll zu betrachten. Ach ihr Erinnerungen! Ich liebe euch! Sylvester Die Neujahrsglocken läuten, das alte Jahr ist ein verklungen Lied. Da gibt es viele, die, was sie getan, bereuten, und manche, die es wundert, was geschieht. Sanft fällt der Schnee, zur Erde wirbeln weiche Flocken. Das alte Jahr war Freud', war Weh – vergessen ist's: Es läuten Neujahrsglocken! Das alte Jahr wollt' uns was lehren und mahnt uns: Macht es klüger in der neuen Zeit! Das alte Jahr als einen Weisen ehren, dazu sind wir oft nicht bereit. Wenn wir unsre alten Fehler fliehen und vergessen, wird auch das Neue Jahr uns in die alten Fallen locken. Nein, an den alten Fehlern sollten wir uns messen! Und wissend fröhlich sein beim Schall der Neujahrsglocken! 2004, 14 Jahre Januar Der Wind, ein klirrend kalter Hauch, flüstert in meine Ohren, und leise zittern Baum und Strauch. Der Boden ist gefroren. Der Sonnenschein, ein matter Glanz, strahlt wie durch Nebel nieder, das Laub, bewegt in leisem Tanz, raschelnd singt es Lieder. Voll Frieden fühl ich mich in Frost und Wind. In leeren Straßen Stille schwinget, die grauen Wolken ziehn gelind, des Windes Lied nur klinget. 91 Ein Baum Baum. Blätterbaum. Oh bunter Blätterbaum. Du machst ... Oh bunter Blätterbaum. Du machst die Welt taumelbunt. Wie Welt wie Baum wie Blätterbaum. Wie bunt. Sommer 2004 Pfau und Pelikan Pfau. Wenn er sein schillerndes Rad schlägt. Bunt und feierlich. Wie ein heiliges Ritual. Ich sah ihn im Tierpark, als Kind. Neben den Rehen. Manchmal überflog er den Zaun und trippelte gemächlich die Fußgängerzone entlang. Er trippelte am „Restaurant Pfau“ entlang, das fand ich als Sechsjähriger besonders witzig. Er schenkte dem noblen Haus keinen Blick. Es schien ihn nicht zu beeindrucken, dass das Café nach ihm benannt worden war. Er bewegte sich mit einer so natürlichen Eleganz und hatte soviel Weisheit in den Augen, er wirkte, wie ich mir einen König im Märchen vorstellte: weise und gerecht, Ehrfurcht gebietend und unglaublich erhaben. Und als mir meine Mutter einmal erzählte, dass, wenn man stürbe, die Seele einfach den Körper, dieses Stück Erde, verließe und in ein großes Licht flöge, stellte ich mir meine Seele immer als einen großen, prächtigen Pfau vor, der aus meinem Körper ausbrach und strahlend, im vollen Ornat seiner Pracht, ein Rad schlug. Es gab ein Gemälde, was immer zur Osterwoche aufgehängt wurde, welches Jesus Christus zeigt, wie er strahlend und gewaltig über seinem Sarg schwebt, wiederauferstanden. 92 Der Hexenmeister I. Zaubern, was heißt das? Was? Du weißt's? Lächelnd sagst du mir, es heißt, Tricks zu vollführen, Wunder vorzutäuschen? So, wie wir als Kinder spielten, mit Papas Zylinder und dem schwarzen Umhang? Hokus-Pokus-Fidibus – und weg war das Buch? Zaubern? Wunder vorzutäuschen? Nein, Freund. Zaubern heißt, Wunder vollbringen. Wende nicht ein, das sei nicht möglich. Ich will es dir zeigen. Wunder vollbringen. Was ist ein Wunder? Ein Wunder ist es, Freund, wenn die Knospe einer Rose aufgeht oder wenn der, der dich liebt, dich anlächelt. Ein Wunder ist es, wenn die Sonne morgens über dem Meer aufgeht. Es ist ein Zauber. Und zaubern? Das heißt, eine Rose wachsen zu lassen und einen Menschen zum Lächeln zu bringen. Zaubern, das heißt, einen Sonnenaufgang zu genießen. Liebe ist wohl der größte Zauber – lieben heißt zaubern. Das wusstest du nicht? Freund, so begleite mich. Ich will es dir entdecken. Auch mir will ich es entdecken. Folge mir. Wir wollen sie sehen und lieben, die Sonne. Folge mir. Lass uns schauen, wie sie sich aus den Fluten des Meeres erhebt. II. Wenn du sagst, du hast schon mal einen Menschen geliebt, so geliebt, dass er dir alles war, dann kannst du mich verstehen. So geliebt, dass du sein Lachen in der Sonne sahest und seine Augen in Sternen. So tief geliebt, dass du selbst dir entschwandest, als der Geliebte von dir ging. Wenn du das erlebt, durchlitten hast, so weißt du um die Verzweiflung und um das Leben. Sterne funkelten. Der samtblaue Himmel war übersät mit Sternen. Im See spiegelte sich jeder einzelne Stern, und wenn eine Brise aufkam, war es, als würden die Sterne tanzen, würde der Himmel kreisen, so sehr war das Wasser bewegt. „Bring mir Zaubern bei“, bat ich den alten Mann, der mit mir am See stand. „Lass mich verstehen, wie man lebt. Leben heißt Zaubern, nicht wahr?“ Der alte, bärtige Mann lächelte. „Ja“, antwortete er mit einer leisen, geschmeidigen Stimme. Sie klang wie das Schnurren eines Katers. Der Mond fiel auf das silberne Haar des Mannes. Es war Vollmond. Groß und rund stand er am Himmel und ich liebte ihn, den Mond, weil er der Nacht sein Licht schenkte. Das war ein Wunder. Alles schwieg. Und ich stand und sah und war voll Gewissheit, dass dieser Traum Wahrheit war. III. Groß und golden schien die Sonne auf die ehernen Pyramiden, die die Strahlen der Sonne zurückwarfen ... (unvollendet) 93 Herbst 2004, Bad Neuenahr-Ahrweiler Heimkehr Ich war in der Fremde manches Jahr: Nun bin ich Heim gekommen. Ich stehe wieder an der Ahr und bin vor Freude ganz benommen. Die Erinnerungen füllen mir wieder Herz und Sinn. Und ich frage mich im Stillen, ob ich noch derselbe bin. Sag mir, Freund, was ist die Ferne? Warum lockt sie uns mit bunten Farben? Die Erinnerungen sind wie Narben. Und am dunkelblauen Himmel funkeln Sterne. Ich geh den Weg am Fluss, wo ich früher oft gegangen. Als kleines Kind dacht' ich, ich muss den lauen Wind einfangen. Ringsum die Weinberge stehen. Erinnerung tut wohl und weh: Ach, ich könnte ewig gehen den Fluss entlang, die „Ahrallee“. Sag mir, Freund, was ist die Ferne? Warum lockt sie uns mit bunten Farben? Die Erinnerungen sind wie Narben. Und am dunkelblauen Himmel funkeln Sterne. 94 Winter 2004 Die letzte Fahrt Über das plätschernde dunkelblaue Meer, das, von einer unfühlbaren Brise bewegt, zu tanzenden, leichten Wellen wurde erregt, der schwarze, trauernde Kahn glitt her. Das Boot wiegte langsam in seinem tiefen Innern den König, an den man sich ewig wird erinnern, verletzt und alt liegt im Schiffe er. Drei trauernde Feen in lilanem Kleid schwingen die Ruder langsam und leise, als wie ein Harfenspiel, auf der Reise von dieser grausamen Welt ins Jenseits weit. Ins selige Avalon, dem Land der Träume, dem Lande des Friedens und der Apfelbäume, dass für jede reine Seele steht bereit. Artus, der König, lebte in dem Glanz und ewig ihn rühmen wird die Kunde seiner Ritter, seiner Tafelrunde. Sie siegten in des Kampfes wildem Tanz und, ewig wird das Lied davon erklingen, sie zogen aus, den Gral bald zu erringen. Doch sollte die Runde zerbrechen ganz. Den Gral sollte finden Sir Galahad. Den edlen Ritter doch fuhren bald schon die trauernden Feen nach Avalon. Es war des kühnen Helden letzte Fahrt. Doch die Ruder nun schnell eilen, die mächt'gen Nebel sich zerteilen, seht, Avalon naht! Sommer 2005, 15 Jahre Frieden Ich war auf langer, ferner Reise, doch ich bin heut' heimgekehrt. Zurück bin ich. Ich seh im Abendlichte wieder froh der lieben Heimatfestung Zinnen hell. Wie friedlich, festlich war es mir zumut, als ich der Pforte Brücke überschritt. Ich bin daheim. Und wenn die Tore schließen, dann bin ich sicher vor der wilden Welt. 95 Die Geschichte des Königreiches Dänemark Prolog Als im Herbst 2003 der dänische Kronprinz Frederik sich mit seiner australischen Freundin Mary Donaldson verlobte, wurde auf Schloss Rosenborg eine große Pressekonferenz gegeben. Viele nationale und internationale Journalisten stellten dem jungen Paar Fragen. Eine Reporterin wollte von der zukünftigen Kronprinzessin Mary wissen: “Was wussten sie von Dänemark, bevor sie Kronprinz Frederik getroffen haben?” Mary antwortete: “Nicht viel. Ich wusste, dass es ein Wikingerland war, ich kannte die Märchen von H. C. Andersen, und ich wusste, dass ein Däne das Opernhaus in Sydney entworfen hatte.” Den Menschen auf dieser Welt ist Dänemark wohl unter diesen Stichworten geläufig: Wikinger, H. C. Andersen und, wenn man Australier ist, das von einem Dänen entworfene Opernhaus in Sydney. Das ist schon mal ein guter Anfang. Das, was sonst noch über die Geschichte dieses Landes wissenswert ist, kommt hier: Die Geschichte Dänemarks Am Anfang jedes Buches über die dänische Geschichte kommen Details, die recht langweilig sind, und die mit der Geschichte des Landes Dänemark eigentlich kaum etwas zu tun haben: wann welche Urmenschen mit Feuersteinwerkzeugen irgendwelche Küsten des heutigen Dänemarks besiedelten, wann erste Bauern des Neolithikums das Land bebauten, wie die Erfindung der Eisensense eine Innovation der Landwirtschaft zur Folge hatte und wann die ersten Menschen von Jütland westwärts zu den Inseln auswanderten. Wir überspringen also diese Ouvertüre und lassen gleich den ersten Akt beginnen: Vorhang auf, das Jahr ist 793 nach Christus und soeben hat die Wikingerzeit begonnen. Sie begann übrigens nicht sehr zivilisiert: Ein Haufen skandinavischer Trunkenbolde hatte sich offenbar auf der Nordsee verirrt, und ehe ihr Kater abgeklungen war, erkannten sie erstaunt, dass die Küste am Horizont Britannien war. Northumberland, um genau zu sein. Dort machten sie sich dann prompt ans Werk, plünderten ein paar Klöster und jagten den Briten und kurze Zeit danach auch den Bretonen auf dem Festland riesigen Schrecken ein. Wenn das die Geburtsstunde des dänischen Volkes sein soll, so passt das ziemlich schlecht zu dem friedlichen, kleinen Völkchen, das sie später werden sollten. Wikinger. Wilde rothaarige Kerle, drei Fässer Met als ständige Begleiter und unerschrockene, weil permanent betrunkene Seefahrer. So kamen sie weit herum, auf den Balkan genauso wie nach Grönland und sogar bis nach Amerika. Sie führten sich wie richtige Kolonisten auf und kehrten oft gar nicht mehr heim, sondern siedelten in der Fremde. Hätten sie etwas mehr Grips besessen, hätten sie damals schon die Entdeckung Amerikas verkündet, und die Welt hätte darauf nicht bis 1492 warten müssen. Es lebte sich gut. Man fuhr mit stolzen Schiffen, die mit bedrohlichen Drachenschnitzereien verziert waren, und wo man segelte, flohen die Leute und ließen ansehnliche Sümmchen zurück. Da die Wikinger selten nüchtern waren, ist es erstaunlich, mit welcher Präzision die Angriffe geplant wurden. Man hatte schnell spitz, wo das meiste zu holen war, und wo die größten Angsthasen saßen. Beispielsweise die Handelsstadt Dordrecht in den heutigen Nieder- 96 landen, wo der große Karl Münzen prägen ließ, überfiel man mit schöner Regelmäßigkeit jedes Jahr. Erst allmählich wurde man mutiger. Fahren wir doch mal die Seine herab, und siehe da, Paris bibbert und bebt und bezahlt 7000 Pfund Silber, um verschont zu werden. Da war die Normandie gewitzter. Die bezahlte sich ein Wikingerheer, das die Aufgabe hatte, Wikinger fernzuhalten. Auch das war ein guter Job mit einem netten Monatsgehalt, sehr empfehlenswert für die älteren Segler, die das andauernde Überfallen und Plündern satthatten. Dieses fidele Leben hörte leider schon 960 n. Chr. auf, denn der König Harald Blauzahn beging die Dummheit, sich taufen zu lassen, und befahl zu allem Überfluss auch noch seinen Untertanen, es ihm gleich zu tun. Nun ist das Christentum an sich eine wirklich feine Sache, aber es billigt keine Raubüberfälle, so, wie es der alte heidnische Glaube tat. Insofern schon sehr unbequem. Und hier, und um einiges feierlicher, setzen die Dänen selber die Geburtsstunde ihres Landes an. Dieser König Blauzahn, über den wir im Übrigen gar nichts wissen, leider auch nicht, warum man ihn “Blauzahn” nannte, ließ sich zu seinen Ehren einen recht mysteriösen Grabstein errichten, auf den er schrieb: “Von dem Harald, der die Dänen zu Christen machte.” Leider muss an dieser Stelle auch jeder fromme Christ enttäuscht werden, der glaubt, König Harald hätte aus ehrlicher Überzeugung dem Heidentum abgeschworen. Viel wahrscheinlicher ist es, dass er glaubte, die jütländische Horde, seine Untertanen, dadurch besser beherrschen zu können. Und jetzt expandiert Dänemark erstmal. In der einzigen Zeit von weltpolitischer Bedeutung, die es je haben wird, erobert es England. Noch heute träumen einige sentimentale Volkslieder, die in der klaustrophobischen Enge des dänischen “Vaterlandes” treuherzig gesungen werden, von der damaligen, großen Zeit. Holstein, Mecklenburg und Estland werden bald erobert. Für ein Land, das notorisch unter mangelndem Selbstvertrauen und dem Gefühl, vom Rest der Welt nicht ernst genommen zu werden, leidet, war es eine herrliche Zeit. Man war was. Die Alten trauern zwar noch den guten alten Zeiten nach: Stellt euch vor, erzählen sie ihren Enkeln, Paris hatte damals solche Angst vor uns, dass es uns 7000 Pfund Silber gab ..., aber die neue Generation hört Beatles und Hip-Hop und ist mit der Lage der Welt zufrieden. Das war 1286. Jetzt kommt ein außerordentlich tristes Kapitel, das Reich zerfällt, und eine Menge selbsternannter Könige, die nicht mal im Lexikon aufgeführt wird, setzt sich selbst auf den Thron und lässt sich dann ermorden, um dem nächsten auch mal eine Chance zu geben. Mit vereinten Händen wird das stolze Vaterland zerbröckelt, es bleibt ein kümmerliches Restchen zurück: ungefähr das heutige Dänemark. Das ist außerordentlich bedauernswert; hätte Dänemark seine Eroberungen halten können, wer weiß, wie jetzt die Weltgeschichte aussähe. Andererseits wäre dann wahrscheinlich jetzt Dänisch die Weltsprache und jeder, der diese mit schier unaussprechlichen Rülps- und Zischlauten gespickte Sprache kennt, wird dankbar sein, dass ihr Sprachgebiet auf Dänemark beschränkt blieb. Also, Dänemark wird nach Kräften gedemütigt, besonders die Hanse hat es auf das nun ziemlich wehrlose Land abgesehen. 