Die Ausgeschlossenen

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Die Ausgeschlossenen
Heinz Bude
Die Ausgeschlossenen
Das Ende vom Traum einer gerechten Gesellschaft
Die folgenden Betrachtungen über die Ausgeschlossenen in Deutschland sind als ein
Stück öffentlicher Soziologie gedacht. Sie wenden sich nicht an ein Fachpublikum,
sondern an Bürgerinnen und Bürger, denen die öffentlichen Angelegenheiten am
Herzen liegen.
Es geht darum, aus persönlichen Problemen öffentliche Fragen zu machen. Die
öffentliche Soziologie unterscheidet sich damit einerseits von einem bestimmten
Genre sozialwissenschaftlich informierter Sachbücher, die sich auf den mitfühlenden
Rapport persönlicher Problemlagen beschränken, weil ihnen der Begriff für die darin
liegenden öffentlichen Fragen fehlt. Sie will sich andererseits aber auch nicht mit der
prinzipiellen Erörterung öffentlicher Fragen über den Zustand unseres
Zusammenlebens zufriedengeben, die keinen Sinn dafür haben, daß die Dinge, die
alle angehen, immer einen Sitz im Leben haben. Die öffentliche Soziologie läßt die
schlechte Alternative von Begriffsblindheit und Erfahrungsleere im Blick auf unsere
Gesellschaft hinter sich. Sie nimmt das Einzelne auf, um das Allgemeine zu treffen.
Dabei hält die öffentliche Soziologie Distanz zu den sozialwissenschaftlichen
Forschungen im Dienste eines politischen Auftrags. Es sind nämlich heute weniger
die kommerziellen, sondern mehr die institutionellen Auftraggeber, die die
Unvoreingenommenheit des soziologischen Blicks trüben. Die öffentliche Soziologie
sucht nicht nach Vorschlägen, wie man es besser machen kann, sondern stellt
nüchtern dar, was Sache ist. Sie will die Öffentlichkeit in erster Linie über die
gesellschaftlichen Verhältnisse aufklären, in denen wir leben, und nicht
Rechtfertigungen für politische Akteure liefern, die sich in bester Absicht eine
bestimmte Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse auf die Fahnen
geschrieben haben. Denn die Soziologie beweist ihre Stärke immer noch an der
Unbekanntheit des sozialen Objekts. Sie erregt Aufmerksamkeit, wenn sie zeigen
kann, daß die Dinge anders laufen, als man erwarten würde, und wie es geht, daß es
so kommt, wie niemand es will. Nur dann begreift man wirklich, daß das Ganze auch
anders sein kann.
Das gespaltene Ganze
Zu Beginn des neuen Jahrhunderts hat sich das Gesicht der Ungleichheit in unserer
Gesellschaft gewandelt. Wenn von der Hauptschule als >>Restschule<<, von einer
sich abkapselnden Unterschicht oder von einem abgehängten Prekariat die Rede ist,
dann ist von der sozialen Spaltung unserer Gesellschaft die Rede. Das hängt nicht
allein damit zusammen, daß sich die Schere zwischen Armen und Reichen weiter
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öffnet. Es ist zwar ärgerlich, daß die Einkommen der großen Geldvermögensbesitzer
verglichen mit denen der erwerbstätigen Messe in den letzten Jahren gewaltig
gestiegen sind, das wäre aber hinnehmbar, wenn nicht gelichzeitig bestimmte
Gruppen den Anschluss an den Mainstream unserer Gesellschaft verlieren würden.
Sie laufen mit, aber sie haben keine Adresse in der kollektiven Selbstauffassung
unseres Gemeinwesens.
Diese Menschen trifft man in Gegenden, die gar nicht weit entfernt sind von den
Zentren der Initiative, der Innovation und des Individualismus. Es reicht vom Wall in
Hamburg, von der Königstraße in Stuttgart oder vom Hackeschen Markt in Berlin
eine Fahrt von einer halben Stunde mit der U-Bahn, oder man nimmt nach 20 Uhr
einen Bus vom schmucken Rathausplatz in ein bestimmtes Neubaugebiet des
sozialen Wohnungsbaus am Rande Celles, Aachens oder Reutlingens: Jedes Mal
gerät man in eine soziale Zone mit hoher Arbeitslosigkeit oder massiver
Unterbeschäftigung, wo die Straßen dreckig, die Bushaltestellen demoliert, die
Häuser mit Graffiti übersät und die Schulen marode sind. Hier treffen ökonomische
Marginalisierung, ziviler Verfall und räumliche Abschottung zusammen. Die
Menschen, die man in den Billigmärkten für Lebensmittel trifft, wirken abgekämpft
vom täglichen Leben, ohne Kraft, sich umeinander zu kümmern oder aufeinander zu
achten, und lassen gleichwohl keine Anzeichen von Beschwerdeführung oder
Aufbegehren erkennen. Die Jugendlichen hängen herum und warten darauf, daß
etwas passiert, die Männer mittleren Alters haben sich ins Innere der Häuserblocks
zurückgezogen, und die Frauen mit den kleinen Kindern sehen mit Mitte zwanzig
schon so aus, als hätten sie vom Leben nichts mehr zu erwarten.
Es herrscht eine Atmosphäre abgestumpfter Gleichförmigkeit. Hier leben Menschen,
die sich daran gewöhnt haben, wenig zu besitzen, wenig zu tun und wenig zu
erwarten. Sie kommen selten in andere Gegenden, lernen kaum andere als
Ihresgleichen kennen und mißtrauen den Angeboten, die ihnen von
Stadtteilinitiativen oder Beschäftigungsprojekten nahegelegt werden. Nur aus den
Blicken der herausgeputzten männlichen Heranwachsenden mit den schneeweißen
Kapuzensweaters, die zu allem fähig scheint.
Es kann einem aber auch passieren, daß man auf einem Fest zu einem runden
Geburtstag nach vielen Jahren einen Bekannten von früher trifft, der zu viel redet, zu
viel trinkt und viel schwitzt. Momentan liefen die Dinge nicht so gut, aber er habe
schon wieder ein neues Projekt in Vorbereitung. Nein, mit der Frau, nach der man
sich erkundigt, sei er schon lange nicht mehr zusammen, aber die Tochter aus dieser
Beziehung habe gerade ihr Medizinstudium begonnen.
