Russlanddeutsche Aussiedler verstehen

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Russlanddeutsche Aussiedler verstehen
Eyselein_Entwurf 28.06.2006 10:45 Uhr Seite 2
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Christian Eyselein Rußlanddeutsche Aussiedler verstehen
Christian Eyselein
ISBN 3-374-02379-7
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Probedruck
Rußlanddeutsche
Aussiedler verstehen
Praktisch-theologische Zugänge
Christian Eyselein
RUSSLANDDEUTSCHE AUSSIEDLER VERSTEHEN
Christian Eyselein
RUSSLANDDEUTSCHE
AUSSIEDLER VERSTEHEN
Praktisch-theologische Zugänge
Die Deutsche Bibliothek – Bibliographische Information
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet
über http://dnb.ddb.de abrufbar.
2. Auflage 2006
© 2006 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH, Leipzig
Printed in Germany · H 7045
Alle Rechte vorbehalten
Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier
Satz: Christian Eyselein, Windsbach
Druck und Binden: Bookstation GmbH, Gottmadingen
ISBN 3-374-02379-7
www.eva-leipzig.de
Vorwort
Die ersten in Karaganda (Kasachstan) oder in Duschanbe (Tadschikistan) geborenen Menschen, mit denen ich bewußt zusammenkam, waren junge Eltern, die ich
vor der Taufe ihres Kindes besuchte. Ihre Sprache befremdete mich, ihre Vorstellungen von Kirche waren mehr als vage, und von ihrem Leben vor der Ausreise
nach Deutschland wußte ich wiederum nichts. Bald waren es nicht mehr nur Kinder, um deren Taufe ich gebeten wurde, sondern immer wieder mehrere Menschen
aus einer Familie zugleich, auch über die Generationsgrenzen hinweg.
Die Zahl rußlanddeutscher Aussiedler im Gemeindegebiet der Apostelkirche in
Neuburg an der Donau begann in der ersten Hälfte der neunziger Jahre sprunghaft
zu wachsen. Freiwerdende Sozialwohnungen waren attraktiv für bisherige Bewohner des Übergangswohnheims in einem verpachteten großen Gasthof im
Nachbarort. Und solange es rechtlich möglich war, bemühten sich rußlanddeutsche Aussiedler, an einen Ort zu kommen, an dem bereits andere von „ihren Leuten“ lebten.
Vielfältige Begegnungen mit Aussiedlern in allen gemeindlichen Arbeitsfeldern
schlossen sich in den folgenden Jahren an. Sie umfaßten einen weiten Bereich, der
tief anrührende Situationen ebenso einschloß wie auch Momente großer Ratlosigkeit: Eine bis vor kurzem im Schatten des Ostblocks verborgene Welt deutscher
Menschen begann sich inmitten unserer Kirche zu erschließen und konfrontierte
die westlichen Gemeinden mit ihrer eigenen, in dieser Hinsicht meist völligen
Ignoranz. Hatte ein Großteil der deutschen Bevölkerung und mit ihr auch der
Kirchengemeinden schon nicht mit einer Wiedervereinigung Deutschlands in
absehbarer Zeit gerechnet, bestand umso weniger ein Bewußtsein für Millionen
von Menschen hinter dem „Eisernen Vorhang“, die sich als Deutsche verstanden
und nach Öffnung der Grenzen nun nach Westen strebten.
Zum bewegenden, zunehmend auch bedrängenden Dauerthema erwuchsen
diese neuen Herausforderungen auch an anderen Orten des Dekanatsbezirks
Ingolstadt, in einigen Gemeinden in noch weit höherem M aß. Im Lauf weniger
Jahre wurde die Region an der Donau zu einem der Hauptzuzugsgebiete von Aussiedlern in der bayerischen Landeskirche. Wie sollten evangelische Gemeinden sich
den neuen Gegebenheiten stellen? Viel guter Wille und enttäuschende Mißerfolge
lagen oft nahe zusammen. War und ist es denn gerechtfertigt, daß Hunderttausende, die ihre kulturelle Prägung sichtlich unter völlig anderen Bedingungen erfahren
haben, sich als Deutsche verstehen und Heimat in unserer Mitte suchen? Herzliche
Akzeptanz ist vielerorts anzutreffen, ebenso aber bewußte Zurückhaltung aus
Selbstschutzbedürfnissen hiesiger Gemeinden oder auch aus dem Bedenken, eine
„Überbetreuung“ erschwere letztlich nur die Eingliederung.
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VORWORT
Wer hier in Deutschland wußte schon noch von den vielfach gebrochenen
Wegen verschiedener einmal aus deutschen Regionen nach Osten Ausgewanderter
auf ihrer jahrhundertelangen Suche nach Heimat? Wer hätte gewußt, warum ein
Teil älterer Rußlanddeutscher nun bereits zum zweiten Mal nach Westen kam?
Warum klagte die eine in Deutschland angekommene Frau, wenn sie könnte, ginge
sie sofort zurück nach Sibirien, während die andere bald klarstellte, sie wolle nie
mehr umziehen; der neue Wohn- werde auch ihr Begräbnisort sein.
Die Frage nach besserem und angemessenem Verstehen Rußlanddeutscher
begleitete mich nach den Jahren im Gemeindedienst weiter während einer praktisch-theologischen Assistentur an der Theologischen Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Prof. Dr. Günter Rudolf Schmidt und
Prof. Dr. Peter Bubmann ermöglichten es mir, meine Fragen wissenschaftlich zu
vertiefen und gleichzeitig durch Mitarbeit in der Aussiedlerseelsorge der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern regelmäßige Verbindung mit diesem Praxisfeld zu halten. Im Jahr 2004 konnte ich das Ergebnis dieses Prozesses als Habilitationsschrift bei der Augustana-Hochschule Neuendettelsau vorlegen, der ich durch
eine Dozentur am Studienseminar Pfarrverwalterausbildung zugeordnet und als
Studienleiter am bayerischen Pastoralkolleg benachbart bin.
Zu danken habe ich der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern für die
Zusage einer anteiligen Bezuschussung der Kosten für den Druck, für den die
Studie noch leicht überarbeitet und aktualisiert wurde.
Mein Dank gilt außer Prof. Schmidt und Prof. Bubmann für die nötigen Freiräume zu dieser Arbeit, auch Prof. Dr. Manfred Seitz für wertvolle Anregungen,
dem praktisch-theologischen Doktorandenkolloquium in Erlangen, dem ich
hilfreiche und korrigierende Signale verdanke, und Prof. Dr. Klaus Raschzok, der
mir in der Schlußphase in intensiven Gesprächen ein ermutigender Begleiter war.
Dank gilt aber besonders auch den Frauen und Männern, die in der Aussiedlerarbeit tätig sind und mir in vielen Begegnungen und guter Zusammenarbeit in der
Konferenz für Aussiedlerseelsorge und in einem Glaubensbuchprojekt Anregung,
Bodenkontakt und Resonanz vermittelt haben. Und nicht zu vergessen sind die
Rußlanddeutschen selbst, die ihre Wohnung und im Gespräch ihr Leben und ihr
Herz öffneten und mir Einblicke schenkten in den schweren Reichtum ihres
Lebens.
Für vielfache Ermutigung, unablässiges interessiertes Gespräch und intensive
Mitarbeit an den Korrekturen danke ich von Herzen meiner Frau Gertraud. Und
für Geduld und manchen Verzicht unserer Tochter Laura.
Windsbach, im Dezember 2005
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Christian Eyselein
Inhalt
V ORWORT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5
INHALT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
EINLEITUNG
1. Thema und Ziel . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Verortung, Methodik und Abgrenzung . . . .
2.1 Thematisierung von Aussiedlermigration
2.2 Fragerichtungen . . . . . . . . . . . . . . . .
2.3 Vorgehenswege und Grundannahme . .
2.4 Profil und Abgrenzung . . . . . . . . . . .
3. Zur Forschungslage . . . . . . . . . . . . . . . .
3.1 Kirchlich-theologische Publikationen . .
3.2 Zur allgemeinen Aussiedlerforschung . .
4. Zur Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5. Zum Aufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6. Verwendetes Material . . . . . . . . . . . . . . .
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DAS PROBLEM
1. Aussiedlerzugang in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.1 Zahlenentwicklung und Herkunft . . . . . . . . . . . . . . .
1.1.1 Entwicklung der Zuzüge seit 1950 . . . . . . . . . . .
1.1.2 Zuzüge von Deutschen aus der UdSSR und ihren
Nachfolgestaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.1.3 Wanderungsbilanz in Deutschland . . . . . . . . . . .
1.1.4 Herkunftsgebiete der sog. Rußlanddeutschen . . . .
1.2 Soziographie der Rußlanddeutschen . . . . . . . . . . . . . .
1.2.1 Altersschichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.2.2 Mitgebrachte Qualifikationen und Berufe . . . . . .
1.2.3 Konfessionsverteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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INHALT
2. Aussiedler in den Gemeinden der Evang.-Luth. Kirche in Bayern
2.1 Landeskirchliche Daten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.1.1 Allgemeine Situation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.1.2 Zum Beispiel: Passau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.1.3. Zum Beispiel: Regensburg . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.2 Gemeindepraxis mit Aussiedlern . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.2.1 Aktivitäten am Ort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.2.2 Beispiel Passau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.2.3 Beispiel Regensburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.2.4 Beispiel Ingolstadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.2.5 Personelle Ressourcen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.2.6 Unterstützung auf EKD-Ebene . . . . . . . . . . . . . . .
2.2.7 Arbeitsgemeinschaft Missionarische Dienste . . . . . . .
2.3 Beheimatung in Sicht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3. Das Problem: Fremdheit auf Dauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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ABSCHIED AUS HOFFNUNG:
DIE HERKUNFT DER
SOGENANNTEN RUSSLANDDEUTSCHEN
1. Vom Antrag bis zur Ankunft:
Mühen der Ausreise in eine bessere Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.1 Ausreise Deutscher aus der Sowjetunion . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.2 Ausreise aus den postsowjetischen GUS-Staaten . . . . . . . . . . . .
2. Abschied vom Alltag aus Hoffnung auf Heimat . . . . . . . . . . . . . . .
2.1 Wohngebiete und ethnosoziale Situation vor der Ausreise . . . . . .
2.1.1 Siedlungsgebiete der Deutschen in der zweiten Hälfte des 20.
Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.1.2 Nation ohne Territorium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.1.3 Die ethnosoziale Situation der Rußlanddeutschen . . . . . . .
2.2 Als Deutsche unter Deutschen leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.3 Zurücklassen von Beziehungen und Besitz . . . . . . . . . . . . . . . .
3. Abschied von einer schlimmen Geschichte in eine bessere Zukunft . .
3.1 Die verlorene gute Vergangenheit in Rußland . . . . . . . . . . . . . .
3.1.1 Die Anfänge: Kulturaustausch durch Migration . . . . . . . . .
3.1.2 Die Baltendeutschen: Führungsschicht im Zarenreich . . . .
3.1.3 Deutsche in den Städten: Import von Kompetenz . . . . . . .
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INHALT
3.1.4 Deutsche Kolonisten auf dem Land: „Peuplierung“ bracher
Steppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a. Besiedlung an der Wolga . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b. Südrußland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
c. Weitere Siedlungsgebiete . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
(1) Siedlungen am Kaukasus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
(2) Wolhynien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
(3) Ansiedlung in Sibirien und Mittelasien . . . . . . . . . . .
d. Mennonitensiedlungen und Herrnhuter Mission . . . . . .
(1) Mennonitische Siedlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
(2) Herrnhuter Brüdergemeine . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.1.5 Blütezeit der Kolonien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.1.6 Gute Zeiten in den schlechten:
Nationale Autonomien und Wolgarepublik . . . . . . . . . . .
3.2 Wanderung – Grundzug rußlanddeutscher Geschichte . . . . . . . .
3.2.1 Abschied vor dem Abschied . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.2.2 Heimatsuche als offenes Projekt . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.3 Die Vertreibung aus der Heimat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.3.1 Deportation der Wolgadeutschen . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.3.2 Trudarmee und Kommandantur . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.3.3 Die Vertreckung der Ukrainedeutschen:
„Heim“ ins Reich? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.3.4 „Repatriierung“: Heimholung als Betrug . . . . . . . . . . . . .
3.3.5 „Verbannt auf ewige Zeiten“: „Keine Heimat, nirgends“ . . .
3.4 Nach der „Stunde Null“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.4.1 Wohnen, wo es besser ist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.4.2 Ausreise oder Autonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.4.3 Neue Hoffnung Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4. Abschied von einer fragmentarischen Kirche
in ein „christliches“ Land . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.1 Kirche und Frömmigkeit bis zum Verlust der Heimat . . . . . . . . .
4.1.1 Die Anfänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.1.2 Gemeindeaufbau und Kirchenstruktur der Evangelischen . .
4.1.3 Katholiken in Rußland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.1.4 Die Leitung der Gemeinden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.1.5 Spezifika rußlanddeutscher Frömmigkeitsentwicklung . . . .
4.1.6 Nach 1917: Zwei letzte Jahrzehnte . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.2 Kirche ohne Kirche: Gemeinde nach dem Ende . . . . . . . . . . . .
4.2.1 Katholiken ohne Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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INHALT
4.2.2 Evangelische Zusammenkünfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.2.3 Mennoniten, Baptisten und freikirchliche Gruppen . . . . . .
4.3 Aufbau, Abbruch und Aufbruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.3.1 Diskriminierung und neue Freiheit: Evangelische Kirche im
Wiederaufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.3.2 Evangelischer Glaube zwischen Tradition und Abbruch . . .
4.3.3 Aufbruch aus dem Abbruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5. Abschied von entschwindender deutscher Kultur
„zurück ins Reich“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.1 Die Bildungssituation Deutscher
in Rußland und in der Sowjetunion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.1.1 Bildung als kulturelle Basis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.1.2 Bildung als Assimilation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.1.3 Bildung heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.2 Sprachpraxis der Deutschen in Rußland und der GUS . . . . . . . .
5.3 Alltagsleben seit 1955 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.3.1 Lebensbedingungen in der Sowjetgesellschaft . . . . . . . . . .
5.3.2 Arbeit und Beruf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.3.3 Wohnungs- und Einrichtungsvorstellungen . . . . . . . . . . .
5.3.4 Familienleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.3.5 Situation der Frau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.3.6 Sozialräumliche Bedingungen deutscher Kulturpraxis . . . . .
5.3.7 Brauchtum und Musik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6. Abschied vom Absturz? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6.1. Diffuse Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6.2 Freier Fall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6.3 Zukunft für die Kinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7. Abschied vom Abschied . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
ABSCHIED VON DER HOFFNUNG:
ANKOMMEN IN DEUTSCHLAND
1. Aufnahme in Deutschland . . . . . . . . .
1.1 Die Ankommenden . . . . . . . . . .
1.1.1 Erwartungen an Deutschland
1.1.2 Zum Gruppenprofil . . . . . .
1.1.3 Doppelte Abgrenzung . . . . .
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INHALT
1.1.4 Freikirchliche Aussiedler . . . . . . . . . . . .
1.1.5 Juden aus der ehemaligen Sowjetunion . . .
1.2 Die rechtliche Lage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.2.1 Fremdenrechtsbewußtsein in Deutschland .
1.2.2 Rechtslage im Fluß . . . . . . . . . . . . . . . .
1.3 Das Aufnahmeverfahren . . . . . . . . . . . . . . . .
1.4 Entwicklung von Eingliederungsleistungen . . . .
2. Fremdsein in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.1 Migrantenminderheiten in der Bundesrepublik . .
2.2 Deutschland als Aufnahmegesellschaft . . . . . . .
2.3 Heimatsuche in der Fremde . . . . . . . . . . . . . .
2.4 Wohnen in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . .
2.4.1 Übergangswohnsituation . . . . . . . . . . . .
2.4.2 Wohnverdichtung . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.4.3 Wohneigentum . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.4.4 Wohnsituation Jugendlicher . . . . . . . . . .