1370 wird der Stralsunder Friedensvertrag unterschrieben, der mit den Versailler Verträgen die Ähnlichkeit hat, dass er die Verlierer wütend und gedemütigt zurückließ. Inzwischen gibt’s auch wieder einen halbwegs soliden König, König Valdemar, die dänischen Patrioten gaben ihm später den Zunahmen “Atterdag”, das bedeutet “Wiedertag”. Es war 97 wieder Tag geworden. Valdemar war es auch, der zu Propagandazwecken eine goldene Gans auf den Turm seiner Residenz setzen ließ: Die Gans guckte in die Richtung der Hanse, die Valdemar mit Gänsen verglich. Man kann sie, auf einer Fahrradtour durch Seeland beispielsweise, immer noch besichtigen. Heute steht Valdemars Burg in einem verschlafenen Städtchen in Südseeland, in Vordingborg, und guckt immer noch verhöhnend in Richtung Deutschland, das inzwischen mehr als einmal Gelegenheit hatte zu beweisen, wie gänsrig es ist. Ansonsten hat allerdings auch Valdemar nicht besonders viel verändert. Sagen wir es geradeheraus: Die Männer sind gescheitert. Dieses eigensüchtige Geschlecht, was sich seit geraumer Zeit auf dem Papststuhl und den Thronen Europas behauptet, hielt sich merkwürdigerweise immer für das überlegene. Jetzt folgt ein Lehrbeispiel, dass es nicht überlegen war. Denn der Herrscher, der Dänemark einigermaßen wieder auf die Beine hilft, war eine Frau. Wie zu erwarten war, war sie Witwe (wie sonst konnte eine Frau in die Nähe der Macht kommen?), sie war Frau des Königs Oluf, der seinem Vaterland den großen Gefallen tat und früh genug starb, damit Dänemark den Segen der klugen Politik seiner Frau erleben durfte. Sie war wirklich ungeheuer glücklich, denn auch ihr Sohn, als dessen Mündel sie zunächst fungierte, starb mit 17, was ihr persönlich sicher Trauer bereitet, ihren politischen Plänen aber gut gepasst hat. Und jetzt vollbringt sie ein Wunderwerk: Sie reist in ganz Skandinavien umher, plaudert mit diesen, plaudert mit jenen, ein Lächeln hierzu, ein Lächeln dazu, und irgendwann finden sich Schweden, Norwegen und Dänemark in Kalmar ein und unterschreiben, dass sie ab jetzt ein Land sind: die berühmte Kalmarer Union. Es ist geradezu ein Jammer, dass diese außerordentlich geschickte und schlaue Frau nicht Königin in Frankreich oder Russland geworden ist, dort hätte sie sicher für die Weltpolitik wichtige Dinge vollbracht. In Dänemark wurde sie zwar hoch geehrt, aber ihr Schaffen blieb ohne weltpolitische Bedeutung. Einige Jahrhunderte später bestieg allerdings eine Frau den russischen Zarenthron, die Margrethe so sehr ähnelt, dass sie geradezu als Reinkarnation der dänischen Königin angesehen werden kann: Katharina die Grosse. Sie hat dann gezeigt, zu was Frauen vom Schlage Margrethes fähig sind. Jetzt bricht wieder das übliche Chaos aus, was so schrecklich ermüdend zu beschreiben und zu lesen ist. Selten dumme Könige, die auf gute, alte dänische Namen wie Christian, Erik oder Frederik hören, machen sich daran, Margrethes Arbeit zu zerstören, und 1520 ist es dann so weit. Schweden tritt aus, und das ist der Anfang vom Ende. Dazwischen kommt noch ein bisschen Reformation, weil sich die dänischen Bürger auch sehr gerne scheiden lassen können möchten, und weil die dänischen Mönche das Zölibat leid sind; also, machen wirs wie Luther, und seitdem sind 98 Prozent der dänischen Bevölkerung evangelisch. Wäre Dänemark ein menschlicher Körper, so gäbe es ein Gebiet, das es sicher als seinen Augapfel betrachten würde, entsprechend wollte es seinen Augapfel behüten, und nur so ist zu erklären, warum soviel Trara um die Sache mit Schleswig-Holstein gemacht wurde. Es ist absolut unwürdig, wie viele Kriege, Besetzungen und Vereinnahmungsversuche von beiden Seiten um dieses winzige Fleckchen Erde gemacht wurden, an dem Dänemark so klammerte. Es scheint geradezu, als hätte Dänemark seine nationale Ehre davon abhängig gemacht, das Herzogtum Schleswig zu besitzen – mit dem Erfolg freilich, dass es es verlor. 98 Um eine Sache gleich zu klären: Wenn es darum geht, wer das “Recht” auf Schleswig-Holstein hat, dann haben Deutschland und Dänemark gleichermaßen Anspruch darauf. Schier undurchschaubare verwandtschaftliche Verhältnisse, die den Hof Schleswig-Glücksburg mit dem dänischen Königshaus verbinden, sorgen dafür, dass die Dänen Schleswig-Holstein eigentlich als einen Teil von Dänemark betrachten. Ansonsten übrigens ein völlig absurder Gedanke zu überlegen, wer Anspruch auf welches Land hätte, da fragten erobernde Könige doch sonst nicht nach. Die leidige Geschichte beginnt noch mit Margrethes Tod, die es sich kurz vor ihrem Ableben bei einem Anfall von Altershysterie in den Kopf gesetzt hatte, dass die dänische Grenze bis hinunter nach Altona reichen sollte. Und die Sache wurde bis 1945 nicht geklärt. Um es kurz zu machen: Die Dänen verloren Schleswig-Holstein. Als Nächstes kommt König Christian IV. an die Reihe. Kriegswütig, bauwütig, politisch kurzsichtig (führte drei Kriege, die er alle verlor) und trotz allem bis heute von dem dänischen Volk geliebt. Er hat vor allem ganz Nordeuropa gestalterisch verschönert, ihm verdanken wir den runden Turm in Kopenhagen, Glücksstadt in Schleswig-Holstein und Kristiania (Oslo) in Norwegen. Und er war ein Weiberheld; böse Stimmen behaupten, er habe das gesamte weibliche Schlosspersonal geliebt, von der Zofe bis zur Putzfrau. Nach diesem freundlichen, lebenslustigen König war Dänemark erstmal bankrott. Während der Regierungszeit der nächsten Könige wird Dänemark von allen Seiten angeknabbert, besonders Schweden hat einen gesegneten Appetit und nimmt sich Schonen, Halland und Blekinge östlich des Öresund. Nun macht Dänemark all die Stadien durch, die alle Länder in ihrer Pubertät durchmachen: Absolutismus, Aufklärung, Revolution. All das durchläuft das immer kleiner werdende Land friedlich, ohne große Tumulte und Skandale. Schon hier wird das aufkommende Phlegma erkennbar, das später bezeichnend für das gemütliche dänische Volk werden sollte. Nach ungefähr 1000 Jahren Geschichte wurde man schläfrig. Die Aufklärung wurde in Dänemark von einem bemerkenswerten Mann vorangetrieben, es war der königliche Leibarzt Johann Struensee. Sein König war Christian VII., ein Mann, der geisteskrank war, und sein Leibarzt war ein Mann, wie er Friederich dem Großen gefallen hätte: durch und durch aufgeklärt, pompund prachtfeindlich, langweilig und fantasielos. Mit kompromissloser Penetranz setzte er seine Vorstellung von einem modernen Staat um und schaffte es, sich dabei die Feindschaft des gesamten dänischen Volkes zuzuziehen. Er entließ nämlich haufenweise Hof- und Zeremonienmeister, verbot jegliche royalistische Eleganz und verkündete dann Pressefreiheit, welche von allen Zeitungen einhellig dazu genutzt wurde, über den blöden Politiker Struensee herzuziehen: Dessen Schuld war es nun, dass das Königshaus seinen Glanz verloren hatte und der Alltag so unfeierlich geworden war. Die Zeitungen erreichten ihr Ziel: Struensee wurde irgendeines absurden Verbrechens angeklagt, in einem Schauprozess für schuldig befunden und hingerichtet. Das ist interessant und sagt viel aus über das dänische Volk: Dass ihm nämlich ein bisschen festliche Hofzeremonie wichtiger ist als grundlegende Rechte wie die Pressefreiheit. Noch heute schwelgt das ganze Volk, wenn ein adliges Großereignis ins Haus steht, beispielsweise eine königliche Hochzeit. Nur, damit wir die Jahreszahlen nicht aus dem Kopf verlieren: Struensee wurde 1772 hingerichtet. 99 Auf die Bühne der Weltgeschichte tritt jetzt ein kleiner Mann, an dem man nicht mal in der dänischen Geschichte vorbeikommt und der überall Ärger macht. Es ist der Herr aus Korsika, dem sich auch Dänemark anschließt. Die Bevölkerung des Landes war inzwischen dank der andauernden Kriege auf circa eine Million herabgesunken, was bekanntlich den Kriegswillen der Machthaber nicht dämpfte. Außerdem waren irgendwelche Minister auf die glorreiche Idee verfallen, den Krieg gegen England so zu finanzieren, wie 1923 die Deutschen den Ruhrstreik bezahlten: Man druckte zusätzliches Geld. Die Inflation wuchs; in Norwegen, was damals noch ein Teil Dänemarks war, starben die Menschen des Hungers, und 1815 stand man mit einem Scherbenhaufen da. Ein wieder anderer König, Frederik VII., verkündete 1849 in Dänemark die Demokratie. Die Dänen behaupten bis heute, er sei ein besonders kluger und weitsichtiger Monarch gewesen. Mir kommt es eher so vor, als habe der König unter einem akuten Müdigkeitsanfall gelitten. Er sah ja, wie es ringsherum, beispielsweise in Deutschland, aussah und hatte keine Lust auf Scherereien. Am Horizont tauchte bereits Bismarck auf, ein weiteres sehr unerfreuliches Phänomen, und der liebe Frederik war richtig froh, die Verantwortung an andere delegieren zu können. Es wird überliefert, dass er die Verfassung unterzeichnete, ohne sie vorher durchzulesen. Ich könnte mir vorstellen, dass er dabei sogar gegähnt hat. Tja, jetzt sind schon fast in unserer Zeit angelangt. Darf ich dem Leser noch eine kleine Erfrischung anbieten, bevor sich der Vorhang zum letzten Akt hebt? Es sind noch 150 Jahre bis zu uns; einiges streift Dänemark noch, ohne dass es sich wecken lässt: Bismarck, Industrialismus, 1. Weltkrieg, 2. Weltkrieg und „Nein” zum Euro – es ist eine Gutenachtgeschichte. Bismarck machte sich bei den Dänen unbeliebt, indem er Dänemark durch einen kurzen, präzisen Chirurgenschnitt um 19.000 qkm kleiner machte, die neue Grenze verlief bei Kolding. Im Zuge des drastisch verkleinerten Landes verbreitete sich unter den Dänen eine Epidemie, die bis heute keiner ganz ausgerottet hat, es ist die Nationalromantik. Diese hat in Dänemark erschreckende Blüten getrieben, noch heute ist es Brauch, beim Geburtstag das ganze Haus mit tausend dänischen Flaggen zu schmücken, und der Weihnachtsbaum wird anstatt mit Weihnachtskugeln mit “Dannebrog”-Wimpeln verziert. 