Nach und nach stellt sich heraus, daß der einst so siegesgewisse Verlagsleiter, den
man wegen seines ungeheuren Erfolgs bei den Kommilitoninnen heimlich immer
schon beneidet hatte, nach den Controlling des Verlags durch eine einschlägige
Unternehmensberatung seinen Hut nehmen und sich als Mittvierziger fortan von
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einem freien Lektorenjob zum nächsten durchschlagen mußte. Man gewahrt
plötzlich, wie jemand, mit dem man sich früher vergleichen konnte, den Bodenunter
den Füßen verliert. Er wurde nicht freigesetzt, weil er keinen Erfolg hatte oder weil er
sich nicht genug eingesetzt hätte, sondern weil die Unternehmensberatung dem
neuen Mehrheitsaktionär des Verlages ein anderes Marktprofil empfahl, zu dem die
Auffassungen und Fähigkeiten unseres Bekannten nicht mehr paßten.
Dem Verlust der Statusposition folgte die Trennung von seiner Frau, die hinter eine
langjährige Affäre mit einer jüngeren Kollegin kam, dann brach die Finanzierung des
gemeinsam gebauten, aber auf seinen Namen eingetragenen Eigenheims
zusammen und seine unverhohlene Trinkfreude mußte er sich als Alkoholproblem
vorhalten lassen. Das sarkastische Eingeständnis, von seinem zuständigen
Fallmanager als unvermittelbar eingestuft worden zu sein, kann nicht über die
panische Frage hinwegtäuschen, ob er noch zu dem sozialen Kreis der
Eingeladenen gehört oder nicht schon längst abgeschrieben ist.
Eine dritte Art von Beobachtungen kann man beim Besuch eines Baumarkts machen.
Verweilt man zu lange vor der Auslage der Mischbatterien, spricht einen
unversehens ein Endfünfziger mit Sommerblouson und Turnschuhen an, Kein
Verkäufer, sondern eine Kunde, genau wie man selbst, aber mit genauesten
Kenntnissen der Vor- und Nachteile der einzelnen Angebote. Im Gespräch entpuppt
er sich als kritischer Kunde ohne spezielle Kaufabsicht. Der Abteilungsleiter des
Baumarkts bestätigt die Existenz dieser besonderen Klasse von Kunden, die sich
stundenlang im Hause aufhalten, um das Warenangebot zu prüfen, Vergleiche
vorzunehmen und Garantien zu erfragen. Wenn sie etwas kaufen, bringen sie es oft
schon am nächsten Tag zurück und lassen sich den Kaufpreis erstatten. Es handelt
sich, so der Abteilungsleiter, in der Regel um Männer, die sich im Vorruhestand oder
aus sonstigen Gründen jenseits der Erwerbsphase befinden. Zu Hause fällt ihnen die
Decke auf den Kopf oder sie gehen der Frau auf die Nerven, eine Parzelle in der
Kleingartensiedlung oder ein Posten im Verein fehlt, und Schließlich kann man nicht
den ganzen Tag fernsehen, weshalb der Gang in den Baumarkt ein Teilhabe am
gesellschaftlichen Leben gleichkommt. Der Baumarkt duldet diese Phantomkunden,
weil sie besonders in den ruhigen Zeiten am späten Morgen und am frühen
Nachmittag für eine gewisse Belebung des Hauses sorgen. Sie sind anwesend, weil
sie aber weder Verkäufer noch Käufer sind, gehören sie, gemessen an der
Funktionsbestimmung der ganzen Veranstaltung, nicht dazu.
Gemeinsam ist diesen verschiedenen Beobachtungen und Erfahrungen, daß sie vom
sozialen Ausschluß handeln: die Ausgeschlossenen, die in den Bezirken der müden
Gesellschaft exiliert sind, die Ausgeschlossenen, die von einem Knick in der Karriere
aus der Bahn geworfen worden sind, und die Ausgeschlossenen, die in der Sphäre
des Konsums auftauchen. Die Frage ist nicht, wer oben und wer unten, sondern wer
drinnen und wer draußen ist. Diese Menschen leiden darunter, daß sie Mißachtung
erfahren und daß sie vom Gefühl der Unabänderlichkeit und Aussichtslosigkeit
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gelähmt sind. Die Soziologie hat dafür einen neuen Begriff geprägt: Es geht nicht
allein um soziale Ungleichheit, auch nicht nur um materielle Armut, sondern um
soziale Exklusion. Der Bezugspunkt dieses Begriffs ist die Art und Weise der
Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, nicht der Grad der Benachteiligung nach
Maßgabe allgemein geschätzter Güter wie Einkommen, Bildung und Prestige.
Jede Gesellschaft kennt soziale Ungleichheit. Die Skalen der Macht, des Privilegs
und des Ansehens sind prinzipiell offen. Auch wenn eine Gesellschaft etwa nach
sozialistischem Vorbild so eingerichtet ist, daß alle frei von Not sind, haben mache
mehr zur Verfügung als andere, maßen sich bestimmte Leute Vorrechte vor allen
anderen an, genießen einige wenige mehr. Ansehen als die Masse der vielen. Es
gibt Grenzen ertragbarer Ungleichheit, die nur um den Preis latenter Rebellion oder
lavierter Resignation überschritten werden dürfen: Nämlich dann, wenn Luxus, Macht
und Wissen bei einigen wenigen konzentriert sind und sich alle anderen mit dem
Standard, der Unkenntnis und der Schwäche zufrieden geben müssen. Ein Tropfen
aus heiterem Himmel kann unter solchen Bedingungen das Faß zum Überlaufen
bringen.
Auch ist Armut ein relativer Begriff. Wenn man, wie es in der Armuts- und
Reichtumsberichterstattung üblich ist, arm diejenigen nennt, die weniger als 60
Prozent des Durchschnittseinkommens zur Verfügung haben, wächst mit den
Reichtum der Reichen automatisch die Armut der Armen. Auch hier sind natürlich
Schwellenwerte der sozialen Schieflage spürbar, wenn sich der Eindruck einer
unaufhaltsam voranschreitenden Polarisierung zwischen hohen und sichern und
geringen und unsicheren Einkommen verfestigt. Dann nimmt die >>moralische
Ökonomie<< einer auf den Leistungen aller aufbauenden Lebensform Schaden. Es
breitet sich das Gefühl aus, daß sich einige wenige auf Kosten der vielen ein
schönes Leben machen.