2.5 Aussiedler und Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.5.1 Arbeit und Identität . . . . . . . . . . . . . . .
2.5.2 Arbeitsabstieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.5.3 Aussiedlerarbeitslosigkeit . . . . . . . . . . . .
2.5.4 Arbeitschancen für Aussiedlerfrauen . . . .
2.5.5 Jugendliche und Arbeitsmarkt . . . . . . . .
2.6 Kultur im neuen Kontext . . . . . . . . . . . . . . .
2.7 Sprachheimat in der Fremde . . . . . . . . . . . . . .
2.8 Werteempfinden zwischen Tradition und Vakuum
3. Die fremde Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.1 Individualisierte Volkskirchlichkeit . . . . . . . . . .
3.2 Kirche und Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.3 Interpretation von Taufe . . . . . . . . . . . . . . .
3.4 Volkskirche und Aussiedler . . . . . . . . . . . . . .
3.5 Aussiedlerfrömmigkeit und Aussiedlergemeinden
4. Rückzug in die verlorene Heimat . . . . . . . . . . . . .
4.1 Migration als Krise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.2 Schutzraum Migrationsgemeinschaft . . . . . . . .
4.2.1 Rückzugsmotive Rußlanddeutscher . . . . .
4.2.2 Die Situation Jugendlicher . . . . . . . . . . .
4.3 Repräsentanzen der Zurückweisung . . . . . . . . .
4.3.1 Amt und Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . .
4.3.2 Medien und Meinung . . . . . . . . . . . . . .
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INHALT
5. Fremdsein als Zustand: Kommt die Jugend an in Deutschland? . . . .
5.1 Perspektiven der jungen Generation . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.1.1 Erziehung, Schule und Ausbildung . . . . . . . . . . . . . . . .
5.1.2 Beratung, Betreuung und Integrationsförderung . . . . . . .
5.2 Psychosoziale Klippen für Jugendliche . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.2.1 Akkulturativer Streß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.2.2 Migration und Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.2.3 Zwischen Wut und Flucht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.3 Im Abseits: Deviantes Verhalten bei Aussiedlerjugendlichen . . .
5.3.1 Zur Delinquenzhäufigkeit unter jungen Rußlanddeutschen
5.3.2 Problemdeterminanten und -motive . . . . . . . . . . . . . .
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WOHER KOMMT MIR HILFE?
1. Unterwegssein (Psalm 121) als theologische
Wahrnehmungs- und Deutekategorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.1 Unterwegssein als Signatur von Kirche . . . . . . . . . . . . . . .
1.2 Heimat auf dem Weg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.3 Dimensionen von Kirche auf dem Weg . . . . . . . . . . . . . . .
1.3.1 Differenz – Verschiedenheit gestalten . . . . . . . . . . . .
1.3.2 Kongruenz – Einheit suchen . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.3.3 Reziprozität – Gegenseitigkeit ermöglichen . . . . . . . .
1.3.4 Experiment – Fragmentarisches annehmen . . . . . . . .
1.4 Integration – Akkulturation – Assimilation – Interkulturalität:
Leitvorstellungen für Kirche auf dem Weg . . . . . . . . . . . . .
2. Unterwegssein mit Fremden als Herausforderung an kirchliche
Praxis – Gemeindetheologische Perspektiven . . . . . . . . . . . . . .
2.1 Aspekt Leiturgia: Gottesdienst und Verkündigung . . . . . . . .
2.1.1 In Gottesdienst und Verkündigung
Verschiedenheit gestalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.1.2 In Gottesdienst und Verkündigung
Einheit suchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.1.3 In Gottesdienst und Verkündigung
Gegenseitigkeit ermöglichen . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.1.4 In Gottesdienst und Verkündigung
Fragmentarisches annehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.2 Aspekt Martyria: Mission und Katechumenat . . . . . . . . . . .
2.3 Aspekt Koinonia: Gestaltetes Miteinanderleben . . . . . . . . .
12
386
387
387
394
395
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...
...
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...
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...
433
...
435
...
436
...
...
...
437
438
441
INHALT
2.4 Aspekt Diakonia: Dienst und Mitverantwortung . . . . . . . . .
3. Volk auf dem Weg: Nicht mehr Gäste und Fremdlinge (Eph 2,19)
...
...
A BKÜRZUNGS- UND L ITERATURVERZEICHNIS
1. Abkürzungen . . . .
2. Literaturverzeichnis
.................................
.................................
445
446
449
449
450
13
14
Einleitung
1. THEMA UND ZIEL
Die Erfahrung, ein Kasualgespräch mit Gemeindegliedern nur mit Übersetzungshilfe eines Dritten führen zu können, ist im Bereich der evangelischen Landeskirchen noch relativ neu. Unbekannt waren bis vor wenigen Jahren auch Gruppen
mit überwiegend russischsprechenden Konfirmanden. War die katholische Seelsorge schon seit Jahrzehnten mit dem Zuzug von fremdsprachigen sogenannten
Gastarbeitern konfrontiert,1 hatten entsprechende Herausforderungen evangelische
Gemeinden im zurückliegenden Jahrhundert nie in nennenswertem Umfang
betroffen.
Die Millionen von Flüchtlingen nach dem Zweiten Weltkrieg veränderten zwar
die Zusammensetzung vieler Gemeinden erheblich oder waren erst der Anlaß zu
ihrer Gründung. Doch sprachen sie, wenn auch in bisher unvertrauter dialektaler
Ausprägung, das gemeinsame Deutsch, und angesichts der Nachkriegssituation
standen auch die ansässigen Evangelischen gemeinsam mit ihnen vor der Notwendigkeit umfassenden W iederaufbaus. Auch die seit Kriegsende kontinuierlich
zuziehenden deutschsprachigen Siebenbürger Sachsen vermochten sich relativ
unauffällig in ihrer neuen Umgebung zu orientieren. Eine völlig neue Situation hat
sich seit dem Ende der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts mit der
konzentrierten Ankunft rußlanddeutscher Aussiedler ergeben, die zur zweitgrößten
Migrantengruppe in Deutschland wurden und durch einen hohen Anteil Evangelischer in sämtlichen Regionen der Evangelischen Kirche in Deutschland vertreten
sind. Viele von ihnen sprechen zunächst kaum oder überhaupt kein Deutsch aus
Gründen, die zu zeigen sein werden.
Ihre Ankunft traf die meisten Gemeinden völlig unvorbereitet, ihre oftmals
große Zahl an einem Ort macht ihre Thematisierung jedoch in allen Bereichen
kirchlichen Handelns unausweichlich. War ihre Existenz vorher weithin unbekannt,2 wird ihre vielerorts massive Präsenz und kulturelle Differenz nun nicht
selten als Bedrohung wahrgenommen und löst auch in aufnahmebereiten Ge-
Vgl. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), Eine Kirche in vielen Sprachen und
Völkern. Leitlinien für die Seelsorge an Katholiken anderer Muttersprachen, Bonn 2003.
2
Zu optimistisch war die anfängliche Einschätzung „[...] jeder weiß, wer Aussiedler sind [...]“:
WOLFGANG LANQUILLON, Sich die Sache des Nächsten zu eigen machen. Aspekte der Aussiedlerarbeit, in: Diakonie 14 (1988), 101.
1
15
EINLEITUNG
meinden viel Ratlosigkeit aus. Naheliegend ist in einer solchen Konfrontationssituation mit einer „veritas ingrata“ eine schnelle Klischeebildung.
Zwar erleichtern pauschale Kategorisierungen zunächst den Umgang mit dieser
Bevölkerungs- und Gemeindegruppe; auch besteht hoher Bedarf an anwendbaren
Vorschlägen für die Gemeindepraxis, die keinen langen Aufschub erlaubt. Hier ist
in den vergangenen Jahren an vielen Orten Hilfreiches erarbeitet worden, das,
sofern die Informationskanäle bekannt genug sind, entsprechende Multiplikation
erfährt. Allerdings befinden sich nicht wenige Gemeinden, die sich rasch um eine
hilfreiche Aufnahme der Aussiedler bemüht hatten, inzwischen in einem Stadium
von Resignation oder Abwehr. Anfängliche Integrationsinitiativen, oft mit großem
Engagement betrieben, scheinen ins Leere gelaufen zu sein; starke Tendenzen zum
Rückzug in die Familie oder unter ihresgleichen lassen wenig Interesse an der
aufnehmenden Kirchengemeinde erkennen; die Zuziehendengruppe erweist sich
als zunehmend inhomogen und ihre Beheimatung scheint immer schwieriger zu
werden.
Das anfängliche, aus der eigenen Gemeindeerfahrung des Verfassers mit
Rußlanddeutschen erwachsene Anliegen dieser Arbeit, dem aktuellen Praxisbedarf
grundlegende Handlungsorientierungen beizusteuern, hat sich im Lauf der Jahre
verändert: Das Bemühen um möglichst direkt umsetzbare konzeptionelle Überlegungen zur Gemeindepraxis mit Rußlanddeutschen erwies sich immer mehr als der
zweite Schritt vor dem ersten. Zunehmend hat sich im Sinne einer interkulturellen
Hermeneutik das Desiderat einer grundlegenden Verstehensbemühung in den
Vordergrund geschoben. So ist es die Intention des Verfassers, einen Beitrag zu
einer „Verstehenslehre“ zu leisten im Blick auf die Gruppe rußlanddeutscher
Spätaussiedler, besonders als evangelische Gemeindeglieder, auf dem Hintergrund
ihrer Geschichte, ihrer Herkunft und ihrer gegenwärtigen Lebensbedingungen in
den Herkunftsgebieten wie im Aufnahmeland.
2. VERORTUNG, METHODIK UND ABGRENZUNG
2.1 THEMATISIERUNG VON AUSSIEDLERMIGRATION
Wie jede gesellschaftliche Gruppe sind auch rußlanddeutsche Aussiedler prinzipiell
Interessengegenstand vielfältiger wissenschaftlicher und publizistischer Bemühungen. Ihr überraschendes und zahlenstarkes Auftreten, ihre daraus resultierenden
eigenen Schwierigkeiten und die Probleme der Aufnahmegesellschaft ließen die
16
EINLEITUNG
Aussiedlerforschung seit Beginn der neunziger Jahre zu einem Schwerpunkt der
Integrations- und Migrationsforschung in Deutschland und Europa werden.1
Bis dahin hatte sich die spezielle Aufmerksamkeit für diese Gruppe aufgrund
ihrer numerischen Unauffälligkeit eher auf Veröffentlichungen der Landsmannschaft der Deutschen aus Rußland 2, der kirchlichen Diasporawerke 3 und besonders
auf Osteuropa ausgerichteter Institutionen 4 beschränkt. Angesichts wachsender
Einreisezahlen gegen Ende der achtziger Jahre leistete zunächst die Sozialpädagogik wichtige Reflexionsarbeit, herausgefordert durch die Anforderungen an die
konkrete Beratungspraxis. Dies betraf in gleicher Weise Veröffentlichungen aus
dem Bereich von Diakonie und Caritas.5
In zunehmender Zahl sind seither Publikationen zur Aussiedlerthematik erschienen, die sich mit Abebben der Wiedervereinigungseuphorie in Deutschland
immer mehr zu einem Politikum und – horribile dictu – auch zur Wahlkampftauglichkeit entwickelte.6 In Verbindung damit steht die in Wellen verlaufende
Aufmerksamkeit der Medien, deren Berichterstattung qualitativ und intentional
extreme Polaritäten entwickelte. Erst nach Mitte der neunziger Jahre kommt es zu
einer allmählich wachsenden Zahl von Arbeitshilfen für den Bereich der Aussied-
KLAUS J. u. JOCHEN OLTMER, Einführung: Aussiedlerzuwanderung und Aussiedlerintegration.
Historische Entwicklung und aktuelle Probleme, in: Dies. (Hrsg.), Aussiedler: Deutsche Einwanderer
aus Osteuropa, IMIS-Schriften 8, Osnabrück 1999, 40.
2
Vgl. Landsmannschaft der Deutschen aus Rußland e.V. (Hrsg.), Heimatbuch der Deutschen aus
Rußland, Stuttgart 1954 ff.
3
Vgl. JOHANNES SCHLEUNING, EUGEN BACHMANN u. PETER SCHELLENBERG, Und siehe, wir
leben! Der Weg der evangelisch-lutherischen Kirche in vier Jahrhunderten. Mit einem Geleitwort
von ERNST EBERHARD, 2. neu bearb. Aufl., Erlangen 1982.
4
So beispielsweise das Osteuropa-Institut in München, das dann relativ bald Untersuchungen
unter Rußlanddeutschen initiierte, vgl. BARBARA DIETZ u. PETER HILKES, Deutsche in der Sowjetunion. Zahlen, Fakten und neue Forschungsergebnisse, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage
zur Wochenzeitung Das Parlament, 38 (1988) B 50, 3-13. Für den Bereich der Akademikerförderung
die Otto Benecke Stiftung, vgl. HARTMUT M. GRIESE, „Migration als Erwachsenensozialisation. Ein
begrifflich-theoretischer Rahmen zur Diskussion der Situation von Aussiedlern und Flüchtlingen an
deutschen Hochschulen“, in: Otto Benecke Stiftung (Hrsg.), Beratung und Förderung studierender
Aussiedler und Flüchtlinge. Fachtagung der Otto Benecke Stiftung am 3. und 4. Juli 1986 in Bonn,
Bonn o. J., 18-26.
5
Vgl. MARTIN SCHINDEHÜTTE, JÜRGEN GOHDE u. WOLFGANG LANQUILLON (Hrsg.), Sozialarbeit mit Aussiedlern. Sozialpädagogische Ansätze der Eingliederungsarbeit. Tagung des Diakonischen Werkes der Evangelischen Kirche in Deutschland und des Diakonischen Werkes der
Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck in Zusammenarbeit mit der Evangelischen Akademie
Hofgeismar, Hofgeismarer Protokolle 268, Hofgeismar 1990; GUDRUN NEEBE u. GERT STRASSER
(Hrsg.), Soziale Arbeit mit Spätaussiedlern. Informationen Theorien Praxisbeispiele, Reihe: Akzente,
Sonderband, Schwalmstadt-Treysa 2001.
6
Parteienstiftungen bemühen sich jenseits öffentlichkeitswirksamer Präsentation um handlungsleitende Einsichten, vgl. z. B. Forschungsinstitut der Friedrich-Ebert-Stiftung, Abt. Arbeit und
Sozialpolitik (Hrsg.), Deutsch sein und doch fremd sein. Lebenssituationen und -perspektiven
jugendlicher Aussiedler, Gesprächskreis „Arbeit und Soziales“, Nr. 84, Bonn 1998.
1
17
EINLEITUNG
lerseelsorge auf gemeindlicher Ebene, zunächst Veröffentlichungen eigener Praxismodelle 7, dann Informationsmaterialien zu Hintergründen und Herausforderungen
des Aussiedlerzuzugs.8
2.2 FRAGERICHTUNGEN
Mittlerweile ist es Usus geworden, allgemein von „den“ Rußlanddeutschen,
Deutschrussen, Russendeutschen oder immer häufiger einfach Russen zu sprechen. Doch wer kam und kommt in dieser großen Migrantengruppe zu uns, wie ist
sie soziographisch zu bestimmen, was ist insbesondere über Aussiedler in der
Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern erkennbar?
Welche historische Genese steht hinter der gegenwärtigen Aussiedlungsbewegung nach Deutschland, welche kulturgeschichtlichen Implikationen verbinden
sich damit, was bestimmt die Frömmigkeitsgeschichte Rußlanddeutscher und welche sozioökonomischen und sozialpsychologischen Motive und Determinanten
müssen im Umfeld dieser Migration beachtet werden?
Wie sind die rechtlichen Aufnahmebedingungen durch die Bundesrepublik
Deutschland definiert, und wie stellen sich die sozialen und politischen Aufnahmeverhältnisse nach der Einreise dar? Welche Erfahrungen mit hiesiger Kirche machen Aussiedler auf dem Hintergrund ihrer mitgebrachten religiösen oder areligiösen Sozialisation?
