Theorien der Erziehungs- und Bildungswissenschaft 1

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Theorien der Erziehungs- und Bildungswissenschaft 1
Vorlesung „Einführung in die Bildungswissenschaft“ (WS 2012)
Dr. Hans-Peter Gerstner / Markus Popp
(31. 10. 2012)
Schwerpunkt 2:
Theorien der Erziehungs- und Bildungswissenschaft
(Teil 1)
• Begrüßung - Organisatorisches
• Input: Filmausschnitt „Matrix“
• Arbeitsphase – Aussprache („WirklichkeitsverständnisArbeit der Bildungswissenschaften“)
• Vortrag: „Theorien der Erziehungs- und
Bildungswissenschaft“
• Arbeitsphase 2 – Aussprache - Diskussion
Arbeitsfragen zum Film „Matrix“:
1. Beschreiben Sie das der Filmhandlung
zu Grunde liegende Wirklichkeitsverständnis.
2.Benennen Sie Konsequenzen, die sich
daraus für die Arbeit der Bildungswissenschaft ergeben.
Grundlagentheorien der Erziehungs- und Bildungswissenschaft
Wir werden uns in den nächsten beiden Sitzungen mit den
Grundlagentheorien der Erziehungs- und Bildungswissenschaft
auseinandersetzen:
 Geisteswissenschaftliche Pädagogik
 Empirismus und Kritischer Rationalismus
 Kritische Theorie und kritische Erziehungswissenschaft
 Strukturfunktionalismus und Systemtheorie
 Konstruktivismus und Pragmatismus
Geisteswissenschaftliche Pädagogik
Die Gründerfigur der geisteswissenschaftlichen Pädagogik ist Wilhelm Dilthey
(1833-1911).
Geisteswissenschaftliche Pädagogik
In seiner Wissenschaftstheorie begründet Dilthey die
Geisteswissenschaft in Abgrenzung zur Naturwissenschaft. Er
versteht darunter alle Wissenschaften, die sich auf die Menschen und
ihre soziohistorischen Verhältnisse beziehen.
Für die Geisteswissenschaften sind die naturwissenschaftlichen
Methoden nicht passend. Sie brauchen ihre eigene
wissenschaftstheoretische Grundlegung und haben eine eigene
Methode des Erkenntnisgewinns, die Hermeneutik.
Die Naturwissenschaften verstehen es als ihre Aufgabe Verhalten zu
erklären. In den Geisteswissenschaften geht es darum, die
psychischen Zustände eines Menschen in ihrer Bedeutung zu
verstehen und sinnverstehend zu deuten.
Geisteswissenschaftliche Pädagogik
Klassiker der geisteswissenschaftlichen Pädagogik
Eduard Spranger (1882-1963)
Hermann Nohl (1879-1960)
Geisteswissenschaftliche Pädagogik
Wilhelm Flitner (1889-1990)
Erich Weniger (1893-1961)
Theodor Litt (1880-1962)
Geisteswissenschaftliche Pädagogik
Theoretische Grundlagen
Der Ausgangspunkt für eine allgemeingültige Theorie der
Bildung ist die Tatsache der Erziehungswirklichkeit. Sie
versteht sich als engagierte theoretische Reflektion der
pädagogischen Praxis.
Die Aufgabe der geisteswissenschaftlichen Pädagogik als
hermeneutischer Disziplin ist es dann, die Bedeutung der
Erziehungswirklichkeit zu erfassen.
Die Erziehungswirklichkeit ist das Ergebnis einer
sozialhistorischen und einer individualhistorischen Entwicklung,
die sich im Erzieher-Zögling-Verhältnis harmonisch verbindet.
Geisteswissenschaftliche Pädagogik
Vorgehensweisen
 Teilnehmende Beobachtung konkreter pädagogischer
Erziehungssituationen
 Der Rückgriff auf eigene pädagogische Erfahrungen,
um sich in jemanden hineinzuversetzen, als
„Wiederfinden des Ich im Du“
 Rückgriff auf gemeinsame Erfahrungen im Kreis einer
pädagogischen Gemeinschaft, der Austausch unter
Kollegen
Chardin: Die kleine Schulmeisterin
Was können Sie beobachten? Welche eigenen
Erfahrungen verbinden Sie mit dem Bild?
Tauschen Sie sich aus.