Soziale Exklusion dagegen ist weder auf gesellschaftliche Benachteiligung zu
reduzieren nicht durch relative Armut zu erfassen. Sie betrifft vielmehr die Frage
nach dem verweigerten oder zugestandenen Platz im Gesamtgefüge der
Gesellschaft. Sie entscheidet darüber, ob Menschen das Gefühl haben, daß ihnen
Chancen offenstehen und daß ihnen ihre Leistung eine hörbare Stimme verleiht,
oder ob sie glauben müssen, nirgendwo hinzugehören, und daß ihnen ihre
Anstrengung und Mühe niemand abnimmt. Für die Exkludierten gilt der
meritokratische Grundsatz >>Leistung gegen Teilhabe>> nicht mehr. Was sie
können, braucht keiner, was sie denken, schätzt keiner, und was sie fühlen, kümmert
keinen. Sie stellen daher eine Provokation für jede >>anständiger Gesellschaft<<
dar. Denn sie führen der saturierten Mehrheit vor Augen, daß aufgrund bestimmter
sozialer Mechanismen Menschen vor der Türe stehengelassen, aus ihren sozialen
Kreisen aussortiert oder nach Ableistung ihres Beitrags zum Ganzen ihrem Schicksal
überlassen werden.
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In der Bundesrepublik haben wir solche Phänomene des sozialen Ausschlusses
lange Zeit als Randgruppenproblematik behandelt. Beim Übergang von einer
Mangel- zu einer Reichtumsgesellschaft kamen nicht alle sofort mit. Ränder der
Unterentwicklung wie das bäuerlicher Niederbayern oder ein Zonenrandgebiet wie
Nordhessen, Problemgruppen wie die Halbstarken wurden mit besonderen
Maßnahmen in expandierenden Sozialhilfestaat bedacht. Sprichwörtlich war es zu
Beginn der sechziger Jahre das katholische Mädchen aus einem Arbeiterhaushalt
vom Lande, dessen krasse Unterprivilegierung den massiven Ausbau des
Bildungswesens begründete.
Die Metapher vom voranschreitenden Kern und von den machholenden Rändern
drückte einen ungeheuren Modernitätsoptimismus aus, wonach sich alle noch
desintegrierten, weil traditionsverhafteten, rebellionsbereiten oder einfach nur abseits
gebliebenen Reste nach und nach in die große Mitte der Gesellschaft integrieren
lassen
würden.
Die
aufsteigende
Soziologie
diagnostizierte
die
Randgruppenproblematik, zu deren Lösung von ihr angeleitete Sozialarbeiter, Ärzte,
Therapeuten und Lehrer Beitragen sollen.
Der von der Soziologie heute angebotene und in den meisten europäischen Ländern
akzeptierte Exklusionsbegriff belegt das Ende dieser großen Erzählung einer
schrittweisen Bewältigung der sozialen Frage durch eine erweiterte Integration der
Gesellschaft. Die Umstellung von Kategorien des Mangels und des Privilegs auf eine
es Ausschlusses und des Mangels hat mit einer Ernüchterung des
Fortschrittsglaubens in unserer Gesellschaft zu tun. Die betrifft zuerst den Glauben
an die Leistungen des Wohlfahrtsstaats. In allen Ländern des OECD-Raums, die
man bei aller Unterschiedlichkeit in der Regulationsweise als wohlfahrtsstaatlich
gedämpfte Kapitalismen bezeichnen kann, hat sich die Einsicht durchgesetzt, daß es
nicht allein die von der Allgemeinheit in Form staatlicher Transfereinkommen
bereitgestellten Mittel sind, die über die Art und Weise gesellschaftlichen Teilhabe
entscheiden. Im Gegenteil: Die Überzeugung, soziale Benachteiligungen
auszugleichen, hat zur Züchtung einer Kultur der Abhängigkeit geführt, die die Leute
zu Klienten einer Anstalt anstatt zu Herren über ihr eigenes Leben gemacht hat. Die
Finanzierungsprobleme des Wohlfahrtsstaats haben nur seine inneren Pathologien
aufgedeckt, wonach man Defizite unter Beweis stellen muß, um Anrechte
sicherzustellen und Leistungen zu begründen. Das ursprüngliche Prinzip, Hilfe zur
Selbsthilfe zu gewähren, hat sich in sein Gegenteil, nämlich in die Verfestigung von
Wohlfahrtsabhängigkeit, verwandelt. Man soll sich nichts vormachen: Wer von der
Wohlfahrt lebt, schrieb schon Tocqueville 1835, ist ohne Fürcht, aber auch ohne
Hoffnung. Daran würde sich auch nichts ändern, wenn wieder mehr Geld für
Arbeitslose, Arbeitsunfähige und Arme zur Verfügung stehen würde.
Aber auch der Glaube ans Wirtschaftswachstum als Allheilmittel für die
Ausgeschlossenen hat sich verloren. Selbst wenn wir in Deutschland wieder
Wachstumsraten wie in der >>goldenen<< Nachkriegszeit von fünf und mehr Prozent
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erreichen würden, was nicht zu erwarten ist, würde die soziale Spaltung zwischen
den Einbezogenen und den Entkoppelten nicht verschwinden. Im Gegenteil: Mit der
Entfesselung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Produktivkräfte blieb immer
ein Teil auf der Strecke, der aus Gründen mangelnder Kompetenz und
unzureichender Motivation nicht mitkäme: Gerade ein rapider sozialer Wandel bringt
eine Gruppe von Überflüssigen und Entbehrlichen hervor, die sich mehr oder minder
zufällig am falschen Ort befinden, wo die alten Industrien niederbrechen, oder die
immer noch einer vergangenen Zeit nachhängen, als man den Wert der Arbeit
danach bemaß, wie dreckig die Hände waren. Die Wirkungen des
Wirtschaftswachstums auf die Beschäftigungsentwicklung gestalten sich eben nicht
linear, sondern sind durch eine bestimmte soziale Selektivität vermittelt, welche die
einen gewinnen und andere verlieren läßt.
Schließlich kann einen auch der Glaube an die Integrationskraft einer differenzierten
Gesellschaft
nicht
länger
beruhigen.
Die
heilende
Wirkung
des
Differenzierungsprinzips konnte man noch in Zeiten einer ironisch aufgefaßten
Modernisierung
darin
sehen,
daß
es
wenigsten
aus
dem
Kommunikationszusammenhang der Gesellschaft keinen Ausschluß gibt. Wer bei der
Arbeit das Nachsehen hat, mag im Konsum auf seine Kosten kommen; wem höhere
Bildung fehlt, kann sich ans Unterschichtenfernsehen halten; und wer sich
ausgeschlossen fühlt, kann immerhin noch die Aufmerksamkeit von Soziologen
erwecken. Aus einer modernen Gesellschaft kann man schon deshalb nicht
herausfallen, weil man, wie Paul Watzlawick lakonisch formuliert hat, nicht
kommunizieren kann.