Welche Beheimatungsperspektiven können von daher begründet angenommen
werden, und in welche Richtung können verstärkende Initiativen sinnvollerweise
gehen?
2.3 VORGEHENSWEGE UND GRUNDANNAHME
Die der Arbeit zugrundeliegende Hypothese ist, daß wir es bei der nach wie vor
andauernden Aussiedlung sogenannter Rußlanddeutscher aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion nach Deutschland um den vorläufigen Endpunkt einer
Z. B. DIETER GRIMMSMANN, Gemeindearbeit mit Aussiedlern, Heft 1: Empfehlungen für einen
Konfirmandenunterricht mit Erwachsenen, hrsg. v. d. Ostkirchen- und Aussiedlerarbeit der
Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers, Hannover 1995; DIETER GRIMMSMANN u. DIRK
RÖSE, Gemeindearbeit mit Aussiedlern, Heft 2.1 und 2.2: Die Praxis mit 21 Unterrichtsentwürfen,
Hannover 1997.
8
Vgl. HERMANN RUTTMANN, Kirche und Religion von Aussiedlern aus den GUS-Staaten,
Religionen vor Ort, Bd. 4, Marburg 1996; EDGAR L. BORN (Hrsg.), Texte zur Aussiedlerarbeit in der
Evangelischen Kirche von Westfalen, Hamm 1998 ff.; ders. (Hrsg.), Texte zur Aussiedlerarbeit, Bd.
1-2, überarb. u. erw. Aufl., hrsg. v. d. Aussiedlerseelsorge in der EKD, Hannover 2004.
7
18
EINLEITUNG
teilweise über mehrere Jahrhunderte andauernden Suche nach Beheimatung zu tun
haben.
Dies belegen zu können, wäre ein wichtiger Ansatzpunkt für ein adäquateres
Verständnis dieser Migrantengruppe in unserer Mitte. Im Interesse einer solchen
Wahrnehmungs- und Verstehensbemühung werden verfügbare statistische und
empirische Materialien ausgewertet, allgemein- und kirchenhistorische Hintergründe erkundet und Einsichten aus Migrations- und Sozialforschung rezipiert.
Im Bewußtsein, daß es unwahrscheinlich ist, ein für alle rußlanddeutschen
Aussiedler zutreffendes Leitmotiv ihrer Wanderungsbewegung(en) aufzuspüren –
immerhin verteilten sich ihre Wohngebiete im Lauf des 20. Jahrhunderts über eine
Fläche, die einem Sechstel der Festlandsfläche der Erde entspricht –, bemüht sich
die Darstellung, den Leser bei der Erarbeitung des Gegenstandes und des rezipierten, facettenreichen Materials in eine geordnete und nachvollziehbare, zugleich
aber offene Suchbewegung hineinzunehmen. Diese geht einen rekonstruktiven
Weg nach rückwärts, um ihre dabei gewonnenen Einsichten dann an gegenwärtigen Herausforderungen zu erproben. Dabei basiert die Wahrnehmung und Deutung von Unterwegssein auf zentralen biblischen Verstehenszugängen, Grundmustern des Menschlichen und des Sozialen auf dem Hintergrund der Gottesgeschichte.9
Aufgenommen werden im Interesse dieser Verstehensbemühung sowohl streng
wissenschaftliche als auch stärker praktisch und situativ orientierte Materialien. So
unternimmt die Arbeit den Versuch einer Topographie 10 des rußlanddeutschen
Christentums und, soweit dies generalisierend zulässig ist, eines Portraits dieser
Zuwanderergruppe in unseren Kirchen. Vor aller kybernetischen Abzweckung gilt
es, die gegangenen Wege dieser Gruppe mit analytischem Blick nachzuzeichnen
und zu verstehen.
9
Vgl. HJALMAR SUNDÉN, Gott erfahren. Das Rollenangebot der Religionen, Gütersloh 1975;
ders., Religionspsychologie. Probleme und Methoden, Stuttgart 1982, 46: „Wenn es sich um die
christliche Tradition handelt, so sind es nicht zum wenigsten die Rollen und Stimmen des Psalters,
die den Dialog mit dem Dasein strukturieren.“ Mit einem biblischen Referenzrahmen der Wahrnehmung als Methode Praktischer Theologie folge ich MANFRED SEITZ, vgl. u.a.: Ders., Gestörte
Zeit. Zeitrhythmus als Thema einer pastoralen Theologie, in: Ders., Theologie für die Kirche.
Beiträge zum christlichen Glauben, Leben und Handeln, hrsg. v. RUDOLF LANDAU, Stuttgart 2003,
226-237. Zum Moment von biblischen Grundmustern in der Seelsorge des älteren Blumhardt
verweise ich auf eine bei M. Seitz entstehende Untersuchung von Armin Baltruschat.
10
Insofern entspricht ein solches phänomenologisches Vorgehen dem topographischen Ansatz der
Praktischen Theologie von WOLFGANG STECK, die die in phänomenologischer Orientierung
gewonnenen Theorieelemente einander als flexible Bricolage zuordnet, vgl. ders., Praktische
Theologie. Horizonte der Religion – Konturen des neuzeitlichen Christentums – Strukturen der
religiösen Lebenswelt, Bd. I (Theologische Wissenschaft, Bd. 15,1), Stuttgart u.a., 2000, 6. 15 f. 2931. 89-92.
19
EINLEITUNG
2.4 PROFIL UND ABGRENZUNG
Der Hauptakzent der vorliegenden Arbeit liegt auf mehrfach geschichteten Erkundungsbewegungen im Umkreis der kulturellen Determinanten und Erscheinungsformen einer deutschen Teilethnie im Interesse ihres besseren Verstehens als
evangelische Gemeindeglieder. Dabei sind Fragen nach geistigen und materiellen
Phänomenen ebenso wichtig wie die nach Geschichte, Strukturen und sozialen
Einbettungen und Verwerfungen.11 Dieses dem Anliegen der früheren sogenannten
Religiösen Volkskunde 12 benachbarte Verfahren läßt zu verknüpfbaren Einsichten
gelangen, die als Kriterien zur Deutung gegenwärtiger Situationen dienen können.
Den Anspruch einer umfassenden und abschließenden Beschreibung wird ein
solches Vorgehen jedoch angesichts ihres historisch, geographisch und kulturell zu
inhomogenen und mobilen Gegenstandes nicht erheben können, wie dies in der
Vergangenheit am hochgesteckten Vorhaben des seit 1902 von Paul Drews, dem
„Vater der evangelischen Kirchenkunde und religiösen Volkskunde“ 13, herausgegebenen Sammelwerks der „Evangelischen Kirchenkunde“ 14 deutlich wurde, die es
sich zur Aufgabe gemacht hatte, sämtliche Landeskirchen phänomenologisch exakt
zu erfassen.15
Sein praktisch-theologisches Anliegen, nämlich „die Ermittlung und Darstellung der tatsächlichen religiösen Zustände in unserem Volk, [...] die wirkliche
Religion, nicht [...] die Vorführung irgendwelcher philosophischer und theologischer Anschauungen“ 16, ist in Perfektion wohl nicht realisierbar, intentional jedoch
nach wie vor unabgegolten als präzise Wahrnehmung unter sozialen Bedingungen
gelebten Christseins. Diese kann zwar nicht theologische Normativität beanspru-
Vgl. LUTZ RÖHRICH, Art. Volkskunde, RGG3, Bd. VI, 1462 -1464.
Zur Religiösen Volkskunde, seit der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Zweiten Weltkrieg:
GOTTFRIED HOLTZ, Art. Religiöse Volkskunde, RGG3, Bd. VI, 1466 f.; ERNST-RÜDIGER KIESOW,
Die Seelsorge, in: HEINRICH AMMER u.a., Handbuch der Praktischen Theologie, Bd. 3, Berlin 1978,
179 f.; MICHAEL HERBST, Art. Volkskunde, in: Evangelisches Lexikon für Theologie und Gemeinde,
Bd. 3, hrsg. v. HELMUT BURKHARDT u.a., Wuppertal 21998, 2111 f.
13
Vgl. W. RUDOLPH, Paul Drews, Der Vater der evangelischen Kirchenkunde und religiösen
Volkskunde, Diss. Leipzig 1968, zit. bei GERHARD RUHBACH, Art. Drews, Paul (1858-1912), ELThG
I, 462.
14
PAUL DREWS (Hrsg.), Evangelische Kirchenkunde: das kirchliche Leben der deutschen evangelischen Landeskirchen, Tübingen 1902 ff.
15
Vgl. GOTTFRIED KRETZSCHMAR, Die Kirche in ihrer sozialen Gestalt, in: HEINRICH AMMER
u.a., Handbuch der Praktischen Theologie, Bd. 1, Berlin 1975, 69.
16
PAUL DREWS, „Religiöse Volkskunde“, eine Aufgabe der Praktischen Theologie, Monatsschrift
für kirchliche Praxis 1 (1901), 1-8; ders., Das kirchliche Leben der evangelisch-lutherischen Landeskirche des Königreiches Sachsen, Evangelische Kirchenkunde, Bd. 1, Tübingen 1902; von
anderen Verfassern erschienen in dieser Reihe bis 1910 weitere Bände über die schlesische, die
badische, die bayerische, die thüringische und die niedersächsischen evangelischen Kirchen.
11
12
20
EINLEITUNG
chen, wohl aber die praktisch-theologische Reflexion erhellen und eine ihr Handlungsfeld verkennende kirchliche Praxis korrigieren.
Besondere Aufmerksamkeit gilt im Rahmen dieser Untersuchung den Lebensund Glaubensbedingungen der unter Rußlanddeutschen überproportional großen
jungen Generation, die die Erscheinung der Gesamtgruppe rasch verändern und
in absehbarer Zeit bestimmen wird.
Eine auf Dauer gültige Beschreibung wird keinesfalls möglich sein angesichts
einer zwar inzwischen gedrosselten, jedoch noch unabgeschlossenen Migrationsbewegung und gleichzeitig sich vollziehender rechtlicher und sozialer Umbrüche
in der Aufnahmegesellschaft. Nichtsdestoweniger sind Erkundigungen über Herkunft, Hintergründe und gegenwärtige Entwicklungen dazu dienlich, einen Rahmen bereitzustellen, in dem auch künftige Veränderungen in ihrem Kontext angemessen verstanden werden können.
Von daher nimmt die Arbeit Abstand davon, handlungsleitende Entscheidungen zu treffen. Diese werden jeweils Aufgabe der in konkreten Handlungssituationen Verantwortlichen sein müssen. Ebenso gibt sie dem Wunsch nicht nach, eine
Lehre vom Gemeindeaufbau mit Rußlanddeutschen zu entwerfen. Über Gedankenansätze dafür kann hier nicht hinausgegangen werden, weil ein solches Vorhaben sinnvollerweise als Modifikationsaufgabe vorhandener Konzeptionen nach
Maßgabe der jeweiligen Gemeindezusammensetzungen zu begreifen wäre.
So wenig Gemeindeaufbaukonzepte 17 auch in „Einheimischengemeinden“
einfach ungebrochen angewendet werden können, so wenig gibt es im Bereich der
Großkirchen (anders als im freikirchlichen Bereich) reine Aussiedlergemeinden.
Von den faktischen, sich von Gemeinde zu Gemeinde unterscheidenden Mischungsverhältnissen her kann die Entscheidung für ein Grundkonzept und die
dann fällige Reflexions-, Transformations- und Adaptionsarbeit immer nur „pro
loco et tempore“ erfolgen.
Als Erkundungsunternehmen im Spannungsraum von Heimat und Fremde
werden angetroffene Phänomene jeweils einer kategorialen Verstehensbemühung
unterzogen, deren Kriterien und ihre gedanklichen Hintergründe dann im Vollzug
der Deutung markiert werden. Ebensowenig wie eine Gemeindekonzeption aber
kann sich die Arbeit eine systematische Reflexion der gegenwärtigen interdisziplinären Fremdheits-, Differenz- oder Alteritätsdebatte 18 und des nach langer VerpöVgl. CHRISTIAN MÖLLER, Lehre vom Gemeindeaufbau, Bd. I, Göttingen 1987, 11-134; MICHAEL HERBST, Missionarischer Gemeindeaufbau in der Volkskirche, Stuttgart 41996, 153 ff.; GRIMMSMANN 1995 entwirft bezeichnenderweise kein Konzept, sondern gibt erfahrungsbezogene Anregun17
gen und Hinweise für konkretes unterrichtliches Handeln.
Aus praktisch-theologischer Perspektive hierzu: BRIGITTE FUCHS, Eigener Glaube – Fremder
Glaube. Reflexionen zu einer Theologie der Begegnung in einer pluralistischen Gesellschaft,
Tübinger Perspektiven zur Pastoraltheologie und Religionspädagogik, Bd. 6, Münster 2001;
18
21
EINLEITUNG
nung wieder rezipierten Heimatbegriffs 19 zur Aufgabe machen, angestoßen von der
Aussiedlerthematik als exemplarischer Konkretion. Dem gegenüber sollen hier die
Rußlanddeutschen selbst als Thema im Zentrum der Untersuchungen stehen.
Während historische, human- und kulturwissenschaftliche Materialien von
neueren Entwicklungen weniger schnell überholt werden, stellt sich dies für
sozialwissenschaftliche Einsichten anders dar, insbesondere, wo sie empirische und
demographische Daten interpretieren. Daher sind für die vorliegende Arbeit die
entsprechenden Zäsuren zu benennen: Zahlenmaterialien zur Aussiedlermigration
und zur Migrationsarbeit berücksichtigen den Beginn, die Markierung von Entwicklungen reicht mindestens bis zur Mitte des Jahres 2002.20
Angesichts der zunächst weiterhin stagnierenden und erst seit 2005 wirksamen
Migrationsgesetzgebung durch das sog. Zuwanderungsgesetz von 2004 21 ist dies
sachlich vertretbar, insbesondere auf dem Hintergrund einer schon seit Jahren
andauernden Zuzugsdrosselung sowie progressiver sozialpolitischer Leistungskürzungen. Auswirkungen neuester Arbeitsgesetze und der Verbindung von Arbeitslosengeld und Sozialhilfe auf die Situation und Betreuung von Aussiedlern dagegen
werden erst im Lauf der nächsten Jahre realistisch einschätzbar sein. Von erheblicher Tragweite für Wahrnehmung, Beratung und Förderung von Aussiedlern wird
ihre zunehmende Subsumierung unter einen einheitlichen Migrantenbegriff und
der damit verbundene programmatische Verzicht auf ihre Wahrnehmung als
Eigengruppe sein.
religionspädagogisch: ULRIKE GREINER, Der Spur des Anderen folgen? Religionspädagogik zwischen Theologie und Humanwissenschaften, Beiträge zur mimetischen Theorie, Bd. 11, Münster:
LIT 2000.
19
Vgl. INGRID SCHOBERTH, Heimat finden in der Kirche. Zu den Voraussetzungen einer
praktisch-theologischen Aufgabe, in: PETER BIEHL, CHRISTOPH BIZER u.a. (Hrsg.), Heimat –
Fremde, JRP 14 (1997), Neukirchen 1998, 170-184; JOACHIM TRACK, Nation in christlicher Perspektive, in: DIETRICH STOLLBERG, ANDREAS VON HEYL U.A. (Hrsg.), Identität im Wandel in Kirche
und Gesellschaft. FS Richard Riess, Göttingen 1998, 65-76. Polemischer Einwurf: PETER SLOTER DIJK, Der gesprengte Behälter. Notiz über die Krise des Heimatbegriffs in der globalisierten Welt,
in: SPIEGEL Spezial 6/1999, 24-29.
20
Soweit verfügbar, verdeutlichen neuere Datenangaben die aktuellen Entwicklungstendenzen.