Geisteswissenschaftliche Pädagogik
Folgerungen für die pädagogische Praxis
Das Ziel der Erziehung ist die Bildung, nicht die Vermittlung von
Qualifikationen.
Bildung ist historisch bestimmt entlang der grundlegenden Kenntnisse,
Fähigkeiten und Einstellungen, die für das Leben des Einzelnen
innerhalb eines spezifischen Kulturraums notwendig erscheinen.
Bildung ist daher doppelt zu sehen: einmal gesellschaftlich durch die
Vermittlung der für die jeweilige historischen Epoche bedeutsamen
Kenntnisse, Methoden und Normen und das andere Mal individuell
durch die Unterstützung des Einzelnen in seiner individuellen
Entwicklung.
Geisteswissenschaftliche Pädagogik
Probleme
Quantitativ-empirische Forschung hält die hermeneutische
Methode für unwissenschaftlich, da bloß subjektiv und nicht
überprüfbar.
Kritische Erziehungswissenschaft kritisiert, den strukturellen
Konservativismus wegen des Traditionsbezugs und die
Anfälligkeit für totalitäre Versuchungen.
Vor allem aber bleibt der Ansatz der geisteswissenschaftlichen
Pädagogik gegenüber der sozialen Realität abstrakt, da er von
einer idealisierten „platonischen“ Gesellschaft ausgeht, die es
durch Pädagogik zu erreichen gilt.
Empirismus und kritischer Rationalismus
Theoretische Grundlagen
Empiristische Pädagogik als eine Gegenbewegung zur
geisteswissenschaftlichen Pädagogik. Sie richtet sich am Muster
der aufstrebenden Naturwissenschaften aus.
Die Basis der Erziehungswissenschaft sind dann die
„pädagogischen Tatsachen“, auf denen wissenschaftliche
Theorien basieren müssen.
Die Erfassung dieser Tatsachen beruht nicht auf als zufällig
angesehenen subjektiven Erfahrungen, sondern auf
methodisch kontrollierter Beobachtung und Messung von
Einzeldaten. Von diesen Experimenten und Labordaten wird
dann auf generell geltende pädagogische Gesetze geschlossen.
Empirismus und kritischer Rationalismus
Probleme
Die Beschreibung wird unerkannt zur normativen Vorschrift für das
praktische pädagogische Handeln.
Die frühe experimentelle Erziehungswissenschaft kann die verblasenen
Ideen der Pädagogik kritisieren, allerdings reduziert sie die
Komplexität pädagogischer Handlungs- und Problemfelder auf das
Messbare.
In pädagogischen Situation geht es aber nicht nur um objektiv
messbares Verhalten und Verhaltensänderungen, sondern um das
Handeln von Lernenden und Lehrenden.
Verzicht auf wissenschaftlich angeleitete Verbesserung der
pädagogischen Praxis.
Empirismus und kritischer Rationalismus
Hauptvertreter des kritischen Rationalismus ist Sir Karl Raimund Popper
(1902-1994)
Empirismus und kritischer Rationalismus
Hauptthesen des Kritischen Rationalismus
Reaktion auf das Problem induktiver Forschung. Gesetzesaussagen
werden als Hypothesen verstanden, die experimentell geprüft werden.
Tatsachen sind nicht objektiv gegeben, sondern beruhen auf
begrifflichen, theoretischen Unterscheidungen.
Die Erziehungswissenschaft hat die Aufgabe, Theorien zu finden, die
jeweils streng auf ihre Falsifizierbarkeit geprüft werden. Dabei muss auf
normative Wertaussagen Verzicht geleistet werden.
Empirische Wissenschaft ist eine rein theoretische Disziplin,
dennoch soll sie auch Erklärungen, Prognosen und Technologien für
praktisches pädagogisches Handeln bereitstellen.
Empirismus und kritischer Rationalismus
Wolfgang Brezinka (1928) versucht auf der Basis des Kritischen
Rationalismus von der Pädagogik zur Erziehungswissenschaft zu kommen.
Empirismus und kritischer Rationalismus
Thesen Brezinkas
•
Erziehungswissenschaft soll sich von traditionellen, normativen Aussagen
der Pädagogik entfernen, da diese empirisch nicht abgesichert seien.
•
Erziehungswissenschaft soll bestimmt sein als System von Aussagen
über den Objektbereich Erziehung.