1920 kam das nervige Thema Schleswig-Holstein noch mal auf, und es wurde salomonisch getrennt: Dänemark bekam den nördlichen Teil, Deutschland den südlichen; auf beiden Seiten gibt es Minderheiten, dänische auf der deutschen, und deutsche auf der dänischen, die existieren noch heute. Gegen die nationalsozialistische Besetzung, 20 Jahre später, kämpften die Dänen typisch dänisch: Sie sangen aus volle Kehle und zu jeder möglichen und unmöglichen Zeit nationale dänische Lieder, so dass die deutschen Soldaten einen Tinitus bekamen. Als dann am 4. Mai 1945 die Deutschen wieder abzogen, machte man drei Kreuze in den Kalender und ging zur Tagesordnung über. Und jetzt wird’s richtig gemütlich. Eine Art Epilog. Was gibt’s Neues in Dänemark? In den 60er Jahren steigt die Zahl der Frauen auf dem Arbeitsmarkt, in den 70ern gründen ein paar verrückte Jugendliche den “Freistaat Christiania”, wo man inzwischen den billigsten Hasch Nordeuropas bekommt, in den 90ern werden alle die vielen, vielen Inseln Dänemarks mit Brücken verbunden, Anfang 100 des 21. Jahrhunderts lehnt Dänemark den Euro ab. Auch dazu gab’s viele Theorien, warum den Dänen der Euro suspekt ist, aber ich möchte wetten, dass ich den Grund weiß: Mit der Krone verbindet der Däne sein Land, seine Heimat. Für ihn ist diese Geldeinheit ein Symbol. Und wer ein echter Däne ist, trennt sich niemals von einem geliebten Symbol. Schulaufsatz 2005 Die Jugend Adolf Hitlers Möchte man sich als unvoreingenommener Leser über die deutsche Geschichte zwischen 1933 und 1945 informieren und möchte man auch etwas über den Lebensweg des Diktators, welcher Deutschland in dieser Zeit beherrschte, erfahren, steht man in einer Bibliothek oder auch in einer Buchhandlung alleingelassen zwischen Regalen voller Lektüre zu diesem Thema. Biografien zu jeder Haupt- und Nebenperson des Führerstaates, Analysen über Hitlers Anhänger und Feinde, Erinnerungen von Opfern und von Tätern, psychologische Untersuchungen über die Nazi-Ideologien und haufenweise Bücher über den Politiker Adolf Hitler: Adolf Hitlers Berlin, Adolf Hitlers Wien, Stalin und Hitler, Hitlers Jugend, Anmerkungen zu Hitler ... Es ist schwer, sich zu orientieren. Vertrauenswürdiges steht neben Reißerischem; dieses Buch behauptet, Hitler hätte unter Parkinson gelitten; jenes Buch will beweisen, Hitler wäre homosexuell, gewesen – inzwischen habe ich sogar ein Buch gefunden, dass es sich zur Aufgabe macht, Stellung zu den vielen Büchern über dieses Thema zu nehmen ... In der Not, in der man bei diesen vielen Darstellungen ist, beginnt man die Bücher nicht nach Inhalt, sondern nach Breite zu sortieren und entscheidet sich für das Dünnste: Es ist eine kleine Rowohlt-Monografie von 172 Seiten, geschrieben von Harald Steffahn, auf die ich mich im Folgenden stütze. Ich glaube, der markanteste Charakterzug Hitlers war seine Selbstüberhöhung, ja, seine Selbststilisierung. Das ist eine Eigenschaft, die wir schon bei dem halbwüchsigen Adolf beobachten können und die sich noch in Form von vollkommen realitätsfernen Militäroperationsplanungen in den letzten Monaten, ja Wochen des Krieges zeigt. Er sah sich selbst als Notwendigkeit an, als einen Erretter der ganzen Welt, der sie aus den Klauen des “Ostvolkes” befreite; ohne ihn, das war seine Überzeugung, würde die Welt in den Händen der Juden und Bolschewiken zugrunde gehen. Intellektuell war dieses Weltbild gar nicht untermauert, Hitler war das Gegenteil eines Intellektuellen. Er besaß eine mehr als ungenügende Halbbildung. Er empfand auch nicht die Notwendigkeit einer Logik, eines Beweises; ihm genügten sein schwärmerischer Traum und die dunkle Ahnung, zu Großem berufen zu sein. Liest man sein Pamphlet “Mein Kampf”, so kommt er aus einer arischen Idealfamilie; er hatte eine Mutter, die in Haushalt und Kindererziehung aufging, 101 und einen Vater, den er verehrte. Die Wahrheit, die Historiker in mühevoller Kleinarbeit herausgefunden haben, sah bedrückend aus. Wie es scheint, war Hitler ein äußerst sensibles Kind, was seinem tyrannischen Vater die Gefolgschaft verweigerte. In der Familie Hitler gab es nur eine Meinung, die Geltung hatte, nur ein Gebot, dem gefolgt wurde: dem des Vaters. Nicht zu Unrecht weist Alice Miller darauf hin, dass die Familie Hitlers ein Führerstaat im Kleinen war. Alois Hitler, Adolfs Vater, setzte seine Meinung kompromisslos durch; denen, die ihm Paroli boten, drohten bestialische Strafen. Einem seiner Freunde hat Hitler später anvertraut: „32 Schläge hat mir der Vater gegeben”. Das ist sadistisch. Es bedurfte also einiger Standfestigkeit, sich einem solchen Vater zu widersetzen, was Hitler schließlich tat, in dem er sich für den Malerberuf entschied. Zu dieser Zeit war er 16 Jahre alt und schon sehr absonderlich. In der Schule fiel er durch einseitige Leistungen auf, er vernachlässigte die Naturwissenschaften, Französisch und Mathematik. Diese Fächer verlangten systematisches Arbeiten, eine Disziplin, die Hitler zeit seines Lebens nicht entwickeln wird. Hitler war ein notorischer Tagträumer, er nahm allzu oft den Wunsch als Realität und konnte die Realität nicht vertragen, wenn er mit ihr konfrontiert wurde. Auch das kennzeichnet ihn bis in seine letzten Tage, wo er mit Divisionen, die es nicht mehr gab, Fronten aufbauen wollte, die längst überrannt waren. In seiner Jugend bildete er sich etwa ein, den großen Gewinn in einer Lotterie zu machen und malte sich sein ganzes Upperclass-Leben, welches er mit dem gewonnenen Geld führen wollte, bis in die Tapetenmuster seiner zukünftigen herrschaftlichen Villa aus. Als das große Geld ausblieb, verlor er nie wieder ein Wort über diese Angelegenheit. Genaugenommen hatte Hitler auch nur einen Freund, einen gewissen August Kubizek, der nur deshalb sein Freund war, weil er Hitler geduldig zuhörte, wenn dieser von seinem Aufstieg zum Malgenie des Jahrhunderts fantasierte. Die Seifenblase platzte, als er kühl von der Kunstakademie in Wien abgewiesen wurde, doch das konnte Hitler wenig anhaben; denn in dem Augenblick, in dem er die Absage in den Händen hielt, kam er zu der Erkenntnis, dass er als Architekt noch viel genialer würde, denn als Maler. Zunächst gab es aber leider niemanden, der an den bombastischen Bauten, die Hitler errichten wollte, Interesse hatte, und Hitler führte das Leben eines Bohemiens, was ihn schließlich ins Obdachlosenasyl führte. In diesen Jahren soll seine Weltanschauung entstanden sein. Wie gesagt, Hitler verfügte über keine nennenswerten Kenntnisse auf irgendeinem Gebiet, solche hätten ihn in seiner simplen, aber von Donnerhall und Sturmgebraus erfüllten Ideenwelt auch nur gestört. Dagegen ließ er sich gerne durch die Groschenheftchen eines gewissen Georg Lanzes, der sich klangvoll von Liebenfels nannte, anregen: Dieser predigte den stolzen, blonden, blauäugigen Arier, welcher sich gegen finstere (wahrscheinlich braunäugige und schwarzhaarige) Gestalten behaupten müsse, und letztlich, nach geglückter Mission, zum Engel erhoben wird. Eines der Hefte trägt die Überschrift: “Theozoologie oder die Kunde von den Sodoms-Äfflingen und dem Götterelektron”. Doch lange wird sich Adolf bei einer solchen Überschrift nicht aufgehalten haben. Er gewann aus solcher Lektüre die Erkenntnis, dass die ganze Welt in höchster Gefahr schwebe, weil das Ostvolk binnen Kurzem alle Arier eliminiert haben würde, und dass die Welt nur durch einen Menschen gerettet werden konnte: durch ihn. Es war seine Verantwortung, die Welt vor ihrem Untergang zu bewahren, und alle Juden mussten vernichtet werden; 102 sie waren eine Seuche, die das stolze Germanengeschlecht im Begriff war, dahinzuraffen. Und er musste möglichst schnell an die Macht, weil, so fand er, keiner in diesem Punkt so klarsehend war wie er. In nächster Zeit siedelte er nach München über, wo er, wie schon in Wien, anspruchslose Souvenirillustrationen malte, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Nach München war er übrigens gezogen, um dem österreichischen Militärdienst zu entgehen, denn es stand unter der Würde des edlen Herrn Hitler, für ein Land zu kämpfen, in dem so viele Völker vereint waren. Als die Fahndung den Herrn Kunstmaler in seinem Münchner Domizil schließlich entdeckte, bot er eine schmierig-unterwürfige Farce gegenüber der Kommission, welche ihm den Gefallen tat und ihn für wehrdienstunfähig erklärte. Nun war er frei und konnte für sein Deutschland kämpfen, und ihm war, so komisch das klingt, das Wort deutsch keine Auskunft, sondern eine Auszeichnung. Als am Münchner Odeonsplatz die Kriegserklärung proklamiert wurde, stand Hitler verzückt in der Menge. Er war aus zweierlei Gründen entzückt: Einerseits erhoben sich die Germanen einig, um zum Sieg zu schreiten; andererseits – und viel wichtiger für ihn – hatte er endlich wieder etwas zu tun. Die letzten Jahre hatte er als Prophet im Wartestand verbracht. Gewiss meinte er, auserwählt zu sein, aber das allein bringt kein rechtes Monatsgehalt zusammen. Nun ging er als Freiwilliger an die Front und machte sich um sein Deutschland verdient. Für Hitler wird das zur prägenden Erfahrung. Vergessen wir nicht, in ihm steckt immer noch das sensible Kind, das sich nach Geborgenheit sehnt und diese nie bekommen hat. Hier empfindet er sie zum ersten Mal. Ich glaube, er blieb immer zu einem Teil dieser sensible Junge, so provokant diese These klingen mag. Seine grauenhaften Verbrechen an den Juden waren keine Affekthandlungen, für ihn waren es Dienste am Vaterland. Juden waren für ihn keine Menschen, sondern eine Krankheit. Für ihn stellte sich die “Endlösung” der Judenfrage genauso dar, als wenn er von der endgültigen Ausrottung der Cholera gesprochen hätte. So entsetzlich und schrecklich das ist, es ist die einzige Möglichkeit, zu verstehen, wie der im Kern weiche und verträumte Hitler zum durchorganisierten Massenmörder wurde. Und dieses Beispiel belegt die These, dass vielleicht gar nicht die offensichtlich aggressiven und gewalttätigen Menschen die wirkliche Gefahr darstellen, sondern vielmehr die Schwachen, die ihre Schwäche unbewusst auszugleichen gezwungen sind. Hitler erlebt zum ersten Mal ein Zugehörigkeitsgefühl an der Front. Zum ersten Mal hat er das Gefühl, angenommen zu werden, nachdem sein Vater ihn fast aus dem Haus geworfen hätte, als er ihm seinen Berufswunsch anvertraute. Die Kameradschaftlichkeit der Soldaten, das Aufeinanderangewiesensein, erfüllt ihm seine Sehnsucht nach Geborgenheit. Hitler hat in dieser Zeit ein Gedicht geschrieben, und wüssten wir nicht, dass es von dem Diktator Adolf Hitler ist, wäre dieses Gedicht sicher oft zitiert worden und hätte in die großen Anthologien der Kriegsgedichte Eingang gefunden. Uns begegnet dort ein ganz anderer Adolf Hitler, einer, der in einem Gedicht über Mitleid und Nationen übergreifende Menschlichkeit schreibt. Es geht um einen deutschen Soldaten, der verwundet im Niemandsland zwischen deutschem und französischem Lager liegen geblieben ist. Er schreit um Hilfe. Endlich hört man ihn: 103 “Zwei Männer nahen seinem Schmerzenslager Ein Deutscher ists und ein Franzos. Und beide betrachten sich mit argwohnscharfem Blick Und halten drohend das Gewehr im Anschlag. Der deutsche Krieger fragt: “Was tust du hier?” “Mich hat des Ärmsten Hilferuf getroffen.” “Es ist dein Feind!” “Es ist ein Mensch, der leidet!” Und beide senken wortlos das Gewehr Dann flochten sie die Hände ineinander Und hoben sorglich mit gestrammten Muskeln Den wunden Krieger, wie auf eine Bahre, Und trugen ihn selber durch den Wald, bis sie zur deutschen Postenkette kamen.” Ist das Hitler? Natürlich ist es ein Dilettant, der das schrieb; niemand würde diesen Text mit echter Lyrik verwechseln. Aber können wir uns Hitler vorstellen, der ein Gedicht über Versöhnung zwischen Feinden im Angesicht eines leidenden Kameraden schreibt? Wir sehen Hitler als von Nietzsche beeinflusst, was er sicher auch war; aber hier hat er ein Gedicht über das Mitleid geschrieben, jenes Mitleid, das Nietzsche so verhasst war. Für Hitler hätte dieser Krieg nie zu enden brauchen. Er schreibt rückblickend, es sei die schönste Zeit seines Lebens gewesen, und wenn man es näher untersucht, ist man geneigt, ihm zu glauben. Das erste Mal in seinem Leben fühlte er sich wertvoll, fühlte er sich gebraucht. Er wurde wegen seines Mutes und seiner Einsatzbereitschaft geschätzt, er taumelte sich in eine schwärmerische Ekstase hinein, für ihn bekam der Kampf fürs Vaterland religiöse Dimensionen. Er war weit davon entfernt – vielleicht fehlten ihm sogar die geistigen Mittel dazu –, die reale Sinnlosigkeit und Grausamkeit der Schlachten und des Schlachtens zu erkennen. Das Militär war auch das Einzige, dem er sich unterzuordnen gewillt war. Im Nürnberger Prozess antwortete der Regimentsadjutant Fritz Wiedemann, auf die Frage, warum man Hitler nicht zum Unteroffizier befördert hätte, dass Hitler das nicht gewollt habe. Er gefiel sich offenbar in der bescheidenen Rolle im Hintergrund. Der Krieg endete aber – unrühmlich, und Hitler behauptet, er habe nach dem Tod seiner Mutter das erste Mal geweint. Wenn wir uns ansehen, dass es für ihn eine heilige Aufgabe war, sein deutsches Vaterland zum Sieg zu führen, können wir die rührselige Schilderung aus “Mein Kampf” vielleicht sogar glauben. Nun endet die Vorgeschichte und es beginnt der Aufstieg Hitlers. Er konnte reden. Er hatte eine Art, so eindringlich und suggestiv die Zuhörer mitzureißen, dass diese ihm alles aus der Hand fraßen. Er hätte auch von rosaroten Krokodilen sprechen können, das wäre – dank seines rhetorischen Naturtalents – genauso gut angekommen. Es ist ein erheiternder Gedanke, wie glücklich Hitler gewesen sein muss, als er an sich selbst entdeckte, dass er ein Talent hatte. Er redete und die Menschen hörten zu. Und applaudierten. Bis dahin hatte er sich, trotz all seiner fantasiebeflügelten Anstrengungen, nicht einmal selbst wirklich davon überzeugen können, dass er eine Begabung besaß. Die schlichte Malerei, derer er sich vor dem Krieg bedient hatte, war wirklich nichts, womit man prahlen konnte. 