21
Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und
Integration von Unionsbürgern und Ausländern (Zuwanderungsgesetz), Bundesgesetzblatt 2004
Teil I Nr. 41, Bonn 5. August 2004.
22
EINLEITUNG
3. ZUR FORSCHUNGSLAGE
Bezeichnend für nahezu alle Veröffentlichungen über Rußlanddeutsche ist es, daß
sie einen historischen Zugang zu ihrem Thema suchen. Darin schlägt sich nieder,
daß diese Deutschen mit der Emigration aus ihren deutschen Herkunftsgebieten,
spätestens aber nach der Deportation aus ihren Siedlungsgebieten im Jahr 1941 für
die Wahrnehmung aus westeuropäischer Warte verschwunden waren. Maßgeblich
verstärkt wurde dies durch die Abschottung des sogenannten Ostblocks bis zu
seinem Zerfall am Ende der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Auch
die vorliegende Arbeit muß einen entsprechenden Erkundungsweg in die Geschichte der rußlanddeutschen Aussiedler gehen, um ihre Gegenwart angemessen
verstehen zu können.
3.1 KIRCHLICH -THEOLOGISCHE PUBLIKATIONEN
Umfangreichere wissenschaftliche Untersuchungen zur Thematik der rußlanddeutschen Aussiedler aus theologischer Perspektive lagen bisher nicht vor,1 dagegen
zahlreiche kleinere, in der Regel durch die Arbeit kirchlicher Institutionen veranlaßte Publikationen.
Viele Beiträge in Sammelwerken zur Allgemein-, Kirchen- und Kulturgeschichte der Rußlanddeutschen hat seit Mitte der achtziger Jahre der Kirchenhistoriker
und Slawist Gerd Stricker veröffentlicht. 2 Als Mitarbeiter des Instituts „Glaube in
der 2. Welt“ (G2W; sic!) in Zollikon bei Zürich deckt sein Publikationsspektrum
den gesamten Bereich deutscher Geschichte im Osten Europas, von Kirche,
Religion und Religionspolitik im Bereich der ehemaligen Sowjetunion und ihrer
Nachfolgestaaten ab.
Schon lange bevor ein Ende der Sowjetherrschaft denkmöglich erschien, datiert
eine nach wie vor als wichtige Basisinformation dienende Publikation aus dem
1
Nach Abschluß dieser Arbeit erschienen: JOACHIM WILLEMS, Lutheraner und lutherische
Gemeinden in Rußland. Eine empirische Studie über Religion im postsowjetischen Kontext,
Erlangen 2005; ders., Gemeinde als Freiraum zur offenen Thematisierung von Identitätsfragen?
Rußlanddeutsche Identitäten und binnengemeindliche Integration, PTh 94 (2005), 360-377.
2
GERD STRICKER (Hrsg.), Deutsche Geschichte im Osten Europas, Berlin 1997; wesentliche
Anteile in: HANS-CHRISTIAN DIEDRICH, GERD STRICKER u. HELMUT TSCHOERNER (Hrsg.), Das
Gute behaltet. Kirchen und religiöse Gemeinschaften in der Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten, Erlangen 1996; regelmäßige Veröffentlichungen in der Zeitschrift „Glaube in der 2. Welt“
(G2W), u.a. ders., „Denn wir haben hier keine bleibende Stadt“. Über den schicksalsschweren Weg
rußlanddeutscher Lutheraner, G2W 22 (1994) 7/8, 21-25.
23
EINLEITUNG
Martin-Luther-Bund: „Und siehe, wir leben!“ 3 Es handelt sich hierbei nicht um
eine wissenschaftliche Sammlung, sondern um eine aus eigener Anschauung der
Autoren Johannes Schleuning, Eugen Bachmann und Peter Schellenberg gespeiste
Darstellung der lutherischen Kirche in Rußland und in der Sowjetunion. Die
beiden Erstgenannten waren Zeugen der Kirchenzerschlagung und Deportation
und am vorsichtigen Wiederaufbau von Gemeinden beteiligt. Schellenberg stand
als langjähriger Generalsekretär des Martin-Luther-Bundes kontinuierlich über die
wenigen verbliebenen Kommunikationswege in Verbindung mit versprengten und
fast unerreichbaren Gemeinden und bemühte sich um deren kaum mögliche
Unterstützung.
Für den Bereich der ELKRAS 4 hat Heinrich Rathke, früherer mecklenburgischer Landesbischof und späterer Bischöflicher Administrator für die evangelischlutherischen Gemeinden in K asachstan, eine ausführlichere Darstellung von
Geschichte und Wiedergründung der lutherischen Kirche in Rußland 5 vorgelegt.
Diese verbindet in entsprechender Weise die Erträge kirchen- und allgemeinhistorischer Erkundung und eigener Anschauung.
Die über vier Jahrzehnte währenden ostkirchlichen Forschungen des Pfarrers
und Marburger Honorarprofessors Wilhelm K ahle 6 gelten der Kirchen- und Konfessionsgeschichte der Deutschen im Zarenreich und der früheren Sowjetunion. In
mehreren Monographien und vielen kleineren Veröffentlichungen ging er dem
lutherischen und freikirchlichen Protestantismus in seinem Verhältnis zu Orthodoxie und Staat nach unter Einschluß frömmigkeitsgeschichtlicher Einzelfragen
und ethnokonfessioneller Zusammenhänge.7
Erhellend für das Verständnis der lutherischen Kirche in Rußland sind noch
immer die aus baltischer Perspektive in Auseinandersetzung mit der kommunistischen Ideologie verfaßten martyriumstheologischen Beiträge des rußlanddeutschen
JOHANNES SCHLEUNING, EUGEN BACHMANN u. PETER SCHELLENBERG, Und siehe, wir leben!
Der Weg der evangelisch-lutherischen Kirche in vier Jahrhunderten. Mit einem Geleitwort von
ERNST EBERHARD, 2. neu bearb. Aufl. Erlangen 1982.
4
Evangelisch-Lutherische Kirche in Rußland und anderen Staaten.
5
HEINRICH RATHKE, Kirche unterwegs. Der weite Weg evangelisch-lutherischer Christen und
Gemeinden in der ehemaligen Sowjetunion, in: GEORG KRETSCHMAR u. HEINRICH RATHKE, Die
Evangelisch-Lutherische Kirche in Rußland, der Ukraine, Kasachstan und Mittelasien (ELKRAS),
St. Petersburg: der Bote, 1995, 57-127.
6
WILHELM KAHLE, Frömmigkeit und kirchliches Leben, in: ALFRED EISFELD, Die Rußlanddeutschen, Studienbuchreihe der Stiftung Ostdeutscher Kulturrat, Bd. 2, München 1992, 175-203; ders.,
Symbiose und Spannung. Beiträge zur Geschichte des Protestantismus in den baltischen Ländern,
im Innern des Russischen Reiches und der Sowjetunion, Erlangen 1991; ders., Die kirchlichen
Gemeinden und die nationale Identität der Deutschen. Unter besonderer Berücksichtigung der Zeit
zwischen den Weltkriegen, a.a.O., 255-275.
7
Vgl. Bibliographie WILHELM KAHLE 1952-1990, in: Ders., Symbiose und Spannung, 403-409.
3
24
EINLEITUNG
Dorpater und später Erlanger Praktischen Theologen Eduard Steinwand.8 Selbst
aus Odessa stammend und von dortiger Bibelfrömmigkeit geprägt, fokussiert er
die sowohl im südrussischen Stundismus wie in der sog. Baltischen Rußlandarbeit
und ihrer Begegnung zwischen Orthodoxen und lutherischen Christen entscheidende Integration von Glauben und Leben: „Sie vertragen keine Aufspaltung.“ 9
Über seinen Beiträgen klingt die Erschütterung über das Verschwinden einer
ganzen Kirche in einem „schweigenden Martyrium“ 10, das der aufmerksame Christ
westlich dieser Katastrophe nur ohnmächtig zur Kenntnis nehmen konnte.
Einen knappen Versuch in kirchengemeindlicher Integrationsperspektive hat in
der Mitte der neunziger Jahre Corinna Boldt vorgelegt.11 Auf dem Hintergrund
rußlanddeutscher Geschichte skizziert sie die Lebensbedingungen kurz nach Ende
der Sowjetunion und den Wiederaufbau einer lutherischen Kirche im Bereich
Rußlands und der GUS-Staaten. Sie zeichnet in wenigen Strichen ein Motivationsund Erwartungsprofil für die Ausreisebewegung und differenziert unter den
kirchlichen Rußlanddeutschen nach Gottesdiensttreuen, brüdergemeindlich Gebundenen und Kirchlich-Distanzierten. Gemeindepraktische Überlegungen reflektieren bisherige erste Praxiserfahrungen in Deutschland und akzentuieren gottesdienstliches Leben, katechumenale Bemühungen, biblisch- und gemeinwesenorientierte Gemeindearbeit, Wertschätzung von mitgebrachten Traditionen und
wechselseitige Lernbereitschaft als verheißungsvolle Ansatzpunkte.
John Klassen, verantwortlicher Mitarbeiter des mennonitischen Missions- und
Diasporawerkes „Brücke zur Heimat“, legt zur gleichen Zeit einen historischen
Überblick als Zwischenschritt zu einer noch unabgeschlossenen praktisch-theologischen Arbeit vor.12 Zwar richtet Klassen den Fokus speziell auf die Wanderungen
der Gruppe der Mennoniten nach Rußland und innerhalb des russischen und des
Sowjetreiches, er legt damit aber auch Verstehenszugänge für die Wege der anderen Konfessionen an, die an derselben Ansiedlungspolitik des Zarenreiches partizipiert und entsprechende Folgeschicksale erfahren haben. Als mennonitisches
Proprium wird dabei die im Vergleich mit anderen Siedlergruppen relativ große
Bereitschaft zur immer neuen Weiter- und Auswanderung deutlich, sobald die
EDUARD STEINWAND, Glaube und Kirche in Rußland. Gesammelte Aufsätze, Göttingen 1962;
darin u.a.: Versunkenes Luthertum im Osten, 139-148.
9
EDUARD STEINWAND, Luthertum und orthodoxe Kirche, in: Ders., Glaube und Kirche in
Rußland, 138.
10
STEINWAND 1962 b, 142. 148: Die „Stimme der Stummen [...] schweigt gen Himmel.“
11
CORINNA BOLDT, Die Integration rußlanddeutscher Aussiedler in die Kirchengemeinden der
evangelisch-lutherischen Kirche in der Bundesrepublik Deutschland, in: Freikirchenforschung 5
(1995), Münster 1996, 142-168.
12
JOHN N. KLASSEN, Migrationen der Mennoniten. Beweggründe und Ziele der Wanderung der
Mennoniten von Preußen nach Rußland und die heutige Aussiedlung zurück nach Deutschland, in:
Freikirchenforschung 5 (1995), Münster 1996, 109-141.
8
25
EINLEITUNG
ursprünglichen Siedlungsziele politisch unterminiert wurden. Auf dem Hintergrund
der erfahrenen Siedlungs- und Unterdrückungswege und der Aussiedlung nach
Deutschland akzentuiert er die Mennoniten als „Pilgervolk“ auf dem Weg von
ethnischer Identifikation zur Glaubensgemeinde.13
Ebenfalls in kirchenhistorischer Perspektive verfaßt ist eine beim Religionswissenschaftlichen M edien- und Informationsdienst (REMID) Marburg veröffentlichte kleine Studie von Hermann Ruttmann.14 Sie stellt in knapper Form
zahlreiche Einzelinformationen auf der Grundlage der Auswertung historischer
Materialien zusammen und beschreibt die neueren Entwicklungen. Einem kurzen
Durchgang durch die Geschichte der ausgewanderten Deutschen schließt sich eine
differenzierte Darstellung der religiösen Entwicklung in den einzelnen konfessionellen Gruppierungen an. Dabei reicht der Bogen von der Einwanderung über die
Zerschlagung und Unterdrückung der Siedlungen und Gemeinden und die Anfänge eines Neubeginns bis zu Skizzen der gegenwärtigen Situation und ihrer Herausforderungen in Deutschland.
Ein kirchengeschichtlicher Beitrag von Ralph Hennings 15 untersucht im Vorfeld
einer größeren Monographie über den Gebrauch von Predigtbüchern in rußlanddeutschen lutherischen Gemeinden den baltischen Theologen und Pfarrer Carl
Blum (1841-1906), dessen pastorale Tätigkeit unter Rußlanddeutschen an der
Wolga und insbesondere durch die Sammlungen seiner Predigten nachhaltige
Wirkung bis zur Gegenwart auslösten. Diese Predigtbücher16 „stellen ein Stück der
spezifisch rußlanddeutschen Heimat dar“ 17. Im Gegensatz zu vielen anderen
baltischen Pfarrern hatte Blum einen wirklichen Zugang zu den deutschen Siedlern
gefunden. Seine in Dorpat unter Einfluß der Erlanger Theologie gewonnene
theologische Prägung einer Verbindung von Luthertum und Erweckungsbewegung
gaben seiner Predigt die Hauptanliegen von Bekehrung und Heiligung. Hierin traf
er einen Ton, der bei vielen Siedlern Resonanz auslöste und dazu geeignet war, in
den kommenden Jahrzehnten der Unterdrückung und Verfolgung vergewissernd
und ermutigend zu wirken.
Einen Überblick über die Frömmigkeitsprägungen Rußlanddeutscher gibt der
Aussiedlerbeauftragte der Evangelischen Kirche von Westfalen Edgar L. Born 18 als
Beitrag zu einem Sammelband, der, angestoßen durch Tagungsarbeit, konkrete
KLASSEN 1995, 139 f.
HERMANN RUTTMANN, Kirche und Religion von Aussiedlern aus den GUS-Staaten, Religionen
vor Ort, Bd. 4, Marburg 1996.
15
RALPH HENNINGS, Carl Blum – Prediger der Rußlanddeutschen, ZKG 111 (2000) 1, 70-90.
16
Vgl. u. 189 ff.
17
HENNINGS 2000, 90.
18
EDGAR L. BORN, Religiosität und Glaube bei den rußlanddeutschen Spätaussiedlerinnen und
Spätaussiedlern, in: NEEBE/STRASSER 2001, 41-69.
13
14
26
EINLEITUNG
Praxis in einzelnen Beiträgen vor allem für in der Sozialberatung Tätige reflektiert.
Im Beitrag von Born spiegeln sich seine Kenntnisse aus jahrelanger hauptamtlicher
Aussiedlerseelsorge auf Landeskirchen- und EKD-Ebene und die große Zahl von
ihm verfaßter kleinerer Informationsschriften.
3.2 ZUR ALLGEMEINEN AUSSIEDLERFORSCHUNG
Nicht scharf voneinander abgrenzbar sind kirchen- und allgemeinhistorische
Veröffentlichungen zur Rußlanddeutschenthematik.
So beinhaltet Alfred Eisfelds inzwischen in zweiter Auflage vorliegendes
grundlegend informierendes Werk 19 als wichtigen Teil einen frömmigkeitsgeschichtlichen Beitrag von Wilhelm K ahle 20. Eisfeld akzentuiert eindrücklich die
sich in Spannung zu panslawistischen Bestrebungen vollziehende prosperierende
Entwicklung rußlanddeutscher Kolonien nach deren Unterstellung unter die
allgemeine russische Verwaltung bis zu ersten Deportationen im Ersten Weltkrieg und zum Vorabend der Oktoberrevolution. Die Zwischenkriegszeit der
sozialistischen Konsolidierung und Industrialisierung wird als katastrophische
Phase von über zwei Jahrzehnten herausgearbeitet, in denen Bürgerkrieg und
Anarchie, Autonomiebestrebungen und -gewährung, Enteignung und Diskriminierung, Hungersnöte und Deportation in ständigem Wechsel stehen. Mit
dem Angriff der Wehrmacht beginnt eine Phase grausamer Umsiedlungen und
Internierungen, von denen die Rußlanddeutschen nahezu ausnahmslos mit
unglaublichen Opferzahlen erfaßt werden.
