Santa Teresa, „El Secreto del Mundo”.

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Santa Teresa, „El Secreto del Mundo”.
UNIVERSITÄT ZU KÖLN
Philosophische Fakultät
Romanisches Seminar
SANTA TERESA, „EL SECRETO DEL MUNDO”.
GLOBALISIERUNG UND GLOBALITÄT IN 2666 VON ROBERTO
BOLAÑO
MASTERARBEIT
im Fach Romanistik-Spanisch
vorgelegt von
LEYLA BEKTAŞ
Matrikelnummer: 4728351
[email protected]
Betreuung: PROF. DR. WOLFRAM NITSCH
KÖLN, 13.08.2015
INHALTSVERZEICHNIS
EINLEITUNG: GEHEIMNIS UND GLOBALISIERUNG ...................................................................... 1
1. GLOBALISIERUNG UND GLOBALITÄT ......................................................................................2
1.1 Zum Begriff der Globalisierung ................................................................................2
1.2 Pfeiler der Globalisierung in Mexiko .......................................................................5
1.3 Wege der Globalität: Die Geschichte der Globalisierung ...................................... 11
1.4 Vorüberlegungen zu einer ästhetischen Globalität: Baudelaires „Le voyage“ .... 15
2. SANTA TERESA ALS KRISTALLISATIONSPUNKT DER GLOBALISIERUNG .................................... 19
2.1 Migration und Nomadisierung .............................................................................. 19
2.2 Die produktionsbedingte Entwertung des Individuums .....................................24
2.3 Das Stadtbild Santa Teresas im Zeichen von Segregation und eigenständiger
Transformation .................................................................................................... 29
2.4 Die Metaphysik der Globalisierung: Wüste und Verwüstung............................. 34
3. SANTA TERESA IM SPIEGEL DER GLOBALITÄT .......................................................................39
3.1 Mobilisierung und Entpersonalisierung als wiederkehrende Momente der
Geschichte .............................................................................................................39
3.2 Parallele Orte der Gewalt und Verwüstung..........................................................45
3.3 Die (unaufhaltsame?) Ökonomisierung des Lebens ............................................ 51
3.4 Globalität und Fiktion ...........................................................................................56
ABSCHLIEßEND: Al borde del abismo .................................................................................... 61
BIBLIOGRAPHIE .....................................................................................................................63
ABBILDUNGEN ...................................................................................................................... 68
ERKLÄRUNG .......................................................................................................................... 71
EINLEITUNG: GEHEIMNIS UND GLOBALISIERUNG
A veces sueño que estoy en una ciudad que es México
pero que al mismo tiempo no es México.
Juan García Madero in Roberto Bolaño: Los detectives salvajes (1998)
„Sentencian a 697 años de prisión a cinco feminicidas en Chihuahua“, meldete Ende Juli
2015 die mexikanische Zeitung La Jornada1. Eine symbolische Haftstrafe im Falle der
Frauenmorde von Ciudad Juárez, die seit dem Beginn ihrer Zählung im Jahre 1993
weitestgehend ungeklärt und unbestraft geblieben sind. Wenngleich die feminicidios längst
nicht nur in Ciudad Juárez (Chihuahua) stattfanden, sondern an vielen Orten in Mexiko
geschahen und immer noch geschehen, haben die ‚Frauenmorde von Ciudad Juárez‘ als solche
weltweite Bekanntheit erlangt. Das geschah nicht zuletzt durch Roberto Bolaños posthum
erschienenen Roman 2666 (2004), der sich ihnen auf über dreihundert Seiten in minutiöser
Weise widmet.
Bolaño
lässt
die
Frauenmorde
in
Santa
Teresa
geschehen,
einer
fiktiven
nordmexikanischen Grenzstadt, und flicht sie ein in eine mythisch anmutende Paradigmatik
weltlicher Belange: „Nadie presta atención a estos asesinatos, pero en ellos se esconde el
secreto del mundo“ (2666: 439), lautet es an einer entscheidenden und viel kommentierten
Stelle des Romans, die in Santa Teresa nicht nur ein, sondern sogar das Geheimnis der Welt
verortet. Wir wollen in dieser Arbeit dieser Aussage nachgehen und uns fragen, welche
globalen Tendenzen sich in Santa Teresa verdichten.
Die Welt, die in 2666 um die Frauenmorde herum konstruiert wird, ist eine vollständig
von den multiplen Prozessen der Globalisierung gezeichnete Welt2. Die Auswirkungen der
Globalisierung(-spolitik) zeigen sich konkret in Santa Teresa: zum einen anhand der
zunehmenden Mobilität des Subjekts und der produktionsbedingten Entwertung des
Individuums;
eigenständigen
zum
anderen
Transformation
anhand
und
der
der
räumlichen
Verwüstung
Tendenzen
des
der
Lebensraums.
Segregation,
All
diese
Konsequenzen stehen in indirektem, zum Teil sogar in direktem Zusammenhang zu den
feminicidios und den entsprechenden, erfolglosen Ermittlungen.
Neben dieser Darstellung eines globalisierten Mexiko werden im Roman darüber hinaus
historische und synchrone Querverbindungen zu verschiedenen Orten auf der Welt in 2666
geschaffen, die parallel oder analog zu Santa Teresa konstruiert und wahrgenommen werden.
Die dem Roman eigene Wahrnehmung der Welt bezeichnen wir als ‚Globalität‘. Globalität ist
zum einen der subjektive Spiegel der Tendenzen der Globalisierung sowie ihrer früheren,
1
2
Artikel vom 27.07.2015: http://www.jornada.unam.mx/ultimas/2015/07/27/sentencian-a-697-anos-enprision-a-cinco-feminicidas-en-chihuahua-5437.html.
Dementsprechend oft wird Bolaño der Status eines Schriftstellers des ‚globalisierten Zeitalters‘
zugeschrieben (vgl. z.B. POPE 2011).
1
historischen Ausprägungen und Vorstufen. Zum anderen ist die Globalität des Romans 2666
eine kritische Auseinandersetzung mit der globalisierten Welt und ihrem Produktivitätswahn,
dessen verheerende Folgen in 2666 klar aufgezeigt werden.
Warum ausgerechnet Santa Teresa? 2666 verortet sich inhaltlich und poetologisch nach
dem Scheitern der großen politischen und ästhetischen Ideologien. Dass Ciudad Juárez dabei
eine tragische Schlüsselrolle einnimmt, sagt Bolaño im Gespräch mit Mónica MARISTAIN:
Ciudad Juárez, que es nuestra maldición y nuestro espejo, el espejo desasosegado de
nuestras frustraciones y de nuestra infame interpretación de la libertad y de nuestros
deseos. (BOLAÑO 2004: 339)
Als Bolaño begann, sich mit den Frauenmorden in Ciudad Juárez zu beschäftigen, diente ihm
die investigative Studie zu den feminicidios von Ciudad Juárez, Huesos en el desierto (2002),
des mexikanischen Journalisten Sergio GONZÁLEZ RODRÍGUEZ als wichtige Vorlage. Zu dieser
äußert sich Bolaño folgendermaßen:
Huesos en el desierto es así no sólo una fotografía imperfecta, como no podía ser de otra
manera, del mal y de la corrupción, sino que se convierte en una metáfora de México y del
pasado de México y del incierto futuro de toda Latinoamérica. (BOLAÑO 2004: 215)
Diese werkexternen Überlegungen der Spiegelung und Verbildlichung in Ciudad Juárez
verleiteten Bolaño wohl in 2666 mit dazu, das Geheimnis der Welt eben genau hier in Ciudad
Juárez‘ fiktivem Ebenbild Santa Teresa zu situieren. Durch die Fiktionalisierung von Ciudad
Juárez und die Situierung der fiktiven Stadt in einem anderen nordmexikanischen Bundesstaat
(nämlich in Sonora und nicht in Chihuahua) werden die hier geschehenden Dinge
übertragbar, universalierbar und gelten zum einen für die gesamte Grenzregion Mexikos zu
den USA, darüber hinaus für andere Teile der (globalisierten) Welt (vgl. GRAS 2012: 110). Santa
Teresa wird zum Paradigma, zum Emblem der Globalisierung (vgl. MUNIZ 2010: 38;
HERLINGHAUS 2013: 217; OLIVIER 2014: 371) und steht dabei insbesondere für die ‚Verlierer‘ der
Globalisierung ein, des heute sogenannten Global South.
1. GLOBALISIERUNG UND GLOBALITÄT
1.1 ZUM BEGRIFF DER GLOBALISIERUNG
‚Globalisierung‘ ist von einem wirtschaftspolitischen Programm zu einer Gegenwartsdiagnose3
avanciert. Was in den sog. Entwicklungsländern noch immer die ungleichen Auswirkungen
einer in den 1980er Jahren angewandten, internationalen Doktrin bedeutet, ist in hiesigen
Breitengraden zu einem passe-partout-Begriff der Beschreibung des aktuellen Zustands der
Welt geworden4. Es scheint keinen Zweifel zu geben: Wir befinden uns im ‚Zeitalter der
3
4
Vgl. OSTERHAMMEL/PETERSSON (2003: 7), die den Begriff der Globalisierung primär als
Gegenwartsdiagnose charakterisieren, die dem kollektiven Bedürfnis entgegenkommt, der eigenen
Epoche einen Namen zu geben und das Besondere an ihr auszumachen.
Auch in der akademischen Textproduktion, wie es der Sammelband Denken des Raums in Zeiten der
Globalisierung (OTT/UHL 2005) exemplifiziert: Im Vorwort wird ausführlich über die Evolution des
Raumbegriffs reflektiert, doch welche allgemeine Definition von Globalisierung zugrunde gelegt
wird, bleibt offen. Demgemäß entwickeln die hier versammelten Beiträge eigene Vorstellungen vom
2
Globalisierung‘. So wenig das Phänomen der Globalisierung dabei selbst greifbar erscheint, die
Allgegenwärtigkeit
des
Begriffs
beweist
doch
seinen
Erfolg.
Der
Soziologe
und
Gegenwartsanalytiker Zygmunt BAUMAN (1998: 7) charakterisiert den Begriff ‚Globalisierung‘
als Modewort, das durch seinen häufigen Gebrauch auf immer mehr Phänomene und Prozesse
referieren will und sich selbst dadurch zunehmend undurchsichtig macht.
Angesichts der ‚Flexibilität‘ des Begriffs, die die Gefahr birgt, ‚Globalisierung‘ zu einem
unspezifischen Sammelbegriff verkommen zu lassen, heißt Globalisierung begrifflich zu
definieren vor allem, reduktiv tätig zu sein und eine Auswahl im breiten theoretischen
Angebot zu treffen. Die Auswahl für diese Arbeit ergibt sich aus dem hier zu untersuchenden
literarischen Korpus. Mexiko spielt im ganzen Œuvre Bolaños eine Schlüsselrolle; 2666 ist in
großen Teilen die Dokumentation eines von Globalisierungsmaßnahmen und Migration
gezeichneten Mexikos der 1990er Jahre und dabei insbesondere der Grenzregion zu den USA,
ein spezifischer Ort, an dem sich globale Tendenzen kristallisieren:
‘Cada cosa de este país es un homenaje a todas las cosas del mundo, incluso a las que aún
no han sucedido‘ (2666: 428).
So werden verschiedene simultane, aber auch historisch entfernte Szenarien, Szenerien und
Phänomene
und
Ereignisse
immer
wieder
parallelgeführt,
die
in
Santa
Teresa
zusammenlaufen. Über diese diversen, den Globus umgreifenden Verbindungslinien, die auf
den ersten Blick nicht immer evident erscheinen, wird eine dem Roman eigene Wahrnehmung
der Welt, eine Globalität, konstruiert und dargestellt, die sich aus den Prozessen der
Globalisierung ergibt und diese zugleich kritisiert.