104 Er hatte auch für sein Redetalent nie wirklich etwas getan. Er hatte es zufällig entdeckt und es war das Einzige, was er je wirklich beherrschte. Hitler ist alles andere als ein hochintelligenter Verbrecher. Er ähnelt Nero oder dem literarischen Don Quichote. Er war ein Verrückter, ein Fantast, ein Träumer. Voller giftiger Ideen zwar, aber an sich vollkommen ungefährlich. Ohne die Möglichkeiten zur Macht und ohne ein so selten dummes deutsches Volk wäre er ein unverbesserlicher Spintisierer geblieben und wäre vielleicht, in aller Ruhe, 1967 in einem Münchner Altersheim gestorben. Insofern ist er ein Ergebnis Deutschlands: Von Deutschen zum Führer gemacht, von den Deutschen umjubelt, hat er die Deutschen in den Abgrund gezogen. Erich Kästner1 sah das 1933 in seinem Gedicht voraus: Ganz rechts zu singen Stoßt auf mit hellem, hohen Klang! Hier kommt das 3. Reich! Ein Prosit unserm Stimmenfang! Das war der erste Streich! Wir brauchen kein Brot, und nur eines ist Not: Die nationale Ehre! Wir brauchen mal wieder den Heldentod und schwere Maschinengewehre. Die deutsche Welle, die wächst heran als wie ein Eichenbaum. Und Hitler ist der richtige Mann. Der schlägt auf der Welle den Schaum. Ihr Mannen, wie man es auch dreht, wir brauchen zunächst einen Putsch! Und falls Deutschland daran zugrunde geht, juvivallera, juvivallera, dann ist es eben futsch. 1 aus: Erich Kästner „Gesammelte Schriften für Erwachsene“, Droemer Knaur, Atrium Verlag Zürich, 1969, S. 296 105 Ballade Geritten war in wildem Trab der Reiter, gezwungen hat er lang sein müdes Ross. Nun wird es Nacht und er kann nicht mehr weiter, er sehnt sich so ins heimatliche Schloss. Der Nebel wallt, am Himmel glänzen Sterne, er hält an einem See, wo sein Pferd trinkt, und seine Augen wandern in die Ferne, ganz still er in Erinnerung versinkt. Der See braust auf, es rauschen wilde Wellen, der Nebel wird so dicht wie graues Tuch, von Ferne klingen geisterhafte Schellen, es naht der Nymphen zauberischer Zug. Es gluckert, gurgelt, spritzt – die Seejungfrauen umgaukeln keck den jungen Reitersmann. Gebannt steht der, er kann nur staunend schauen und jäh fühlt er, greift kalte Furcht ihn an. Er nimmt sein Tier, er flieht, stürmt in die Winde: “Trag' mich”, ruft er, “so weit du kannst, mein Ross! So eil' mit mir, geschwinde, oh geschwinde! Bring' mich zum Schutz ins heimatliche Schloss!” 2006, 16 Jahre Der Weise Wahre Worte sind nicht schön, schöne Worte sind nicht wahr. Tüchtige Worte sind nicht beredt, beredte nicht tüchtig. Und: Wissende Worte sind nicht gelehrt, gelehrte Worte nicht wissend. Wer könnte das besser wissen als ich, Laotse, der Archivar des Fürsten DjingWang! In meinem Leben habe ich mehr schöne Worte, die nicht wahr waren, gehört, als ich zu Papier bringen könnte. Ich bin müde, ein alter Mann, der sich nach Einsamkeit sehnt. Seit drei Tagen lasse ich mich von diesem dicken Büffel nach Westen tragen, in die Berge, wo ich mir meine Klause einrichten und das Leben eines Eremiten führen möchte. Menschen sind anstrengend, ihre Gesellschaft ist ermüdend. In den Bergen begegne ich vielleicht hin und wieder einem Tier, einem Adler, einer Ratte, mag sein, aber nie wieder werde ich einen Menschen zu Gesicht bekommen. Die Menschen benehmen sich so unsinnig: Sie nehmen denen, die zu wenig haben, noch mehr weg und geben denen, die zu viel haben, noch mehr und damit den Rest. Ich weiß das. Ich war dreißig Jahre lang Bediensteter des Fürsten Djing-Wang und habe hautnah mitbekommen, wie die Menschen miteinander umgehen. Und jetzt mag ich nicht mehr. Ich will meine Ruhe. Dabei haben mir alle gesagt, was für ein unsagbar großes Glück es für mich gewesen war, dass der reiche Fürst Djing-Wang mich zu sich an seinen Hof geholt hat, denn ich bin das Kind armer Bauern. Hätte mich dieser Fürst doch auf den Reisfeldern meiner Familie ge- 106 lassen, statt mich in sein Schloss zu rufen, mir wäre es dort besser gegangen. Arme Leute sind klüger als reiche, das habe ich gemerkt. In unserem Dorf daheim, da waren alle Reisbauern arm, aber keiner hat dem anderen etwas weggenommen, keiner gestohlen, keiner hat gelogen. Im Gegenteil, meine Großmutter hat bis ins hohe Alter jeden Tag einen Teller Suppe mehr gekocht und einem Straßenkind, das kein Zuhause hatte, damit eine Freude gemacht. Am Hof bei Djing-Wang waren alle reich, alle verlogen, alle waren sie heimliche Diebe, versessen auf den Besitz ihres Nachbarn. Djing-Wang hatte mich an den Hof geholt, weil einer seiner Boten einmal durch unser Dorf gekommen war und im Hause meines Vaters Unterkunft erhalten hatte. Doch der Bote war arrogant und unhöflich gegenüber meinem Vater und dem Rest des Dorfes, und die zornigen Bauern hätten ihn fast aufs offene Feld gescheucht und mit ihren Mistgabeln verdroschen, hätte ich nicht Mitleid mit diesem dummen, stolzen Mann gehabt. Ich war damals ein kleiner Junge, doch meine Seele hatte ein scharfes Auge und war unverdorben, dafür war ich im ganzen Dorf bekannt. „Haltet ein“, rief ich den wütenden Bauern zu, „seht ihr denn nicht, dieser Mann ist wehrlos und dumm! Wenn ihr euch über seine Reden aufregt, so ist es, als würdet ihr den Worten eines Dreijährigen Beachtung schenken!“ Dann ging ich zu dem Boten hin, der verängstigt im Schlamm kauerte, half ihm auf die Füße und verschaffte ihm einen Esel, auf dem er unbehelligt davonreiten konnte. Daraufhin kam der Fürst Djing-Wang selbst in das Dorf, um den kleinen Jungen, der seinen Kurier vor den Ausschreitungen der Bauern bewahrt hatte, mit eigenen Augen zu sehen. Er fand Gefallen an mir und nahm mich mit, obwohl meine Familie mich nicht gerne ziehen ließ. Ich weiß noch, an jenem Nachmittage, an dem ich mich von meinen Eltern verabschiedete, waren schwarze Wolken am Himmel, es war kalt und Graupel fielen. Mutter weinte und wollte mir aber nicht den Mut nehmen, sie verbarg ihre Tränen. Ich versprach, sobald wie möglich zurückzukommen, was man eben sagt, als kleiner Junge, der das erste Mal das heimatliche Dorf verlässt. Und dann begann meine Zeit bei Djing-Wang. Zuerst war ich sein Berater, so jung ich war, doch meine Ratschläge wollte er nicht hören, denn er war wankelmütig und machtsüchtig. So wurde ich dann sein Archivar. Zuletzt mochte mich Djing-Wang nicht mehr, weil ich ihm gesagt hatte: Vortrefflich handelnde Führer sind nicht kriegerisch, vortrefflich kämpfende Führer sind nicht wutentbrannt, vortrefflich die Menschen verwendende Führer wirken unter ihnen. Ich sagte ihm auch: Durch rechtschaffende Leitung des Reiches, durch seltenen Gebrauch der Waffen, durch Ungeschäftigkeit erobert man die Welt. Er wollte nicht hören. Also begann ich, sein Archiv zu verwalten, und er schaffte sich einen Berater an, der ihm um den Bart ging und all seine waffenklirrenden Vorhaben guthieß. Und letztes Jahr fielen die Tartaren in sein völlig marodes Reich ein und verwüsteten es. Da schnürte ich mein Bündel, kaufte mir diesen Büffel hier und nun reite ich in die Berge. Die Menschen wollen es nicht hören: Nämlich, dass sie durch Nachgeben stärker sind als das Wasser, welches das Weichste und 107 Nachgiebigste der Welt ist und doch selbst große Gebirge aushöhlen kann. Die Menschen wollen sich lieber an ihrer Kraft berauschen und sinnlos wie Eber gegen Wände anstürmen. Und die Menschen sind so versessen auf die Moral: Dass dieses böse und jenes gut ist! Djing-Wang ließ jeden Tag auf dem Platz vor seinem Schloss Hunderte Verbrecher, Diebe, Lügner, Hehler köpfen und glaubte, so Recht und Ordnung aufrechtzuerhalten. Ich sagte ihm: Wenn auf der Welt jeder weiß, dass des Guten Wirken gut ist, dann ist das Böse da; wenn jeder weiß, dass des Tüchtigen Wirken tüchtig ist, dann ist das Untüchtige da. Wenn es kein Böse gäbe, mein lieber, guter Djing-Wang, woran wolltest du denn das Gute erkennen? Gäbe es keine Faulen, wer wäre fleißig? Du hast mich wütend angefunkelt, Djing-Wang, aber eine Antwort hast du mir nicht gegeben. „Nein, ich habe nichts zu verzollen, guter Mann.“ Ein Zöllner. Und dabei habe ich geglaubt, ich hätte schon jetzt den letzten Menschen meilenweit hinter mir gelassen. „Sie brauchen mein Gepäck nicht zu durchsuchen, guter Mann. Ich habe nichts, was sich verzollen ließe. Das hier ist also die Grenze, die Sie den ganzen Tag bewachen?“ Vielleicht hätte ich Zöllner werden sollen statt Bediensteter bei Djing-Wang. „Wo ich hin will, wollen Sie wissen? Ich will dahin, wo ich nie wieder einen Menschen sehe. Warum? Weil mich die Menschen ein Leben lang missverstanden haben und ich den Rest meines Lebens in Frieden verbringen will. Ich bin ein Lehrer, wissen Sie, jedenfalls hab ich immer einer sein wollen, einer, der den Menschen beibringt, wie sie richtig leben. Aber ich hab’s nur bis zum Archivar bei Fürst Djing-Wang gebracht. Jetzt fragen Sie mich, ob ich mich nicht zu Ihnen ins Zöllnerhäuschen setzen und Ihnen beim Abendbrot Gesellschaft leisten will. Sie sind neugierig? Nein, ich bin so müde, dass ich mit niemandem mehr reden kann, mit gar niemandem. Aber wissen Sie was? Schaun Sie mal hier. Das sind hundertzwanzig Blatt, von denen ich mich jetzt auch trennen möchte. Diese Papiere sind das Letzte, was mich an meine Zeit bei Djing-Wang erinnert. In den schlaflosen Nächten, die ich in DjingWangs Schloss verbrachte, wenn ich unglücklich war, dass mich niemand verstand, habe ich diesen Blättern meine Ansichten von einem erfülltem Leben und einem klugen Handeln anvertraut. Lesen Sie's, wenn es Sie interessiert, sonst benutzen Sie's als Brotpapier. Auf die letzte Seite habe ich die Quintessenz meines Lebens geschrieben, schauen Sie mal, Spruch 81: Wahre Worte sind nicht schön, schöne Worte sind nicht wahr. Tüchtige sind nicht beredt, beredte nicht tüchtig. Wissende sind nicht gelehrt, Gelehrte nicht wissend. Der Weise häuft nichts auf: Indem er so für andere wirkt, mehrt sich ihm selbst sein Besitz. Indem er so den andern gibt, bleibt für ihn selbst das Meiste. Was halten Sie davon? Wenn das Ihr augenblickliches Fassungsvermögen übersteigt, denken Sie noch mal darüber nach. Und wenn Ihnen das zu lästig ist, wie gesagt, nehmen Sie die Blätter als Brotpapier! Leben Sie wohl! Auf, meine Ochsen, jetzt geht's in die hohen Berge, auf uns wartet Schnee und Eis! Ach ja, Zöllner: Versuchen Sie nie, diese Blätter irgendjemandem zu zeigen – die versteht eh niemand!