Freilich stammen gerade von der soziologischen Schule, die das Lob der alles und
jedes einschließenden Kommunikation gesungen hat, die stärksten Zweifel an der
Kraft der Integration Differenzierung. Das Switchen zwischen den verschiedenen
Sphären und Bezügen funktioniert nämlich nur so lange, wie Zurücksetzungen in der
einen durch Höherschätzung in einer anderen Sphäre ausgeglichen werden können.
Hat jedoch der Ausschluß aus einem Folgen für den Einschluss in ein anderes
Subsystem, dann mehren sich die Misserfolge und verstärkt sich die Abweichung:
Keine zertifizierte Ausbildung, keine reguläre Beschäftigung, keine gesunde
Ernährung, kein ausreichendes Einkommen, keine dauerhaften Intimbeziehungen,
keine elterliche Verantwortung, kein Interesse an den politischen Angelegenheiten,
kein Zugang zur Rechtsberatung, keine ausreichende Krankenversicherung- die
Liste ließe sich verlängern und fügte sich, je nach Umständen, zu einer Geschichte
sich aneinanderreihender Benachteiligungen bis hin zu einer Karriere des sozialen
Ausschlusses. Dann bedeutet soziale Differenzierung nicht mehr die Rettung,
sondern beschließt das Schicksal.
Wir reden hier nicht von den 4 oder 5 Prozent sozial Verachteten, die die
Sozialstrukturanalyse auch in Zeiten von Vollbeschäftigung und Wohlfahrtsboom
registriert hat. Nicht von Clochards, die im Winter vom Kältetod bedroht sind, nicht
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von den Wohnungslosen, die dem Alkohol verfallen sind, nicht von den Verwirrten
und Verrückten, die es in keiner Psychiatrie hält, auch nicht von den Heroin-, Crackoder Vielfachabhängigen, die in ihrer Jungend ein eine entsprechende Szene
geraten sind, von der sie nicht mehr losgekommen sind. Die Nachfahren der Stadtund Landstreicher hat es immer gegeben und wird es immer geben, dazu kommen
die >>Kinder von Bahnhof Zoo<<, die natürlich auch in Ingolstadt, Eutin und Hagen
zu finden sind. Dem ist in offenen Gesellschaften und freien Ländern nur schwer
beizukommen. Aber das ist ein anderes Kapital, das sich auch mit der globalen
Drogenökonomie beschäftigen müsste. Wir reden hier nicht von einigen Zehntausend
unglückseliger und verlorener Existenzen, die zweifellos ein erhebliches soziales
Problem darstellen, sondern von Millionen von Ausgeschlossenen von
Ausgeschlossenen, die einen Keil durch unsere Gesellschaft treiben: Kinder, die in
Verhältnissen aufwachsen, wo es für keinen Zoobesuch, keinen Musikunterricht und
nicht für Fußballschuhe reicht, junge Leute ohne Hauptschulabschluß, die mit
Gelegenheitsjobs zufrieden geben müssen, Frauen und Männer im mittleren Alter,
die >>freigesetzt<< worden sind und keine Aussicht auf eine Wiederbeschäftigung
haben, Scheinselbständige und Projektmitarbeiter ohne soziale Rechte und
politische Stimme, Minijobber und Hartz –IV- Aufstocker, denen es kaum zum Leben
reicht, Kunden der Bundesagentur für Arbeit, die in einer Maßnahmenkarriere
verloren gegangen sind, und verschämte alte Leute, die sich in
ihre
Zweizimmerwohnung zurückgezogen haben. Gemeinsam ist ihnen, daß sie für sich
keine Perspektive mehr sehen, daß sie den Mut verloren haben und zu der
Überzeugung gelangt sind, daß es auf sie nicht mehr ankommt.
Nach der für die Sozialberichterstattung der Europäischen Union gültigen Definition
handelt es sich bei sozialer Exklusion um einen >> Prozess, durch den bestimmte
Personen an den Rand der Gesellschaft gedrängt oder durch ihre Armut bzw. wegen
unzureichender Grundfertigkeiten oder fehlender Angebote für lebenslanges Lernen
oder aber infolge von Diskriminierung an der vollwertigen Teilhabe gehindert
werden>>. Diese schwerfällige Formulierung, die sich komplizierter politischer
Kompromißbildung im >>Mehrebenensystem<< von Brüssel verdankt, tut noch so,
als ob man durch eine Generalisierung der Zugänge und durch eine Differenzierung
der Maßnahmen des Problem in den Griff bekommen könnte, doch die allgemeine
Auffassung von den Widersprüchlichkeiten und Gegenläufigkeiten der
gesellschaftlichen Entwicklung hat die Ausgeschlossenen längst zu einem integralen
Teil unserer Gesellschaft werden lassen. Es ist nicht zu erkennen, wie sie aus der
Welt zu schaffen wären, jede Inklusionsbemühung zeitigt über lang oder kurz
bestimmte Exklusionseffekte, die jene wieder sichtbar machen, die man zum
Verschwinden bringen wollte.
Woher kommt das? Was ist mit unserer Gesellschaft passiert, daß sie den
gesellschaftlichen Einschluss nur noch um den Preis des sozialen Ausschlusses
bewältigt? Welche Entwicklung
ist
für diese
Ernüchterung
unseres
Fortschrittsglaubens verantwortlich?
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Von den Opfern der Deindustrialisierung war schon indirekt die Rede. Die
Ausgeschlossenen sind, um den Titel des Klassikers von William Julius Wilson
aufzunehmen, jene, die übrig bleiben, wenn die Arbeit verschwindet. Sofort kommen
einem die vom industriellen Zeitalter zurückgelassenen Lachen von Detroit, Wales
oder Kattowitz in den Sinn. Wer hier festsitzt, ist im ökonomischen Sinne überflüssig
und von sozialer Unterstützung abhängig. Die Armut wächst, die Wohnquartiere
verfallen, die Kriminalität steigt, Die entstehenden >>No-go-Areas<< werden von
ihren Bewohnern genauso wie von den Außenstehen als städtische Höllen der Not,
der Immobilität und der Gewalt erfahren, die nur noch von einer Gesellschaft der
Ausgestoßenen ertragen werden können: In Deutschland wären Stadtteile
Bremerhavens, das von den Werften, Duisburgs, das vom Stahl, und Bitterfelds, das
von Chemie gelebt hat, Beispiele für solche Orte des industriellen Niedergangs und
der sozialen Verbannung.
