Epilepsie (Krampfleiden, hirnorganisches Anfallsleiden, früher
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Epilepsie (Krampfleiden, hirnorganisches Anfallsleiden, früher
Karsten Hartdegen: Pflege in der Neurologie - Epilepsieerkrankte Epilepsie (Krampfleiden, hirnorganisches Anfallsleiden, früher Fallsucht): Wiederholtes Auftreten zerebraler Krampfanfälle. Häufigkeit ca. 0,8 % der Gesamtbevölkerung. Für nahe Verwandte von Epileptikern ist das Erkrankungsrisiko etwas erhöht, die Epilepsie ist jedoch - von seltenen Epilepsieformen abgesehen - keine Erbkrankheit. Krankheitsentstehung Nach heutigem Kenntnisstand wirken bei allen Epilepsien exogene Momente (z.B. Verletzungen, Schlafentzug) und endogene Faktoren (erbliche Veranlagung) zusammen. Trotzdem wird nach wie vor unterschieden zwischen der genuinen Epilepsie ohne erkennbare Ursache, die sich meist bis zum 20. Lebensjahr manifestiert, und der symptomatischen Epilepsie, bei der eine ursächliche Hirnschädigung feststellbar ist. Symptome, Einteilung und Untersuchungsbefund Generalisierte Anfälle Bei den generalisierten Anfallsformen ist das gesamte Gehirn von der abnormen elektrischen Aktivität betroffen. Typische Bilder sind: Grand-mal-Epilepsie Sie ist die „klassische” Form der Epilepsie, bei der der Patient als erstes, evtl. mit einem Schrei (Initialschrei), bewusstlos zu Boden stürzt. Zunächst kommt es zur tonischen Phase mit steif gestreckten Gliedmaßen, Atemstillstand (Patient wird zyanotisch) und weiten, lichtstarren Pupillen. Nach Sekunden folgt die klonische Phase mit Zuckungen am ganzen Körper, häufig mit Urinund Stuhlabgang. Der Patient hat Schaum vor dem Mund, und es besteht die Gefahr eines Zungenbisses. Nach wenigen Minuten hören die Zuckungen auf, und es setzt eine längere Schlafphase (Terminalschlaf) ein. Später erinnert sich der Patient nicht an den Anfall (Amnesie). Eine Bindung der Anfälle an eine bestimmte Tageszeit, häufig an die Aufwachphase, ist möglich. Dem Anfall kann eine Aura vorangehen, d.h. die Wahrnehmung z.B. eines Gefühls, Geruchs, Geschmacks oder von Lichtblitzen. Absenzen (Absencen, gehören zu den Petit-mal-Epilepsien). Absenzen sind kurz dauernde Bewusstseinsstörungen, bei denen der Betroffene aber nicht ohnmächtig wird. Sie können mit meist diskreten motorischen Phänomenen einhergehen, etwa Mundbewegungen oder Nesteln mit den Händen. Oft sind Kinder betroffen. Treten die Anfälle mehrfach in der Stunde auf, werden sie wegen ihrer kurzen Dauer oft als Konzentrationsstörung verkannt. Fokale Anfälle Die fokalen (partiellen) Anfälle gehen immer von einer lokalen Veränderung des Gehirns aus, z.B. durch Tumoren, Verletzungen oder angeborene Fehlbildungen. Die wichtigsten fokalen Anfallsformen sind: Fokal motorische (sensible, somatosensorische) Anfälle. (Klonische) Zuckungen und/oder Parästhesien („Pelzigsein”) in der von dem betroffenen Hirnbezirk versorgten Körperregion, z.B. einer Hand, in der Regel ohne Bewusstseinstrübung. Jackson-Epilepsie. Beginn der Zuckungen oder Sensibilitätsstörungen an einer bestimmten Körperregion, dann - bei erhaltenem Bewusstsein - Ausbreitung meist von distal nach proxi- 1/4 Karsten Hartdegen: Pflege in der Neurologie - Epilepsieerkrankte mal auf die benachbarten Regionen (March of convulsion), beispielsweise Übergreifen der Zuckungen von den Fingern über die Hand auf den Arm, bis eine Körperhälfte davon betroffen ist oder sich sogar ein sekundär generalisierter Krampfanfall entwickelt hat. Psychomotorische Epilepsie (Schläfenlappenepilepsie, Dämmerattacken). Nach sehr unterschiedlicher Aura (etwa Wahrnehmung eines bestimmten Geruchs) kommt es zu einer Bewusstseinstrübung. Dauern die Anfälle nur kurz (einige Sekunden), werden automatische Handlungsabläufe wie z.B. Essen oder Anziehen fortgesetzt, ohne dass sich die Patienten später daran