Daraus ergibt sich Folgendes für den theoretischen Teil dieser Arbeit (Kapitel 1):
Zunächst wird der wirtschaftspolitische ‚Fall‘ Mexiko, wo Globalisierung zum Programm wurde
und die Mobilisierung eines Großteils der Bevölkerung folgte, historisch beleuchtet (Kapitel
1.2), um die Konsequenzen der Globalisierung, die in 2666 im Hinblick auf Subjekt, Raum und
politische Strukturen anhand des urbanen Raums der fiktiven Stadt Santa Teresa geschildert
werden, zu begreifen. Die theoretische Fokussierung auf eine lokale Perspektive auf
Globalisierung soll dabei exemplarisch für die allgemeine Dynamik der Globalisierung
einstehen, die ohne ein konkretes Beispiel unspezifisch bliebe5.
Der Übergang zum Begriff der Globalität (Kapitel 1.3) ergibt sich über die sich daran
anschließende historische Perspektive auf Globalisierung, die hinter der jahrhundertelangen
Geschichte von Globalisierung ein seit der Kolonialzeit kontinuierlich bestehendes, weltliches
Imaginarium erkennen lässt, das den politischen Entscheidungen vorausgeht und aus ihnen
5
Begriff der Globalisierung oder thematisieren ihn nicht explizit. Offenbar ist es unanfechtbar, das s
wir ‚in Zeiten der Globalisierung‘ leben, weshalb diese Formel z.T. fast synonym eingesetzt wird zu
‚heutzutage‘ oder auch zu ‚nach dem spatial turn‘.
Vgl. dazu OSTERHAMMEL (2001: 342), der der globalen Perspektive auf globale Themen in der
Geschichtsschreibung absagt: „‚Weltgeschichte‘ darf nicht auf einer einförmigen und eintönigen
Ebene des Großen und Allgemeinen verharren, sie muss sich im Kleinen und Spezifischen verankern.
Einige Soziologen nennen das heute ‚glocalization‘, aber es ist auch schon ein Gebot schlichter
Darstellungstechnik“.
3
folgt. Es reicht bis in die Paradigmen des heutigen Globalen Südens, für den Mexiko
emblematisch einsteht. Auf der anderen Seite der politischen Veränderungen steht also die
subjektive Wahrnehmung der Welt von globaler Implikation, die hier sog. Globalität. Bevor all
dies in der literarischen Analyse von 2666 (Kapitel 2 und 3) Form annimmt, soll uns die
Analyse von Charles BAUDELAIRES Gedicht „Le voyage“ von 1861 (Kapitel 1.4), aus dem eine
Zeile das Motto für 2666 darstellt, erste entscheidende Anhaltspunkte für die Globalität von
Bolaños Roman geben.
Im
Begriff
wirtschaftlichen,
der
Globalisierung
sozialen,
kulturellen,
bündeln
sich
ökologischen
Bedeutungen
und
der
politischen,
informationstechnischen
Vernetzung, die sich mit allgemeinen Betrachtungen zur historischen Spezifizität unseres
Zeitalters vermengen. Trotz der Vielzahl an Prozessen, die Globalisierung begrifflich
impliziert, ist Globalisierung jedoch klar an die exzessive und effektive Ausbreitung des
Kapitalismus auf globaler Ebene gebunden. Das ist also zunächst eine Frage der
Intensivierung: Der Wirtschaftshistoriker Armando KURI stellt fest, dass es sich bei
Globalisierung vor allem um eine quantitative Steigerung schon länger vorhandener
Tendenzen handelt. Seit den 1980er Jahren gibt es lediglich eine noch größere Anzahl an
Handlungsgütern, einen erhöhten Austausch von Dienstleistungen, einen Anstieg von
Produktion, eine wachsende Zahl multinationaler Unternehmen und einen Anstieg von
internationalen Kapitalflüssen im Vergleich zum Ende des ausgehenden 19. Jahrhunderts (vgl.
KURI 2007: 25; 29). Auch für den Soziologen Ulrich BECK liegt die Besonderheit der
gegenwärtigen Globalisierung in der „Ausdehnung, Dichte und Stabilität wechselseitiger
regional-globaler Beziehungsnetzwerke“ (BECK 1997: 31), auch er legt also ein quantitatives
Kriterium bezüglich der Vernetzung zugrunde.
Aus der Globalisierung resultiere, so lautet es oft, die sog. ‚Erosion des Nationalstaats‘.
Was ist damit gemeint? Insofern als der moderne Nationalstaat noch ein „Bündnis zwischen
Marktwirtschaft, Sozialstaat und Demokratie“ (BECK 1997: 24) darstellt, also eine Einheit, die
Politisches und Ökonomisches verbindet und gleichzeitig modular trennt, so bedeutet
Globalisierung nun eine wachsende Kluft zwischen nationalstaatlicher Politik und Ökonomie
(vgl. BAUMAN 1998: 75). Dies wiederum geht einher mit einer Verschlingung der Politik durch
die Ökonomie, da letztere zum universalen Richtwert, ja zum determinierenden Faktor der
nationalen Politik wird (vgl. HARDT/NEGRI 2000: 8f.)6. Die Eigendynamik des Marktes, seine
‚unsichtbare Hand‘, agiert am besten ganz ohne politische Interventionen und Regulierungen,
die den Wettbewerb und Markt lediglich verzerren.
6
Diese Universalisierung des Ökonomischen an der Wurzel politischer Handlung macht HARDT/NEGRI
zufolge den Unterschied zum ‚herkömmlichen‘ Kapitalismus aus, der prinzipiell immer ein
Weltsystem war. Auch Manuel CASTELLS betont, dass der Kapitalismus durch sein expandierendes
Moment schon immer die Welt umspannte, die globale Ökonomie nun aber als eigene Einheit „in
Echtzeit“ global agiert (vgl. CASTELLS 1996: 101).
4
Darüber hinaus stellen transnationale Akteure, die sich jenseits des Nationalstaats
verorten, die Machtbündelung, Souveränität und Autonomie des Nationalstaates infrage (vgl.
BECK 1997: 29). Somit verschiebt sich der ‚Ort der Macht‘ –quasi unbemerkt– weg vom
Nationalstaat hin zu neuen Zentren mit übernationaler Organisations- und Kontrollfunktion,
die ihrerseits keiner transparenten oder demokratisch zugänglichen, steuernden Instanz
unterstehen. Simultan dazu entstehen, so FUENTES/PEÑA (2010a: 6), vermittels einer neuen
internationalen Arbeitsteilung (NIDL: New international division of labor), an anderen Orten
neue Produktions- und Industriezentren, die fundamentaler Bestandteil der globalisierten
Weltordnung sind, jedoch mit keinerlei Kontrollfunktion ausgestattet sind7. Wie genau diese
globalisierte Arbeitsteilung vonstatten geht, wollen wir uns im folgenden Kapitel anhand des
Beispiels Mexiko genauer ansehen.
1.2 PFEILER DER GLOBALISIERUNG IN MEXIKO
Las oscilaciones psíquicas con que al eludir la mirada ajena
nos eludimos a nosotros mismos, son rasgos de gente
dominada, que teme y que finge frente al señor. [...] El
carácter de los mexicanos es un producto de las
circunstancias sociales imperantes en nuestro país; la
historia de México, que es la historia de esas circunstancias,
contiene la respuesta a todas las preguntas.
Octavio Paz: El laberinto de la soledad (1950)
Wie artikuliert sich die Dynamik der Globalisierung in Mexiko? Im Folgenden sollen
makropolitische Entscheidungen der 1980er Jahre historisch beleuchtet werden. Die urbanen
Zentren der Grenzregion Mexikos zu den USA erweisen sich dabei als der Ort, an dem neue
Industriezentren entstehen und sich die globalisierenden Dynamiken also besonders
bemerkbar machen. Die mikropolitischen Folgen äußern sich insbesondere an dem für die
Globalisierung symptomatischen Phänomen der Migration und ihren Auswirkungen wiederum
für die Umgestaltung des urbanen Raums, allesamt Folgen, die in 2666 bereits omnipräsenter
Bestandteil der dargestellten Welt sind.
Die historische Ausgangssituation für die Globalisierungspolitik in Mexiko ist die Krise
der Auslandsverschuldung von 1982. Dieses Ereignis ist bereits international bedingt, da es auf
das zu Beginn der 1970er Jahre zusammengebrochene System fester Wechselkurse (Bretton7
César FUENTES und Sergio PEÑA vom interdisziplinären Colegio de la Frontera Norte (COLEF, Ciudad
Juárez) beziehen sich hier auf die von der Stadtsoziologin Saskia SASSEN definierten global cities,
Knotenpunkte der Organisation in einer globalisierten Weltordnung und Schlüsselorte des
Finanzsektors und anderer Dienstleistungsfirmen, für die sie New York, London und Tokio als
Beispiele nennt. Die Auslagerung einzelner Sektoren auf die ganze Welt, insbesondere des
Produktionssektors, geht von hier aus vonstatten. Diese Analyse widerspricht der oft bemühten
Globalisierungstheorie, dass in der Globalisierung kein steuerndes Zentrum mehr vorhanden sei (vgl.
z.B. BAUMAN 1998: 80).
5
Woods-System)
zurückgeht:
Die
ständig
steigenden
Zinsen
der
für
Zwecke
der
Industrialisierung vergebenen Kredite treiben Mexiko in die Zahlungsunfähigkeit (vgl. Atlas
der Globalisierung 2011: 70). Um der Spirale von Verschuldung und Inflation zu entkommen,
entscheidet man, das Land auf den globalen Markt hin zu öffnen: Globalisierung wird als das
neue Rezept für Wachstum angesehen (vgl. CORDERA 2006: 14). Der Drang nach
wirtschaftlichem Wachstum dominiert die mexikanische Wirtschaftspolitik der 1980er Jahre.
Es entsteht die Auffassung, man müsse sich der globalen Wirtschaft anschließen, um den
eigenen Fortschritt zu ermöglichen (vgl. KURI 2007: 25). Diese Auffassung geht einher mit
konkreten politischen Maßnahmen, darunter der Befolgung des Washington Consensus im
Jahre 1989, einem ‚Strukturanpassungsprogramm‘ (SAP: structural adjustment program) des
Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank. Diese Reformagenda wird für
mehrere lateinamerikanische Länder, die sich in ähnlichen Schuldenkrisen befinden,
formuliert
und
sieht
gegen
Kreditbilligung
die
folgenden
wirtschaftspolitischen
Umstrukturierungen vor (vgl. ROZO 2007: 322f.):
Liberalisierung der internationalen Handelspolitik: Abbau von
Handelsbeschränkungen und -kontrollen
Finanzielle Liberalisierung
Liberalisierung ausländischer Investitionen: Abbau von Hürden zur Einführung
ausländischer Direktinvestitionen (FDI: Foreign Direct Investment)
Deregulierung: Aufhebung aller marktbeschneidenden und
wettbewerbsverzerrenden Regulierungen
Umstrukturierung und Kürzung der Staatsausgaben, Verringerung der Bürokratie
Privatisierung staatlicher Unternehmen
Das Freihandelsabkommen TLCAN (Tratado de Libre Comercio de América del Norte) bzw.
NAFTA (North American Free Trade Agreement) zwischen USA, Kanada und Mexiko, das am 1.
Januar 1994 in Kraft tritt, stellt sodann nur die Spitze des Eisbergs dar und wird zum Symbol
einer
schon
länger
geführten
Globalisierungspolitik.
Mit
der
Errichtung
der
nordamerikanischen Freihandelszone ist der hier erstgenannte Punkt des Washington
Consensus vollends realisiert, Zölle und Handelsbeschränkungen werden abgebaut. Die FDI
treiben die Globalisierung weiter voran: Multinationale Unternehmen (MNE: Multinational
Enterprises), die im Falle Mexikos zu 80% ihren Firmensitz in den USA haben (vgl.
FUENTES/PEÑA 2010a: 9), agieren auf Basis ebendieser Direktinvestitionen und können im Zuge
der Errichtung der Freihandelszone weiter wachsen und eingeführt werden.