Doch das Bild täuscht. Nicht allein wegen der Erfolge des staatlich geförderten
Strukturwandels,
der
Bremerhaven
einen
Containerhafen
und
ein
Auswanderermuseum, Duisburg eine Universität und die Anbindung an die neue
Dienstleistungskultur des zur europäischen Kulturregion avancierten Ruhrgebiets und
Bitterfeld einen >>Leuchturm<< industrieller Konversion beschert hat. Die
Ausschließung findet in Deutschland heute nicht von der Industrie, sondern durch die
Industrie statt. Die Gruppe der Ausgeschlossenen wächst im Gefolge einer
funktionalen Arbeitsteilung, die die wissenbasierte und dienstleistungsorientierte
Facharbeit zum Normalmodell einer industriellen Hochproduktivitätsökonomie
werden läßt. Die Medizintechnik, der Werkzeugmaschinenbau, aber auch die
deutsche Autoindustrie haben so ihre Stellung in der internationalen Arbeitsteilung
behauptet. Projektförmige Aufgabenbewältigung, flexible Spezialisierung und
eigenverantwortliche Qualitätskontrolle lauten die Stichworte des neuen
Arbeitsregimes. Selbst die Lagerarbeit ist keine einfache Tätigkeit mehr, die man im
Pack-an und Hau-weg-Stil bewältigen könnte, sondern verlangt aufgrund der
informationellen Darstellung der betrieblichen Abläufe gewisse systemanalytische
Kompetenzen.
Was aber ist mit jenen, denen Gruppenarbeit genauso fremd ist wie die Bedienung
eines Rechners, die Anforderungen als Bedrohungen erleben und die sich von
dahergelaufenen Studierten im weißen Kragen schon gar nichts sagen lassen? Für
diejenigen bleiben alle die Tätigkeiten, die im Prinzip fremd vergeben und
ausgelagert werden können. Man Spricht in diesem Zusammenhang von
>>Jedermannsarbeitsmärkten<< der unqualifizierten, unsteten und ungesicherten
Arbeitsverhältnisse. Für das repetitive Zusammensetzen kann man Stücklöhne unter
Tarif vereinbaren, das Aufräumen und Saubermachen können Kolonnen mit
>>flexiblen Arbeitszeiten<< übernehmen und die Sicherungsdienste sind mit
Gelegenheitsjobs und Teilzeitstellen zu bewerkstelligen. Die entsprechenden
Beschäftigungsverhältnisse sehen geringe Entlohnung, kurze Kündigungsfristen und
wenige Rechte vor. So entsteht ein Proletariat neuen Typs, für das die Arbeit und der
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Erwerb nicht mehr eine Form von Reglementierung und Homogenisierung darstellt,
sondern ganz im Gegenteil zu einer Quelle von Fragmentierung und Unsicherheit
wird.
Wir haben es mit einem paradoxen Muster zu tun: Auf der einen Seite wächst die
Nachfrage für motivierte, qualifizierte und inspirierte Arbeitskräfte und auf der
anderen Seite verschärft sich die Bereitschaft zum Ausschluß einer unmotivierten,
ungelernten und unwissenden Bevölkerung. Während die einen selbsbewußt die
Bedingungen ihres Arbeitsvertrags aushandeln können, müssen sich die anderen auf
Bedingungen einlassen, die ihre Verwundbarkeit entblößen und ihre Gefährdetheit
besiegeln. Das führt zu einer unterschiedlichen Betroffenheit von den konjunkturellen
Zyklen: In Zeiten des Aufschwungs wirbt man in erster Linie um die Arbeitsnehmer in
den Hochproduktivitätspositionen, und in Zeiten der Rezession versucht man
zuallererst die Arbeitnehmerrinnen in den Prekaritätspositionen loszuwerden. Es ist
also weniger die Deindustrialisierung als die Hyperindustrialisierung, die in
Deutschland eine Population von Ausgeschlossenen hervorbringt.
Eine zweite Ursache für die Verstörung des modernen Fortschrittsglaubens hängt mit
den noch unverstandenen Folgen der Migration in unserer Gesellschaft zusammen.
Wir leben nicht mehr, wie Joseph Schumpeter seinen berühmten Aufsatz von 1927
über die Reproduktion der Kassenverhältnisse überschrieb, im >>ethnisch
homogenen Milieu<<, und wir wissen im Grunde, daß sich daran nichts ändern wird.
Binnen zweier Generationen haben sich Teile Deutschlands von einer Auswander- in
eine Einwandergesellschaft verwandelt. In der Bundesrepublik lebten Ende 2003
rund 7,3 Millionen Ausländerinnen und Ausländer, was einem Teil von fast 9 Prozent
an der Gesamtbevölkerung entspricht. Zwischen 1999 und 2003 blieb deren Zahl
übrigens weitgehend stabil. Auch ist die Zahl der Asylbewerber weitere von rund 95
000 im Jahr 1999 auf etwa 36 000 im Jahr 2004 gesunken. Aber die Anzahl an sich
ist nicht das Problem. Sind 10, 15, oder 20 Prozent Migranten eine Belastung?
Belastet wird das Zusammenleben vielmehr dadurch, daß die Migration eine
Spaltung in der Migrationsbevölkerung selbst mit sich bringt: Viele machen ihr Glück
und finden ihren eigenen Platz in unserer Gesellschaft. Selbst bei lange verweigerter
rechtlicher Integration, was die Staatsbürgerrolle betrifft, und der nach wie vor
zurückhaltenden kulturellen Integration, was den offenen Umgang mit Differenzen in
der Lebensart angeht, ist ihre soziale Integration in der Generationenfolge
vorangeschritten. Der Bildungserfolg der Kinder liegt beträchtlich über dem ihrer
Eltern, und die Erwerbsbeteiligung in der dritten Generation von beeindruckenden
Statusverbesserungen gekennzeichnet. Es gibt in Deutschland einen
italienischstämmigen, einen griechischstämmigen und erst recht einen
türkischstämmigen Mittelstand. Wir haben in der Bundesrepublik einen
Bundesverfassungsrichter, der italienischer Abstammung ist, und eine der
Volksparteien Schmückt sich mit einem außerordentlich erfolgreichen
türkischstämmigen Touristikunternehmer. Dem steht allerdings eine unklare Anzahl
von Migranten gegenüber, die den Anschluss verliert, die sich isoliert und sich in
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ihrem Verlierertum zu radikalisieren scheint. Das sind die Migrationsverlierer, die sich
in den Augen der zivilisierenden >> Mehrheitsklasse<< unserer Gesellschaft zu einer
Gefahr für den sozialen Zusammenhalt insgesamt entwickeln.