erinnern können. Der Dämmerzustand kann im Extremfall mehrere Tage andauern. Im Anschluss daran folgt eine Reorientierungsphase. Diagnostik und Differentialdiagnose Da sich hinter jedem zerebralen Krampfanfall eine Gehirnerkrankung wie z.B. eine Gefäßfehlbildung oder ein Gehirntumor verbergen kann, muss jeder erstmalig auftretende Anfall diagnostisch abgeklärt werden: 1. EEG. Das EEG zeigt die für den entsprechenden Anfall typischen Veränderungen und ist oft auch zwischen den Anfällen pathologisch, vor allem bei Provokation durch flackerndes Licht, Schlafentzug oder bestimmte Arzneimittel 2. CCT, besser Kernspintomographie. Sie dienen der Suche nach möglichen Ursachen wie Tumoren, Gefäßveränderungen und posttraumatischen Narben 3. Angiographie. Eine Angiographie ist zur weiteren Abklärung nur selten, z.B. bei Gefäßfehlbildung und präoperativ (z.B. vor geplanter Tumorentfernung) angezeigt 4. Blutuntersuchungen. Sie sind z.B. bei Verdacht auf Niereninsuffizienz oder Alkoholmissbrauch erforderlich, die ebenfalls Ursache einer Epilepsie sein können. Differentialdiagnostisch werden berücksichtigt: 1. Synkopen, die ebenfalls mit motorischen Phänomenen, z.B. leichten Armzuckungen, einhergehen können (konvulsive Synkope) 2. Hypoglykämien und Vergiftungen 3. Psychogene Anfälle, welche keiner der bekannten Anfallsformen zugeordnet werden können, sich oft vor Publikum ereignen und manchmal theatralisch verlaufen (früher bezeichnet als Hysterie oder hysterischer Anfall) 4. Hyperventilationstetanie, welche meist psychisch bedingt und durch klonisches, tetanisches Krampfen gekennzeichnet sind. Behandlungsstrategie und Therapie 1. Ein einzelner hirnorganischer Anfall bedarf im Allgemeinen keiner Behandlung sondern lediglich der diagnostischen Klärung. 2. Meistens hört der Anfall von selbst wieder auf, oft bevor eine intravenöse oder rektale Arzneimittelgabe überhaupt möglich ist. Die Gabe z.B. von Diazepam erschwert aber sowohl die klinische Beurteilung (Zeitdauer bis zur völligen Orientiertheit des Patienten?) als auch die EEG-Diagnostik 3. Bei einer genuinen Epilepsie mit mehr als zwei Anfällen jährlich ist in der Regel eine medikamentöse Behandlung mit Antiepileptika (Siehe Pharma-Info unten) angezeigt, die über mindestens zwei Jahre, oft aber lebenslang, fortgeführt werden muss. 4. Ergibt die Diagnostik eine symptomatische Epilepsie, steht die Beseitigung der Ursache im Vordergrund der Behandlung. Ist dies nicht möglich (z.B. bei einem inoperablen Tumor), wird medikamentös versucht, Anfallsfreiheit zu erreichen. 5. Bei einer schweren, therapieresistenten Epilepsie kann oft die operative Ausschaltung des Epilepsieherdes helfen. Dies ist jedoch nur in speziellen epilepsie-chirurgischen Zentren möglich und erfordert eine umfangreiche Diagnostik zur sicheren Lokalisation des epileptogenen Herdes. 2/4 Karsten Hartdegen: Pflege in der Neurologie - Epilepsieerkrankte Arzneimittel zur Unterdrückung zerebraler Krampfanfälle heißen Antiepileptika (oder auch: Antikonvulsiva). Indiziert sind sie bei einem Status epilepticus oder als Prophylaxe bei mehr als zwei epileptischen Anfällen im Jahr. Es sollte immer versucht werden, mit einer Monotherapie, d.h. mit nur einem Arzneimittel, auszukommen. Ansetzen, Umstellen oder Absetzen einer bestimmten Medikation dürfen nie abrupt geschehen, sondern müssen immer schrittweise erfolgen („Einschleichen” und „Ausschleichen”). Eine Arzneimittelspiegelkontrolle (Blutentnahme morgens nüchtern) kann bei der Dosisfindung helfen. Sie ist auch bei Verdacht auf Einnahmefehler oder Überdosierung angezeigt. Ist ein Patient mit einem Blutspiegel unterhalb des „normalen” therapeutischen Spiegels anfallsfrei, wird die Dosis nicht geändert. Umgekehrt kann bei einem nicht anfallsfreien Patienten ohne Nebenwirkungen die Dosis noch weiter gesteigert werden, auch wenn sein Blutspiegel schon im oberen Bereich liegt. Pflegemaßnahmen im Anfall Notfall 1. Besonders bei noch unklarer Diagnose Arzt sofort benachrichtigen (lassen), Patienten möglichst nicht alleine lassen 2. Sicherheit des Patienten gewährleisten, 3. z.B. Stühle oder scharfkantige Gegenstände aus der Umgebung des Patienten entfernen und 4. Patienten von naher Treppe wegziehen. 