Dies fällt 1994 zusammen mit der bereits seit Mitte der 1960er Jahre bestehenden
maquiladora-Industrie in Mexiko, die auf FDI beruht und im Zuge des TLCAN-Abkommens
weiter floriert: Ausländische Firmen, d.h. MNE, stellen das Rohmaterial, das in den
Montagebetrieben, den maquiladoras, die sich zumeist im Norden Mexikos an der Grenze zu
den USA befinden, zu Endprodukten für den Export weiterverarbeitet wird (vgl. FUENTES/PEÑA
2010a: 3). Die so entstehenden export-processing zones (EPZ), oft in der Nähe eines Hafens
oder einer Nationalgrenze gelegen, werden somit zu sog. free trade areas, zu Orten des freien
Handels, in denen die transnationalen Konzerne auf sehr geringe oder gar keine staatliche
6
Aufsicht und Regulierung bauen können (vgl. FUENTES/PEÑA 2010a: 8; 13). Gemäß der im
Washington Consensus verankerten Forderung nach Deregulierung ist der Einfluss der Politik
hier also auf ein Minimum reduziert. Die Vorteile der Auslagerung an Standorte in
‚Entwicklungsländern‘ wie Mexiko, die sich für die MNE ergeben, bestehen darüber hinaus in
den dort möglichen geringen Lohnkosten, niedrigen Bodenpreisen, unternehmerfreundlichen
Besteuerungsformen und Regulationsdichten, wozu Tarifbindungen, Sozialversicherung und
Umweltauflagen gehören (vgl. ZEHNER 2001: 154).
Diese in den EPZ herrschende ‚Abwesenheit des Staates‘ (vgl. MONÁRREZ 2010: 28)
spiegelt sich in den prekären Arbeitsbedingungen der maquiladoras und Lebensbedingungen
ihrer Mitarbeiter wider: Die hier Beschäftigten, hauptsächlich Frauen (vgl. STAUDT/ROBLES
2010: 75), arbeiten ohne Sozialschutz und für Niedriglöhne. Sie arbeiten auf ihr eigenes Risiko,
es wird ihnen keine Sicherheit, weder von staatlicher noch von industrieller Seite,
gewährleistet. Da ein genereller Überschuss an Arbeitern besteht und nur ein niedriger
Qualifikationsgrad in den Fabriken, die zumeist Montagebetriebe sind, benötigt wird, ist die
Arbeitskraft zudem quasi austauschbar. Der Soziologe Manuel CASTELLS (1996: 78f.) benennt
das Streben nach Produktivität als entscheidenden Faktor in der Globalisierung. Ein
Menschenleben ist in dieser auf Effizienz und Produktivität gebauten und entstandenen
Industrieregion vor allem ein industriell arbeitender Körper, weshalb MONÁRREZ/BEJARANO
(2010: 48) von ‚low-valued individuals‘ in den EPZ sprechen.
Nichtsdestotrotz ziehen die Freihandelszonen ArbeiterInnen aus den zentralen und
südlichen Bundesländern Mexikos sowie aus anderen zentralamerikanischen Staaten an, wo
Arbeit und gute Entlohnung rar sind (vgl. GONZÁLEZ GONZÁLEZ 2009: 45). Denn wenngleich
Mexiko seit der Errichtung der Freihandelszone zu einem der größten Exportländer
Lateinamerikas avanciert ist, insbesondere durch seine Exporte in der Automobil-, Elektronikund Textilproduktion, hat sich die Armut des Landes, unter der die Hälfte der Bevölkerung
leidet, unterdessen nicht verringert (vgl. ROZO 2007: 328). Die Landarmut ist im Zuge der
Globalisierung und des Freihandelsabkommens sogar gestiegen8. Das ist in vielen Regionen
der Fall, wo saisonale, d.h. temporäre und regionale Migration längst praktiziert wird (vgl.
BARABAS et al. 2011: 9). Diese wird Mitte des letzten Jahrhunderts schnell zu einem
Langzeitbrauch nationaler und transnationaler Natur:
Pronto, muy pronto, encontraron el camino al norte y de ahí pasaron la frontera para
buscar y arribar al mítico ‚otro lado‘: Estados Unidos de América. (BARABAS et al. 2011: 10)
8
Im südmexikanischen Oaxaca beispielsweise, einer Kaffee- und Baumwollregion, kommt es zu
massenweiser Landarmut u.a. im Zuge des Falls des internationalen Kaffeepreises sowie durch die
Einführung synthetischer Stoffe (vgl. BARABAS et al. 2011: 80). Neben der Tatsache, dass die nationale
Landwirtschaft sich nach dem TLCAN-Abkommen der US-Konkurrenz ausgesetzt sieht, sieht das
Abkommen auch die Aufhebung eines seit der Revolution in der mexikanischen Verfassung
festgelegten Artikels vor, nach dem das gemeinschaftliche indigene Land unverkäuflich und nicht
privatisierbar ist, weshalb sich in Folge des Abkommens der Aufstand der zapatistischen
Befreiungsbewegung EZLN in Chiapas bildet (vgl. Atlas der Globalisierung 2011: 65).
7
Zunächst geht es gen Norden des Landes, wo in den maquiladoras ein ständiger Bedarf an
Arbeitskraft besteht. Die Migrationskette verlängert sich aber meist bis in die USA, deren
verheißungsvolle9 Grenze unmittelbar an die EPZ angrenzt und von vielen Migranten illegal
überquert wird. In den USA besteht ebenfalls ein ständiger Bedarf an gering qualifizierter
Arbeitskraft in diversen Wirtschaftssektoren, dessen Umfang nicht durch reguläre, d.h. legale
Migranten gedeckt werden kann (vgl. GONZÁLEZ GONZÁLEZ 2009: 49) und wo die Löhne zudem
um ein Vielfaches höher sind (vgl. NÚÑEZ/KLAMMINGER 2010: 160). So sind die EPZ sowohl
Ankunfts- als auch Übergangsorte, Orte der omnipräsenten Mobilität von Migranten, die
zumeist indocumentados, also ohne Ausweispapiere unterwegs, sind.
Doch die massenhafte und omnipräsente Migration vom Süden Mexikos bzw.
Mittelamerikas in den Norden Mexikos bzw. USA lässt sich nicht allein über die
komplementäre örtliche Konstellation eines Pols der Nachfrage und eines des Angebots
erklären. In einem Land, wo ganze Landstriche entleert werden, da alle hacia el norte
emigrieren10, dorthin, wo zumeist schon mindestens ein Familienmitglied lebt, ist Migration zu
einem multikausalen Phänomen geworden, das sich nicht allein auf den ökonomischen Anreiz
zurückführen lässt. (Arbeits-)Migration kommt nicht durch eine rein individuelle, freie
Entscheidung und rationale Kosten-Nutzen-Rechnung zustande, wie die neoklassische Theorie
sie durch ihr Menschenbild des homo oeconomicus erklärt. Vielmehr spielen sog.
‚Migrationsnetzwerke‘ eine buchstäblich entscheidende Rolle:
[...] las redes de migrantes son nexos que incrementan la posibilidad de movimiento
internacional porque minimizan los riesgos de desplazamiento, reducen los costos
económicos y no económicos de la migración y son el motor a partir del cual se perpetúa
cada vez en forma más independiente de las causas económicas que le dieron origen.
(BARABAS et al. 2011: 31)
Die Bedeutsamkeit dieser informellen sozialen Netzwerke zeigt sich darin, dass sie die
Wahrscheinlichkeit
von
Migration
erhöhen:
Indem
sie
Risiken
und
Kosten
der
(internationalen) Migration verringern, generieren sie selbst Mobilität und sind der Antrieb für
eine so entstehende Migrationskultur, die sich so immer mehr von ökonomischen Faktoren
und dem individuellen Wunsch der Verbesserung der Lebensbedingungen entkoppelt.
Migrationsnetzwerke schaffen transnationale, dynamische Gemeinschaften (vgl. BARABAS et al.
2011: 29). Migration wird zu einem kollektiven Trend, dem viele Migranten als Akteure
innerhalb einer größeren Einheit folgen. Wenngleich jede Migration einen Fall für sich
darstellt, wird hier klar, dass sie größeren sozialen und globalen Tendenzen gehorchen, sie
sind zu einem Teil der nationalen Identität geworden, die nicht nur von wirtschaftlichen
9
10
Vgl. dazu Carlos MONSIVÁIS (2005: 23-26), der die schon immer ambivalente Beziehung Mexikos zu
den USA in der auch kulturellen Globalisierung verschärft sieht: Anti-Amerikanismus und
Nationalismus mischen sich mit Konformismus und dem Wunsch, am Wohlstand des Nachbarn
teilzuhaben und sich deshalb seiner Kultur und Identität zunehmend anzupassen.
Offiziell emigrieren jedes Jahr ca. 400.000 Mexikaner dauerhaft in die USA und mehr als 380.000
Mexikaner überqueren jährlich die Grenze, um temporär in den USA zu arbeiten (vgl. GONZÁLEZ
GONZÁLEZ 2009: 37).
8
Faktoren abhängig ist. Migrationsnetzwerke schaffen die Bedingungen und Motivation für eine
von den Migranten selbstorganisierte und sich selbst potenzierende Massenmobilität. Der
mexikanische und US-amerikanische Staat sind weit davon entfernt, diese zu kontrollieren11.
Das Ausmaß der Migration macht sich am Städtezuwachs bemerkbar. Die urbanen
Zentren der Industrie stellen die (temporären) Zielorte der Migration dar. Die Grenzstadt
Ciudad Juárez (Chihuahua) zum Beispiel, die Stadt mit dem höchsten Anteil an FDI und der
höchsten maquiladora-Konzentration in Mexiko (vgl. FUENTES/PEÑA 2010a: 11f.), ist in den
1960er Jahren noch eine Stadt mit rund 280.000 Einwohnern und wird durch stetige
Zuwanderung 2005 zu einer Millionenstadt (vgl. FUENTES/PEÑA 2010b: 105).
Die rasante Urbanisierung steigert den Bedarf an Wohnraum, führt in der attraktiven
Grenz- und Industrieregion aber auch dazu, dass Privatinvestoren sich weite Teile des
Stadtgebiets sichern, um es zu höheren Preisen weiterzuverkaufen. Die örtlichen Regierungen
auf der mexikanischen Seite sind, anders als auf der US-amerikanischen Seite in der
Nachbarstadt El Paso (Texas), der Zwillingsstadt von Cd. Juárez, nicht gewillt oder nicht
befähigt, die Bodenspekulation zu regulieren, zum Teil profitieren sie selbst von ihr. Der aus
der Privatisierung und Spekulation resultierende Anstieg des Bodenpreises macht den
Stadtkern
für viele
Menschen
unbezahlbar und ergo
unbewohnbar,
weshalb die
ankommenden Migranten sich zumeist in der Peripherie ansiedeln, wo die Landpreise
günstiger sind, aber kaum Infrastruktur (Trinkwasser, Kanalisation, Müllabfuhr, Transport,
Elektrizität etc.) vorhanden oder Anschluss an das Stadtzentrum gewährt ist. Öffentliche
Dienste werden privatisiert und so haben lediglich besser verdienende Schichten der urbanen
Bevölkerung Zugang zu diesen Diensten. Fast die Hälfte der Bewohner von Cd. Juárez arbeitet
aber als einfache Arbeitskraft in den hier ansässigen maquiladoras: Da ihre Löhne es nicht
anders zulassen, konzentrieren sie sich in den peripheren Gegenden der Stadt, insbesondere
im Südwesten. Die Folge ist eine klaffende räumlich-soziale Segregation (vgl. FUENTES/PEÑA
2010b: 100-113).
Wo der offizielle Staat sich zurückzieht, nehmen neue oder parallele Autoritäten den
Platz ein. Neben den MNE und Privatinvestoren gehört dazu auch die Drogenökonomie.