Sie sammeln sich nach allgemeiner Vorstellung oft in heruntergekommenen
Stadtquartieren. Dort sind die Schulen mit einem >>ndH<<, so die unter Lehrern und
Erziehern gebräuchliche Formel für den Anteil von Kindern >>nicht-deutscher
Herkunft<<, von 70 oder 80 Prozent, dort ist das Kleingewerbe von
Handygeschäften, Frisörsalons und Glücksspielläden in >>ausländischer<< Hand,
dort fallen im Straßenbild die von Kleinkindern umringten verschleierten Frauen auf.
Die entsprechenden Daten liegen dank der PISA- Untersuchungen auf der Hand: So
ist die Benachteiligung von Kindern mit Migrationshintergrund besonders hoch. 2003
haben noch 17 Prozent der deutschen die Hauptschule ohne Abschluss verlassen.
Hier konzentriert sich ein Potential von Migrationsverlierern, in dem
Benachteiligungen kumulieren, wodurch sich Zugänge verschließen, was wiederum
Erwartungen enttäuscht und Gewaltbereitschaft fördert. So argumentieren, nicht
unähnlich dem Alltagsverstand, auch sozialwissenschaftliche Theorien sozialer
Deprivation, gruppenspezifischer Ausgrenzung und gesellschaftlicher Anomie.
Wie aber kommt die Spaltung der Migranten zustande und was denken, fühlen und
wollen die Migrationsverlierer? Eine Wenig bedacht Ursache liegt in der Dynamik des
Migrationszyklus. Offenbar ist es für die erste Generation leichter, Chancen zu
ergreifen, einen Brückenkopf aufzubauen und Ruhe zu bewahren. Man lebt aus der
positiven Bilanz der durch die Migration verbesserten Lebenslage. Die zumeist aus
bäuerlichen Subsistenzwirtschaften stammenden >>Gastarbeiter<< der sechziger
und siebziger Jahre erlebten eine Stellung als un- oder angelernte Arbeiter im
produzierenden Gewerbe als sozialen Aufstieg. Schon in der zweiten Generation
müssen Erwartungen der Positionsverbesserung in Ankunftsgesellschaft erfüllt
werden, was ganz andere Enttäuschungen riskiert. Der Sohn soll als Facharbeiter
unterkommen und die Tochter einen Mann bekommen, der sich einen
Mittelklassewagen und eine Einbauküche leisten kann. Und in der dritten Generation
werden die Erwartungen nicht mehr nur auf die eigene Herkunftslinie, sondern mehr
noch auf die Lebenschancen von Gleichaltrigen überhaupt bezogen. Die Enkel
denken nicht mehr daran, für andere Bezüge der Frustration geschaffen. Man ist
jedenfalls nicht mehr bereit, wie einst die Großeltern die Ungleichheit der
Lebenschancen duldend hinzunehmen. Was denen die selbstverständliche
Voraussetzung des Vorankommens war, bedeutet für jene des Einverständnis mit
den Zurückbleiben. Es ist das Empfinden von Ungerechtigkeit, das die
Migrationsverlierer nach Halt in Vorstellungen suchen lässt, die eine höhere
Kompensation für erlittene Frustration versprechen. Die Logik besteht darin, daß man
sich anders macht, um gleich sein zu können,
Daher
haben
wir
besonders
bei
den
Heranwachsenden
mit
Migrationshintergrund, die sich als die intern Ausgegrenzten empfinden, keine willige
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Adaption an unsere >>Leitkultur<< und keine freudige Partizipation an unserer
Demokratie zu erwarten. Sie sehen sich in ihrem Erfolg wie in ihrem Scheitern als
Adressaten einer Stigmatisierung durch die Mehrheitsgesellschaft, der gegenüber sie
sich zu beweisen haben. Dazu kommt die Konkurrenz zwischen den
Migrantengruppen. Die Abkömmlinge der Bürgerkriegsflüchtlinge die Plätze teilen.
Vor dem daraus sich entwickelnden Ethnorassismus unter den Migranten steht die
deutsche Mehrheitsbevölkerung mit hilflosem Erstaunen oder abweisendm
Unverständnis.
Es existiert noch eine dritte Ursache für sozialen Ausschluß: Das ist der
Wohlfahrtsstaat neuen Typs, der gesellschaftlich brachliegende Arbeitskraft nicht
mehr nur verwalten und stillstellen, sondern für >>dynamische Arbeitsmärkte<<
befähigen und aktivieren will. Also keine Frühverrentungsprogramme mehr, sondern
>>lebenslanges Lernen<< bei verlängerter Lebensarbeitszeit. >>Fordern und
Fördern<< lautet die Parole. Danach bemisst sich, wer, auf welche Weise und in
welchem Umfang vor den sozialen Absturz bewahrt wird. So wird vom Prinzip der
erwartbaren Statussicherung auf das der totalen Mobilisierung umgestellt. Der
>>aktivierende<<, >>ermutigende>> oder >>befähigende<<- oder wie die Attribute
sonst noch heißen- Wohlfahrtsstaat soll die Leute nicht mehr vor der Anarchie der
Märkte schützen, sondern sie zum Mitgehen verleiten und auf den Wechsel
einstellen. Nicht Politik gegen, sondern für Märkte ist das leitende Prinzip, Dafür muß
das muffig riechende Arbeitsamt zu einem farbig gestalteten >>Jobcenter>>
aufgepeppt werden. An die Stelle von Versorgung im Anstaltsstaat tritt das >>
Assessment<< nach den Prinzipien der >> Beschäftigungsfähigkeit<<.
Wie auch immer man die Transformation von einem Wohlfahrtsstaat, der die
Passivität duldet und die Hilflosigkeit erlernt, zu einem, der die Eigenaktivität prämiert
und die Selbstverantwortung einfordert, beurteilt, ein perverser Effekt ist nicht zu
vermeiden: Das Programm der Aktivierung und Mobilisierung erzeugt unweigerlich
eine Restkategorie von Menschen, die sich trotz aller Angebote und Anreize nicht
aktivieren und mobilisieren lassen. Das kann viele sehr unterschiedliche Gründe
haben: Die Überqualifikation eines promovierten Mathematikers, dem nach Ablauf
von 12 Jahren wissenschaftlicher Tätigkeit von der Universität wegen einschlägiger
Laufbahnregelungen eine Vertragsverlängerung verweigert werden muß, kann
genauso dazu gehören wie die Geringqualifikation eines Mittvierzigers mit nicht
nachweisbaren
Schulabschlüssen,
der
20
Jahre
als
mithelfender
Familienangehöriger in dem jetzt geschlossenen Schnellrestaurant seines Onkels
beschäftigt war. Der erste gilt wegen Kontaktscheue, der zweite wegen
Distanzlosigkeit als schwer vermittelbar. Weiterqualifikation oder Umschulung
werden als sinnlos erachtet. Das sind die Ausgeschlossenen des neuen
Wohlfahrtsstaats. Ohne schlechtes Gewissen kann am Ende gesagt werden: Wir
haben doch alles probiert, aber die können und wollen einfach nicht.