Kulturelle Diskriminierungserfahrungen in jahrzehntelanger Folge und nur
zögerliche Rehabilitierungssignale führten zur „[...] Überzeugung, daß sie in der
Sowjetunion keine Chance für ein Überleben als Deutsche haben“ 21. Die Ende
der achtziger Jahre von Michail Gorbatschow veranlaßten politischen und
gesellschaftlichen Veränderungen umfaßten zwar Bleibeanreize für die als wichtiger Wirtschaftsfaktor erkannten Deutschen, konnten jedoch das aufgestaute
Resignationspotential nicht mehr eindämmen und eine Ausreisewelle verhindern,
die nun völlig andere D imensionen als vorangegangene Weiterwanderungsbewegungen im 19. und 20. Jahrhundert annahm. Eine Untersuchung rußlanddeutscher Sozialisationsgeschichte legte im gleichen Jahr, kurz nach dem Höhepunkt
der Migrationswelle in den Westen, Christa Hartmann vor.22 Ihre Fragehaltung
ALFRED EISFELD, Die Rußlanddeutschen, Studienbuchreihe der Stiftung Ostdeutscher Kulturrat, Bd. 2, München 1992; 21999.
20
WILHELM KAHLE, Frömmigkeit und kirchliches Leben, in: EISFELD 1992, 175-203.
21
EISFELD, Die Rußlanddeutschen, 139.
22
CHRISTA HARTMANN, Aussiedler aus der Sowjetunion. Sozialisationsgeschichte der Rußlanddeutschen, hrsg. v. Pädagogischen Zentrum Berlin, Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung,
19
27
EINLEITUNG
spiegelt die Überraschung über die große Zahl Einreisender in der Bundesrepublik
und intendiert integrationsförderliche Einsichten für den Bildungsbereich. Sie
insistiert auf Informationsarbeit über die Hintergründe des von Einheimischen oft
als befremdlich empfundenen Modernitätsrückstandes bei Aussiedlern; dies sei erste
Bedingung gelingender Integration.23 Ihre historische Darstellung des Einwanderungs- und Beheimatungsprozesses im Zarenreich und der folgenden wechselnden
Schicksale unter sowjetischer und insbesondere stalinistischer Minoritäten- und Religionspolitik umfaßt neben demographischen und politikgeschichtlichen Materialien
vor allem wichtige Einblicke in die ideologischen Hintergründe und Zielvorstellungen der nationalsozialistischen Ostpolitik. So wird deutlich, wie durch die Eindeutschungsmaßnahmen in den besetzten sowjetischen Gebieten sich auch die im
westlichen Bereich lebenden „Volksdeutschen“ „zwischen den Fronten“ wiederfanden und nach der bolschewistischen Nationalitätenpolitik in die rassenhygienische
„Maschinerie“ des Nationalsozialismus gerieten.24 Hartmann macht die sich aufgrund
der Politik in der Nach-Stalinära zuspitzende Alternative von Assimilation oder Auswanderung plausibel, die nun aber mutatis mutandis erneut in Erfahrungen tiefgreifender kultureller und religiöser Differenz führe.25
Etwa gleichzeitig erschien im Rahmen eines Modellversuchs „Aussiedler“ der
Bayerischen Akademie für Lehrerfortbildung in Dillingen eine historische Darstellung der Rußlanddeutschen von Ortfried Kotzian.26 Ausgehend von einem
pädagogischen Integrationsinteresse schreitet er in einem Grundlagenteil den Themenbereich sehr weiträumig ab, beginnend mit erster deutscher Ostsiedlung im
Mittelalter, beschreibt differenziert alle deutschen Siedlungsräume im Osten
Europas27 und zeichnet die Geschichte der Rußlanddeutschen nach auf dem Hintergrund der jeweiligen politischen und militärischen Entwicklungen in West- und
Osteuropa. Instruktiv sind terminologische Differenzierungen für die Bereiche
Vertriebenen- und Staatsbürgerschaftsrecht28, die Skizzierung der sozialistischen
Schulentwicklung und Bildungsziele 29 sowie eine Reflexion der Integrationsproblematik hinsichtlich Generationenfolge und Sprache. Thesen zur Integration in Schule
und Kirche akzentuieren hierfür, menschenrechtlich begründet, die MitverantProjekt: Maßnahmen zur Förderung der Integration von Aussiedlern – Sprachförderung und Abbau
von Vorurteilen, Berlin 1992.
23
HARTMANN 1992, 5.
24
HARTMANN 1992, 30-39.
25
HARTMANN 1992, 55. 60-73.
26
ORTFRIED KOTZIAN, Die Deutschen in den Aussiedlungsgebieten – Herkunft und Schicksal,
Modellversuch Aussiedler, Bd. II, hrsg. v. d. Akademie für Lehrerfortbildung Dillingen, München/Dillingen o. J. (1991).
27
KOTZIAN 1991, 32-44.
28
KOTZIAN 1991, 55-70.
29
KOTZIAN 1991, 70-80.
28
EINLEITUNG
wortung der ansässigen Gesellschaft.30 Ein zweiter großer Teil der Arbeit zeichnet
den Weg der Deutschen in der UdSSR für die Bereiche Siedlungsgebiete, Kolonienentwicklung, Nationalitätenpolitik, politische Partizipation, Sprache, Kultur und
Bildung mit reichem Fakten- und Datenmaterial sehr differenziert nach.
Einen anregenden Sammelband mit den Beiträgen eines internationalen Symposions zur Einwanderung aus der früheren Sowjetunion, von der Deutschland und
Israel gleichermaßen betroffen sind, legten bald nach Anlaufen der starken Einreisejahre der Osnabrücker Migrationsforscher Klaus J. Bade und S. Ilan Troen von der
Ben-Gurion-Universität Beer-Sheva vor.31 Beide Länder sehen sich mit Einwanderern konfrontiert, „die den Zielländern zwar aus nationalkulturellen und Glaubensgründen verbunden sind, aber doch im weitesten Sinn totalitären Gesellschafts- und
Lebenszusammenhängen entstammen“ 32. Bei jeweils etwa gleich großem Einwanderungspotential von ca. zwei Mio. Personen verhalten sich die Aufnahmestaaten
tendenziell gegensätzlich. Während Israel um Immigration der beruflich eher höherqualifizierten russischen Juden wirbt, versucht Deutschland den Ausreiseprozeß
zunehmend abzuwenden. Trotz aller Affinität von Einwandernden und Aufnahmeländern sind hier wie dort doch typische soziale und kulturelle Symptome eines
echten Immigrationsprozesses wahrzunehmen.
Eine kulturwissenschaftliche Dissertation von Klaus Boll33 untersucht kulturelle
Veränderungen innerhalb einer bereits vor 1986 aus der Sowjetunion eingereisten
Probandengruppe.34 Gegenüber ihm vorliegenden Studien bemüht er sich, den
Beginn von Prozessen des Kulturwandels unter Rußlanddeutschen bereits in der Revolution von 1917 zu verorten und fragt, inwiefern Kulturelemente in der Minoritätensituation zur Folklore degeneriert seien.35 Untersuchungsschwerpunkte sind die
rußlanddeutsche Familie und ihre Bedeutung als Akkulturationsagentur hinsichtlich
KOTZIAN 1991, 82-90.
KLAUS J. BADE u. S. ILAN TROEN (Hrsg.), Zuwanderung und Eingliederung von Deutschen und
Juden aus der früheren Sowjetunion in Deutschland und Israel. Deutsch-israelisches Symposium am
Hubert H. Humphrey Institute der Ben-Gurion-University of the Negev in Beer-Sheva, Israel, 13.17. Oktober 1991, Bonn 1993.
32
BADE/TROEN 1993, 12.
33
KLAUS BOLL, Kulturwandel der Deutschen aus der Sowjetunion. Eine empirische Studie zur
Lebenswelt rußlanddeutscher Aussiedler in der Bundesrepublik, Marburg 1993.
34
Kritisch zur Zusammenstellung der Probandengruppe bei Boll: LEW M. MALINOWSKIJ, Lebensniveau – Statistisches Herangehen und volkskundliche Aspekte seiner Bestimmung bei den Rußlanddeutschen, in: HANS-WERNER RETTERATH (Hrsg.), Wanderer und Wanderinnen zwischen zwei
Welten? Zur kulturellen Integration rußlanddeutscher Aussiedlerinnen und Aussiedler in der
Bundesrepublik Deutschland, Schriftenreihe des Johannes-Künzig-Institutes, Bd. 2, Freiburg 1998,
13-25: Die Gruppe sei durch Weiterempfehlung zustande gekommen und könne von daher eine
kulturelle Einheitlichkeit Rußlanddeutscher suggerieren: 14 f. 23. Ähnliche Vorbehalte macht der aus
Barnaul/Sibirien stammende Volkskundler MALINOWSKIJ a.a.O. auch gegenüber der früheren Studie
des Osteuropa-Instituts unter Rußlanddeutschen geltend: DIETZ/ HILKES 1988, vgl. o. Anm. 6.
35
BOLL 1993, 22.
30
31
29
EINLEITUNG
von Sprachweitergabe, Wertevermittlung, Rollenbildern, Erziehungsvorstellungen
und religiöser Sozialisation.36 Spezielle Untersuchungsbereiche betreffen dann in
hoher Differenzierung „Essen und Trinken im Wandel“ und ihre jeweilige symbolische Funktion nach der Ausreise37, Veränderungen der emotional hochbesetzten
Wohnkultur38 , die Bedeutung von nur begrenzt mitbringbaren Erinnerungsgütern39
und die unter Rußlanddeutschen wichtige, aus ideologischen und religiösen Motiven
mehrfach gebrochene musikalische Kultur40. Exemplarisch für die nicht bewußte
Veränderung von Brauchtum bereits in der Vergangenheit wird die Hochzeitsfeierpraxis beleuchtet.41 Boll entwirft auf der Grundlage seiner Untersuchungen einen für
Rußlanddeutsche angemessenen Akkulturationsbegriff, für den „eine Stärkung ihrer
kulturellen Identität, ihres soziokulturellen Selbstbewußtseins von entscheidender
Bedeutung“42 sei. Angesichts der viele zunehmend überfordernden kulturellen Neuidentifikationsaufgaben im Aufnahmeland prognostiziert er jedoch wachsende Spannungen, Widersprüche und Brüche im Akkulturationsprozeß.43
Einen erhellenden Beitrag zum Kulturverständnis Rußlanddeutscher und zur
Begrifflichkeit im migrationspolitischen Diskurs leistet die 1993 vorgelegte Münchener Magisterarbeit der Slawistin Heike Roll.44 Auf der Basis von Interviews des
Osteuropa-Instituts München zwischen 1990 und 1992 versucht sie, kulturelle und
gesellschaftliche Wissensbestände der Rußlanddeutschen auf dem Hintergrund ihrer
Geschichte zu erheben und zu interpretieren.45 Dabei erweist sich eine sowohl bei
der Bezugsgruppe selbst wie in der Aufnahmegesellschaft vorhandene und als
Ausweis des Deutschseins geltende Kulturvorstellung als problematisch, die von
einseitig repristinierenden, alltagspraktisch aber dysfunktionalen Bildern ausgeht. Roll
plädiert daher für einen handlungspraktischen anstelle eines „monumentalisierten“
Kulturbegriffs und problematisiert die vom deutschen Staatsbürgerschaftsrecht
vorgegebene einseitige Festschreibung ethnischer Identität auf das Abstammungsprinzip ohne Berücksichtigung tatsächlicher Lebenspraxis.46 Ein ausführlicher Reflexionsgang ist Glauben und Religionsgemeinschaft als identitätsstiftenden und wert-
BOLL 1993, 39-92.
BOLL 1993, 93-133.
38
BOLL 1993, 135-192.
39
BOLL 1993, 193-218.
40
BOLL 1993, 220-247.
41
BOLL 1993, 248-280.
42
BOLL 1993, 304.
43
BOLL 1993, 349-351.
44
HEIKE ROLL, Die fremde Heimat – interkulturelle Kommunikation rußlanddeutscher Aussiedler
und Bundesdeutscher vor dem Hintergrund von Glauben und Religionsgemeinschaft, Magisterarbeit
an der Ludwig-Maximilians-Universität München, München 1993.
45
ROLL 1993, 4.
46
ROLL 1993, 7-11. 33-43. 21-32.
36
37
30
EINLEITUNG
setzenden Institutionen für Teile der Rußlanddeutschen gewidmet, die in deutlicher
Ambivalenz sowohl als Ausreise- wie auch als Abschottungsmotiv nach der Ausreise
dienen können.47
Von der Stiftung Volkswagenwerk finanziert wurde eine von Barbara Dietz
gemeinsam mit Heike Roll von 1995-1997 durchgeführte Studie des OsteuropaInstituts unter Aussiedlerjugendlichen.48 Rechtliche Rahmenbedingungen der Ausreise, Lebensverhältnisse in den Herkunftsgebieten und Erfahrungen der Übersiedlung sind der Hintergrund, auf dem das ethnische Identitätsproblem in Deutschland
aufgezeigt wird. Jeweils die Situation vor und nach der Ausreise kontrastierend
werden die Bereiche Sprache, Religion, Schule und Ausbildung, Lebensgestaltung
zwischen Eigenständigkeit und Familie, soziale Beziehungen und Freizeitverhalten
sowie die Politik-, Werte- und Gleichaltrigenorientierungen reflektiert. Die Verfasserinnen sehen für Aussiedlerjugendliche ein hohes Integrationsrisiko, das durch die
Anerkennung der faktischen Einwanderungspluralität in Deutschland durch die Einheimischen zumindest entschärft werden könne.49
Die Jahrestagung 1996 des Johannes-Künzig-Instituts für ostdeutsche Volkskunde, Freiburg, zur kulturellen Integration Rußlanddeutscher dokumentiert ein von
Hans-Werner Retterath 1998 herausgegebener Vortragsband.50 Er läßt die rasche
Differenzierung des Themenbereiches erkennen, indem er volkskundliche, sprachwissenschaftliche und sprachdikaktische, migrations- und integrationstheoretische
sowie biographiewissenschaftliche Beiträge und Untersuchungen zum Heimatbegriff,
zu Jugendbildern, zur Frauenrolle im Integrationsprozeß und zu konfessionellen und
frömmigkeitlichen Prägungen vorlegt.
Eine weitere Verbreiterung der Forschungsbereiche spiegelt der von Klaus J.
Bade und Jochen Oltmer herausgegebene Sammelband „Aussiedler: Deutsche Einwanderer aus Osteuropa“ 51, dessen Titel bereits eine Abgrenzung gegen einen
„ethnonationalen Euphemismus“ in der gebräuchlichen Terminologie vornimmt, der
im Aufnahmeland seine Bindewirkung verliere.52 Ein Beitrag der Herausgeber53
skizziert die historischen Entwicklungslinien sowie gegenwärtige Problemlagen mit
ROLL 1993, 67-74.
BARBARA DIETZ u. HEIKE ROLL unter Mitarbeit von JÜRGEN GREINER, Jugendliche Aussiedler
– Porträt einer Zuwanderergeneration, Frankfurt/Main – New York 1998; hier: 11.
49
DIETZ/ROLL 1998, 145-147.
50
HANS-WERNER RETTERATH (Hrsg.), Wanderer und Wanderinnen zwischen zwei Welten? Zur
kulturellen Integration rußlanddeutscher Aussiedlerinnen und Aussiedler in der Bundesrepublik
Deutschland, Schriftenreihe des Johannes-Künzig-Institutes, Bd. 2, Freiburg 1998.
51
KLAUS J. BADE u. JOCHEN OLTMER (Hrsg.), Aussiedler: Deutsche Einwanderer aus Osteuropa,
IMIS-Schriften 8, Osnabrück 1999.
52
BADE/OLTMER 1999, 7.
53
KLAUS J. BADE u. JOCHEN OLTMER, Einführung: Aussiedlerzuwanderung und Aussiedlerintegration. Historische Entwicklung und aktuelle Probleme, in: Dies. 1999, 9-51.