Systematische Straflosigkeit und polizeiliche Korruption, bei der ein Beamter seine Funktion
ausnutzt, um privaten Gewinn zu erlangen, blicken auf eine lange Tradition in Mexiko zurück
(vgl. STAUDT/ROBLES 2010: 77), ebenso der narcotráfico, der meist über diese Phänomene
erklärt wird12. Die nationale ‚Tradition‘ des narcotráfico wird im Zuge der Globalisierung
11
12
Nachdem die Legalisierungspolitik Mitte der 1980er Jahre und das TLCAN-Abkommen eben nicht zu
einer Regulierung der mexikanischen Migration in die USA geführt hatten, sondern die ‚Ströme‘ von
Migranten sogar noch verstärkten, folgte Mitte der 1990er Jahre eine restriktive Politik, die die
illegale Immigration in die USA kriminalisierte (vgl. GONZÁLEZ GONZÁLEZ 2009: 32-34).
Dabei können Drogenhandel und -konsum in Mexiko in den 1980er Jahren auch durch
Arbeitslosigkeit, Landarmut, geringe Löhne und geringen Arbeiterschutz, also durch Globalisierung
mit bedingte Phänomene, wachsen: Viele verarmte Bürger sehen sich genötigt, mit den
Drogenhändlern zu kooperieren. Ebenso werden im Zuge der Kürzung der Staatsausgaben weniger
öffentliche Gelder zur Bekämpfung des Drogenhandels zur Verfügung gestellt (vgl. MEJIA 1988: 125-
9
begünstigt, da die staatliche Gegenmacht13 geschwächt wird (vgl. CASTELLS 1998: 175).
Drogenkartelle operieren insbesondere in Zonen der hohen staatlichen ‚Durchlässigkeit‘ (vgl.
MONÁRREZ 2010: 28), die ein geringes Maß an Risiko und Strafverfolgung versprechen (vgl.
CASTELLS 1998: 173) und wo sie ihre eigenen Gesetze schaffen können: an Orten der
‚Abwesenheit des Staates‘, wie den EPZ.
Weshalb kann die spezifische Globalisierungsgeschichte Mexikos als paradigmatisch
betrachtet werden? Der Washington Consensus, der Mexiko mehr oder minder freiwillig den
Weg in die Globalisierung ebnet, ist eine Agenda, die von den Industriestaaten für mehrere
Länder in der Krise formuliert wurde14 und somit ein allgemeines Programm des nachhaltigen
Wirtschaftswachstums darstellen sollte. Somit ist Paradigmatik bereits konstitutiver
Bestandteil der Idee von Globalisierung: Der Ökonomie den Weg zu ebnen und den nationalen
Raum für sie zu öffnen, gilt als Universalie. Der Washington Consensus steht für eine
quantitative Sicht auf die Welt, nach der die Entwicklung eines jeden Landes in den gleichen
Zahlen gemessen werden kann. Das Ziel der convergencia impliziert die Vorannahme, dass sich
alle ‚Entwicklungs‘-Länder auf der gleichen und vergleichbaren Schiene der Entwicklung und
des stetigen Wachstums befänden (vgl. HARDT/NEGRI 2000: 281f.)15. Dennoch führen die
Strukturanpassungsprogramme nicht zu gleichen Ergebnissen. Dass der Weltmarkt nun an
oberster Stelle der nationalen Politik steht, bewirkt keineswegs eine Vereinheitlichung der
Welt, in dem Sinne, dass die ‚Dritte Welt‘ nun nicht mehr bestünde. Der Literaturtheoretiker
Michael HARDT und der Politikwissenschaftler Antonio NEGRI betonen in ihrem gemeinsamen
Traktat Empire (2000), dass sich ‚Erste Welt‘ und ‚Dritte Welt‘ zunehmend verstricken und
sich einander räumlich annähern. Ein Signum der globalisierten Welt, insbesondere aber im
Global South, ist die Bildung von Slums (vgl. HARDT/NEGRI 2000: 253f.; DAVIS 2004). Arm und
13
14
15
127). Weiterhin begünstigend ist die politische Dezentralisierung, die in den 1980er Jahren in Mexiko
stattfindet und mit der Einschränkung der Zentralgewalt der PRI (Partido Revolucionario
Institucional) einhergeht.
Falls diese ‚Gegenmacht‘ im Fall von Mexiko je eine war: Neben dem privaten Profitieren Einzelner
durch Korruption, also der parasitären Einnahme von staatlichen Institutionen, profitiert
mittlerweile die gesamte mexikanische Wirtschaft vom Drogenhandel, ohne den sie um rund 60%
einbrechen würde (vgl. GONZÁLEZ RODRÍGUEZ 2002: 109). Die verschiedenen Machtinstanzen sind
längst ineinander verwoben: „[...] el crimen en lo fundamental es organizado desde el Estado,
protegido desde el Estado y defendido desde el Estado [...] De hecho, las ‘mafias’ mexicanas habitan
en el corazón del mismo Estado“ (GONZÁLEZ RODRÍGUEZ 2002: 66f.). Insofern erscheint auch die
Bezeichnung der ‚organisierten Kriminalität‘ von Seiten des Staates zumindest doppeldeutig.
Mexiko war dabei von 1987 bis 1992 der größte Kreditnehmer des IWF (vgl. Abbildung 1 im Anhang).
Das vereinheitlichte Ziel des Wirtschaftswachstums und die policy implications ignorieren aber die
klaffenden politischen und sozialen Bedingungen der unterschiedlichen Länder sowie die
unterschiedlichen Stadien der Demokratie, auf die die Maßnahmen fallen. Es wird zudem oft
kritisiert, dass das ‚Rezept‘ des freien Marktes, das den verschuldeten Entwicklungsländern durch
den Washington Consensus empfohlen wird, in den Industriestaaten, die diese ‚Ratschläge‘
entwerfen, in dieser Form gar nicht angewandt wird. Hier sorgen staatliche Interventionen und ein
relativ regulierter Markt für mehr Protektionismus (vgl. CALVA 2007: 13). Dies zeigt, dass
Globalisierung keine Kooperation zwischen gleichgestellten Partnern ist.
10
Reich können unmittelbar und dicht beieinander liegen, in einer Stadt vereint, und sind
dennoch Welten voneinander entfernt, durch feine Linien der Trennung markiert.
Dieses Kapitel hat deutlich gemacht, wie ‚Globalisierung‘ als wirtschaftspolitisches
Programm für mehrere Nationen sich z.T. ganz lokal artikulieren kann, zum Beispiel an der
Grenzregion Mexiko/USA, wo mehrere Akteure die Souveränität des Nationalstaates
unterwandern. In Cd. Juárez, quantitativ am meisten von der Globalisierung ‚betroffen‘,
bündeln
sich
globale
Tendenzen:
Als
Industriestandort
bietet
die
Stadt
viele
Arbeitsmöglichkeiten, allerdings zu prekären sozialen Bedingungen; als Grenzstadt ist sie
zugleich Ankunftsort und Ausgangspunkt nationaler und internationaler Migration. Die sich
zunehmend verselbstständigende Migration wird zum Symptom der Globalisierung, die ihr
Auslöser ist und gleichzeitig durch sie angekurbelt wird, da sie den Einfluss des
Nationalstaates weiter einschränkt. Somit ist Migration ein Phänomen, das zwischen
Partikularität und Globalität steht: Nicht nur werden in ihr die spezifischen Geschichten
einzelner offenbart, sondern auch Makrostrukturen der Globalisierung sichtbar (vgl.
NÚÑEZ/KLAMMINGER 2010: 155).
1.3 WEGE DER GLOBALITÄT: DIE GESCHICHTE DER GLOBALISIERUNG
Wenngleich der Begriff der Globalisierung in der Funktion einer Gegenwartsdiagnose erst seit
den 1990er Jahren Konjunktur hat (vgl. OSTERHAMMEL/PETERSSON 2003: 7), so wird heutzutage
ebenso oft betont, dass die Prozesse der Globalisierung auf eine jahrhundertelange Geschichte
zurückblicken. Die historische Perspektive auf Globalisierung führt uns in die Anfänge des
Kolonialismus und somit zu einer speziellen, historischen Wahrnehmung der Welt. Daran
anschließend wollen wir uns fragen, wie ‚Globalität‘ sich unter den gegebenen
Voraussetzungen der aktuellen Globalisierung aktualisiert.
Der Romanist Ottmar ETTE (2012: 26) betont, dass die Globalisierung, derer wir heute
Zeuge werden, nichts radikal Neues sei, sondern vielmehr aus einem jahrhundertelangen
Prozess der globalen Verflechtung hervorgehe, der seit ihrem Beginn, dem Kolonialismus,
bestimmte Kontinuitäten und strukturelle Konstanten aufweist. Schon in der Frühen Neuzeit,
der „ersten Phase beschleunigter Globalisierung“ (ETTE 2012: 10), also einer frühen,
historischen Form von Globalisierung, wird dabei ein asymmetrisches, ungleiches Verhältnis
auf dem Globus geschaffen. Das Wissen über die Welt sei nie absichtslos, immer an eine
potentielle Beherrschung der Welt gebunden (vgl. ETTE 2012: 9). Die grundsätzliche
Asymmetrie globaler Verhältnisse ziehe sich durch bis in die heutige Ausprägung von
Globalisierung. Parallel dazu entsteht im Abendland von Anfang an ein „Imaginarium des
Globalen“ (ETTE 2012: 12), das die Ereignisse reflektiert und sie gleichzeitig mitprägt.
Der Literaturwissenschaftler Walter D. MIGNOLO führt diese Asymmetrie, die man auch
als Eurozentrismus bezeichnen könnte, noch weiter aus. Die lineare Weltanschauung, die der
11
Globalisierungsagenda des Washington Consensus zugrunde liegt und die wir im
vorangegangenen Kapitel thematisiert haben, verortet er in einem europäischen epistemischen
Schema, einem sog. Makronarrativ, durch das Europa über Jahrhunderte hinweg seine
Hegemonie sichern kann:
For five hundred years, universal history was told from the perspective of one local history,
that of Western civilization, an aberration, indeed, that passed for the truth. […] Western
civilization managed to have the epistemic privilege of narrating its own local history and
projecting it onto universal history […] (MIGNOLO 2000: ix)
Die Vormachtstellung Europas beruhe nicht nur auf der physischen Expansion in Form des
Kolonialismus, sondern auch auf der Expansion einer Geschichte bzw. eines Narrativs aus
einer lokalen Perspektive, das als universale Wahrheit ‚exportiert‘ wurde. So zieht MIGNOLO
Verbindungslinien zwischen der Christianisierungsmission, mit der die Kolonialisierung im 15.
Jahrhundert ihren Anfang nimmt und die später abgelöst wird durch die Zivilisierungsmission
im 18. Jahrhundert, eine Art säkularisierte Form der christlichen Mission und unterscheidet so
in verschiedene Etappen der Kolonialisierung/Globalisierung. Das Programm der ‚neoliberalen‘
Globalisierung am Ende des 20. Jahrhunderts ist für MIGNOLO lediglich eine weitere
neokoloniale Etappe dieser Missionen, wenngleich die USA hier die hegemoniale Position
Europas bereits übernommen hat (vgl. MIGNOLO 2000: 279f.).
Dabei verortet MIGNOLO Ende des 19. Jahrhunderts einen Paradigmenwechsel, der der
entscheidende ideengeschichtliche Umbruch sein könnte, welcher die lineare Auffassung von
Globalisierungsprogrammen überhaupt erst ermöglicht: „spatial boundaries were transformed
into chronological ones“ (MIGNOLO 2000: 283). Vormals räumliche Abgrenzungen werden
durch zeitliche ersetzt. Globale Unterschiede werden nun nicht mehr auf geographische
Distanzen und somit räumlich bedingte Eigenheiten zurückgeführt und darüber erklärt,
sondern von nun an chronologisch eingeordnet und dargestellt auf einer fiktiven linearen
Skala von Fortschritt und Zivilisation – es gibt nur noch unterschiedliche, bewertbare Stadien
der Entwicklung. Somit ist die Geschichte des Kolonialismus bei MIGNOLO auch die Geschichte
einer bestimmten Wahrnehmung (der Welt) und eines Makronarrativs, welches diese
Wahrnehmung vertritt und das von einer bestimmten lokalen Instanz aus erzählt und
verbreitet wird.