“ 108 Ecke Johannistrasse Noch ein Kuss. Ihn noch ein letztes Mal an mich pressen. Ja, jetzt wein ich sogar. Noch einmal: Ich liebe dich. Geflüstert. Ganz leise und geschluchzt. Du weinst auch, wie kommst du denn dazu, wir sehen uns doch morgen. Da haben wir dann die ganze Nacht für uns. Ich mag gar nicht sehen, wie du weinst, diese wunderschönen braunen Augen weinen sehen, das darfst du nicht. Du musst immer tapfer bleiben. Wir lieben uns doch. Warum muss man da weinen? Wir heulen ja richtig. Ich will gar nicht von dir weg. Aber ja, ich muss. Das war doch klar und da hilft’s Weinen gar nicht. Guck mal, so wurde ich erzogen. Was nichts hilft, muss nicht sein. Wie komm ich denn jetzt darauf? Ach Gott, manchmal geht mir das alles auf die Nerven. Nein, ich kann es gar nicht haben, alles, was mich von dir wegzieht, kann ich nicht haben. Du darfst mich jetzt nicht noch mal in den Arm nehmen, weißt du, worauf du dich da einlässt? Dann geh ich gar nicht mehr weg. Du bist so warm und hast mich so fest im Arm. Dein Hemd ist schon ganz durchnässt von meinen Tränen. Das wirkt ja fast, als kämst du aus dem Regen. Ich bin bei dir so geborgen, warum muss ich mich immer wieder losreißen? Man, was heul ich. Wie wir wohl aussehen? An die schmutzige Hauswand gepresst, hier, wo alles so grau ist. Wir sollten zufrieden sein. Siehst du, wieder meine Erziehung. Sei zufrieden mit dem, was du hast. Aber ich hab ja gar nicht, was ich hab, ich verlier es ja immer wieder. Ich press dich an mich, warum kann ich dich jetzt nicht loslassen? Dann seh’ ich dich auch an, du senkst deine Stirn auf meinen Kopf. Manchmal, wenn du mich im Arm hast, weißt du, werden wir zu Stein, bewegungslos, und, weißt du, dann hab ich das Gefühl, die Welt dreht sich um uns herum, ohne uns. Nun schaukelst du mit mir, wie mit einem ganz kleinen Kind und streichst mir durchs Haar. Ich hab keine Tränen mehr. Die hab ich jetzt alle dir gegeben. Stell dir vor, du hast jetzt meine Tränen, das passt doch, wo du alles andere auch schon von mir hast, mein Herz, meine Seele, ach klingt das alles so aufgeblasen, guck mal, so wurde ich erzogen. Wieso rede ich eigentlich immer über meine Erziehung, geht dir das auf die Nerven? Ob wir auch mal so sein werden wie unsere Eltern? Ach stimmt, das können wir ja gar nicht. Wir beide werden immer am Rand der Gesellschaft stehen, aber weißt du, das stört mich gar nicht, ich hab doch dich. Tatsächlich, ich heul schon wieder. Also hast du noch nicht alle meine Tränen. Du bekommst jetzt den Rest. Du lächelst. Ach, ich liebe dein Lächeln so. Ich lehne meinen Kopf an deinen Hals und du flüsterst mir irgendetwas zu, du hast ja recht, wir sehen uns ja schon morgen wieder. Was? Ja, die Nacht feiern wir durch. Jetzt kichere ich sogar. Weißt du, warum? Weil ich mich darauf freue, übermorgen so unausgeschlafen glücklich zu sein. Den ganzen Tag werd ich müde und glücklich sein und du auch. Ich küss dich. Deine Lippen sind so weich und du bist so warm, die Geborgenheit ist eine Droge, weißt du das? Du bist eine Droge. Ich krieg die schrecklichsten Entzugserscheinungen. Du bist so wunderbar. Ich könnte alles an dir aufzählen, ganz besonders deine Arme, diese starken Arme ... Immer wieder kommen Tränen, dass es so viele davon gibt. Sind Verliebte eigentlich verrückt? Ich lächele aber auch, irgendwie sind wir schon sehr glücklich, oder? Ich bin es, ich hab dich. So schmalzig klingt das. Mir wurde beigebracht: Gefühlsduseleien bitte vermeiden, dir auch? Wir sind ja Jungen. Wir dürfen ja nicht weinen. Aber ich weine, ich weine, weil ich dich hab. Weißt du, manchmal kommt es mir so vor, als könnest du mich gegen die ganze, böse Welt beschützen. Manchmal genieße ich es, dich mitten auf der Straße zu küssen, weil mir keiner von den Leuten, die mich dann böse 109 angucken, etwas kann. Weil du da bist. Wir sind zwei gegen die Welt, weißt du das? Zwei, denen die Welt nichts kann. Weil wir zusammen sind. Ich komm immer noch nicht von dir los. Du bist so groß, dass ich dich wert bin ... Ist dir das peinlich, dass ich so ein Zeug rede? Weißt du was? Du bist der Erste, dem ich wertvoll bin. Ich kann das irgendwie gar nicht verstehen. Du nimmst mich wieder in den Arm, du sagst mir, wie wundervoll ich sei ... Ach, was hab ich denn geredet. Du lächelst mich an, du hast so ein liebevolles Lächeln. Warum sind wir eigentlich unnatürlich? Nein, ich schneid dieses Thema nicht schon wieder an. Alle, denen ich von dir erzählen würde, würden sagen, wir wären unnatürlich. Ich find das so schrecklich. Aber ich bin auch dankbar, weißt du? Es ist ein tolles Gefühl, gegen die ganze Welt zusammenzuhalten, gegen diese ganze beschissene Gesellschaft. Weißt du, früher wollte ich nicht so sein, wie ich bin, aber jetzt bin ich froh, so zu sein ... nicht nur froh, weil ich dich hab, sondern froh, dass ich Liebe erleben kann, die sich um gar nichts schert. Weißt du, die andern Jungen, die ihre ganz normale Freundin kriegen, wissen ja gar nicht, wie es ist, sich zu umarmen und ringsherum schauen alle feindlich. Oder irritiert. Oder ärgerlich. Uns wird es schwerer gemacht, zu uns zu stehen, und wir stehen zu uns, und zueinander. Darauf bin ich stolz, weißt du. Liebe hat auch etwas mit Trotz zutun, das hätte ich vorher gar nicht gedacht. Aber es stimmt. Du hast Recht, ich muss jetzt wirklich los. Aber es fällt mir gar nicht mehr so schwer. Du lächelst. Morgen Abend gucken wir dann noch mal Titanic zusammen, okay? Das müssen wir unbedingt machen. Der Film passt irgendwie zu uns, findest du nicht? Auch wir zwei lieben uns, über alle Vorurteile unserer Gesellschaft hinweg. Ich lächele und hab immer noch Tränen in den Augen. Du auch. Wir beide sind tapfer, da kann man gar nichts sagen. Was meinst du, noch einen letzten Kuss? Es beginnt zu regnen, man müsste ein Foto von uns machen. Im Nieselregen in irgendeiner grauen Industriesiedlung lehnen zwei Jungen an der Wand und küssen sich. Ach, weißt du, du machst mir Mut. Vielleicht sollte ich es den ganzen Arschlöchern auch einfach sagen, was meinst du? Du hast Augen, die müssten verboten werden, so schön sind die. Weißt du was? Wir feiern irgendwann mal Hochzeit. Nur um diese ganzen Idioten zu schockieren. Nein, war nicht ernst gemeint, aber warum nicht? Ich lad meine gesamte Spießer-Familie zu dem Fest, damit sie was haben, worüber sie sich’s Maul verreißen können. Das würde ein Spaß. Ich muss jetzt los, wo ist mein Fahrrad. Es dämmert schon. So ein Herbstwetter. Grau, Nieselregen und Dämmerlicht. Na, mach’s dann gut, Süßer. Mir fällt eine Zeile aus “My heart will go on” ein: “Love can touch us one time and last for a life time. And never let go till we're gone.” Ach, weißt du, das ist so wahr. Das man so verliebt sein kann. Ich lieg die ganze Nacht wach und denk an dich. Mach ich wirklich. Wird mir das morgen lang werden bis zum Abend. Komm doch lieber um halb Fünf, ja? Ich krieg meinen Alten schon irgendwie aus der Wohnung geschubst. O Gott, manchmal hasse ich ihn. Dieser blöde Macho. Was der wohl machen würde, würde ich’s ihm sagen? Na gut, ich schwing mich aufs Fahrrad, halt die Ohren steif, du auch. Tschüss. Halt, warte, meine Mütze! Die muss hier irgendwo rumliegen. Das kommt raus bei soviel Küsserei. Hier, danke. Ich hab mich zu was entschieden: Ich geh gleich in die Küche, wo mein liebenswerter Vater sein Abendessen einnimmt, und erzähl ihm, dass ich gar nicht bei der Handball AG war, hm? Ich sag dann: Weißt du was, Papa, dein Sohn ist eine Schwuchtel, oder wie immer du das nennst, na, Papa, was sagst du jetzt? Genau so mach ich das. 110 Sommer 2006 Farben Die Nacht, der Tod sind schwarz und Leben, das ist grau. Die Schlösser haben Glanz und Maibäume sind grün und ein Skelett ist weiß und weiße Wolken ziehn ... Das All ist dunkel nur und lieblich ist die Au. Bunt ist Mittsommernacht, mit Schmetterlingen blau. Der Herbst ist braun, ist gelb, die Blätter raschelnd flieh'n – dann ist der Tag vorbei, der uns so strahlend schien. Oh nichts ist ewig hier, kein Gold, kein Morgentau. Genieß die Zeit, die bleibt, sie ist so schnell vorbei. Lass alles Wünschen sein – dem Leben nur verzeih', verzeih' dem Trug der Welt, verzeih' dem Farbenrausch. Denn alles Bunte täuscht, es ist ja doch kein Trost. Vertrau' dem Stein dich an, der alt und grün bemoost. Der Stein ist klug wie du, nur seinen Worten lausch'. Die Liebe Was ist dies tiefste Hoffen? Was ist dies Paradies? Vermag uns noch zu trösten in finsterstem Verließ. Ein Durst, der ganz unstillbar. Ein Hunger, der uns treibt. Verleiht uns goldne Flügel, wenn nichts zurück mehr bleibt. Wer kann es schon erklären? Wer fasst es in ein Wort? Wodurch er wird zum Schlosse, für uns, der dunkle Ort. Wonach wir ewig streben, was uns am Leben hält, vermag uns nicht zu schenken die graue leere Welt. Was wir für immer wünschen, es ist so flüchtig nur ... Die goldnen Atemzüge ... Ein ewiglicher Schwur ... Der Zauber muss verfliegen. Kein Glück, das immer währt. Und es ist diese Wahrheit, die mir mein Herz beschwert. Die Sehnsucht, unerfüllbar ist sie und wird sie sein. Denn Nähe ist unmöglich. Wir bleiben doch allein. Es ist die tiefe Trauer, die uns ins Herz sich gräbt, wir sehnen uns nach etwas, was nie ein Mensch erlebt. 111 Wunsch Ich wünsch dir, dass du jedes Spiel gewinnest, dass du dich retten kannst aus jeder Flut, dass du dich auf die eigne Kraft besinnest, ich wünsche dir vor allen Dingen Mut! Erlaube niemandem, dich zu verwirren. Hör auf dein Herz: Du musst nach vorne sehn! Lass dich von niemandem darin beirren: Du findest deinen Weg und wirst ihn gehn! Vor dir da liegt ein Kampf, und du wirst siegen! Und ist der Drache groß und fürchterlich und speit er Feuer: Dir muss er erliegen! Du kannst dir sicher sein: Ich glaub an dich! Mond am Meer Im Meer versunken ist das gold'ne Licht. Das Himmelszelt wird samtenblau umspannt. Die Flut am grauen Sand sich zischend bricht, die ersten Sterne blitzen über'm Land. Und rund und voll beglückend strahlt der Mond. Die Nacht beschattet Dünen schwarz und weich, der Wand'rer wird mit stillem Glück belohnt, er sieht das Meer, fühlt sich beschenkt und reich. Ein Frieden legt sich leise auf die Welt, voll Liebe segnet jeden Mensch die Nacht, ja, jeder wird umarmt vom Himmelszelt, mit stiller Freude jeder wird bedacht. 112 Sahara Ein Wind, der wirbelnd durch die Wüste geht, der wütend heiße sand'ge Nebel haucht, die tanzend gelbe, glüh’nde Wolke weht und Karawanen ganz in Staub eintaucht. Viel höher, überm Sandgestöber, zieht ein müder Adler Runden leis und stolz. Hungrig, traurig, lauscht er des Windes Lied, er sehnt sich nach dem Horst aus altem Holz. Er sehnt verzweifelt sich nach Schatten kühl, ihn dürstet nach dem klaren, frischen Quell. Sein Blick irrt in des Windes Sandgewühl, die Sonne brennt und ist so strahlend hell. Die Kraft in ihm lässt nach, er fällt, er sinkt, es wirft ihn hin und her der Flammenwind. Ganz still er im lodernden Brand versinkt, es quält das Feuer ihn – und er wird blind. Der Abgrund Ich falle Und nichts kann mich halten Alle Menschen sind nur Gestalten Sie kennen mich nicht Sie alle Ich aber falle Alle Menschen sie sind nur Schatten Alles Leben es ist Traum Ich falle durch lichtlosen Raum Wir alle weinen Wir alle ermatten Ich falle Ich bin auf der Welt auf die du mich zwangst Wir alle gehen gebeugt Uns treibt Angst Die Menschen sie sind nur Gestalten Sie kennen mich nicht Sie alle Ich fühl es Nichts kann mich halten Ich falle und falle 113 Das leise Leben der Wolken Das Leben ist leise. Manchmal ist es so still, dass man hinhören muss, um es zu vernehmen. Es verflüchtigt sich wie Rauch. Und es geschah mir manches Mal, dass ich mein Leben nicht mehr finden konnte in dem Wirbel der Welt. Wenn ich andere Menschen, die ich nicht kenne, erblicke auf der Straße oder wo immer, fühle ich Angst, weil sie mir wie Puppen erscheinen, wie Marionetten in einem Puppentheater. Oder wie Wolken. Mir ist oft so, als ob alle Menschen Wolken wären, die sich nach geheimen Gesetzen, von denen sie selbst nichts ahnen, teilen und zusammenfinden, die sich vereinen und auseinander gleiten, getrieben vom Wind, willenlos. Manchmal beobachte ich die bunten Autos, die über die Straße fahren, und mir wird klar, dass in jedem der Autos Menschen sitzen, Menschen mit Freude und Liebe, Trauer und Hass. Manchmal möchte ich den ersten Menschen, der mir begegnet, fragen, ob er glücklich sei, denn ich wüsste es so gerne. Ich kenne manche Menschen, manche genauer, manche nur vom Sehen. Kenne ich auch nur einen so gut, dass ich ihn verstehen könnte? In den Zeiten der Angst glaube ich das nicht. Ich begegne öfter einer Kassiererin in einem Geschäft, wo ich einkaufe. Als ich neulich meine Einkäufe aufs Band legte, sagte sie zu dem Kunden, der vor mir in der Reihe war: Ich sitze jetzt seit sieben Uhr hier und muss noch bis acht Uhr arbeiten. Und morgen um sieben komme ich wieder. Da hätte ich weinen mögen, weil es mir so leer erschien, das Leben dieser Frau, und ich bangte um mein eigenes Leben. Würde es auch einmal so leer sein? Nun ist es Herbst und die Blätter treiben auf den Straßen. Für mich ist Herbst wie nach Hause kommen, es kündigt sich der dunkle Winter an, und wenn ich durch das Laub gehe, kommen mir Kindheitserinnerungen und ehemalige tröstliche Hoffnungen auf längst vergangene Weihnachtsfeste. Ich spüre auch die Kälte an meinen Schultern, die jeden Oktober wieder neu ist nach der lauen Luft des Sommers. Ich versuche zu begreifen, was für mich von Wert ist: Welche meiner Taten werde ich gutheißen, wenn ich zurückblicke? Was werde ich verdammen? Manchmal plagt mich der brennende Wunsch, mir als Dreißigjährigem zu begegnen und von mir zu erfahren, wie ich handeln soll. Die Welt ist leer. Das heißt, die Welt quillt über von Pracht, von