47
48
31
EINLEITUNG
der Conclusio, es komme „nach alldem darauf an, in der Gegenwart nicht an der
Gestaltung der Zukunft zu sparen“ und sich in Deutschland endlich auf ein einwanderungspolitisches Gesamtkonzept zu verständigen.54
Die Themenfelder der Veröffentlichung reichen von Arbeitslosigkeit und beruflicher Abwärtsmobilität über das Verhältnis von russischen Juden und Aussiedlern,
konkrete Migrationsverläufe, das Spannungsfeld von Segregation, Mobilität und
Integration, Probleme lokaler Eingliederung, Partizipation und von Strukturproblemen durch Aussiedlereinweisung in den ländlichen Raum bis zu familiären und
beruflichen Orientierungen. Eine Reihe von Aufsätzen sind der Situation jugendlicher Aussiedler gewidmet und thematisieren Konflikte mit einheimischen Jugendlichen, die Situation von Aussiedlern im Jugendstrafvollzug und die Freizeitorientierungen Jugendlicher.
Eine große Monographie aus migrationswissenschaftlicher Perspektive wurde
gegen Ende der neunziger Jahre von Regina Römhild vorgelegt.55 Ihre These besteht
in der Annahme einer das Zusammenleben erschwerenden gegenseitigen Fixierung
von Aussiedlern und Einheimischen auf ethnische Bilder. Demgegenüber müsse die
Differenz von vorgestellter und praktizierter Kultur beachtet werden.56 Als Reaktion
auf langanhaltende und zunehmend gewalttätige Fremdethnisierungen hätten Rußlanddeutsche begonnen, sich selbst ethnisch zu definieren und sich nach selbstzugeschriebenen qualitativen Standards von Nichtdeutschen abzugrenzen.57 Erst retrospektiv sei im Interesse einer Rehabilitation rußlanddeutsche als ethnische Geschichte konzipiert worden.58 Angesichts polarer, ideologisch aufgeladener Vorstellungen von Nation im deutschen politischen Spektrum gerieten Aussiedler hier vor
die Alternative, entweder der Fiktion von idealen Deutschen nicht standhalten zu
können oder dem Verdikt als volkstümelnder Gruppe zu verfallen. „Daß es den
einen darum geht, die Aussiedler als Deutsche zu diskreditieren, und den anderen
darum, sie als Deutsche zu protegieren, entspricht letztlich zwei Seiten einer
Medaille.“ 59 Erhellend ist auf diesem Hintergrund eine Dekonstruktion der geltenden
Rechtsbestimmungen für das Aufnahmeverfahren als Spätaussiedler, durch die sie
auf eine ahistorische Kulturvorstellung festgeschrieben würden.60 Kulturtheoretisch
entscheidet Römhild sich für einen prozeßhaften Begriff und votiert von daher für
BADE/OLTMER 1999, 39.
REGINA RÖMHILD, Die Macht des Ethnischen: Grenzfall Rußlanddeutsche. Perspektiven einer
politischen Anthropologie, Europäische Migrationsforschung, Bd. 2, Frankfurt am Main 1998.
56
RÖMHILD 1998, 12 f.
57
RÖMHILD 1998, 181.
58
RÖMHILD 1998, 23-29.
59
RÖMHILD 1998, 263-322, hier: 314.
60
RÖMHILD 1998, 255-261.
54
55
32
EINLEITUNG
Offenheit gegenüber Aussiedlern als einer durch die multiethnische Sowjetkultur
geprägten Gruppe.61
Aus politologischer Perspektive untersucht die als Dissertation vorgelegte Studie
des politischen Rundfunkredakteurs Götz-Achim Riek 62 die Aussiedlungsgründe
Rußlanddeutscher. Dabei beleuchtet er die Hintergründe, besonders im Blick auf die
nachsowjetische Gesellschaft, weit differenzierter, als dies sonst geschieht. Einblicke
in die ökonomische, ökologische und soziale Verfassung der GUS-Staaten lassen den
Ausreisewunsch vieler nachvollziehbar und auch als Teil der weltweiten Armutsmigration verständlich werden. Dafür kann er ihm zur Verfügung gestelltes Umfragenmaterial aus den Unterlagen von Alfred Eisfeld, Regina Römhild und Barbara
Dietz, das in deren Untersuchungen nicht zur Veröffentlichung kam, verwenden.
Die Bearbeitung der verschiedenen Motivationsbereiche für die Ausreise nach
Deutschland zeigt eine Bündelung von Push-Faktoren, die zu einer Überbewertung
Deutschlands vor der Ausreise führe mit der Folge: „Viele Rußlanddeutsche fühlen
sich als Migrationsverlierer.“ 63
Einen wichtigen Beitrag zur Präzisierung von Integrationsvorstellungen leistet die
„ausgesiedelte“ Soziologin Irene Tröster, indem sie einheimische mit rußlanddeutschen Perspektiven kontrastiert: „Zurechtkommen“, „Mithaltenkönnen“ und „Gleichen“ erweisen sich als gleichzeitig virulente Deutungsmuster.64
4. ZUR METHODIK
Die vorliegende Studie unternimmt eine Felderkundung aus der Haltung praktischtheologischer Wahrnehmung 1 und, dieser zugeordnet, kulturhermeneutischer
Perspektive. Wird Kultur verstanden als individuelle und soziale alltagspraktische
Lebensgestalt, stehen die Kirchen in Deutschland angesichts der Aussiedlerzuwanderung seit Ende des 20. Jahrhunderts vor einer eminenten interkulturellen Herausforderung. Der Aufgabe interkultureller Kommunikationsprozesse in den örtlichen
RÖMHILD 1998, 333 f.
GÖTZ-ACHIM RIEK, Die Migrationsmotive der Rußlanddeutschen. Eine Studie über die sozialintegrative, politische, ökonomische und ökologische Lage in Rußland, Stuttgart 2000.
63
RIEK 2000, 536.
64
IRENE TRÖSTER , Wann ist man integriert? Eine empirische Analyse zum Integrationsverständnis
Rußlanddeutscher, Frankfurt/M. u. a. 2003.
1
Im Sinn einer kriteriengeleiteten Wahrnehmung wäre hier die Kategorie theologischer Ästhetik
in Anschlag zu bringen, vgl. ALBRECHT GRÖZINGER, Praktische Theologie und Ästhetik, Ein Beitrag
zur Grundlegung der Praktischen Theologie, München 21991; ders., Praktische Theologie und
Ästhetik. Ein Buch- und Forschungsbericht, IJPT 3 (1999), 269-294.
61
62
33
EINLEITUNG
Gemeinden will der auf den Erkundungsgängen dieser Arbeit erzielte Verständnisgewinn zuarbeiten.
Die Pluralität der unter dem Sammelbegriff „Rußlanddeutsche“ summierten
Gruppe und die Vielfalt der mit ihrer Genese, Herkunft und Gegenwart verbundenen Facetten begründen eine flächige Vorgehensweise, in die exemplarische Tiefbohrungen eingestreut sind. Weniger einzelne Ereignisse als ganze Ereigniszusammenhänge und ihre Bedingungen können von daher fokussiert und praktisch-theologisch
interpretiert werden.2
Untersuchungen zu einzelnen Themenschwerpunkten, wie sie sich im Bereich der
Migrationsforschung augenblicklich stark vermehren, werden zukünftige Aufgabe
praktisch-theologischer Arbeit sein müssen. Mit zunehmender Verweildauer rußlanddeutscher Aussiedler in Gemeinden und Gesellschaft wird sich eine weiter wachsende, reflexionsbedürftige Ausdifferenzierung des Themenfeldes ergeben.
5. ZUM AUFBAU
In vier unterschiedlichen Bewegungen schreitet die Arbeit ihr Themenfeld ab.
Zuerst1 gilt es, das inzwischen geläufige „Aussiedlerproblem“ als Problem, d.h.
empirisch wahrzunehmen und zu präzisieren. Die zeitlichen und quantitativen
Konturen des zugrundeliegenden Migrationsprozesses sind als Voraussetzungen für
zutreffende Deutungen weiterer Untersuchungsergebnisse miteinander und mit der
Gesamtmigration in Deutschland zu relationieren. Aus einer anschließenden Sichtung der Soziographie eingereister Rußlanddeutscher nach Altersschichtung, Berufsstrukturen und Konfessionsverteilung ergeben sich wesentliche Indikatoren für ein
praktisch-theologisches Wahrnehmungsinteresse.
Von diesem her fragt die Arbeit insbesondere nach Auskünften über Aussiedler
in der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, wofür überregionale und partikulare Umfragematerialien zur Auswertung kommen. Zuzugszahlen und Gemeindegliederanteile in den bayerischen Kirchenkreisen und in einzelnen Dekanaten zum Ende
des 20. Jahrhunderts ergeben eine Gesamtvorstellung von den auch künftig bestehenden Anforderungen, die durch konkrete Befragungsergebnisse weiter differenziert werden kann. Untersuchungsrückläufe lassen ein Bild von zum Teil vielfältiger kirchlicher Arbeit mit Aussiedlern vor Ort entstehen, das sich auf die Anforderungsschwerpunkte beziehen läßt. Ein wichtiger Aspekt, möglicherweise auch ein
2
Vgl. zum Verhältnis von Wahrnehmen und Deuten: MARTIN NICOL, Zwischen Ereignis und
Wissenschaft, PTh 83 (1994), 68-81.
1
S. u. 41 ff.: Das Problem.
34
EINLEITUNG
Teil des gemeindlichen „Aussiedlerproblems“, ist dabei die Zahl der verfügbaren
landeskirchlichen Stellen für dieses Arbeitsfeld und die Art ihres Einsatzes.
Die Frage nach den Chancen einer Beheimatung angesichts sich offensichtlich
verfestigender Fremdheitsempfindungen in Deutschland läßt im folgenden Untersuchungsteil2 zurückblicken auf die Herkunft rußlanddeutscher Aussiedler und ihre
Motivation zur Emigration. Worin bestanden die äußeren und inneren Bedingungen
und Belastungen einer Ausreise zu sowjetischer und postsowjetischer Zeit? Wo
lebten die nach Deutschland Gekommenen vor ihrer Ausreise und unter welchen
ethnosozialen Bedingungen? Welche ideologischen und politischen Hintergründe
führten zu ihrer Situation vor der Umsiedlung?
Es muß jedoch noch weiter zurückgefragt werden nach den Anfängen und
Motiven einer Siedlung Deutscher im Osten: Welche sozialen Gruppen waren es, die
ihre angestammten Wohngebiete im Westen verließen, und was waren dabei die
Push- und welche die Pull-Faktoren? 3 Wo waren die ursprünglichen Siedlungsorte
und was veranlaßte zur ihrer Wahl? Wie verliefen Ansiedlung und Kolonienentwicklung in sozialer, religiöser, ökonomischer und interethnischer Hinsicht? Eine entscheidend wichtige Fragerichtung sind dabei die wiederholt aufgetretenen, sich an
Tragik zuspitzenden Krisen in der Entwicklung rußlanddeutscher Siedlungen.
Nachzuzeichnen ist das spezifische Teilhabeschicksal der Deutschen im Russischen
Reich und in der Sowjetunion an den sozialen Umbrüchen und Zwangsmaßnahmen
seit der Okoberrevolution, die ihren Höhepunkt fanden im stalinistischen Terror und
der Umsiedlung ganzer Ethnien. Kriegs- und Nachkriegsschicksal der Rußlandeutschen, die sie betreffende sowjetische Minoritätenpolitik und der tatsächliche Grad
einer Normalisierung in der Ära nach Stalin erhellen die Hintergründe gegenwärtiger
Entwicklungen.
Ein eigener ausführlicher Erkundungsgang muß in diesem Zusammenhang
Kirche und Frömmigkeit unter Rußlanddeutschen gelten sowie der Frage, wie ihr
Glaube geprägt war und wie er ihr Siedlungs-, ihr Sozialverhalten und ihre gesamte
Kultur bestimmt oder wenigstens beeinflußt hat bis hin zu den Ausreiseentscheidungen der Gegenwart. Kirchen- und Siedlungsgeschichte sind hier weithin nicht
unabhängig voneinander zu verstehen. Dies wird sich sowohl für die Ansiedlungsphase wie für die Zeit der großen Katastrophen und den mühsamen kirchlichen
Wiederaufbau der letzten Jahrzehnte erweisen. Von der religiösen Prägegeschichte,
Umprägungen und Prägungsverlusten Rußlanddeutscher zu wissen ist unabdingbar
für ein adäquates Verständnis der neuen Glieder unserer Gemeinden.
S. u. 83 ff.: Abschied aus Hoffnung.
Vgl. zum Push-Pull-Modell: RIEK 2000, 97-113; JÜRGEN R. WINKLER, Art. Migration, in: Evangelisches Soziallexikon. Neuausgabe, hrsg. v. MARTIN HONECKER, HORST DAHLHAUS u.a., StuttgartBerlin-Köln 2001, 1076-1086.
2
3
35
EINLEITUNG
Wichtig, nicht nur, aber besonders für kirchliche Arbeit, ist ein Informationsgang
über Bildung unter Rußlanddeutschen, zunächst als ein Proprium von ihnen selbst
getragen, dann staatlich und ideologisch besetzt und gefüllt in Spannung und Widerspruch zur tradierten Kultur. Aktuell relevant ist der Anschlußbereich von postsowjetischem pädagogischem System zur bundesrepublikanischen Bildungsstruktur,
der von allen in Schule und Ausbildung Befindlichen durchlaufen und bewältigt
werden muß.
Von der Erfahrung überwiegend russischer Sprachpraxis der Einreisenden und
der gleichzeitigen Verknüpfung von Einreisebewilligung und deutschen Sprachkenntnissen her kommt der Entwicklung der Sprachkultur unter Rußlanddeutschen
und den Bedingungen ihrer Brüche ein besonderes Gewicht zu. An der Sprachentwicklung der Deutschen in Rußland, der Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten
spitzt sich das „Problem“ der kulturellen Entwicklung Rußlanddeutscher in besonderer Weise zu.
Um die Alltagspraxis von Aussiedlern zu verstehen, gilt es, diejenige in Blick zu
nehmen, die sie in den Jahren oder Jahrzehnten vor ihrer Ausreise im früheren
soziokulturellen Kontext internalisiert haben. So fragt die vorliegende Arbeit nach
den Lebensbedingungen in der totalitären Sowjetgesellschaft und nach den durchschnittlichen Berufs-, Wohn- und Familienverhältnissen. Wie waren dabei die
Rollenanforderungen an Frauen? Und welche Möglichkeiten bestanden für eine
deutsche Kulturpraxis, die hier in Deutschland zentrales Aufnahmekriterium ist?
Eigens zu fragen ist im Rahmen der historischen Erkundung nach dem von
vielfältigen Umbrüchen geprägten Zeitraum seit Gorbatschow, dessen neue Freiheitsmöglichkeiten ein Bleiben in den bisherigen Wohngebieten offensichtlich gerade
nicht bewirken konnten und dessen Entwicklungen zusätzliche Push-Faktoren
hervorbrachten.
Wie stellen sich nach der Einreise die in Richtung Deutschland wirkenden PullFaktoren dar? Sind sie für alle Ankommenden identisch, und wie setzt sich die
Zuzugsgruppe zusammen? Dem Fragenkreis des Ankommens in Deutschland ist ein
weiterer Erkundungsgang gewidmet.4 Die Einreise Rußlanddeutscher ist mit bestimmten Stimmungen und Reaktionen der einheimischen Bevölkerung verbunden,
die sich im Lauf der vergangenen Jahre durchaus verändert haben. Die sozialpsychologisch nicht wirkungslosen Zusammenhänge mit hiesigen ökonomischen Entwicklungen und Veränderungen im Rechtsgefüge und im Bereich von Eingliederungsleistungen sind dabei zu beachten. Wichtig für das im Vorfeld der Einreise gewonnene Verständnis von Deutschland sind die Erfahrungen mit dem zu durchlaufenden
Verfahrensweg, der der einheimischen Öffentlichkeit in der Regel verborgen bleibt.