ETTE und sein ‚Imaginarium des Globalen‘, MIGNOLO und sein ‚Makronarrativ‘: Beide
verankern sie im Kontext des Kolonialismus, was die historische Relevanz und Wirkungskraft
dieser Konstrukte verdeutlicht. Es sind Weltbilder, die globalpolitischen Entscheidungen
vorausgehen
und zugleich aus ihnen resultieren. Wir wollen diese spezielle
Wahrnehmung der Welt, die die Welt maßgeblich prägt und geprägt hat, im Folgenden
‚Globalität‘ nennen. Im Gegensatz zum Begriff der Globalisierung ist ‚Globalität‘
terminologisch eher unterbelichtet. Der Duden von 2000 gibt unter ‚Globalität‘ lediglich „das
Globalsein, globale Beschaffenheit“ an, eine Bedeutung, die auf der Eigenschaft des Zustands
insistiert, während ‚Globalisierung‘ rein sprachlich einen Prozess impliziert. Durch MIGNOLOS
und ETTES historische Perspektive gehen wir davon aus, dass Globalität schon immer und zu
12
allen Zeiten existent war und sich dabei auf der anderen Seite der globalpolitischen
Veränderungen verortet. Wie aber steht es um die Globalität in der heutigen Ausprägung von
Globalisierung? Wir wollen uns Aspekte der aktuellen Globalität ausgehend von Ulrich BECKS
und Édouard GLISSANTS Überlegungen zum Begriff der Globalität erarbeiten.
Globalität bezeichnet die Tatsache, daß von nun an nichts, was sich auf unserem Planeten
abspielt, nur ein örtlich begrenzter Vorgang ist, sondern daß alle Erfindungen, Siege und
Katastrophen die ganze Welt betreffen und wir unser Leben und Handeln, unsere
Organisationen und Institutionen entlang der Achse ‚lokal-global‘ reorientieren und
reorganisieren müssen. (BECK 1997: 30)
Für BECK ist ‚Globalität‘ unmittelbar mit ‚Globalisierung‘ verknüpft: Globalität ist ein Zustand,
der sich aus den faktischen Prozessen der Globalisierung ergibt. Globalität heute meint, dass
kein Ereignis mehr als rein lokal und isoliert wahrgenommen, sondern immer im Kontext der
globalen Vernetzung und Verwobenheit über nationalstaatliche Grenzen hinweg aufgefasst
wird. Ebendiese zugleich kollektive und subjektive Selbstwahrnehmung und Selbstdefinition
der Menschen als transnationale ‚Weltgesellschaft‘ ist dabei ein entscheidendes Merkmal der
gegenwärtigen Globalisierung (vgl. BECK 1997: 31).
Das formulieren HARDT/NEGRI noch radikaler: Es gibt keinen Standpunkt mehr
außerhalb der Globalisierung (vgl. HARDT/NEGRI 2000: 34). Die ‚globale Macht‘, von
HARDT/NEGRI Empire getauft, ist horizontal und befindet sich überall und zugleich nirgendwo
(vgl. HARDT/NEGRI 2000: 190). HARDT/NEGRI charakterisieren den Kapitalismus als System, das
sich selbst potenziert: Wachstum und ‚Liberalisierung‘ sind zu einem allgemeinen Ziel erklärt
worden und bieten gleichzeitig das Mittel zur Erreichung dieses Ziels, nämlich sie selbst. Diese
Selbstdynamik beruht auch darauf, dass die „Ideologie des Weltmarktes“ (HARDT/NEGRI 2000:
150) von allen Menschen verinnerlicht wird. HARDT/NEGRI sprechen in Anlehnung an Michel
FOUCAULT von der Selbstdisziplinierung des Subjekts in der Globalisierung, welches die
Globalisierung scheinbar freiwillig mitmacht, sie dadurch vorantreibt und sich parallel dazu
selbst ausbeutet (vgl. HARDT/NEGRI 2000: 330). Einen entscheidenden Stellenwert räumen sie
dabei den Kommunikationsmedien ein:
The development of communications networks has an organic relationship to the
emergence of the new world order – it is, in other words, effect and cause, product and
producer. Communication not only expresses but also organizes the movement of
globalization. (HARDT/NEGRI 2000: 32)
Kommunikationsmedien sind zugleich produziert und produzierend: Sie gehen aus der
globalen Vernetzung hervor und erschaffen sie gleichzeitig mit, da sie selbst horizontale
Netzwerke sind und darüber hinaus ein globales Bewusstsein erschaffen. So kann sich
niemand der vernetzten und globalisierten Gesellschaft entziehen, alle partizipieren an ihr.
Die Globalisierung produziert also Subjekte, die das System selbst reproduzieren. Das
Paradoxe dabei ist, dass wir denken, wir würden frei und mündig handeln, da der Kapitalismus
auf einer liberalen Grundidee fußt. Mit Byung-Chul HAN könnte man sagen, das Empire habe
das Höchstmaß an Macht erlangt, ja einen quasi totalitären Status, denn der Gipfel der Macht
ist dann erreicht, wenn Stille herrscht, wenn sie also nicht mehr thematisiert wird und die
13
Illusion von Freiheit fortbesteht (vgl. HAN 2005: 9). So wird in der Globalisierung die Frage
drängend, inwiefern Subjekte noch als solche zu bezeichnen sind und nicht zu Objekten des
Marktes geworden sind, inwiefern aus ihrer scheinbaren individuellen Freiheit nicht gerade ihr
Opfersein besteht.
Gerade aufgrund dieser Universalisierung der kapitalistischen Weltordnung und
Omnipräsenz des Ökonomischen lassen HARDT/NEGRI keinen Zweifel an den Protest- und
Widerstandsmöglichkeiten: Man kann sich nur an jedem Ort und zu jeder Zeit gegen das
Empire stellen (vgl. HARDT/NEGRI 2000: 211). Während BECK Globalität also als unvermeidbares
Resultat einer globalisierten Gesellschaft betrachtet, formulieren HARDT/NEGRI im selben
Zuge eine Kritik an der Verinnerlichung des Ökonomischen, weshalb Globalität, selbst wenn
letztere diesen Begriff nicht nennen, auch ein Gegenentwurf zur Globalisierung sein sollte.
Der
Schriftsteller
und
Philosoph
Édouard
GLISSANT
unterscheidet
zwischen
mondialisation, dem französischen Begriff für Globalisierung, auf der einen und mondialité auf
der anderen Seite, einem von ihm eingeführten Begriff. Da Globalisierung für GLISSANT eine
zunehmende kulturelle Monotonisierung und Homogenisierung bedeutet, eine „antidiversité“, sollte Globalität eine Antwort, ein imaginäres Gegenmodell dazu sein, das für
Diversität und die Begegnung mit dem Anderen oder dem Fremden, das und den es auch in
der Globalisierung noch gibt, einsteht16. Der Widerstand gegen Globalisierung sollte aber nicht
in Regionalismus münden, da GLISSANT, ähnlich wie BECK, betont, dass das Globale schon
längst und irreversibel unser Leben und Handeln bestimmt.
Was die gleichmachenden Tendenzen der Globalisierung angeht, machen HARDT/NEGRI
(2000: 198f.) eine interessante Beobachtung: Zum einen vollziehe die Globalisierung sich
inclusive, da alle Subjekte, ungeachtet ihrer Herkunft und ihres Geschlechts, Teil davon sind
und zumindest theoretisch von den gleichen universalen wirtschaftlichen Möglichkeiten
profitieren. Zum anderen sei sie auf einer oberflächlichen Ebene differential, da Lokalkolorit
und Exotisch-Authentisches zelebriert und zu touristischen Zwecken konstruiert werden,
solange sie nicht konfliktträchtig sind, und somit kommerzialisierbar und vermarktbar
werden.
In Anbetracht der historischen Verwurzelung von Globalisierung über die letzten 500
Jahre betont auch der Historiker Jürgen OSTERHAMMEL, dass es gerade die nun vorhandene,
internationale Perspektive sowohl auf heutige als auf historische Prozesse ist, die die heutige
Globalisierung zu einem ‚neuen‘ Phänomen mache (vgl. OSTERHAMMEL/PETERSSON 2003: 10).
Wir verfügen jetzt über einen Begriff, der uns erlaubt, die Geschichte der Welt aus einer
Perspektive der Verflechtung und Vernetzung zu betrachten. Diese ‚Globalperspektive‘
bedeutet, dass die klassische Geschichtsschreibung aus der Perspektive eines Nationalstaates
16
Vgl. dazu das Interview „Non la mondialisation, mais la ‘mondialité’”, das Laure ADLER 2004 mit ihm
führte.
14
überwunden wird17 und ließe sich in diesem Sinne ebenso unter dem Begriff der Globalität
fassen.
In diesem Kapitel wurde über einen (post-)kolonialen Exkurs deutlich, dass Globalität
sich je nach Lage der Welt aktualisiert, globale Themen reflektiert und sie gleichzeitig mit
prägt. Die heutige Globalität ist geprägt durch die Verinnerlichung des Ökonomischen und
somit ein Spiegel und Resultat der Globalisierung. Gleichzeitig kann Globalität sich kritisch zu
den Prozessen der Globalisierung positionieren und verfügt dabei über die medialen und
diskursiven Möglichkeiten dafür, jedoch wird oft betont, dass unsere Freiheit in dem
Zusammenhang vielleicht nur eine Illusion ist. Das ‚Zeitalter der Globalisierung‘ ist zudem das
Zeitalter eines globalen Bewusstseins, das nationalen Paradigmen und Narrativen nicht mehr
verpflichtet ist. Das entspricht der Wahrnehmung der Welt in 2666, die, wie wir sehen werden,
sowohl eine kritische Reflexion auf die Gegenwart ist, d.h. die Darstellung einer globalisierten
Welt, als auch ein (subjektiver) Streifzug durch die globale Geschichte, ohne dabei eine
spezielle nationale Perspektive einzunehmen.
1.4 VORÜBERLEGUNGEN ZU EINER ÄSTHETISCHEN GLOBALITÄT: BAUDELAIRES „LE VOYAGE“
Während Globalisierung ein relativ fassbares, konkretes Phänomen ist, ist Globalität also eine
subjektive Wahrnehmung der Welt, ein Weltbild. Dieses Weltbild impliziert bereits, dass es
zum einen konstruiert ist, zum anderen an eine spezielle Perspektive gebunden ist – ganz
ähnlich wie eine ästhetische Konstruktion. Man könnte also sagen, dass Globalität selbst eine
perspektivgebundene Fiktion ist, die wiederum durch ästhetische Konstruktionen geprägt sein
kann. Wir wollen im Folgenden aber die Globalität innerhalb einer Fiktion selbst analysieren.
Für diese ästhetische Globalität muss unterschieden werden zwischen der Gesamtkomposition
des Textes und der Figurenrede, die verschiedene Globalitäten innerhalb der Gesamtglobalität
des Textes darstellen kann. Zu zeigen wie genau sich Globalität in 2666 auf diesen Ebenen
artikuliert, ist Ziel dieser Arbeit und wird in Kapitel 3 besprochen. Bevor wir uns der
literarischen Analyse von 2666 widmen, sind jedoch noch einige Vorüberlegungen angebracht.