Himmel, Nacht und Wind, aber mir erscheint sie leer, weil ich keine Geborgenheit darin finde und ich deshalb die Schönheit der Welt letztlich nicht schätzen kann. Neulich Abend stand ich vor einer Wiese, auf der eine Herde Kühe im Abendlicht weidete. Es dämmerte bereits und da fühlte ich: Diese Welt ist leer, wunderschön und leer. Für mich, denn ich bin allein auf der Welt, getrennt von der Welt. Weil ich keinen Bezug zur Welt habe, keine Berührung mit ihr. Ich sitze im Kino und sehe einen schwermütigen Film. Das ist mein Gefühl von der Welt. Das Leben zieht an mir vorbei wie bunte Gemälde in einer Ausstellung; und so, wie man die Blumen auf den Bildern der Maler nicht berühren kann, kann ich die Steine, die Bäume, die Blätter nicht berühren. Ergreife ich einen Kiesel und wiege ihn in meiner Hand, so will es mir scheinen, als wöge ich einen magischen Gegenstand – ich bin unfähig, den Kiesel zu halten und ihn einen Kiesel sein zu lassen. Nun, da ich diese Seiten fülle, fühle ich die Angst stärker denn je: Sie ist wie Eis in meiner Seele. Mich ängstigt mein Alleinsein so sehr und die Zeit. Die Zeit, weil sie nie ruht, weil jeder Augenblick ein weiterer Augenblick einer endlosen 114 Reihe von Augenblicken ist, weil jeder Augenblick für mein ganzes Leben bedeutsam ist. Die Anwesenheit der Zeit quält mich ununterbrochen, weil sie auf jede Sekunde pocht, weil jede Sekunde einmalig ist und keine Sekunde, kein Augenblick sich je wiederholt und ich mich vielleicht einmal sehr nach diesen Augenblicken zurücksehnen werde, welche ich jetzt so unbesonnen verstreichen lasse. Und ich weiß doch nicht, wie ich mich der Augenblicke würdig erweisen kann. Ich weiß nicht, wie ich diese Augenblicke so mit Sinn füllen kann, dass ich später mit mir zufrieden sein werde. Neulich sah ich den „Besuch der alten Dame“ und was mich zutiefst beschäftigte, war die Erkenntnis in diesem Werk, dass nämlich das Entscheidende, alles Verändernde, alles für immer Prägende in der Jugendzeit geschieht, dass einen die Folgen des jetzigen Handelns später unerbittlich einholen werden. Ich fürchte mich. Es gibt eine Stelle in diesem Stück, wo sich Alfred damit entschuldigt, dass er jung und unbesonnen gewesen sei, aber diese Entschuldigung zählt nicht vor dem Schicksal. Das dachte ich bereits, als ich Werfels „Abituriententag“ las: Sobald der Mensch imstande ist, bewusst Entscheidungen zu treffen, ist er voll und ganz für diese Entscheidungen verantwortlich. Mir macht das Angst. Ich schreie um Hilfe, würde es jedenfalls tun, wüsste ich nicht, dass es keine Hilfe gibt. Ich habe oft das Gefühl, der einzig Lebendige zu sein. Alle anderen Menschen kommen mir fremd vor, eilig und beschäftigt, wie aufgezogenes Spielzeug, und alle sind von der Sinnhaftigkeit ihres Tuns überzeugt. Bei mir gibt es kaum etwas, was mir nicht zutiefst widerwärtig und sinnlos vorkommt, weil es kein Licht ist. Gleichgültig, was ich tue, ob ich für die Schule arbeite oder mich anders beschäftige, alles, was mir keine Antwort, keinen Trost gibt – und nichts gewährt mir Antworten oder Trost –, erscheint mir sinnlos. Das macht mich mürbe und müde, unendlich müde. Das Gefühl, dass nur eine Erklärung für das Leben, so wie es ist, mir helfen könnte, und die tiefe Überzeugung, dass es eine solche Erklärung nicht gibt, zerfressen mich innerlich. Es stimmt ja: Als ich einmal versuchte, jemandem diesen meinen inneren Kampf zu beschreiben, meinte dieser, in meinen Gedanken kreiste ich schließlich immer nur um mich selbst – ich solle aus diesem Kreiseln herauskommen und mich für etwas außerhalb meiner selbst einsetzen. Das traf mich, denn es stimmt ja: Ich betrachte mich in fast schon manischer Weise andauernd selbst. Vielleicht ist mein Leid meine Schuld. Vielleicht würde alles enden, wenn ich meine Kräfte in andere Vorhaben steckte. Dann ist das alles also meine Schuld. Meine Schuld. Das Wort Schuld bestürmt mich. Meine Schuld, Schuld, Schuld. Wieso tue ich das nicht, wieso laufe ich nicht hinaus und gründe eine AmnestyGruppe und arbeite dafür? Weil in mir ein Sog ist, weil in mir ein Vakuum besteht, das mich kaum für andere Bereiche freilässt, ein Vakuum, das mich zusammenzieht, das mich täglich unsägliche Kraft kostet. Ein Vakuum, das mich immer fürchten lässt, dass ich irgendwann zusammenbreche. Ich kämpfe täglich um mich selbst, gegen den übermächtig erscheinenden Drang, aufzugeben, mich dem Sog zu überlassen. Ich muss durchhalten, weitergehen. Ich will herausfinden, ob es nicht irgendetwas gibt, weswegen es sich zu leben lohnt, irgendeinen Trost auf dieser Welt. Ich will es herausfinden, ich darf nicht aufgeben. 115 Weitergehen Du wirst sehen sag ich mir manchmal du wirst sehen tröst ich mich manchmal du wirst sehen es wird gehen Die Tage gleiten vorüber ich laufe durch sie hindurch früher wenn du traurig warst sag ich mir manchmal gingst du auch weiter Du wirst sehen du wirst sehen du wirst auch diesmal weitergehen ich bin leer in einem leeren Land so fühl ich manchmal du musst gehen du musst gehen sag ich mir dann du musst immer weitergehen Nur vielleicht fürchte ich manchmal wenn ich immer weitergehe stirbt mein Herz im Weitergehen im Weitergehen Und doch: Ich weiß ich versink in der Trauer ich ertrink in dem Schmerz bleib ich stehn ich muss weitergehen weitergehen Glaub mir Glaub mir die Welt ist bunt ist bunt und schön glaub es mir nur wenn du's nicht siehst ich glaub’s mir auch und seh es nicht Erinnere es vielleicht aus goldnen Augenblicken die Welt ist bunt und schön Glaub mir selbst ein Winterabend und ein grauer Regentag sind schön – einmalig schön Du wirst dich einmal nach Winterabenden sehnen und nach den grauen Regentagen deiner Jugend glaube mir 116 Augenblick Ich schau zum Fenster hinaus und seh wie der Wind durch die Bäume weht ich fühle: Welch ein Augenblick Die Wände sind weiß und hart doch draußen ist die Luft weich ich schau zum Fenster hinaus und fühle: Welch ein Augenblick Ich staune: Wie lange wie lange dieser Augenblick währt er hält mich gefangen Ich schaue zum Fenster hinaus seh auf die Wolken auf das wehende Laub welch ein Augenblick Blind Ich sehe wie das Licht erlischt die Sonne versinkt im Horizont in der Dunkelheit weiß ich bin ich einsam weil meine Augen die Anderen nicht mehr sehen Ich wandere im Zwielicht bis der letzte helle Schein vergeht bis die Nacht mich ganz umgibt dann sehe ich den Weg nicht mehr dann finde ich den Weg nicht mehr Dann lauf ich blind über Hügel durch die Felder meine Schritte werden schwer dann seh ich den Weg nicht mehr Dann stürze ich wohl über einen Stein bin ich an einer Küste lauf ich vielleicht ins Meer denn in der Nacht seh ich den Weg nicht mehr 117 Ich und das Meer Ich bin zu weit hinausgeschwommen ich sehe die Küste nicht mehr jetzt sind wir allein ich und das Meer Am Himmel drohen graue Wolken im Wasser gehen Wellen schwer ich bin so allein so allein im Meer Ich darf mich nicht treiben lassen darf mich dem Wasser nicht überlassen ich bin so müde so müde und schwer Die Wellen tosen und türmen sich ich darf mich nicht aufgeben ich will überleben ich kämpf mit dem Meer kämpf gegen das Meer Die Wellen rollen und rauschen ich darf nicht lauschen denn ich kämpf mit dem Meer kämpf gegen das Meer 2007, 17 Jahre Die Götter Kengiz, mein Freund, hat eine Idee. Ein großes Boot müsste es sein. Nein, habe ich gesagt, die Alten sind schon gefahren, mit viel größeren Booten und sind nie zurückgekehrt. Kengiz meint: Vielleicht seien sie ja da geblieben, in dem verwunschenen Land hinter dem Meer. Aber das kann nicht sein, habe ich ihm geantwortet: Sie hätten Sehnsucht nach uns gehabt. Sie wären zurückgekommen. Die Alten sind nicht angekommen. Die Alten sind im Meer verloren gegangen. Kengiz und ich sitzen am Brunnen unter einer Palme. Ein heißer Tag. Wüstenstaub in der Luft. Wie viele, Kengiz, haben sich das schon vor uns gefragt: Was mag wohl hinter dem Meer sein. Wir kennen die Oasen und die Wüste, in der wir umherirren – aber stets nur bis an die Küste. Was mag hinter dem Meer sein? Meinen Vater hatte ich das mal gefragt. Hinter dem Meer liegen Berge, sagte er. Ich verstand nicht. Das sind hohe Steine, sagte er. Zehnmal höher als die höchsten Palmen seien die kleinsten, sagte er. Ich fragte ihn, ob er je Berge gesehen habe. Nein. Aber sein Vater habe ihm das erzählt. Ich bin zum Ältesten gegangen. Was ist hinter dem Meer, habe ich gefragt. Der Älteste war kleiner als ich und ging gebückt. Er lächelte. Hinter dem Meer. Da wohnen die Götter, Kind. Deshalb darf niemand dorthin gelangen. Außer mit der 118 letzten Barke, mit der wir alle die letzte Fahrt antreten, mit der vielleicht. Er strich mir über den Kopf. Es ist Mittag und gewittert. Kengiz tanzt im Regen. Ich habe Angst vor dem Donner. Ich erzähle Kengiz von dem Ältesten. Die Götter, staunt Kengiz. Ja, die wohnen gewiss über dem Meer. Plötzlich strahlt er mich an. Lass uns die Götter suchen, sagt er. Das geht nicht, meine ich. Kein Mensch könne zu den Göttern gelangen. Kengiz bleibt stehen und schaut mich an. Dann fährt er fort, sich im Regen zu drehen. Mutter, was ist jenseits des Meeres? Sie schaut mich an und runzelt die Stirn. Ungeheuer, sagt sie. Die kleine Jungen essen, die nicht ins Bett gehen wollen. Dann lacht sie. Sie weiß es nicht. Ich kann nicht einschlafen. Die Götter sind gefährlich. Ihr Zorn kann die Winde entfesseln, die dann den Sand aufwirbeln und die Menschen jagen. Aber die Götter lieben starke Menschen, die tapfer sind. Ich kenne die Geschichte von Tarnuk, dem Göttergast: Vor langer Zeit lebte Tarnuk in Malwit, der Wüstenstadt. Eines Abends, als er den Sonnenuntergang beobachtete, erschien ihm die Göttin des Todes. Verlass die Stadt, sagte sie zu ihm, und suche Bergo, den Feuergott. Er hat meinen Sohn verletzt. Wenn du ihn nicht in zwei Monden findest, wird Malwit aussterben. Tarnuk ging auf Wanderschaft. Am dritten Tag erreichte er das Meer. Es war wild und schäumte und kein Schiff hätte es befahren können. Da trank Tarnuk es aus. Aber damit nicht genug – eine Seeschlange, die er am Grunde des Meeres aus einem hundertjährigen Schlaf erweckt hatte, besiegte er heldenhaft. Dann wanderte er einen Mond durch das Meeresbecken. Am anderen Ufer warteten die Götter auf ihn. Er wurde fürstlich empfangen und bekam ein königliches Geschenk: Ihm wurde das Feuer geschenkt. Ich sehe durch die Nacht und wälze mich: was für eine schöne Geschichte. Ich und Kengiz wären den Göttern gewiss auch willkommen. Wenn wir nur zu ihnen kämen. Das Meer austrinken. Das müsste man können. Was ist hinter dem Meer, frage ich Kogo, mein Äffchen. Aber Kogo antwortet nicht. Die Frauen sitzen am Brunnen und klatschen. Man erfährt viel, wenn man einfach dabeisteht und zuhört. Sie lachen, wenn ich sie frage, was hinter dem Meer ist. Das wollen alle Kinder wissen, sagen sie. Komm aber bloß nicht auf die Idee, es herausfinden zu wollen. Sonst schwimmst du uns noch davon. Sie scherzen. Früher wollten ich und Kengiz schwimmen. Aber so klein sind wir nicht mehr. Wer das Meer nicht austrinken kann, der kann erst recht nicht durchschwimmen. Eine Brücke bauen, Kengiz. Wir sitzen wieder am Brunnen. Kengiz schüttelt den Kopf. Er ist ungeduldig. Und eine Brücke zu bauen kostet viel Zeit. Wir haben ein Floß gebaut. Aus Bambusstöcken. Wir müssen uns fortschleichen, wenn wir fahren wollen. Ich habe ja die Frauen gehört: Sie sind so ängstlich. 