•
Die daraus gewonnenen generalisierten Gesetzesaussagen sollen in
Erklärungen, Prognosen und Technologien für praktisches
pädagogisches Handeln umgesetzt werden.
•
Erziehungswissenschaft soll wertfrei sein, um intersubjektiv überprüfbar zu
bleiben. Sie soll daher deskriptiv sein, nicht normativ oder emotiv.
•
Neben die Wissenschaft der Erziehung soll es eine praktische Pädagogik
geben als System von Empfehlungen für das praktische Handeln in der
pädagogischen Praxis.
Empirismus und kritischer Rationalismus
Probleme
•
Die Autonomie des Einzelfall wird gestrichen. Der Maßstab ist nicht die
Wahrheit des Einzelfalls, sondern der Erfolg und die Effizienz nach dem
Gesetz der großen Zahl.
•
Mentale Zustände und Prozesse wie Gedanken, Gefühle und
Empfindungen werden nicht erfasst.
•
Die Festlegung von Forschungsmethoden ist nicht objektiv und wertfrei,
sondern eine normative Entscheidung und Festlegung.
•
Durch das Ausblenden des Subjektbezugs muss auf Folgen der
Forschungsmethoden auf die Versuchspersonen nicht geachtet werden.
•
Trotz einer großen Zahl an empirischen Untersuchungen ist es nicht
gelungen, einfache Aussagen im Wenn-Dann-Schema zu bestätigen. Denn
pädagogische Situationen sind gekennzeichnet durch Momente der
Ungewissheit, Komplexität, Instabilität, Unaustauschbarkeit und von
Zielkonflikten.
Kritische Theorie und kritische Erziehungswissenschaft
Gegen die Geisteswissenschaftliche Pädagogik und gegen die KritischRationalistischen Pädagogik mit ihrem Verfahren der quantitativen Empirie
richtet sich die Kritische Theorie. Die Hauptvertreter sind Theodor W. Adorno
(1903-1969) und Max Horkheimer (1895-1973).
Kritische Theorie und kritische
Erziehungswissenschaft
Hauptthesen
Gesellschaftliche Tatsachen sind von Menschen erzeugt und daher auch
veränderbar. Die empirischen Erfahrungen sind durch Begriffe und
Lebensweisen geprägt, die von der historischen Situationen in Sprache und
Kultur abhängen und damit auch wandelbar sind.
Das Ziel ist durch Aufklärung zu einer Veränderung der gesellschaftlichen
Verhältnisse beizutragen, so dass Menschen selbstbestimmt und frei von
Zwängen ihr Zusammenleben organisieren können.
Das bisher uneingelöste Versprechen der Aufklärung ist die Befreiung der
Menschen von überflüssig gewordenen sozialen Zwängen.
Die methodologische Grundlage der kritischen Theorie ist objektives
Sinnverstehen, wobei die Strukturen, Prozesse und Regeln angegeben
werden, die soziale Tatsachen zu erklären helfen.
Kritische Theorie und kritische
Erziehungswissenschaft
Probleme der kritischen Theorie
• Das Forschungsprogramm einer kritischen Theorie ist
bisher nur ansatzweise eingelöst worden.
• Die methodologische Grundlage des objektiven
Sinnverstehens bleibt präzisierungsbedürftig.
• Das Fehlen konkreter Ansatzpunkte für
Veränderungsprozesse macht es schwierig, einen Weg
zu finden, der zu mehr Autonomie führt.
Kritische Theorie und kritische Erziehungswissenschaft
Die kritische Erziehungswissenschaft nimmt nicht die kritische Theorie Adorno
und Horkheimers auf, sondern die Theorie der erkenntnisleitenden Interessen
von Jürgen Habermas.
Kritische Theorie und kritische Erziehungswissenschaft
Grundthesen
Habermas geht in seiner Klärung wissenschaftlicher Erkenntnis davon aus,
dass Gesellschaften sich über Sprache, Arbeit und Herrschaft organisieren.
Mit diesen drei Medien sind für ihn unterschiedliche Interessen verknüpft, die in
unterschiedlichen Wissenschaftsformen auftreten.