Was den fünfteiligen und örtlich sowie thematisch weit gestreuten Roman eint, ist der
Titel 2666 sowie das dem Roman vorangestellte Motto von Charles BAUDELAIRE: „Un oasis de
horror en medio de un desierto de aburrimiento“. Wir wollen dieses Zitat und das Gedicht, aus
dem es stammt, in diesem Kapitel auf den Aspekt der Globalität hin untersuchen und sehen
was dieses aus dem Jahre 1861 stammende Zitat uns vorab an Aufschluss geben kann über den
17
Gleichzeitig sollte diese nationale Perspektive nicht durch eine komparatistische Perspektive ersetzt
werden, da sie das Problem der zu vergleichenden Einheiten stellt (vgl. OSTERHAMMEL 2001: 344) und
somit wieder auf den Begriff der Nation referiert. Histoire croisée ist ein rezenter historiographischer
Ansatz, der sich dieser Globalperspektive verpflichtet sieht. Der internationale Vergleich, dem eine
synchrone Betrachtungsweise zugrunde liegt, soll durch eine diachron ausgelegte Transfergeschichte
ersetzt werden (vgl. WERNER/ZIMMERMANN 2002).
15
Roman aus dem Jahre 2004. Es handelt sich dabei um eine punktuelle Aktualisierung von
Globalität zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt, die aber entscheidend für Bolaños
Globalität in 2666 zu sein scheint.
Das Motto ist eine Zeile aus dem achtteiligen Gedicht „Le voyage“, erschienen im Zyklus
„La mort“ aus den Fleurs du Mal, ein Gedicht, dem Bolaño auch an anderen Stellen Beachtung
schenkt. bespricht. „Le voyage“, wie der Titel erahnen lässt, ist auf den ersten Blick ein Gedicht
über das Reisen. Es beginnt mit einer naiven, kindlichen Neugierde:
Pour l’enfant, amoureux de cartes et d’estampes,
L’univers est égal à son vaste appétit,
Ah ! que le monde est grand à la clarté des lampes !
Aux yeux du souvenir que le monde est petit ! (I, Z. 1-4)
Die Lust auf Reisen zu gehen entsteht schon im Kindesalter durch Weltkarten und
Briefmarken, die den Appetit auf die Welt, ja gar auf das ganze Universum schüren. In diesem
Stadium scheint die Welt unheimlich groß, so groß wie der Appetit selbst. Später wird diese
Kinderfantasie zu den Hoffnungen und Erwartungen des Reisenden, die im zweiten Quartett
bereits in der Ersten Person Plural und im Präsens beschrieben werden: „Berçant notre infini
sur le fini des mers“ (I, Z. 8). Die Vorstellungen des Reisenden sind unendlich, seine
Erwartungen unstillbar, er ist getrieben von Neugierde, ja er wird selbst zum Objekt seiner
Neugierde: „La Curiosité nous tourmente et nous roule“ (II, Z. 3). Doch die begrenzte äußere
Welt kann sich mit dieser sehr viel reicheren, grenzenlosen, inneren Welt der „Imagination“
(II, Z. 15), der Globalität, nicht messen (vgl. GOLDBÆK 1990: 80). Die kleine Welt kann nur
enttäuschen, da sie den großen Erwartungen, dem Verlangen („désir“, IV, Z. 12) nicht
standhält. Die erhoffte Verzauberung durch die Welt findet in der Realität der bereisten Orte
nicht statt; sie besteht nur in der unermesslichen Vorstellungskraft, nicht in der tatsächlichen
Erkundung der Welt.
In seinem Essay über „Le voyage“ äußert Bolaño sich zu dem hier beschriebenen Reisenden:
Por cierto, las primeras estampas de viaje no rehúyen ciertas visiones paradisiacas,
producto más de la voluntad o de la cultura del viajero que de la realidad [...]. El viajero de
Baudelaire tiene la cabeza incendiada y el corazón repleto de rabia y amargura, es decir,
probablemente se trata de un viajero radical y moderno, aunque por supuesto es alguien
que razonablemente quiere salvarse, que quiere ver, pero que también quiere salvarse.
(BOLAÑO 2003: 150f.)
Bolaño insistiert hier zum einen darauf, dass BAUDELAIRES Reisender primär Dinge sehen
möchte und sich von seiner Reise die visuellen Reize erhofft, die er sich zuvor ausgemalt
hatte18. Doch das Auge, dem zuhause über Karten und Briefmarken viel versprochen wurde,
wird zwangsläufig enttäuscht. Das Reisen erfüllt nur so lange die Hoffnungen, als dass die
eigene Wahrnehmung, eine kulturelle Schablone und ein eigener Wille, eine Verzauberung
durch die Dinge zulässt, während die tatsächlichen Eindrücke nicht viel in ihm bewirken
18
Dementsprechend wohl auch die Abneigung des Protagonisten Arturo Belano aus Los detectives
salvajes (1998), der seiner Freundin Laura Jáuregui über die Orte, die er bereisen möchte, das
folgende sagt: „no pienso verlos, pienso vivir en ellos, tal como he vivido en México“ (211).
16
vermögen. Außerdem ist der hier beschriebene Reisende ein moderner Reisender, der sich
selbst zu retten sucht, einer Sache entfliehen, entkommen möchte, doch welcher? Später im
Gedicht lautet es, einen zurückgekehrten Reisenden zitierend:
Et, malgré bien des chocs et d’imprévus désastres,
Nous nous sommes souvent ennuyés, comme ici. (IV, Z. 3-4)
Die Realität selbst der fernsten Orte führt zum selben Überdruss wie zuhause. Das Einzige,
was diese Ödheit unterbricht, sind Dinge, die schieflaufen. Zuvor hatte man sich von den
exotischen Orten erhofft, dass diese Quelle von Glück und Schönheit seien: „Frères qui trouvez
beau tout ce qui vient de loin !“ (IV, Z. 20). Man möchte der Langeweile zuhause entfliehen, ihr
entkommen, doch die tatsächlichen Orte in der Fremde sind, ebenso wie der Ort, von dem
man aufbricht, auch nur ganz einfache Orte, erneute Quellen des ennui, dem, gemäß
BAUDELAIRE, schlimmsten aller menschlichen Laster19: Mehr als nur einfache Langeweile,
äußert sich im ennui ein existenzieller Zustand der Abnutzung und Leere, der Abscheu,
Übersättigung und grundlosen Melancholie (vgl. LE PETIT ROBERT). „Comme ici“ ist eine
Ernüchterung über Ähnlichkeiten und Parallelen des Hier und Dort, man war auf der Suche
nach Neuem, mit dem man die inneren Unzulänglichkeiten überwinden wollte. Die Reise ist
die Hoffnung auf und der Drang nach Unterschieden, nach Anderem, Anderssein und
Anderswerden in der Ferne. Die Ähnlichkeits- oder gar Gleichheitserfahrung in der Ferne
kommt daher einer Enttäuschung gleich. Somit führt die baudelaire’sche Reise am Ende
zwangsläufig in den Tod, da dieser dem enttäuschten Reisenden als letzte Bastion noch Neues
verspricht. Immer wieder, immer nur Neues finden zu wollen, ist das einzige, absurde Streben
des Reisenden. Die Kritik, die sich hieraus ergibt, erschöpft sich nicht in einer reinen
Tourismuskritik, wie es Walter BENJAMINS Lektüre von BAUDELAIRES Werk bezeugt:
Es ist sehr wichtig, daß das ‚Neue‘ bei Baudelaire keinerlei Beitrag zum Fortschritt leistet.
Im übrigen findet man bei Baudelaire kaum je einen Versuch, sich mit der Vorstellung vom
Fortschritt ernstlich auseinanderzusetzen. Es ist vor allem der ‚Fortschrittsglaube‘, den er
mit seinem Haß verfolgt, wie eine Ketzerei, eine Irrlehre, nicht wie einen gewöhnlichen
Irrtum. (BENJAMIN 1974: 183)
BENJAMIN analysiert hier den quasi religiösen Status, den der Fortschritt in der Gesellschaft
genießt und dem BAUDELAIRE nicht nur skeptisch, sondern voller Hass gegenüber steht. Wenn
schon der ganze Globus nichts als ein „spectacle ennuyeux“ (VI, Z. 5) bietet, an dem die
gesamte „Humanité“ (VI, Z. 18) beteiligt ist, wie sollte die Zeit dann Veränderung bringen?
Nirgendwo auf der Welt ist eine Alternative zu sehen, nirgendwo die Möglichkeit gegeben,
dem eigenen Leben zu entfliehen. Die Ernüchterung und Entzauberung durch die Welt
bündelt sich in einer für 2666 entscheidenden Metapher, die der Romantisierung und
Exotisierung der Welt eine endgültige Absage erteilt:
Amer savoir, celui qu’on tire du voyage !
Le monde, monotone et petit, aujourd’hui,
19
Vgl. dazu das den Fleurs du Mal programmatisch vorangestellte Gedicht „Au Lecteur“: „Dans la
ménagerie infâme de nos vices/Il en est un plus laid, plus méchant, plus immonde !/[…] C’est
l’Ennui !“ (Z. 32-37).
17
Hier, demain, toujours, nous fait voir notre image :
Une oasis d’horreur dans un désert d’ennui ! (VII, Z. 1-4) [Hervorhebung von mir]
Reisen führt lediglich zu einer Gewissheit, nämlich der Monotonie der Welt, die den inneren
ennui spiegelt, auf den man somit an jedem Ort und zu jeder Zeit zurückgeworfen wird. Zu der
spezifischen Zeile äußert Bolaño sich, noch bevor sie zum Motto von 2666 wird, wie folgt:
En medio de un desierto de aburrimiento, un oasis de horror. No hay diagnóstico más
lúcido para expresar la enfermedad del hombre moderno. Para salir del aburrimiento, para
escapar del punto muerto, lo único que tenemos a mano, y no tan a mano, también en esto
hay que esforzarse, es el horror, es decir el mal. [...] Hoy, todo parece indicar que sólo
existen oasis de horror o que la deriva de todo oasis es hacia el horror. (BOLAÑO 2003: 151f.)
Für Bolaño äußert sich in der ‚Oase des Grauens in einer Wüste der Langeweile‘ auf
hellsichtige Weise das Krankhafte des modernen Menschen. Der einzige Ausweg aus dem
ennui, dem durch die Übersetzung ins spanische aburrimiento etwas von seiner existenziellen
Schwere genommen wird20, ist das Grauen, das somit zu einer prekären Oase innerhalb der
gähnend leeren Wüste wird. BAUDELAIRES Nihilismus und Abneigung gegen Fortschritt
während des Zweiten Kaiserreichs greift Bolaño rund 140 Jahre später wieder auf, als ob
BAUDELAIRE hier eine Prognose der Schrecken des 20. Jahrhunderts lieferte, auf die 2666 (2004)
bereits zurückschaut. In „Le voyage“ hat der Mensch unendliche Fantasien und Pläne für die
Welt, die völlig unabhängig von der eigentlichen, realen Welt bestehen; in 2666 wird
geschildert, wie weite Flächen dieser Welt bereits der globalen Ökonomie zur Verfügung
gestellt wurden. Das Baudelaire-Motto zu 2666 ist nicht nur die wörtliche Situierung der
Wüstenstadt Santa Teresa mit ihren grauenhaften Ereignissen, sondern auch eine
metaphysische und emblematische Verbildlichung des Horrors der gesamten modernen Welt,
in der selbst das Grauen, die letzte Oase, beginnt, sich zu reproduzieren und der Horror somit
auch Gefahr läuft, zum ennui zu werden. In diesem Motto wird also die Funktion Santa Teresas
in 2666 bereits offenbar: In Santa Teresa verdichten sich globale Tendenzen des Grauens.
Santa Teresa ist das Symptom einer krankenden Welt. Schauen wir im Folgenden, in welchen
Weisen die Globalisierung sich in Santa Teresa artikuliert und welcher ihr Beitrag zu dem hier
stattfindenden Grauen ist.