5. Das Schieben eines Gummikeils oder ähnlicher Gegenstände zwischen die Zähne wird heute nicht mehr empfohlen. Meist findet der Zungenbiss schon ganz am Anfang statt, und das Einschieben birgt nur eine zusätzliche Gefahr von Mundhöhlenverletzungen 6. Keine Flüssigkeiten oder Arzneimittel oral einflößen (> Aspirationsgefahr) 7. Patienten nach dem Anfall bis zur vollständigen Wiedererlangung des Bewusstseins in stabile Seitenlage bringen (Aspirationsprophylaxe). Nach Erbrechen während des Anfalls Mund auswischen 8. Während der ganzen Zeit Anfallstyp und -verlauf beobachten, da dies von erheblicher diagnostischer und therapeutischer Bedeutung sein kann. Uhrzeit zu Beginn und am Ende des Anfalls notieren. 3/4 Karsten Hartdegen: Pflege in der Neurologie - Epilepsieerkrankte Patienteninformation: Lebensführung des Epileptikers 1. Die Patienten sollen anfallsauslösende Faktoren wie Schlafentzug, flackernde Lichtreize (Diskothek, Bildschirmarbeit, Fernsehen) und Alkohol in größeren Mengen vermeiden. 2. Der Beruf muss mit Rücksicht auf die Erkrankung ausgewählt werden. Berufe mit erhöhter Selbst- und Fremdgefährdung (z.B. Dachdecker, Kraftfahrer) sowie Berufe mit unregelmäßiger Lebensführung (Schichtarbeit) sind ungeeignet. 3. Für das Fahrverbot gibt es Richtlinien, die je nach Anfallsart das Führen eines (Privat)Fahrzeuges nach einer Anfallsfreiheit von wenigen Monaten bis zwei Jahren bei unauffälligem EEG wieder erlauben 4. Gegen viele Sportarten ist nichts einzuwenden, solange der Patient sie nicht bis zur körperlichen Erschöpfung betreibt. Einige Sportarten, darunter auch Schwimmen, dürfen nur unter besonderen Vorsichtsmaßnahmen ausgeübt werden, da es im Falle eines Krampfanfalls zu einer erheblichen Selbst- und/oder Fremdgefährdung kommt 5. Partnerschaft und Familiengründung sind in der Regel ebenfalls möglich. Gegen eine Schwangerschaft ist meist nichts einzuwenden, allerdings sollte die Frau vor Eintritt der Schwangerschaft mit ihrem Arzt sprechen, da sich evtl. ein Arzneimittelwechsel empfiehlt. Die Frau sollte wissen, dass die Fehlbildungsrate zwar erhöht, dies aber nur teilweise auf die Arzneimittel zurückzuführen ist. Auf jeden Fall ist ein Grand-mal-Anfall der Schwangeren für das Ungeborene gefährlicher als die Arzneimitteleinnahme mit Anfallsfreiheit 6. Der Patient soll einen Anfallskalender führen und darin auch besondere Vorkommnisse und Belastungen eintragen 7. Zur Sicherheit des Patienten wird diesem empfohlen, stets ein Merkblatt mit Erste-HilfeMaßnahmen bei sich zu tragen, damit Nichtinformierte bei einem Anfall in der Öffentlichkeit wissen, wie sie helfen können 8. Der Patient darf die Antiepileptika nie eigenmächtig und abrupt absetzen, da dies zu gehäuften Anfällen führen kann. Bevor er andere Arzneimittel z.B. gegen Zahnschmerzen nimmt, sollte er seinen Arzt fragen, da Wechselwirkungen häufig sind 9. Bei jedem neuen Arztkontakt soll der Patient den Arzt auf seine Erkrankung hinweisen und die aktuelle Arzneimitteleinnahme mitteilen, da es z.B. zu Wechselwirkungen zwischen den Antiepileptika und den anderen Arzneimitteln kommen kann. Prognose 1. Die Prognose ist abhängig von der Ursache und der Anfallsform. Eine epileptische Wesensänderung als Folge der Epilepsie wird heute verneint. Anfallsbedingte Schäden des Gehirns sind jedoch möglich. 2. Ungefähr zwei Drittel der Patienten sind unter medikamentöser Behandlung anfallsfrei, nur ca. 10 % zeigen überhaupt keine Besserung. 4/4