Mit Arbeit verknüpft ist soziales Interesse an Erweiterung technischer Verfügungsgewalt. Mit Sprache verknüpft ist ein soziales Interesse an lebenspraktischer wechselseitiger Verständigung. Mit Herrschaft verknüpft ist ein
soziales Interesse des Zwanges zur Selbsterhaltung und damit verbunden
das Interesse an Befreiung von unnötigen Zwängen.
Diesen sozialen Interessen ordnet Habermas wissenschaftliche Interessen zu.
Den naturwissenschaftlichen Theorien und den empirischen verhaltenswissenschaftlichen Theorien liegt ein technisches Erkenntnisinteresse zugrunde, den
hermeneutischen Theorien, die auf Verständigung zielen, ein praktisches Erkenntnisinteresse und den kritisch orientierten Theorien ein emanzipatorisches Erkenntnisinteresse.
Kritische Theorie und kritische Erziehungswissenschaft
•
Seit Mitte der 1960er Jahre wird versucht, Erkenntnisse und Argumente der
kritischen Theorie auch für die Erziehungswissenschaft fruchtbar zu
machen. Als Hauptvertreter können betrachtet werden: Klaus Mollenhauer
(1928- 1998), Herwig Blankertz (1927-1983) und Wolfgang Klafki (1927).
Kritische Theorie und kritische
Erziehungswissenschaft
Hauptthesen
Aufgabe der Erziehungswissenschaft ist, ideologiekritisch die
Abhängigkeit der Erziehung von sozialen Prozessen und Strukturen
nachzuweisen.
Der Begriff Emanzipation erhält bildungstheoretisch zentralen Stellenwert
in einer doppelten Wendung: Emanzipation von Herrschaft und
Emanzipation zu Mündigkeit und Selbstbestimmung.
Bildung wird dabei an einem emphatischen Begriff von Emanzipation
orientiert, der allerdings in den Niederungen des pädagogischen
Alltagsgeschäfts kaum noch gefunden, denn verkörpert werden kann.
Kritische Theorie und kritische
Erziehungswissenschaft
Folgen für die pädagogische Praxis
• Schulkritik unter dem Anspruch der Emanzipation
• Entwicklung von Erziehungszielen unter dem Anspruch
von Emanzipation
• Emanzipatorischer Unterricht
Kritische Theorie und kritische Erziehungswissenschaft
Probleme
•
•
•
•
Pädagogische Praxis weitgehend routinisiert, daher auf Dauer gestellte
Reflektion kaum durchhaltbar.
Die kritische Erziehungswissenschaft hat keine eigene Methode
entwickelt, sie verbindet im Sinn der Sachgerechtigkeit quantitative und
hermeneutische methodische Verfahren und nimmt zur Lösung praktischer
pädagogischer Probleme Bezug auf die Handlungsforschung
Emanzipation kann nicht nur als die Autonomiewerdung eines Einzelnen
verstanden werden, sondern der Einzelne wird auch dann erst wirklich
emanzipiert sein, wenn die gesamte Weltgesellschaft emanzipiert ist.
Im Rahmen kritischer Erziehungswissenschaft ist das empirische Wissen
über den Zusammenhang von Erziehung und Gesellschaft weitgehend auf
den Bereich historischer Studien beschränkt.
Merkmale
industrieller
Arbeitsorganisation
Erwünschtes
Arbeits- und
Sozialverhalten
Merkmale
schulischer
Organisation
Innerbetriebliche
Hierarchisierung der
Funktion und
Funktionäre
Innerbetrieblicher
Bewährungsaufstieg
Rigide Arbeitsplanung
und Arbeitskontrolle
Unterordnung,
Gehorsam
Innerschulische
Hierarchisierung der
Lernstufen
Aufstiegsorientierung
Sitzen bleiben und
versetzt werden
Bürokratisierung der
Lernzeiten
(Stundenplan, 45
Minuten Takt)
Schulzensur als
Belohnungs- und
Bestrafungsinstrument
Pünktlichkeit
Akkordentlohnung nach Regelmäßigkeit
produzierter Stückzahl
Abstimmung von Arbeitsmarkt und Schule
im Zeitalter der großen Industrie
Welche Umstellungen können Sie in der gegenwärtigen Umstellung
auf Eigenverantwortung und Flexibilisierung erkennen?
Impulsfrage:
• „Heraus aus der Welt der Schatten“ –
Wirklichkeit oder Utopie in der Welt der
Bildungswissenschaften?