119 Plötzlich will Kengiz nicht mehr. Wir wollten morgen Abend aufbrechen. Bei vollem Mond. Kengiz ist ein Angsthase. Mutter ist sehr wütend auf mich. Das kam so: Ich habe unseren Geheimplan Kilia erzählt, das ist meine Schwester. Sie ist noch ganz klein. Ich war nämlich aufgeregt letzte Nacht und konnte nicht schlafen. Wie Götter wohl aussehen mögen? Da wollte Kilia mitkommen. Das geht aber nicht. Denn der Älteste hat mir erzählt, dass keine Frau zu den Göttern gelangen kann, und das kam so: Eine Menschenfrau hat einmal den Silberschatz der Götter geklaut. Und seitdem sind die Götter sehr misstrauisch gegenüber Frauen. Ich find es ein bisschen schade, wegen Mutter und Kilia. Aber so ist das eben. Und genauso hab ich das Kilia auch erklärt, aber sie hat mir gar nicht zugehört, sondern geweint. Und heute hat sie es Mutter erzählt. Ich musste das Floß meiner Mutter zeigen und die hat es kaputtgemacht – mit drei Fußtritten. Und ich musste ihr schwören, dass ich nie wieder versuche, über das Meer zu kommen. Dabei will ich doch nur die Götter sehen. Sie meinte nur, das fehlte ja noch. Sie ist ungerecht. Habe Kengiz zwei Tage nicht gesehen. Wo steckt er bloß? Kengiz ist todtraurig. Das schöne Floß. Aber ich glaube: Er wäre doch nicht mitgekommen. Die letzten zwei Tage hat er sich versteckt. Wahrscheinlich muss ich irgendwann alleine fahren. Ein Wüstenwind zieht herauf. Die Angst ist groß. Es gab Winde, nach denen alle Hütten im Sand versunken waren und die Menschen gestorben sind. Der Älteste betet. Er bittet den Sturm, einen anderen Weg zu nehmen. Kengiz meint, man bräuchte nur Flügel. Dann würde einen der Wind davontragen – bis zu den Göttern. Ich spüre, wie der Wind kommt. Er rüttelt an den Dächern und pustet Sand. Der Älteste betet. Auf dem Meer ist der Sturm auch. Die Wellen brausen. Wir sind im Haus des Ältesten, das ist das größte Haus. Auf einer Düne. Der Wind tobt. Die Frauen singen. Sie singen, um den Wind zu besänftigen. Sie singen, um uns Mut zu machen. Sie singen, damit ihre Kinder sich nicht fürchten müssen. Ich erwache im Haus des Ältesten. Vor der Tür ist alles voll Sand, aber kein Wind mehr. Die Sonne leuchtet. Alles ist hell. Das Dorf sieht arg mitgenommen aus. Aber es steht noch. Der Älteste betet wieder. Er dankt dem Wind. Die Götter waren da. Das sagt sogar der Älteste. Ich glaube, er hat Angst. Ich hätte das nie gedacht. Dass die Götter zu uns kommen. Kengiz meint, sie wollten gar nicht zu uns. Kengiz weiß alles besser. Kengiz meint auch, dieses Gefährt, was wir am Strand gefunden haben, sei kein Schiff. Dabei ist es das Schiff der Götter. Götter fliegen, sagt Kengiz. Die schwimmen nicht übers Wasser. Kengiz meint, es sei ein verstorbener Luftelefant, mit dem die Götter durch die Lüfte reiten. Warum sollten sie denn ihren Elefanten fallen lassen, frage ich ihn. Das weiß er auch nicht. 120 Aber auch der Älteste ist sich sicher: Das ist ein Schiff. Aber so eines, wie wir noch nie gesehen haben. Es muss von den Göttern sein. Eigentlich ist es wirklich ein Elefant. Aber aus Holz. Alle Männer klettern jetzt darauf herum. Wunder über Wunder. Ich habe zwei Steine gefunden, die haben an den Rändern gelb geglänzt, an der Oberseite waren sie weiß, und in diesem Weiß waren schwarze, sich drehende Stöckchen. Sicher Zaubersteine. Ich gab sie dem Ältesten. So viele Dinge, für die wir keine Namen haben. Große Fetzen von etwas, was aussieht wie Affenfell, aber weiß und ohne Haare. Dieser Stoff ist um Baumstämme gewickelt, die aus dem Götterschiff hervorragen. Es muss Krieg sein bei den Göttern. Das sagt der Älteste. Das letzte Mal war Krieg bei den Göttern, bevor es die Menschen gab. Dann erschufen sie Keto, den Gott des Friedens, der den Streit schlichtete und die Götter versöhnte. Er sollte verhindern, dass die Götter je wieder zornig aufeinander würden. Ob diesem guten Gott etwas zugestoßen war? Krieg, das meint auch Kengiz: Die Götter lassen ihre Zauberdinge nicht einfach auf die Erde fallen. Ich habe Angst. Der Älteste betet. Er hat auch Angst. Dieses Götterding ist wie das Haus des Ältesten: Es hat mehrere Räume. Ich und Kengiz steigen hier herum. Man muss sehr aufpassen, denn das Götterhaus hat dünnes und geborstenes Holz, an dem man sich verletzen kann. Man kann sich toll verstecken hier. Ich erwache vom Geschrei. Sie haben Götter gesehen, rufen sie im Dorf. Sie haben große Angst. Es müssen sehr wütende Götter sein. Ich laufe hinaus. Meine Mutter brüllt mir zu, ich soll zu ihr gehen. Ich höre viel Gerede. Diese Götter sind weiß – so weiß wie die Affenhaut ohne Haare an ihrem Schiff. Und sie sind sehr wütend. Der Älteste betet und die Frauen singen. Um den Brunnen sind alle geschart. Die Götter haben Blitze mit sich, die sie aus der Hand werfen können. Einer dieser Blitze hat Tono getroffen: Er ist sofort gestorben. Dann sind alle weggelaufen. Tono war ein Freund von mir. Ich weine. Mutter auch. Dass die Götter wütend sind, wussten wir schon immer. Wir haben solche Angst. Den ganzen Tag singen die Frauen. Güte und Erbarmen, singen sie, Güte und Erbarmen. Abends kommen die Götter. Sie reden laut in fremden Sprachen. Aber sie werfen diesmal nicht mit ihren Blitzen nach uns. Vielleicht zeigen sie Einsicht. Wir umringen sie. Tanzen vor Dankbarkeit. Ein paar von ihnen lachen. Der eine da ist sicher der Feuergott. Ich zeige ihn Kilia. Sie staunt. Wir bewirten die Götter. Kengiz fürchtet, die Todesgöttin ist mit den übrigen Göttern nicht gekommen. Wir können sie nicht finden. Sie wird von den anderen Göttern übergangen worden sein, denkt Kengiz. Das würde ihr gar nicht gefallen. Am nächsten Morgen werde ich wieder von Schreien geweckt. Ich laufe hinaus, finde Mutter. Was die Götter nur wollen. Sie treiben uns zusammen, wie Kamele. Wollen sie uns mit sich nehmen? Was Kengiz dazu sagen würde? Wo war Kengiz? 121 Am Strand steht einer ihrer Elefanten. Sie wollen wirklich mit uns schwimmen. Der Elefant ist größer als der andere. Und strahlt weiß in der Sonne. Und mit Booten bringen sie uns hinüber. Sie fahren wirklich mit uns hinaus – hinaus in die Welt der Götter. Auf dem Schiff fand ich Kengiz – seine Wangen waren gerötet vor Aufregung. Er umarmte mich und wies mit großen Augen auf das offene, weite Meer vor uns. Die Frauen singen wieder. Ein frohes Lied. Ihre Stimmen hallten durch den Morgennebel und erfüllten die ganze Bucht. Philadelphia, 19. 4. 1834. Die Stimmen der Frauen erfüllten die ganze Bucht ... Der alte Diener, den die Weißen „Jack“ nennen, wacht auf. Er bleibt mit geschlossenen Augen liegen. Er will noch nicht erwachen. Er möchte noch in seinem Traum bleiben. Durch die Läden seines halb geöffneten Fensters hört er Pferdegetrappel. Es sind die Kutschen der Händler. Er will noch nicht aufwachen. Auf einmal sieht er alles vor sich: Kengiz und sich vor dem Brunnen. Das Götterschiff. Er glaubte, vergessen zu haben ... Die Ana schleicht durch den Flur. Er will nicht erwachen. Was ist hinter dem Meer. Der Älteste sagte: Die Götter. Der Älteste! Er hatte gebetet. Das Sonnenlicht! Die Hütten! Warum jetzt? Warum nach so langer Zeit. Die Ana schlurft. Auf einmal geht es nicht. Er denkt, er kann nicht. Aufstehen und in der Küche Feuer machen. Es geht nicht. Er ist bei Kengiz und bei Kilia. Dann sagt er sich: Was soll's. Er hört die Ana. Es ist dieselbe Sonne, denkt er. Dieselbe Sonne, die damals schien. Er öffnet die Läden. Auf den Dächern der Häuser sieht er den orangeroten Schein. In der Küche steht die Ana. Sie ist stumm geworden. Und alt. Als er hierher kam, war sie Dienstmädchen und hat jede Nacht nach ihrem Kind geschrien. Sie schreit schon lange nicht mehr. Er weckt die Kinder. Sind die jetzt in dem Alter, in dem er damals war? Es ist Sonntag. Jack muss die Droschke bereit machen. Mr. White fährt jeden Sonntag mit seiner Familie aus. Wenn die Herrschaften weg sind, will er zurück in seine Kammer. Er will sich erinnern. Es ist laut. Es ist Mittag und die Straße vor seinem Fenster ist belebt. Frauen in bunten Kleidern und großen Hüten spazieren schwatzend durch die Stadt. Was ist hinter dem Meer? Hinter dem Meer waren Städte. Die Städte der Götter. Und es waren Orte, die wahrhaft Göttern gebührten. Zauberstädte. Und auf einmal war Jack allein. Allein gelassen, in den Händen der grausamen Götter, denen er dienen sollte. Kengiz! Du hättest nie so neugierig sein dürfen. Jack streckt sich auf seiner Pritsche aus. Götter kommen nur, wenn man sie ruft. Dann denkt er: Das kann nicht wahr sein. Der Älteste hatte gesagt: Hinter dem Meer, da wohnen die Götter. Er hatte keine Götter kennen gelernt. Zauberer vielleicht. Aber keine Götter. Vielleicht leben die Götter auf einer Insel. Einer Insel mitten im Meer. Mit den weißen Zauberern war er einfach an ihr vorbeigefahren. So musste es sein: Dass die Zauberer die Insel nicht gesehen hatten, verwundert ihn nicht weiter. In den langen Jahren, die er bei ihnen zugebracht hatte, hat er gelernt: 122 Die Zauberer sehen nur, was sie sehen wollen. Und sie sind viel zu eilig, um ihre Augen einmal richtig zu öffnen. Die Götter – sie leben auf einer Insel. Ob Keto sie immer noch im Zaum hält? Jack lächelt in die Dunkelheit: Kengiz, komm, wir müssen die Götter finden. Kengiz, mein Freund, lass uns die Insel suchen ... An einen Freund Ich habe heut an dich gedacht ... Du bist dort draußen in der Ferne. Ich laufe einsam durch die Nacht – ein schwarzer Himmel ohne Sterne. Ich irre blind durch Tal und Hain. Ich lass mein Windlicht für dich stehen. Im Finsteren ein kleiner Schein ... kommst du vorbei, wirst du es sehen. Und während ich es niederleg, fühl ich, dass ihr, du und die andern, hier seid, auf diesem Zauberweg. Ich weiß, ihr werdet mit mir wandern. Im Dunkeln kann ich euch nicht sehen, und doch – ihr schützt und haltet mich. Ich muss nie mehr alleine gehen. Und heute dachte ich an dich ... Wir wandern – auch durch Schnee und Eis ... Mein Windlicht, es wird ewig stehen – bis du es findest. Und ich weiß: Du kommst vorbei und wirst es sehen. Brand Am Abend saß ich einsam am Kamin, als ich das Holzscheit aus dem Feuer griff. Ich hielt den Ast, der war so hell am glühn, er flammte auf, eh ich mein Tun begriff ... Mir war's als hielte eine Fackel ich. Die Funken sprangen, wie im wilden Tanz, die Schatten an den Wänden krümmten sich mich blendete der helle Feuersglanz. Ich war im Traum, ich warf das große Licht, ich warf es irr im Taumel an die Wand. Dann war es mir, als ob mein Traum zerbricht – – ich ging vor's Haus und sah den großen Brand. 123 April 2007 Andere Ich tanz so froh, ich lache und ich lebe. Ich fliege durch mein Leben, singe Lieder. Nun liegen andere im Schmerz danieder ... Derweil ich heiter schwebe, heiter schwebe. Ich breit die Arme aus, ich fühl das Glück. Nun stehen andere voll Angst allein ... Warum darf ich so sorglos glücklich sein? Ich seh die andern, ihren Trauerblick. Die Andern, sie sind Sklaven, sind gefangen. Ich fühl den warmen Wind, ja, ich bin frei! Den andern ist ihr Leben einerlei! Weil sie sich so sehr fürchten, weil sie bangen. Um mich herum erstrahlt das helle Licht. Doch and're sind vor Unglück lahm. Ich habe so ein Glück – fast fühl ich Scham. Denn ich verdien es nicht, verdien es nicht. Abschiedsstunden Ich will ganz leise, still, des Nachts verschwinden ... Und muss jetzt warten, weil noch Sonne scheint. Des Nachts, damit sie mich nicht zu schnell finden ... weil – niemand soll den Jungen seh’n, der weint, der feige ist ... und doch nicht springen will. Denn, wenn’s drauf ankommt, bin ich angeleint – ans Leben, wie ein Hund. Ich werd dann still und sehe jeden Traum vorüberzieh’n. Und soviel Sehnsucht, die nicht sterben will. – Es gab mal Stunden, wo das Licht mir schien ... Und heute Nacht ist alles aus, vorbei? Ich will ja gar nicht sterben, will nur flieh’n ... Vor all’ dem grauen, leeren Einerlei. Doch was ist’s, das vor meiner Flucht dann flieht? Ich weiß, nicht mal zum Sterben bin ich frei ... Was ist’s, das mich zurück ins Leben zieht? Ich werde lange an dem Fenster steh’n voll Willen, jetzt für immer wegzugeh’n. Und weiß schon jetzt: Es wird mir nichts geschehn. Wie gut, dass niemand mich dort oben sieht. 124 Verzweiflung Das Leben – eine Rose, blutig rot ... Geschnitten werde ich von jedem Dorn ... Bin so allein mit meiner ganzen Not Und fühle mich so unsagbar verlor’n. Ich komme nicht zurück, kann nicht nach vorn, Ich kann nicht leben und krieg’ mich nicht tot. Der Nebel zieht, der alles weiß verwischt. Mein Herz, das ist so leer ... ein Kerkerraum ... Ein kleiner Schritt nur und die Welt erlischt, ein kleines Gift, in meinen Trank gemischt, und alles wär’ zerstoben, wie ein Traum. So warte doch, mein Freund, ich komme gleich ... Ich kannte niemals Frieden, niemals Ruh’. Ich könnt’ die Welt zerstör’n, mit einem Streich – Ich frage mich, warum ich’s nur nicht tu’. So esse ich der Tage bitt’res Brot. Ich kann nicht leben und krieg mich nicht tot. Mutter Warum, sag’ Mutter, stolperst du und wankst? Es ängstigt dich das Leid? Die Qual? Der Wahn? Es ist nun nicht mehr lang, hab’ keine Angst, verschlingt uns beide doch der Ozean. Du ängstigst dich: Das Leid wird weitergeh’n ... Ich sehe die Leuchttürme nicht mehr blinken. Es dauert nicht mehr lang, du wirst schon seh’n – Wir müssen schließlich irgendwann ertrinken. Das Wasser ist so leise, kalt und weich ... Du weißt ja: Uns’re Herzen sind gestohlen. Und was wir jetzt noch tun, es bleibt sich gleich. Ich weiß: Das Nichts wird kommen und uns holen. Wie’s gestern war, so ist es heut’ und morgen, weil alle Schreie ungehört verhallen ... Niemand ist ewig, habe keine Sorgen. Bald werden auch wir fallen, fallen, fallen ... Wir können nichts erhoffen, nichts erzwingen ... Nur immer geh’n, die endlos graue Bahn. Ich weiß, er wird uns irgendwann verschlingen – Der weite, blaue, tiefe Ozean. 