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Diese Einsicht erschreckt um so mehr, als heute der soziale Klassencharakter von
Lebensformen und Lebensentwürfen in Frage steht. Was als Individualisierung und
Pluralisierung der Lebensverhältnisse verhandelt wird, konnte man so lange positiv
sehen, wie der gesellschaftliche Fortschritt ein Mehr an Chancen bei einem Weniger
von Risiken verhieß. Aber seitdem die Rechnung aufgemacht wird, daß neue
Chancen mit anderen Risiken erkauft werden müssen, bereitet sich besonders bei
denen, die etwas zu verlieren haben, Statuspanik aus. Hier zeigt sich ein vierter
Wirkungszusammenhang des sozialen Ausschlusses, der sich aus dem Wandel der
gesamten Verfassung unserer Gesellschaft ergibt. An der Passung von Individuum
und Gesellschaft hat sich etwas geändert. Die Soziologie spricht von sozialer
Plazierung und meint damit die Prozesse und Verläufe, die bestimmen, wie Personen
auf Stellen kommen, wie sie in Positionen verbleiben und wie sie zu Statuswechseln
gezwungen werden, Am Ende fällt der Apfel nicht weit vom Stamm, aber
zwischendrin ist ziemlich uneindeutig und ungewiss, welche Wirkungen die Herkunft
entfaltet, welche Entscheidungen die richtigen sind und welche Zufälle einen treffen.
Das gesamte soziale Gefüge ist unter den Druck der Verzeitlichung geraten. Niklas
Luhmann hat dafür die schöne Formel von der Umstellung von Herkunft auf Karriere
geliefert. Und dabei geht nicht alles in eine Richtung oder auf direktem Wege.
Karriere ist ein schillernder Begriff: Es gibt Aufsteiger- und Absteigerkarrieren und
>>Karrieren aus der Karriere heraus<<.
Es ist eben nicht mehr von Anfang an klar, wohin man auf den Gleis, auf das einen
das Elternhaus setzt, gelangt. Man kann als Kind aus kleinen Verhältnissen auf
unwahrscheinliche Weise vorankommen, man kann aber als Abkömmling eines
Bildungsaufsteigers auch auf unerwartete Weise Schiffbruch erleiden. Insofern
haben die Verfechter des homo oeconomicus schon Recht: Das Individuum ist nicht
einfach Abbild der Gesellschaft, sonder immer auch Ausdruck seiner Strategien,
Kalkulationen und Entscheidungen. Man muß zu dem werden, was man ist. Dabei
hängt viel davon ab, worauf man setzt, was man versteht und wie man sich gibt.
Das beginnt schon in der Schule, wo Kompetenz als Zauberwort gilt. Nicht
spezifische Aufgabenerfüllung wird erwartet, sondern die Darstellung von kreativem
Umgang, eigener Initiative und generalisierter Erfassung. In der Abkehr von
Frontalunterricht steckt die Aufforderung, nicht nur der Lehrerin oder dem Lehrer zu
folgen, sondern sich selbst zu organisieren. Spielerisch lernen heißt, sich die Dinge
selbst beizubringen. Dieses verborgene Curriculum regiert den gesamten
Bildungsprozess, der darauf abgestellt ist, das Lernen des Lernens zu lernen. Wer
nicht versteht, wie man das macht und vor allem wie man den Kompetenzerwerb
unter Beweis stellt, hat mit einem Mal das Nachsehen. Und ob man das auf einer
Waldorfschule besser lernt als auf einer konfessionellen Schule oder ob nicht doch
eine normale öffentlicher Schule mit jahrgangsübergreifendem Unterricht und
Montessoripädagogik die bessere Wahl darstellt, kann den besorgten Eltern auch
kein pädagogisches Coaching mit Sicherheit sagen.
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Daran schließen nahtlos die neueren Managementtheorien an, die die
Projektförmigkeit der Arbeitsabläufe, die Generalisierung von Zuständigkeiten und
die Flexibilität von Einsatzfähigkeiten gerade für die hochproduktiven Tätigkeiten
herausstellen. Am Wochenende die dienstlichen E-Mails kontrollieren, zur Sicherheit
auf dem Nachhauseweg das Handy abhören und sich nach Feierabend noch mal an
den Rechner setzen, das alles ist längst nicht mehr nur für Führungskräfte
selbstverständlich. Wer vorankommen will, muß, gleichviel auf welcher Ebene des
Betriebs, zeigen, daß sie oder er nicht nur auf Anweisungen zu warten pflegt und
sich nicht allein in hergebrachten Bahnen bewegen kann. Das Regime des
rationierten Statuserwerbs wird durch jenes des Versetzungsaufstiegs, der
Prämienzahlungen und der Extravergütung ersetzt. Gefördert werden die
Kompetenten, Mobilen und Flexiblen, auf der Stecke bleiben die Unbeweglichen,
Flexiblen, auf der Strecke bleiben die Unbeweglichen, Ängstlichen und Engstirnigen,
Das bringt ein Stresspotential eigener Art mit sich.
Aber wie lange läßt sich die Überzeugung von der eigenen Wendigkeit, Schnelligkeit
und Geschmeidigkeit aufrechterhalten? Wer sich durch Körpershaping, Antiaging und
Alltagsdoping fit und flexibel hält, fühlt sich in Augenblicken der Ermüdung und
Ermattung schnell vom Gespenst der Überflüssigkeit bedroht. Was zählt man noch,
wenn man nicht mehr mithalten kann? Es scheint sich gerade bei den Avantgardisten
der >>time-space-compression<<, die sich im ICE zwischen den verschiedenen
Arbeitsorten und der Heimatadresse bewegen, die vor der Minibar im Hotelzimmer in
plötzliche Depression geraten und die kein aufgebackenes Croissant zum
Busineßfrühstück mehr sehen können, ein Gefühl des Driftens auszubreiten. Wer im
Dienste seiner allseitigen Anschlussfähigkeit alle Kleider des Kollektiven abgestreift
hat, sieht sich in Momenten der Unterbrechung und des Übergangs auf die
>>transzendentale Obdachlosigkeit<< der eigenen Biographie zurückgeworfen. Sie
sollen das Leitbild für die totale Mobilisierung des Arbeitsvermögens darstellen, und
fühlen sich selbst in ihrer Haut nicht wohl und in ihrer sozialen Position alles andere
als gesichert.