4
36
S. u. 275 ff.: Abschied von der Hoffnung.
EINLEITUNG
Wie stellt sich die Situation für Migranten in Deutschland, das kein Einwanderungsland sein will, generell dar? Welche Gruppen spielen hier eine Rolle und in
welchen Dimensionen? Wie entwickelt sich die Stimmungslage der Aufnahmegesellschaft gegenüber Fremden und Aussiedlern im besonderen? Wie werden sie beurteilt
und wie behandelt? Welche kirchlichen Signale und Rahmenbedingungen existieren
für einen gelingenden Aufnahmeprozeß? Besondere Beachtung verdienen die
Erfahrungen, die Aussiedler in Deutschland mit ihren mitgebrachten Vorstellungen
und Erwartungen von Heimat machen. Wie gelingt es, hier erfahrenen Problemlagen
mit in der Herkunftsgesellschaft erworbenen Problemlösungsstrategien entgegenzutreten?
Ein breites Spektrum von Lebensdeterminanten und ihren Herausforderungen
kann nun auf dem Hintergrund mitgebrachter Gewohnheiten erkundet werden und
wird dabei in seiner jeweiligen Problematik verständlicher. Hier zu beachten sind die
Frage der jeweiligen Wohnsituation, der Bereich von Arbeit und Beruf, die Praxis
mitgebrachter Kultur im neuen Kontext, das Verhältnis von familiärer und umweltlicher Sprachpraxis, die Entwicklung des Werteempfindens und die darin wirksamen
christlich-kirchlichen Momente oder Rudimente.
Wie erleben Aussiedler aus einem Land, in dem christliche Kirchen sich in einer
Phase des Wiederaufbaus befinden, Kirche und Volkskirchlichkeit in Deutschland?
Was fördert und was hemmt eine Begegnung? Wie sind Taufbegehren von Aussiedlern zu verstehen, und welche Entwicklungen zeichnen sich hier ab? Wo und wie
werden Aussiedler von den Kirchen wahrgenommen, wo werden sie in ihrer Spezifik
verkannt? Hier sind die theologischen Akzente bewußt christlicher Rußlanddeutscher, die Besonderheiten von brüdergemeindlich orientierten Aussiedlern und die
teilweise vorhandene Tendenz zu eigenen Gemeinden bzw. auch Gemeindegründungen genauer zu beachten.
Oftmals werden rußlanddeutsche Aussiedler als verschlossen und in die eigene
Gruppe zurückgezogen erlebt. Ein Reflexionsgang zur Krisenhaftigkeit von Migrationsprozessen versucht für die Aufnahmegesellschaft mitunter befremdliche Verhaltensweisen, insbesondere von Jugendlichen, zu verstehen. Vice versa ist zu fragen,
worin seitens der einheimischen Gesellschaft wesentliche Erschwernisse für den
Beheimatungsprozeß der Eingereisten liegen. Da sie in wenigen Jahren die bestimmende Aussiedlergruppe sein werden und von Migrationsanforderungen aufgrund ihrer Entwicklungsphase besonders betroffen sind, fragt ein abschließendes
Kapitel dieses Teils noch einmal speziell nach den Perspektiven und psychosozialen
Gefährdungen jugendlicher Aussiedler auf ihrer Suche nach Beheimatung.
Unter der Hand ergeben sich für den theologischen Blick durch diese Erkundungsgänge aufregende Herausforderungen für und Anfragen an unsere Volkskirche.
37
EINLEITUNG
Der letzte Hauptteil dieser Studie5 zieht diese Linien aus, legt die während der ganzen
Untersuchung als Wahrnehmungsrahmen in Anschlag gebrachten biblischen Perspektiven offen, formuliert im Vorfeld handlungsleitender Aussagen gemeindetheologische Kriterien und gibt Hinweise für mögliche Konsequenzen in der Praxis.
6. VERWENDETES MATERIAL
Neben wissenschaftlichen Veröffentlichungen waren drei weitere Informationsebenen für die Erkundungsbemühungen dieser Arbeit entscheidend.
Zum einen sind hier statistische Materialien zu nennen, die regelmäßig vom
Bundesministerium des Innern, vom Bundesverwaltungsamt und vom Bayerischen
Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen zur Verfügung
gestellt werden. Darüber hinaus ermöglichen zahlreiche der verwendeten wissenschaftlichen Veröffentlichungen den Zugriff auf Erhebungen unterschiedlichster
Kontexte einschließlich Sowjetunion und Russische Föderation. Auch werden dort
Materialien bereitgestellt, die auf der Auswertung zahlreicher empirischer Studien
basieren. Für den Bereich der evangelischen Aussiedlerseelsorge in Bayern liegen
mehrere vom Osteuropareferat des Landeskirchenamtes der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern und vom Aussiedlerreferat des Diakonischen Werks Bayern
sowie regionale, von Aussiedlerpfarrern durchgeführte Befragungen vor, die in dieser
Arbeit ausgewertet werden konnten.
Auf der zweiten Ebene sind zu nennen die zahlreichen Arbeitshilfen aus verschiedenen Landeskirchen, die meistens grundsätzliche Reflexion mit konkreten
Handlungsanregungen verbinden und in ihrer Vielfalt das Kolorit der Aussiedlerarbeit im vergangenen Jahrzehnt widerspiegeln.
Auf der dritten, für die Entstehung dieser Arbeit und für den Verfasser wichtigen
Ebene sind die zahlreichen Primärerfahrungen zu nennen, die sowohl als erhellende
Konkretion als auch als Resonanzboden im Hintergrund aller Überlegungen stehen.
Zu nennen sind hier die ersten bewußten Begegnungen des Verfassers als Gemeindepfarrer mit rußlanddeutschen Aussiedlern in Neuburg an der Donau von
1992 bis 1997 und damalige anfängliche Verstehens- und Praxisversuche. Hierzu
gehört auch die erhöhte Aufmerksamkeit für die neue Herausforderung im Dekanatskapitel in Ingolstadt, einem Schwerpunkt des Aussiedlerzuzugs in Bayern.
Eine genau protokollierte Studienreise der Otto Benecke Stiftung unter pädagogischem Hauptaspekt nach Omsk und in den Deutschen Nationalen Rayon
5
38
S. u. 415 ff.: Woher kommt mir Hilfe?
EINLEITUNG
Asowo/Westsibirien trug erheblich zum Verständnis von Ausreisewillen und Beheimatungsproblematik bei. Gespräche mit Praktikern und Wissenschaftlern erschlossen Hintergründe und Bedingungen, konkrete Einblicke in die Praxis den
gegenwärtigen Bildungsalltag in Schulen, Jugendarbeit und Hochschulen. Vielfältige
Begegnungen eröffneten Verständnis für die ökonomische Lage der Menschen, die
Situation und Arbeitsbedingungen der evangelisch-lutherischen Gemeinde in Omsk
und in die familiäre und soziale Situation auf dem Land.
Vortrags- und Referententätigkeit, wiederholt mit bewußter Beteiligung von rußlanddeutschen Aussiedlern, zum Thema in Gemeindegruppen, vor Dekanatsgremien
und im Pastoralkolleg verdeutlichten die auf Aussiedler- wie auf Einheimischenseite
liegenden Verständnisschwierigkeiten, gleichzeitig aber auch den Wunsch nach gelingender Kommunikation. Wichtig zur Differenzierung und Präzisierung von Wahrnehmungen waren Gesprächskontakte mit einzelnen Aussiedlern in jeder Phase der
Entstehung dieser Arbeit.
Besonders zu nennen ist nicht zuletzt die Aussiedlerseelsorgekonferenz in der
Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern. Ihre Treffen eröffneten regelmäßig
Einblicke in die konkrete örtliche und regionale Praxis der Aussiedlerarbeit, dienten
konzeptionellen Überlegungen und hatten durch die verantwortliche Mitarbeit der
Aussiedlerreferentin im Diakonischen Werk Bayern die sozialpädagogische Dimension diakonischer Beratungsarbeit im Blick. Die Mitarbeit an einem aus der Mitte
dieser Konferenz entstandenen Glaubensbuch für Aussiedler1, das parallel zu dieser
Studie entstand, nötigte den Verfasser dazu, gewonnene Einsichten adressatenorientiert zu transformieren.
Journalistische, lyrische und belletristische Bearbeitungen der Thematik werden
gelegentlich explizit aufgenommen, stehen darüber hinaus jedoch in weit größerer
Breite verständniserhellend im Hintergrund der vorliegenden Überlegungen.
Aufgrund dieser persönlichen Affinitäten zum Thema verbindet sich mit dieser
Arbeit die Hoffnung des Verfassers, sie möge ihren Beitrag dazu leisten, zumindest
in der Kirche Jesu Christi von gängiger öffentlicher Einschätzung der rußlanddeutschen Aussiedler zu theologisch verantworteter Wahrnehmung und Wertschätzung
zu gelangen und den Fremden unter uns mehr Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.
Aussiedlerseelsorge der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern (Hrsg.; Mitarbeit d. Vf.),
glauben – lieben – hoffen. Christliche Feste verstehen und mitfeiern, München o. J. (1. Aufl. 2003,
2. Aufl. 2004; Russische Ausgabe 2004, 2. Aufl. 2005; Ausgabe für die Evangelisch-Lutherische
Landeskirche Hannovers 2004).
1
39
Das Problem
Aussiedler gelten als Problem oder aber sie werden „[...] erst dann zum Thema, wenn
sie zum Problem werden“, Aussiedler aus den Gebieten der ehemaligen Sowjetunion
insbesondere.1 Das war nicht immer so, wurden doch bis etwa 1990 die Angehörigen
dieser Gruppe noch als besonders ernsthafte Mitchristen und als überaus anspruchslose und fleißige „Landsleute“ betrachtet.2 Die Willkommensfreude hat sich längst
abgekühlt, die Andersartigkeit dieser Deutschen, deren Existenz hierzulande längst
vergessen war,3 erweckte bald massive Überfremdungsängste bei der eingesessenen
Bevölkerung, und auch mit dem Anspruch der Nachrichtenvermittlung auftretende
Medien dienen bereitwillig als Verstärker von Ressentiments. Man spricht von „den
Polen“, „den Rumänen“ oder „den Russen“, ohne zu ahnen, mit welchen Konnotationen diese Zuschreibungen für Aussiedler aus den betreffenden Ländern verbunden sind.
1. AUSSIEDLERZUGANG IN DEUTSCHLAND
1.1 ZAHLENENTWICKLUNG UND HERKUNFT
1.1.1 Entwicklung der Zuzüge seit 1950
Aussiedler aus den Nachfolgestaaten der früheren UdSSR bilden neben der türkischen Minderheit mittlerweile die zweitgrößte Einwanderergruppe in Deutschland.4
1
CHRISTOF HECHTEL u. LISA SCHOLZ, Aussiedler unter uns. Standpunkte zur Aussiedlerarbeit in
Bayern von Diakonie und Kirche, Reihe: Welten verbinden, München 1998.
2
Besonders in den arbeitskräftearmen sechziger Jahren war ihr Zustrom als Lückenfüller auf dem
Arbeitsmarkt „sehr erwünscht“, waren sie doch „hochmobile und motivierte Erwerbspersonen“:
RAINER GEISSLER, Struktur und Entwicklung der Bevölkerung, in: Informationen zur politischen
Bildung Nr. 269, 2000/4, 8 f.; die Bezeichnung „Landsleute“ war gängige Sprachpraxis der
CDU/CSU/FDP-Bundesregierung bis 1998, vgl. VadW 49 (1998) 8/9, 3.
3
KOTZIAN 1991, 12 f., nennt sie „vergessene Deutsche“: „In der Bundesrepublik Deutschland
werden sie [...] häufig als Fremde empfunden und müssen mit viel Verbitterung erleben, daß über ihr
Schicksal, ihre Herkunftsgebiete, die Geschichte ihrer Volksgruppen nichts oder fast nichts bekannt
ist.“
4
HEIKE ROLL, Deutsch sein und doch fremd sein – Jugendliche Aussiedler suchen ihre Identität,
in: Forschungsinstitut der Friedrich-Ebert-Stiftung (Hrsg.), Identitätsstabilisierend oder konfliktfördernd? Ethnische Orientierungen in Jugendgruppen, Gesprächskreis Arbeit und Soziales Nr. 72,
Bonn 1997, 39. Zum 1.1.1994 lebten in der Bundesrepublik 1.918.395 türkische Staatsangehörige,
vgl. Brockhaus-Enzyklopädie, 19. Aufl., Bd. 30 (1996), 62. Der Anteil von Aussiedlern aus der
ehemaligen UdSSR betrug zu diesem Zeitpunkt bereits 953.494 Personen, vgl. Info-Dienst Deutsche
Aussiedler Nr. 110 (2001), 7-9. Inzwischen sind die beiden Gruppen etwa gleich groß: Bereits 1999
standen 2,1 Mio. Türken fast 1,9 Mio. Rußlanddeutsche gegenüber, vgl. ANGELIKA KÖNIGSEDER,
41
DAS PROBLEM
Allein in den zehn Jahren von 1988 bis 1997 betrug der Zuzug von Deutschen aus
den Ländern Osteuropas und ihren Familienangehörigen 2,4 Millionen Personen,
doppelt so viele wie in den 35 Jahren von 1950 bis 1985, in denen 1.229.659 Aussiedler in die Bundesrepublik gekommen waren.5 Die Aussiedlergesamtzahl seit 1950
ist inzwischen auf 4.446.360 bis Jahresende 2004 weiter gestiegen; der Anteil von
Personen aus Gebieten der ehemaligen Sowjetunion beträgt dabei insgesamt
2.298.938.6
Seit dem Mauerbau in Berlin 1961 war eine Zuwanderung von Deutschen aus
dem Osten in die Bundesrepublik quantitativ kaum mehr wahrnehmbar: von einer
Flüchtlingszahl von ca. 7 Mio. Menschen in den Jahren 1945/46 hatten sich die
Zugänge in Wellen bis 1961 auf etwa 224.000 Personen pro Jahr reduziert.7 Ab 1962
waren sie dann bis 1976 meist weit unter der 50.000- und bis 1986 unter der 60.000Marke geblieben. Für die öffentliche Wahrnehmung existiert das Phänomen „Aussiedler“ daher faktisch erst wieder seit dem ab 1987 rapide zunehmenden Einreisestrom in die Bundesrepublik: 78.523 Personen im Jahr 1987, 1988 bereits 202.673.
Absolute Spitzen brachten dann die Jahre 1989 (377.055) und 1990 (397.073) mit
zusammen nahezu 800.000 Aussiedlerzugängen,8 wobei die nicht unerheblichen
Übersiedlungen aus der DDR ab Herbst 19899 noch nicht berücksichtigt sind.
1.1.2 Zuzüge von D eutschen aus der UdSSR und ihr en N achfolgestaaten
Von 1950 bis 1986 war die jährliche Aussiedlerzahl aus der UdSSR und ihren Nachfolgestaaten immer unter 10.000, oftmals weit unter 1.000 gelegen. Nennenswerte
Erhöhungen ergaben sich nur nach der deutsch-sowjetischen Regierungsvereinbarung über Familienzusammenführung vom 8.4.1958 10 für zwei Jahre und während
der Entspannungspolitik der siebziger Jahre in Folge der Moskauer Verträge von
1970, des Breschnewbesuchs in Bonn 1973 und des KSZE-Prozesses mit der
Erklärung von Helsinki von 1975.11 In den Jahren 1977 und 1978 kam es so erstmals
zu mehr als 9.000 Ausreisen nach Deutschland.
Türkische Minderheit in Deutschland, in: Informationen zur politischen Bildung 271 (2/2001), 23;
Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen, Drucksache V
3/6303/3/02: Spätaussiedler in Bayern (01.01.2002), Beilage.