125 Gefährten Der Weg zieht über Felsen und Gestein. So schwer, so kalt, so einsam ist die Nacht. Wir haben uns verlorn, sind so allein – es ist so anders, als von uns gedacht. Der Nebel fließt, wir haben uns verirrt, am Himmel ist kein Licht, kein einz’ger Stern – wir hätten nie geglaubt, dass es so wird. Der nächste Tag, er scheint so fern, so fern. Wohin, wie weit noch sollen wir denn gehn? Wie ein Gerippe steht ein jeder Baum. – – Doch hast du nicht den Morgen schon gesehn – vielleicht den Morgen in dem letzten Traum? Wohin auch immer dieser Weg uns führt ... wie lang wir hier noch stehn vom Wind umtost: Du hast den Morgen doch im Traum gespürt – das ist uns doch ein Trost, vielleicht ein Trost –. Vielleicht Ich hörte einst von einem weisen Mann, ein Wanderer, der durch die Länder zieht. Man sagt, dass er es uns erklären kann: Warum uns so ein schweres Leid geschieht. Er soll allein durch jede Gegend gehen – kaum jemand aber hat ihn selbst gesehn. Ein jeder Tag ist eine solche Qual. Um uns herum: Nur sternenlose Nacht – ein jeder Tag: so kalt und grau wie Stahl, so sinnlos und so sorgenvoll verbracht. Und dennoch kann es jeden Tag geschehn: Vor deiner Türe kann der Wandrer stehn. Den meisten Menschen doch erscheint er nicht. Mag sein, dass es ihn nie gegeben hat ... Doch denk an ihn bei jeder bittren Pflicht. – Bei jedem Blatt im Wind, bei jedem Blatt ... Es mag ja sein, dass er dich nie erreicht. Doch denk an jedem Tag: Vielleicht, vielleicht ... Es mag ja sein, dass du umsonst ausharrst ... Dass du umsonst durch diese Gitter starrst ... Doch wenn es dann geschieht, dann musst du fragen: „Wozu das Leid?“ Vielleicht kann er es sagen ... 126 2008, 18 Jahre Frühlingstag Ich denke manchmal: Tausend Masken und dahinter bin nicht ich. Tausend Narren voller Faxen allesamt umringen mich. Tausend Spiegel, mich zu täuschen, zeigen deutlich mein Gesicht – ganz betäubt von den Geräuschen – bin ich's wirklich? Bin ich's nicht? Durch die lauen Winde sink' ich, sink' ich leise auf das Feld und die Welt vergessend trink ich blauen Dunst vom Himmelszelt. 27. 4. 2008 Zauber Was sind meine Stunden denn mehr als fallende Lichter, fließende Träume, verlorne Gesichter, durch die ich fliege und fliehe und weiter – und weiterziehe. Was sind meine Tage denn mehr als offene Räume, blühende Gärten, eiserne Zäune durchweht von den Winden. Ich will Sterne und Blumen finden. Und das alles wird schwinden. Doch solange der Zauber noch hält, solang ich im Schlaf mich noch wiege, solange gefällt mir die Welt, in der ich fliehe und fliege. 127 5. Ausklang Anette Hausotter Es waren herausfordernde Zeiten – für alle Beteiligten –, am schwierigsten sicherlich für Arne und für seine Mutter, die all die Jahre kämpfte, bis endlich eine klare Diagnose gestellt war, das Leben mit dieser Diagnose, das Leben mit Arnes Besonderheiten in seinem Verstehen von Welt, das nicht immer mit unserer Logik nachvollziehbar war. Erschwerend erwies sich auch immer wieder von Neuem der Kampf mit den unterschiedlichen Behörden, wenn es um Anerkennung seiner speziellen Bedarfe ging. Es ist nicht auszuschließen, dass sich dies auch in Zukunft fortsetzen wird. Mutter und Sohn haben in den Jahren gemeinsam gelernt, einander zu „übersetzen“ und Wege des gemeinsamen Umgangs miteinander zu finden – obwohl dies nach wie vor nicht immer reibungslos abläuft. Arne verfügt zwar über ein zum Teil weit überdurchschnittliches Begabungsprofil, aber sein autistisches Syndrom und seine phasenweise extremen Zwangsstörungen lassen ihn häufig scheitern, wenn es um die praktische Umsetzung der täglichen Alltagspraxis geht. Arne benötigt im übertragenden Sinn Gehhilfen oder einen Rollstuhl, um das tägliche Leben alleine zu bewältigen. Diese Rolle hat seine Mutter übernommen; sie war bisher seine Struktur, seine Orientierung – seine Gehhilfe. Nach vielen Unsicherheiten in Schulen, Zeiten des Gemobbtwerdens, des Missverstandenwerdens hat Arne das Glück gehabt, in seiner Flensburger Schule auf Lehrkräfte zu stoßen, die seine Stärken und sein Potenzial erkannt haben. Sie waren darum bemüht, diese zu fördern. Das Zusammenspiel und die gute Kooperation mit der Schule, Arnes Mutter, den Lehrkräften, seinen Klassenkameraden, dem Ministerium, der BIS-Autismus und nicht zu vergessen: mit Arne selbst, waren wesentliche Gelingensfaktoren. Durch die Gewährung des Nachteilsausgleichs ist es gelungen, für Arne adäquate, förderliche Bedingungen zu entwickeln, die seiner Beeinträchtigung Rechnung trugen – ohne intellektuelle Anforderungen geringer zu bemessen. So durfte Arne die Klausuren in einem Extraraum schreiben, und ein höherer Zeitfaktor wurde genehmigt. Auf diese Weise konnte er seine Zwänge gut bewältigen, ohne Angst haben zu müssen, andere zu stören durch seine ritualisierten Fingerklopfabfolgen. Für ihn bedeutete der reizarme Raum eine Beruhigung, denn so wurde er nicht durch andere Reizfaktoren abgelenkt. Der Ablauf der Aufgaben wurde mit ihm zeitnah und eindeutig besprochen, so konnte er sich innerlich darauf einstellen, was sich positiv auf sein Zwangsverhalten auswirkte. Neben seiner autistischen Störung leidet Arne unter starken Zwängen, die ihn plötzlich „gefangen“ halten, zu Panik führen können – sogar bis hin zur totalen Blockade seiner steuerbaren Aktivität. In der Phase der schriftlichen und mündlichen Prüfungen drohten immer mal wieder derartige Einbrüche! Aber Arne hat es geschafft! Arne musste für die Anerkennung des Abiturs in Mathematik einen Punkt erhalten. Dies ist ihm gelungen. Mit seinen guten Leistungen in den Sprachen, 14 und 15 Punkte in Französisch und Englisch, hat er sein Abitur mit 2,0 bestanden! Ich bin stolz auf Arne und dankbar für das konstruktive Miteinander aller Beteiligten in diesem Prozess. 128 Dieses Beispiel verdeutlicht zum einen, was es bedeutet, mit einer Beeinträchtigung aus dem Autismus-Spektrum in „unserer“ Welt zu bestehen: Selbstzweifel von Betroffenen und auch ihrem jeweiligen Gegenüber, Unsicherheiten als Lehrkräfte, dieser Beeinträchtigung gerecht werden zu können, Unsicherheiten des Systems und der Gesellschaft, etwas zu akzeptieren, was nicht „sichtbar“ ist und unlogisch erscheint. Andererseits macht diese Darstellung jedoch auch deutlich, dass es sich lohnt, sich auf Herausforderungen einzulassen – auch wenn es auf den ersten Blick nicht umsetzbar erscheint. Aus der Erfahrung wissen wir, dass in diesen jungen Menschen häufig weit mehr schlummert, als wir vermuten. Wir lernen von Menschen wie Arne, der uns „seine Welt“ versucht zu beschreiben. Je mehr wir bereit sind, uns über dieses Autismus-Spektrum zu informieren, desto eher sind wir in der Lage, unsere eigene Wahrnehmung zu reflektieren, um letztlich unser Gegenüber besser zu verstehen und entsprechend adäquate Aktions- und Reaktionsmuster zu entwickeln. Toleranz, Geduld und eine eindeutige, klare Sprache sind hierbei hilfreich. Ferner bietet die Netzwerkarbeit zwischen allen am Prozess Beteiligten eine gute Chance, unmöglich und unlogisch Erscheinendes nach und nach besser zu verstehen und gemeinsam entsprechende, konstruktive Strategien zu entwickeln (siehe auch: Förderschwerpunkt „Autistisches Verhalten“, Band 2 – Förderliche Bedingungen für Schülerinnen und Schüler mit autistischem Verhalten in Schulen Schleswig-Holsteins). Deutschland hat in diesem Jahr die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen ratifiziert. Ministerin Ute Erdsiek-Rave (Ministerium für Bildung und Frauen des Landes Schleswig-Holstein bis Juli 2009), hat dieses Jahr 2009 zum Jahr der inklusiven Bildung erklärt: „Wir brauchen bundesweit einen Wechsel in der pädagogischen Blickrichtung. Denn inklusive Bildung meint: Nicht das Kind muss sich an die bestehenden Schulen anpassen, es muss umgekehrt sein. Eine inklusive, allgemein bildende Schule heißt jedes Kind willkommen, auch und gerade wenn es gesundheitliche, soziale oder Lernund Leistungsprobleme hat.“ (Zitat Erdsiek-Rave aus: „besser zusammen“ – 2009 ist das „Jahr der inklusiven Bildung“: Alle Kinder haben ein Recht auf hochwertige Bildung. Medien Information MBF, 2/2009) Das Leitmotiv, besser zusammen, zeigt uns: Wenn alle gemeinsam an einem Strang ziehen, in den gemeinsamen Dialog treten, ist es auch möglich, konstruktive Lösungsstrategien zu entwickeln und umzusetzen. Vermutlich wird das Kämpfen für Arne nicht aufhören. Jede neu beteiligte Institution muss bereit sein, verstehen zu lernen, was Arne ausmacht. Nur so kann, entsprechend seinen Fähigkeiten und Stärken, das uneingeschränkte Recht auf Bildung, Ausbildung und ein eigenständiges Leben gewährleistet werden. Arne benötigt für die alltägliche eigene Strukturierung und Orientierung eine Unterstützung durch eine Assistenz. Dies kann nicht mehr die Rolle seiner Mutter sein! So strebt Arne erst einmal eine berufliche Orientierung mit der Unterstützung durch AUREA (Autismus, Rehabilitation und Arbeit) an, in der er Erfahrungen durch Praktika sammeln kann. Arnes Langzeitziel und Traum ist ein Hochschulstudium. Ich wünsche Arne, dass er sein Ziel irgendwann in die Tat umsetzen kann und darf. Ich möchte mich bei den Leserinnen und Lesern dieser Publikation bedanken und hoffe, dass es uns gelungen ist, Mut zu machen, sich auf zukünftige Herausforderungen dieser Art einzulassen! Es lohnt sich! 129 Ausblick Arne Andersen 10. Juli 2009 Ich bin mir des großen Glückes – das den Einsatz vieler Menschen erforderte, denen ich nicht genug danken kann – bewusst, welches mir ermöglichte, mit meinem Autismus Abitur zu machen. Dies ist leider nicht allen Autisten vergönnt. Autisten werden, wie andere Behinderte auch, zu oft an den Rand der Gesellschaft gedrängt, werden zu oft nur unter dem Aspekt ihrer Behinderung wahrgenommen. Es ist höchste Zeit für einen Bewusstseinswandel. Endlich müssen alle verstehen, dass Menschen, die bis jetzt Außenseiter waren – Behinderte, Ausländer, Homosexuelle – unsere Gesellschaft nicht stören, sondern zu ihrer Ganzheit auf unverzichtbare Weise beitragen. Ich wünsche mir die Ankunft eines neuen Zeitalters, wo Achtung gegenüber jedem Menschen gezeigt wird, ganz gleich, ob er der herrschenden gesellschaftlichen Norm entspricht oder nicht, wo es für wirklich alle Menschen die gleichen Chancen gibt. So dass dann auch alle Autisten – und überhaupt alle Menschen mit Handycap – die Möglichkeit haben, sich selbst zu verwirklichen und so ein wahrhaft erfülltes Leben zu führen. Ich hoffe, dass die gegenwärtigen Krisen einen neuen Zeitgeist bringen, welcher das Bewusstsein hervorruft, dass wir eine neue Welt zu erschaffen haben, mit einer gesunden Natur, mit einem gerechten ökonomischen System und mit einer Einstellung, welche Achtung vor der Würde eines jeden einzelnen Menschen hat. Das wird die Erkenntnis mit sich bringen, dass wir nicht getrennt sind, dass alle Menschen einen gemeinsamen Weg gehen und dass jedes Wesen auf ihm seinen unverzichtbaren Platz hat. Epilog Anette Hausotter Oktober 2009 Während Arne und ich den Text zum Ausklang dieses Buches schrieben, war Arne bereits damit beschäftigt, seine Abiturrede zu verfassen. Es war ihm ein großes Bedürfnis, seinen Mitschülerinnen und Mitschülern sowie seiner Schule auf diese Weise Dank zu sagen. Ich persönlich war seinerzeit von seiner Abiturrede sehr beeindruckt. Mittlerweile wurde sie in der Zeitschrift ErziehungsKUNST, Stuttgart, veröffentlicht - Arnes erste Veröffentlichung! Wir haben uns entschlossen, unseren Leserinnen und Lesern diesen Text nicht vorzuenthalten – mit freundlicher Genehmigung von ErziehungsKUNST: 130 131 132 133 Institut für Qualitätsentwicklung an Schulen Schleswig-Holstein (IQSH) Schreberweg 5 · 24119 Kronshagen Tel. 0431 54 03 - 0 · Fax 0431 54 03 - 101 E-Mail: [email protected] · Internet: www.iqsh.schleswig-holstein.de