Der Boden der Gesellschaft schwankt. Robert Castel hat in Absetzung von den in der
Soziologie gebräuchlichen Schicht- und Klassenbegriffen den Begriff der Zone
eingeführt, um die labilen Verhältnisse zwischen den Integrierten, den Anfälligen und
den Entkoppelten zu erfassen. In einer verallgemeinerten >>Kultur des Zufalls<<, in
der sich hinter jeder Wahl die bange Frage verbirgt, ob man sich auch richtig für das
eine und gegen das andere entschieden hat, kann man unversehens aus der Zone
des stabilen Einbezogenseins in die prekäre Unentschiedenheit geraten. Die Fragen,
ob man die richtig Ausbildung, den passenden Partner, die aussichtsreiche
Beschäftigung und die beste Schule für die Kinder gewählt hat, lassen einen nicht in
Ruhe. Wenn dann der Wohlstand prekär, die Locher des sozialen Netzes durch
Trennung und Entfernung größer, das Vertrauen in die Institutionen des sozialen
Schutzes schwächer und die Abhängigkeiten von den körperlichen Süchten tiefer
geworden sind, findet man sich unversehens in die Zone der Entkoppelung
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geworfen. Die Welt der Chancen scheint mit einem Mal die der anderen zu sein- und
für einen selbst besteht die Wirklichkeit des Lebens mehr in einem Erleiden der
äußeren Ereignisse und Entwicklungen als im Handeln in einer Welt selbstbewirkter
Wirkungen.
Es ist also nicht nur so, daß jedes soziale Feld, wie Pierre Bourdieu einmal formuliert
hat, sein >>kleines Elend<< kennt, man denke an den ewigen Oberarzt, an die
verbitterte Sachbearbeiterin, an den auf der Vorortstrecke hängengebliebenen
Zugeschaffner, an die vom >>Weiblichkeitswahn<< zermürbte Hausfrau und Mutter
mit Universitätsabschluss. Nein, dieses mehr oder minder normale Unglück isst es
nicht allein: die soziale Stufenleiter ist überhaupt glitschiger geworden. Der Absturz
scheint von überall möglich.
Natürlich gibt es nach wie vor schützende Ressourcenausstattungen in Form von
Vermögensrücklagen, Bildungstiteln und nützlichen Freunden, aber das Vertrauen,
der Lebensverlauf halte sich im Positiven wie im Negativen im Rahmen erwartbarer
Wahrscheinlichkeiten, ist offenbar abhanden gekommen. Karriere ist nicht nur ein
Versprechen, sondern zugleich eine Bedrohung.
So ziehen sich die unregelmäßigen, aber unmissverständlichen Linien der sozialen
Spaltung durch unsere Gesellschaft. Auf der einen Seite stehen diejenigen, die den
sozialen Wandel verkörpern und den Takt vorgeben, und auf der anderen diejenigen,
die zurückbleiben und aus dem Rhythmus kommen. Das Passiert auf allen Ebenen
und in den verschiedenen Milieus unserer Sozialwelt: In den Milieus der
Unterprivilegierten genauso wie in den Arbeitnehmermilieus der Mitte, im
psychosozialen Mittelstand der Ärzte, Therapeuten und Lehrer genauso wie im
Bildungsbürgertum der Professoren, Pfarrer und Rechtsanwälte, in der Manager- und
Bankerklasse genauso wie in den Reihen des Besitzbürgertums, Die Milieus teilen
sich in relativer Gewinner und relative Verlierer. Es ist im Zweifelsfall eine Frage der
Energie, des Geschicks und der Berechnung, aber auch eine der Gelegenheiten und
des Glücks, ob die Leute in ihrem jeweiligen Viertel auf der sonnigen oder auf der
schattigen Seite der Straße landen.
Den der soziale Raum ordnet sich entlang von zwei Dimensionen: entlang der
vertikalen Dimension der sozialen Stufenleiter und entlang der horizontalen der
Fühlung mit den sozialen Wandel. Weil von Wechsel der Funktionalen Arbeitsteilung,
von der veränderten Zusammensetzung der Bevölkerung durch Einwanderung, vom
Umbau des Wohlfahrtsstaats und von der Entstandardisierung der
Lebenslaufregimes keine Lebenswelt und kein Sozialsystem unberührt bleibet, lässt
sich die Dynamik des sozialen Ausschlusses nicht auf einen bloßen Algorithmus der
Armut reduzieren. Das Ausmaß der Spaltung zwischen denen, die sich sicher sein
können, daß ihre Stimme zählt, und jenen, die von dem Gefühl beherrscht sind, daß
es auf sie nicht mehr ankommt, befindet über das >> gute Leben<<, das eine
Gesellschaft ihren Mitgliedern ermöglicht. Wenn die vermittelnde Kommunikation
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zwischen denen, die drinnen sind, und denen, die draußen bleiben, abbricht, zerreißt
die soziale Spaltung das soziale Band des Zusammenlebens.
Dieser Beitrag ist das erste Kapitel aus dem Buch des Autors Heinz Bude "Die
Ausgeschlossenen. Das Ende vom Traum einer gerechten Gesellschaft", erschienen
im Carl Hanser Verlag, München 2008.
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Quellen
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 Martin Kronauer, Exklusion: Die Gefährdung des Sozialen im
hochentwickelten Kapitalismus, Frankfurt am Main/New York 2002
 Bude und Andreas Willisch (Hrsg.) Das Problem der Exklusion. Ausgegrenzte,
Entbehrliche, Überflüssige, Hamburg 2006
 Heinz Bude und Andreas Willisch, Exklusion. Die Debatte über die
„Überflüssigen“, Frankfurt am Main 2008
 Avishai Margalit, Politik der Würde. Über Achtung und Verachtung, Frankfurt
am Main 1999.
 Hansgert Peisert, Soziale Lage und Bildungschancen in Deutschland,
München 1967
 Lutz Leisering, Desillusionierungen des modernen Fortschrittsglaubens, in :
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 Alexis de Tocqueville, Über den Pauperismus. Erste Denkschrift von 1835:
Das allmähliche Fortschreiten der Massenarmut in den modernen Staaten,
zitiert nach Alexis der Tocqueville, Das Elend der Armut. Über den
Pauperismus. Übersetzt von Michael Tillmann. Mit einem Nachwort von
Manfred Füllsack, Michael Tillmann und Thomas Weber, Berlin 2007, S. 31
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 Stefan Hardil, Die Sozialstruktur Deutschlands im internationalen Vergleich,
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 Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede, Kritik der gesellschaftlichen
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