‚Organisatorisch‘ bedeutet das: Kapitel 2 widmet sich den Auswirkungen der
Globalisierung auf zwei grundsätzlichen Ebenen. Kapitel 2.1 und 2.2 drehen sich um das
Subjekt in Santa Teresa, um seine Mobilisierung und häufig darauffolgende individuelle, aber
auch allgemein menschliche Entwertung. In Kapitel 2.3 und 2.4 geht es um die Ebene des
Raums, also die räumlichen Veränderungen in der Globalisierung sowie die Emblematik des
Raums für die conditio humana in der Globalisierung. Beide Ebenen des Subjekts wie des
Raumes geben Aufschluss über die Machtverhältnisse in Santa Teresa und somit denen eines
globalisierten Zeitalters.
20
Bolaño zitiert in seinem Essay die Übersetzung von Antonio MARTÍNEZ SARRIÓN, der ennui mit tedio
übersetzt; Bolaño entscheidet sich in der Folge aber für aburrimiento (vgl. BOLAÑO 2003: 151).
18
2. SANTA TERESA ALS KRISTALLISATIONSPUNKT DER GLOBALISIERUNG
2.1 MIGRATION UND NOMADISIERUNG
Die fiktionale Welt, die Bolaño insbesondere im vierten Teil von 2666 konstruiert, ist eine, die
der faktischen Welt der Globalisierung, wie wir sie in Kapitel 1 besprochen haben, in geradezu
dokumentarischer Weise entspricht. Ein Großteil der vielen Subjekte, die sich in dieser
fiktionalen Welt um Santa Teresa bewegen, sind Migranten. In diesem Kapitel soll das
Phänomen der Migration in Santa Teresa im Sinne eines Symptoms der Globalisierung, also als
Ausdruck, aber auch als Motor von Globalisierung, genauer betrachtet werden. Dafür sollen
zunächst die Folgen der Migration zum einen für die Migranten selbst, nämlich ein steigendes
Maß an Unzugehörigkeit, zum anderen für die –verfehlten– Ermittlungen im vierten Teil des
Romans aufgezeigt werden. Anhand der zumeist nicht gelingenden bzw. nicht erfolgenden
Identifizierung und Lokalisierung der Opfer bzw. Täter macht sich der schwindende Einfluss
staatlicher Strukturen bemerkbar. Anhand der in diesem Kapitel zu besprechenden Metapher
des Nomadischen stellt sich darüber hinaus die Frage nach den Machtverhältnissen in einem
globalisierten Zeitalter.
Typischerweise21 stammen die MigrantInnen in Santa Teresa entweder aus den südlichen
bzw. zentralen Bundesländern Mexikos wie Oaxaca, Zacatecas oder Querétaro oder aus einem
anderen mittelamerikanischen Land wie El Salvador, Guatemala oder Honduras. Santa Teresa
ist ein Anziehungspunkt für Migration aus dem Süden in den Norden, weil sich in der
Industriestadt viele Arbeitsplätze in den maquiladoras bieten; gleichzeitig ist Santa Teresa als
Grenzstadt das perfekte Sprungbrett in die USA:
[...] eran del estado de Hidalgo, en el centro de la república, y ambos emigraron al norte en
1985, en busca de trabajo. Pero un día el padre decidió que con lo que ganaba en las
maquiladoras no iban a mejorar las condiciones de vida de su familia y decidió cruzar la
frontera. Partió junto con otros nueve, todos del estado de Oaxaca. (2666: 503)
Luisa hablaba de emigrar a los Estados Unidos y que incluso tuvo tratos con un pollero,
pero finalmente decidió quedarse en la ciudad. (2666: 656)
Viele der ankommenden Migranten verweilen nur temporär in Santa Teresa und ziehen bald
weiter, andere entscheiden sich, zumindest für einen Moment zu bleiben. Santa Teresa ist ein
Knotenpunkt
multidirektionaler
Migration;
regional
gebundene
und
informelle
Migrationsnetzwerke bieten die dabei nötige Absicherung für die Migranten. Die
internationale Migration, die von Santa Teresa in Richtung USA ausgeht, geschieht in den
meisten Fällen illegal, d.h. mit Hilfe eines pollero, d.h. eines Schleusers. Die migrierenden
Subjekte sind zudem meist indocumentados. Im vierten Teil wird dies anhand der toten
Protagonistinnen22 deutlich, die fast ausnahmslos keine ihre Nationalität oder Identität
bestätigenden Ausweispapiere an ihrem Körper tragen und deshalb in vielen Fällen
unidentifiziert bleiben:
21
22
Im Folgenden wird oft von typischen Fällen aus dem vierten Teil gesprochen, um strukturelle
Analogien in der Menge an Subjekten im vierten Teil aufzuzeigen.
Vgl. MUNIZ (2010: 35): „protagonismo de cadáveres“.
19
No tenía pasaporte ni agenda ni nada que pudiera identificarla. (2666: 446)
La primera muerta de mayo no fue jamás identificada, por lo que se supuso que era una
emigrante de algún estado del centro o del sur que paró en Santa Teresa antes de seguir
viaje rumbo a los Estados Unidos. Nadie la acompañaba, nadie la echó en falta. (2666: 450)
Die Tatsache, dass die unbekannten Frauen weder durch schriftliche Dokumente noch durch
Personen, die sie kennen oder erkennen, identifiziert werden können, lässt die Ermittler
darauf schließen, dass diese zu Lebzeiten Migrantinnen waren und eventuell nur eine
Zwischenstation in Santa Teresa einlegten. Zum Teil migrieren sie ohne Begleitung und
werden von niemandem vermisst23. Meistens ist das der Moment, in dem sich der Fall schließt.
Als man den Finder einer weiteren unbekannten Leiche bittet, die Verantwortung für seinen
‚Fund‘ zu übernehmen, reagiert dieser folgendermaßen:
¿Como me voy a responsabilizar de esta mujer si ni siquiera sé cómo se llama? (2666: 448)
Der Mann sieht nicht ein, weshalb er sich für eine Person verantworten sollte, deren Namen er
nicht einmal kennt. Niemand mag sich identifizieren mit den nicht identifizierten Frauen.
Dadurch dass niemand sie kennt, will niemand für sie die Verantwortung übernehmen oder
gar mit ihr in Verbindung gebracht werden, aus Angst davor, in Probleme mit der Polizei zu
geraten: „nadie la conocía […] o bien nadie quería verse envuelto en problemas con la policía“
(2666: 531). Die fehlende Solidarität, die fehlende Identifikation der unmittelbar Anwesenden
mit den Toten, bedingt durch ihre Nicht-Identifizierung, entwurzelt, entkontextualisiert und
anonymisiert diese vollends24.
Die Entkopplung des Subjekts vom Raum in der Globalisierung mündet in ständiger, nie
endender Mobilität. Dem Subjekt wird aber eine Identität verliehen, indem es sich in einem
Kontext verorten lässt: Zugehörigkeit manifestiert sich über den Raum, in dem man sich
aufhält, verkehrt, und über das soziale Netz, das einen dort bestenfalls umgibt.
Unzugehörigkeit führt im schlimmsten Falle zu Identitätsverlust, zur Nicht-Existenz, zum
Niemand-Sein25, denn die durch Migration stattfindende Deterritorialisierung kann eine fatale
Migrationskette einleiten, der viele Frauen im vierten Teil zum Opfer werden: Sie führt in
23
24
25
Dem stehen einige Fälle in 2666 gegenüber, in denen die Frauen von Familienangehörigen zunächst
als vermisst gemeldet und später von ihnen identifiziert werden.
Solidarität und Identifikation sind dementsprechend die Mittel der Aktivistinnen gegen die
feminicidios von Santa Teresa und mögliche ‚Lösungsvorschläge‘: So konstatiert die fiktive PRIPolitikerin Esquivel Plata als zentrales politisches Problem Mexikos, dass die oberen Machteliten sich
in keinster Weise mit dem Großteil der mexikanischen Bevölkerung identifizieren, es also keinen
nationalen Zusammenhalt gibt: „Para mi familia, sépalo usted, los mexicanos de verdad éramos muy
pocos. Trescientas familias en todo el país. Mil quinientas o dos mil personas. El resto eran indios
rencorosos o blancos resentidos o seres violentos venidos de no se sabe dónde para llevar a México a
la ruina.“ (2666: 739). Ähnlich wie Florita Almada, die von „mis hijas“ (2666: 547) spricht, fühlt auch
Esquivel sich für alle namenlosen Opfer zugleich zuständig: „mi rabia fue adquiriendo una estatura,
digamos, de masa, mi rabia se hizo colectiva o expresión de algo colectivo […] se veía a sí misma
como el brazo vengador de miles de víctimas“ (2666: 782).
Eine ähnliche Beobachtung macht Fate im dritten Teil von 2666, als er sich kurz nach der
Grenzüberquerung bei seiner Ankunft in Santa Teresa fragt: „¿Por qué no dije soy afroamericano?
¿Porque estoy en el extranjero? [...] ¿Eso significa que en algún lugar soy afroamericano y en algún
otro lugar, por pura lógica, soy nadie?“ (2666: 359). Identität variiert je nachdem, in welchem Raum
man sich befindet und welche Identitätsetikettierungen dort verfügbar sind.
20
einen doppelten Tod, denn nicht nur ist ihr Körper tot, auch ihre Identität wird nie bestätigt,
ein die Seele aufrecht erhaltendes (christliches) Begräbnis wird ihnen verwehrt26. Somit sind
die toten Protagonistinnen Gegenpole zu den desaparecidos der Militärdiktaturen des Cono
Sur, deren Körper verschwunden ist, aber deren Identität in der Erinnerung der Angehörigen
fortbesteht. Die toten Protagonistinnen sind insofern aparecidos: Körper ohne Identität.
Soweit, was die ((Nicht-)Identifizierung der) Opfer angeht. Zur verfehlten Ermittlung
gehört aber auch die meist nicht mögliche Lokalisierung potenzieller Täter oder Hinweisgeber:
[…] se intentó dar con el paradero del afilador de cuchillos, [...] pero los esfuerzos fueron en
vano. O cambió de oficio o se desplazó del oeste de Santa Teresa a las zonas sur y este o
emigró de ciudad. (2666: 448f.)
Cuando fueron a buscarlo a la casa en donde vivía [...] ya se había marchado. (2666: 467)
La policía intentó ponerse en contacto con él, pero nadie supo dar una dirección fiable
adonde escribirle. (2666: 492)
¿En donde trabajaba? En ninguna parte y en todas. [...] ¿De dónde sacaba el dinero? [...] de
chambitas esporádicas, [...]. ¿En dónde vivía? [...] siempre se estaba cambiando de casa.
(2666: 521)
La policía intentó localizarlos, pero parecía que la tierra se los había tragado. (2666: 720)
Die Subjekte sind plötzlich wie vom Erdboden verschluckt. Scheinbar problemlos wechseln sie
ihren Wohnort oder Arbeitsplatz, sie hangeln sich von einem Gelegenheitsjob zum nächsten,
eine Adresse besitzen sie nicht, vielleicht sind sie längst jenseits der Grenze. Die
multidirektionalen Migrationen, die von Santa Teresa ausgehen, und die mobilen Identitäten
der hier verkehrenden Subjekte erschweren die Ermittlung, die in den seltensten Fällen
gelingt. Lokalisierung bildet den Grundbaustein staatlicher Kontrolle. Die Migranten aber sind
für die Polizei nicht mehr greifbar, die als ausführendes Organ eines territorial agierenden
Staatsapparats seine Funktion nicht mehr erfüllt, denn, so Gilles DELEUZE und Félix GUATTARI:
L’État, c’est la souveraineté. Mais la souveraineté ne règne que sur ce qu’elle est capable
d‘intérioriser, de s’approprier localement. (DELEUZE/GUATTARI 1980: 445)
Die umherziehenden Subjekte in Santa Teresa stellen die Souveränität des Staatsapparats
infrage, da dieser sie nicht mehr in sich ‚einschließen‘, sie sich nicht mehr zu Eigen machen
kann. Da sowohl die Opfer, als sie noch am Leben sind, als auch die Täter, als sie auf der
Flucht sind, stetig weiterziehen und an keinem Ort dauerhaft verweilen, lassen sie sich im
Sinne von DELEUZE/GUATTARI als Nomaden charakterisieren:
Le nomade […] va d’un point à l‘autre […]. […] même si les points déterminent les trajets, ils
sont strictement subordonnés aux trajets qu’ils déterminent, à l’inverse de ce qui se passe
chez le sédentaire. (DELEUZE/GUATTARI 1980: 471).