5
MARTIN HONECKER, Art. Aussiedler und Vertriebene, in: Evangelisches Soziallexikon. Neuausgabe, hrsg. v. MARTIN HONECKER, HORST DAHLHAUS u. a., Stuttgart-Berlin-Köln 2001, 138.
6
IDDA 110 (2001), 12. 23; Nr. 113 (2002), 2; Nr. 116 (2003), 10; vgl. Bayerisches Staatsministerium 2002, Beil.; Zahlen für 2003/2004: Informationen Aktuell der Ostkirchen- und Aussiedlerarbeit,
Nr. 1, März 2005, hrsg. v. Haus kirchlicher Dienste der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers, 1.
7
IPB 222 (1/1989), 3.
8
IDDA Nr. 110 (2001), 9.
9
1989: 343.854 Personen, 1990: 238.518 Personen, vgl. Bayerisches Staatsministerium 2002, Beil.
10
EISFELD 1992, 133.
11
KOTZIAN 1992, 187.
42
AUSSIEDLERZUGANG
Seit 1987 (14.488) aber wuchsen die Zahlen sprunghaft an, erreichten 1989 fast
die Hunderttausendgrenze und 1994 einen Höchstwert von 213.214. Durch rechtliche Reglementierungen sanken die Zugangszahlen seither allmählich und bewegen
sich, politisch gewollt und degressiv gesteuert, seither um die Marke von ca. 100.000
Personen jährlich.12 Dies entspricht jedoch inzwischen fast der Gesamtzahl von
Aussiedlerzugängen überhaupt. Während 1987 der Rußlanddeutschenanteil noch
deutlich unter 20% gelegen war, beträgt er seit 1993 koninuierlich über 90%, seit
1997 über 98% der Aussiedlerzuzüge.13
So läßt sich die Migration von Deutschen aus der Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten nach Deutschland in drei Phasen gliedern:14
1. Etwa 50.000 Deutsche aus Rußland, die in der Wehrmacht gedient oder vom
Schwarzen Meer nach Westen umgesiedelt worden waren, konnten nach dem
Zweiten Weltkrieg einer Überstellung an die Sowjetbehörden und damit der Zwangsarbeit entgehen.
2. Zwischen 1956 und 1986, d.h. zwischen dem Besuch des deutschen Bundeskanzlers Konrad Adenauer in Moskau 1955 und dem Beginn der Perestroika
1987/88, konnten ingesamt 93.300 Personen durch Familienzusammenführung nach
Deutschland ausreisen. Hier handelte es sich vornehmlich um Angehörige der ersten
Gruppe und später um deren durch Heirat Verwandte aus anderen Siedlungsbereichen.
3. Während in dieser Zeit vorwiegend Ältere die Initiative ergriffen, die oftmals
Erinnerungen an Kontakte mit Deutschen während des Krieges hatten, bemühten
sich in der dritten Phase ab 1987 nach der sukzessiven Ausweitung der Reiseberechtigung auch Jüngere um eine Ausreise nach Deutschland.
12
Die Zahlen im einzelnen: 1989: 98.134; 1990: 147.950; 1991: 147.320; 1992: 195.576; 1993:
207.347; 1994: 213.214; 1995: 209.409; 1996: 172.181; 1997: 131.895; 1998: 101.550; 1999: 103.599;
2000: 94.558; 2001: 97.434; 2002: 90.587; 2003: 72.289; 2004: 58.782, vgl. Bayerisches Staatsministerium 2002, Beil., und OA 1/05, 1. – Zu den politisch-gesetzgeberischen Hintergründen vgl. unten
D.I.2.
13
Vgl. RIEK 2000, 74 f.; Bayerisches Staatsministerium 2002, Beil.; IDDA Nr. 113 (2002), 2.
14
Im folgenden: ULRIKE KLEINKNECHT-STRÄHLE , Deutsche aus der ehemaligen UdSSR: Drei
Phasen der Migration und Integration in der Bundesrepublik Deutschland im Vergleich, in: RETTERATH 1998 b, 43-47.
43
DAS PROBLEM
1.1.3 Wanderungsbilanz in Deutschland
Wichtig ist freilich die Inbezugsetzung dieser Zahlen zur gesamten jährlichen
Wanderungsbewegung zwischen der Bundesrepublik und dem Ausland.15 Diese
lag für die Jahre 1991 bis 1995 zwischen 1,1 und 1,5 Mio. und seither bei 800.000 bis
900.000 Zuzügen; die Fortzugsziffern bewegen sich über die Jahre relativ gleichmäßig in einem Bereich von knapp 600.000 bis gut 800.000.
Die nach Deutschen (einschließlich Aussiedlern) und Ausländern getrennt
geführte Statistik zeigt, daß der jährlich Wegzug von 100.000 bis 140.000 Deutschen
ohne regelmäßigen Aussiedlerzuzug zu einem negativen Wanderungssaldo von
regelmäßig 20.000 bis 30.000 Deutschen führen würde. Stattdessen ergibt sich nach
Migrationsüberschüssen von bis zu 185.679 deutschen Personen (1992) für das
Ende der neunziger Jahre seither ein jährlicher Wanderungsgewinn von 80.000 bis
100.000 Deutschen, der infolge des starken Aussiedlungsrückgangs im Jahr 2002
Folgende Angaben des Statistischen Bundesamtes in: IDDA Nr. 110 (2001), 43; Nr. 116 (2003),
48. Die bedingt durch Kriegsflüchtlinge stark schwankenden und gegenüber den Daten für Deutsche
um ein Mehrfaches höheren Zu- und Fortzugszahlen für Ausländer mit teilweise negativen Wanderungssalden bleiben hier unberücksichtigt.
15
44
AUSSIEDLERZUGANG
allerdings auf nur noch 67.377 Personen gesunken ist.16 Insgesamt bedeutet dies
auch, daß Aussiedlerzuzug kein additives Phänomen ist, sondern die Bevölkerungsentwicklung kontinuierlich substitutiv beeinflußt.
1.1.4 Herkunftsgebiete der sog. Rußlanddeutschen
Aus den vom Bundesinnenministerium zur Verfügung gestellten Daten lassen sich
ab dem Jahr 1992 neben den Gesamtzahlen auch die Herkunftsrepubliken der
Aussiedler im Bereich der früheren Sowjetunion erkennen:17
Vorrangig handelt es sich hierbei um Kasachstan (mit sehr stark auf weniger als
ein Drittel zurückgehenden Ausreisezahlen zwischen 121.517 für 1994, 49.391
Personen für 1999 und 38.653 für 2002) und die Russische Föderation (deutlicher,
doch weniger ausgeprägter Rückgang zwischen 71.685 für 1995, 45.951 im Jahr 1999
und 44.493 für 2002).
Daneben betrug der Zuzug aus den mittelasiatischen Staaten Kirgistan, Usbekistan und Tadschikistan regelmäßig jeweils mehrere tausend Personen, bewegt sich
jedoch inzwischen nach Auswanderung des Großteils der deutschen Bevölkerung
auf sehr niedrigem Niveau.18
Relativ stabil hält sich die Zahl der aus der Ukraine zuziehenden Aussiedler bei
ca. 3000, wo, wie auch in der Russischen Föderation, von der Bundesrepublik
geförderte Bleibehilfenprojekte Deutsche auf ihrem Rückweg aus dem Osten zum
Teil für begrenzte Zeit zwischensiedeln ließen.
Alle anderen Herkunftsziffern, auch die aus den baltischen Staaten insgesamt,
blieben stets unter der Tausendergrenze.
In der Bilanz bedeutet dies einen zunehmenden Anteil von zuletzt im europäischen Teil der ehemaligen UdSSR wohnenden Aussiedlern. Allerdings ist aufgrund
der hohen Binnenmigration nach dem Ende der Sowjetunion generell davon auszugehen, daß insbesondere frühere Bewohner der asiatischen Republiken von einem
europäischen Zwischenwohnort aus nach Deutschland einreisen.
1.2 S OZIOGRAPHIE DE R R USSLANDDEUTSCHEN
Ließ schon die Wanderungsstatistik der Bevölkerung in Deutschland eine durch
Einheimischenwegzüge beschleunigte prozentuale Zunahme des Aussiedleranteils in
Der starke Rückgang 2002 resultiert aus einer Zunahme deutscher Wegzüge um etwa 10.000
gegenüber 2001 und aus dem Rückgang deutscher Zuzüge um über 7.000 Personen, vgl. IDDA 116
(2003), 48.
17
IDDA Nr. 110 (2001), 15-22.
18
Kirgistan (auch: Kirgisistan, vgl. Brockhaus-Enzyklopädie, 19. Aufl., Bd. 30, 408): Rückgang von
12.618 (1992) auf 2.742 (1999); Usbekistan: 3.946 (1992), 1.193 (1999); Tadschikistan: 4.801 (1993),
112 (1999).
16
45
DAS PROBLEM
der Bundesrepublik erkennen, so zeigen die Alters- und Generativitätsdaten 19 in
dieselbe Richtung.
1.2.1 A ltersschichtung
Während ein Vergleich der Aussiedlergruppe mit den Einheimischen für die Geschlechterverteilung wenig signifikante Unterschiede ergibt,20 zeigen sich für die
Altersstrukturen erhebliche Differenzen:
Unterteilt man die deutsche Bevölkerung in drei Altersgruppen von 0 bis 20, von
20 bis 45 und von über 45 Jahren und vergleicht man sie mit den entsprechenden
Alterskohorten der Aussiedler, so ergibt sich nahezu eine Umkehrung des Gesamtbildes: Machen die bis zu 20jährigen bei der einheimischen Bevölkerung im Jahr
1998 mit 21% nur ein gutes Fünftel aus, sind dies bei der Aussiedlergruppe mehr als
ein Drittel (35,6%); 35,6% der Einheimischen, jedoch 41,6% der Aussiedler sind 20
bis 45 Jahre alt; unter den über 45jährigen halbiert sich gegenüber dem Einheimischenwert von 43,4% der der Aussiedler beinahe auf nur noch 22,8%.21
Bei gelingender gesellschaftlicher und ökonomischer Integration wäre von diesen
Gegebenheiten her eine weitere Aussiedleraufnahme als wünschenswert zu betrachten. Zum einen bringt der junge Altersschnitt demographische Entlastungseffekte22
für die zunehmend überalternde deutsche Bevölkerung. Zum andern sind zwei
weitere wesentliche Aspekte zu beachten:
1. Da Aussiedler auf Dauer in Deutschland wohnen wollen, ist zunächst davon
auszugehen, daß sie auch längerfristig einen wichtigen Beitrag zur Verjüngung des
inländischen Arbeitskräftepotentials leisten mit entsprechenden Einzahlungen in die
Sozialkassen.
2. Umgekehrt läßt der kleine Anteil im Alter Rentenberechtigter (7,28% der über
65jährigen im Jahr 1998 gegenüber 15,92% bei den Einheimischen, 2002 schon 6,6%
: 17,1%)23 nach der anfänglichen Orientierungsphase ein deutliches Überwiegen der
Die auswertbaren Datenmaterialien differenzieren hier nicht weiter nach den verschiedenen
Aussiedlergruppen, doch lassen sich die Werte wegen des hohen Rußlanddeutschenanteils ohne
nennenswerte Fehlerquote auf diese Gruppe übertragen.
20
In beiden Fällen leichter Frauenüberschuß von etwa gleichbleibend 7% bei Aussiedlern und 5%
bei Einheimischen, vgl. IDDA Nr. 91 (1997), 21; Nr. 110 (2001), 30. 48,1% männlichen Aussiedlern
im Jahr 2001 stehen 48,8% einheimische Männer im Jahr 2000 gegenüber; für Frauen betragen die
Zahlen 51,9% : 51,2%, vgl. Bayerisches Staatsministerium 2002, 6.
21
Vgl. IDDA Nr. 110 (2001), 32; weiter differenzierende Darstellung, auch nach Geschlechtern,
vgl. ebd., 31. 33 f. – Während die Gruppe der über 65jährigen bei Aussiedlern seit 1997 leicht
rückläufig tendiert (von 7,28% 1997 auf 6,3% 2001), verläuft die Entwicklung für Einheimische
umgekehrt (1998: 15,92%, 1999: 16,2%): ebd., 31; vgl. Bayerisches Staatsministerium 2002, 6.
22
GEISSLER 2000, 8.
23
Vgl. IDDA Nr. 110 (2001), 31; Nr. 116 (2003), 43.
19
46
AUSSIEDLERZUGANG
Abgaben gegenüber den ausgezahlten Sozialleistungen und damit eine Stärkung der,
demographisch bedingt, geschwächten Sicherungssysteme erwarten.24
Inwieweit solche Perspektiven realistisch sind, hängt freilich erheblich von der
Entwicklung der gesamten Arbeitsmarktsituation und der Kompatibilität mitgebrachter Qualifikationen bzw. ausreichender Flexibilität zur Neuorientierung ab.
1.2.2 M itgebrachte Qualifikationen und Berufe
Wie zu Beginn des 21. Jahrhunderts die internationale Suche nach Fachleuten der
Informationstechnologien trotz anhaltender Erwerbslosigkeitszahlen auf hohem
Niveau zeigt, sind die Zugangsmöglichkeiten zum Arbeitsmarkt für verschiedene
Berufsgruppen sehr ungleich verteilt. Aussiedler, inzwischen fast ausschließlich aus
dem Bereich der früheren UdSSR, haben bezüglich ihrer vor der Einreise ausgeübten
Berufe „Strukturen, die die deutsche Bevölkerung um die Mitte des 20. Jahrhunderts
aufwies“ 25.
Die Statistik des Bundesverwaltungsamtes gruppiert die mitgebrachten Berufe
folgendermaßen: Industrielle und handwerkliche Berufe, Dienstleistungsberufe,
technische Berufe, Bergbauberufe, land- und forstwirtschaftliche Berufe und „noch
nicht bestimmte Berufe“ ohne Zuordnung zu o.g. Gruppen. Die Entwicklung im
Fünfjahreszeitraum von 1995 bis 1999 läßt dabei insgesamt Stabilität erkennen:
1. Für die beiden größten Bereiche Industrie und Handwerk (Schwankung
zwischen 34,68% und 36,61% aller Berufstätigen) sowie Dienstleistung (Schwankung
zwischen 42,26% und 44, 49%) ergeben sich geringe Zunahmen.
2. Fast konstant, mit minimalen Abnahmen, bleiben auch die Werte für technische und Bergbauberufe (zwischen 9,39% und 8,64% bzw. 0,65% und 0,50%)
und, mit geringen Zunahmen, auch die für land- und forstwirtschaftliche Berufe
(zwischen 7,11% und 8,78%).
3. Deutliche Veränderungen ergeben sich nur bei der Addition nicht bestimmbarer Berufe mit einer Abnahme von 5,85% auf 1,67%.26
Offensichtlich ist gegenwärtig, trotz starker Rückgänge der absoluten Zahlen
(217.898 im Jahr 1995; 104.916 im Jahr 1999; 91.416 im Jahr 2002; 59.093 im Jahr
2004), mit wenig Veränderung bei den prozentualen Berufsfeldanteilen zu rechnen.27
Auf den hohen Anteil der Einzahler in die Rentenversicherung verweist KARL HEINZ NEUBericht des Beauftragten des Rates der EKD für die Fragen der Spätaussiedler und Heimatvertriebenen, Juni 1996, in: epd-Dokumentation 38a/96, 4.
25
GEISSLER 2000, 9.
26
Vgl. IDDA Nr. 91 (1997), 27, und Nr. 110 (2001), 38. Neueste Zahlen bis 2002 bestätigen mit
leichten Schwankungen diese Anteile: IDDA 116 (2003), 45.
27
Die den Berufsstatistiken des IDDA zugrundeliegenden Gesamtzahlen differieren leicht
gegenüber den Zahlenangaben des Bayerischen Staatsministeriums, vgl. o. Anm. 12; für 2004: OA
1/05, 1.
24
KAMM,
47