Die nomadische Bewegung läuft der territorial gebundenen Macht des (National-)Staates
zuwider, da diese auch auf der Sesshaftigkeit seiner Bewohner beruht. Die Nomaden
26
Vgl. dazu GIORGI (2013: 268f.) der in Bezug auf den vierten Teil von 2666 spricht von einer
„dislocación respecto de los lugares ‘propios’ del cuerpo muerto. [...] sin tumbas, sin cementerios, ni
camposantos, ni mausoleos o necrópolis, sin lápidas ni epitafios; cuerpos desprovistos de rituales por
los cuales la memoria del muerto se fija y se preserva, y donde su estatu social es reafirmado y, por así
decirlo, certificado“.
21
entkommen seinen ‚einschließenden‘ Tendenzen; in der Folge verliert er die Kontrolle über
seine Subjekte, da er sie nicht mehr verorten kann. Dieses transgressive und befreiende
Moment der nomadischen Bewegung27 wird in 2666 aber dadurch gebrochen, dass
(insbesondere die internationale) Migration zum Teil auch unterbunden bzw. reguliert wird
und somit nicht immer so frei stattfindet wie sie erscheint. So ist beispielsweise die Rede von
einem Rekordbrecher, der laut eigenen Angaben 345 Mal versucht, illegal in die USA
einzureisen, ebenso viele Male jedoch von der Migrationsbehörde aufgegriffen und
zurückgeschickt wird (vgl. 2666: 708). Er ist keine Ausnahme. Außerdem mögen die im vierten
Teil dargestellten Migranten zwar (mehr oder weniger bewusst) die Staatsmacht vor
Herausforderungen stellen und die Erosion des Nationalstaats in der Globalisierung durch
Migration und ihre selbstständige Organisationsform weiter vorantreiben, gleichzeitig folgen
sie aber einer anderen Macht: der globalen Ökonomie. Die Migranten, die nach Santa Teresa
kommen, sind angepasst an ein globales Marktsystem, das massenhafte Migrationen geradezu
zu fordern scheint:
[...] los cientos de mexicanos que cada día llegaban en busca de trabajo en las maquiladoras
[...] los sueldos de hambre que se pagaban en las fábricas, [...] esos sueldos, sin embargo,
eran codiciados por los desesperados que llegaban de Querétaro o de Zacatecas o de
Oaxaca, cristianos desesperados, dijo el cura (2666: 474)
Aquí casi todas las mujeres tienen trabajo. Un trabajo mal pagado y explotado, con horarios
de miedo y sin garantias sindicales, pero trabajo al fin y al cabo, lo que para muchas
mujeres llegadas de Oaxaca o de Zacatecas es una bendición. (2666: 710).
Dass die in Santa Teresa gebotenen ‚Hungerlöhne‘ derart begehrt sind, ja geradezu ein Segen
für die ankommenden ‚verzweifelten Seelen‘ aus den armen Bundesstaaten darstellen, legt die
Widersprüche und Asymmetrien der Globalisierung offen; etwas zu begehren bedeutet dabei
nicht, sich frei dafür zu entscheiden. Wie frei ist ihre Wahl wirklich? Die quasi religiöse
Befreiung, die hier mit der Arbeit in einer maquiladora assoziiert wird, spricht eher für die
(innere) Getriebenheit der Massen von migrierenden Subjekten, die sich der Ausbeutung
ausliefern oder ihr ausgeliefert werden. Man könnte also behaupten, dass in der Globalisierung
der Markt etwas deterritorialisiert, was der Staat versucht zu territorialisieren28.
Dennoch treten die Machtinstanz Staatsapparat und die Dynamik des internationalen
Marktes in Santa Teresa nur scheinbar in Konflikt, denn fast gleichzeitig muss hervorgehoben
werden, dass die erschwerte Ermittlung, sowohl was die Identifizierung der Opfer als auch die
Lokalisierung der Täter angeht, in 2666 nicht ohne Ironie beschrieben wird. Davon zeugt zum
einen die frauenfeindliche Charakterisierung der Ermittler zu den feminicidios (vgl. 2666: 501;
689-692). Die verfehlten Ermittlungsversuche der Polizei werden zudem dadurch lächerlich
27
28
Vgl. HARDT/NEGRI (2000: 212), die aus DELEUZE/GUATTARIS Nomadismusmodell ein Protestmodell
machen: „Mobility and mass worker nomadism always express a refusal and a search for liberation:
the resistance against the horrible conditions of exploitation and the search for freedom and new
conditions of life“.
Auch DELEUZE/GUATTARI sprechen diese gegenläufigen Tendenzen von Kerbung durch den Staat und
durch den ‚herkömmlichen Kapitalismus‘ an sowie von Glättung durch das freie Zirkulieren von
Kapital der MNE und den globalen Kapitalismus an (vgl. DELEUZE/GUATTARI 1980: 614).
22
gemacht, dass wichtige Fährten nicht verfolgt werden, die Ermittlungen halbherzig geführt
werden und so fast ausnahmslos ins Leere laufen. Dadurch, dass es lediglich Pro-FormaErmittlungen sind, wird die Exekutive, d.h. die lokale Polizei Santa Teresas zu einer
Scheininstitution. Sie wird selbst zu einem strukturellen Akteur der Straflosigkeit und ist nicht
etwa ein zur Passivität verurteiltes Organ29.
In Santa Teresa gibt es zudem andere Machtinstanzen, die undurchsichtig erscheinen
und dennoch ihre eigenen punktuell wirkungsvollen Gesetze schaffen. Die Polizei kooperiert
mit diesen anderen Machtstrukturen vor Ort, die wirtschaftlicher Natur sind und in Richtung
Drogenökonomie und maquiladora-Industrie weisen. Da letztere zumindest in einigen Fällen
wie den Partyorgien in verlassenen ranchos direkt in die Straftat verwickelt ist, hat die Polizei,
deren Mitglieder zum Teil befreundet sind mit Narcos (z.B. die „compadres“ Pedro Rengifo,
Drogenboss, und Pedro Negrete, Polizeichef, vgl. 2666: 481), also gar kein Interesse an einer
tatsächlichen, wahrhaftigen Aufklärung der Fälle, höchstens an einer erfolgreichen, um die
Öffentlichkeit zu besänftigen. Als zur Unterstützung der örtlichen Ermittler der FBI-Ermittler
Albert Kessler eingeladen wird, wundert dieser sich, dass ihm der lokale Polizeichef Pedro
Negrete nicht vorgestellt wird (vgl. 2666: 756f.). Kesslers Besuch scheint nur für die Medien
und breite Öffentlichkeit inszeniert zu sein, es geht nicht um eine tatsächliche Aufklärung der
Fälle. Dafür spricht auch, dass der Fall, der ermittlungstechnisch einiges ins Rollen bringt und
bei dem die Täter per Selbstjustiz ‚bestraft‘ werden, ausnahmsweise der der Tochter eines
reichen und daher einflussreichen Mannes in Santa Teresa ist (Linda Vázquez, vgl. 2666: 642644; 655f.: „mataron a la hija de un hombre que tenía dinero“). Man kann sich also mit Recht
fragen, ob die Ermittlungen trotz der multidirektionalen Migrationen fruchtbarer sein
könnten, wäre die Polizei eben nicht strukturell beteiligt an der Straflosigkeit30.
Die Polizei agiert in Santa Teresa ohne Verpflichtung gegenüber einem höheren,
einheitlichen, transparenten Recht und wird von niemandem in dieser Hinsicht kontrolliert.
Die Abwesenheit des Staates bedeutet also nicht so sehr die physische Absenz staatlicher
Strukturen, vielmehr deren Verkommen zu Scheinfunktionen und die Abwesenheit eines
gültigen und bindenden Rechts zum Schutz der Bürger. Was ist DELEUZES/GUATTARIS
Staatsapparat also in der Globalisierung? Die Begrifflichkeit der ‚Erosion des Nationalstaats‘ ist
irreführend: in Santa Teresa stehen die (wirtschaftlichen) Interessen der lokalen Behörden in
keinerlei Konflikt zum scheinbaren Machtverlust des ‚Staates‘ (vgl. BURGOS JARA 2010: 462), der
hier sehr wohl noch präsent ist, jedoch zu einem Akteur unter vielen wird und seine Funktion
als Rechts- und Sozialstaat vernachlässigt. Insofern greifen die Erklärungsmuster ‚Korruption‘
und ‚Straflosigkeit‘ hier im Prinzip nicht mehr, da die Abweichung bereits die Norm(alität)
darstellt (vgl. HERLINGHAUS 2013: 231).
29
30
In einem Fall ist sie sogar Akteur der Straftat selbst (vgl. 2666: 624f.).
Hierzu könnte man die ‚Privatermittlungen‘ des Sheriffs Harry Magaña betrachten, der es schafft,
den potenziellen Täter von Lucy Anne Sander zu lokalisieren, dafür jedoch, quasi als Bestätigung der
richtigen Fährte, höchstwahrscheinlich zur Strecke gebracht wird (vgl. 2666: 508-562, mit
Unterbrechungen).
23
Eine kurze Souveränitätskrise der Machttrias Industrie, Narcos und Polizei findet gegen
Ende des vierten Teils statt, als Juan de Dios Martínez durch die Eigentumsverhältnisse des
Viertels El Cerezal auf den plausiblen Verdacht kommt, dass die beiden Drogenbosse Pedro
Rengifo und Estanislao Campuzano in die Frauenmorde verwickelt sein könnten. Danach
findet ein geschlossenes Treffen der mächtigsten Männer Santa Teresas statt, neben Rengifo
und Campuzano sind das auch der Polizeichef Pedro Negrete und der presidente municipal
José Refugio de las Heras (vgl. 2666: 665-667). Von diesem Treffen erfährt man nicht mehr, als
dass es stattfindet und dass aus ihm die Einigung auf einen Sündenbock für den zuletzt
genannten Fall hervorgeht. So wird das Machtgeflecht in Santa Teresa benannt bzw.
aufgedeckt, jedoch nicht transparenter gemacht. Es wird auf die verschiedenen Akteure, auf
die die Macht aufgeteilt ist, hier verwiesen, Klarheit über deren Organisation wird aber nicht
geschaffen. Dadurch dass der Leser vom eigentlichen Gespräch der Machtelite ausgeschlossen
ist, verweist der Roman auf die Exklusivität von ‚Macht‘ und auf ihre systematische Opazität.
In diesem Kapitel ist zum einen deutlich geworden, dass durch die Nomadisierung der
Subjekte, die an keinem Ort mehr dauerhaft verweilen, und durch ihr ständiges Weiterziehen
die halbherzigen, offiziellen Bemühungen der Identifizierung der Opfer und Lokalisierung der
Täter erschwert wird. Der Einfluss des Staates auf die in Santa Teresa verkehrenden Subjekte
schwindet aber nur scheinbar, denn das Transgressive und Freiheitliche dieser Subjekte wird
dadurch eingeschränkt, dass sie der deterritorialisierenden Macht des Marktes gehorchen, in
deren Interesse auch der lokale Staatsapparat Santa Teresas agiert. Trotz der informellen
Netze, in denen die Subjekte verkehren, die auch eine dynamische Verwurzelung ermöglichen,
ist im vierten Teil aber eher der Fokus auf die Subjekte gelegt, die schon im Leben keinem Ort
mehr angehören, durch Migration entwurzelt werden und ihre Identität verlieren.
2.2 DIE PRODUKTIONSBEDINGTE ENTWERTUNG DES INDIVIDUUMS
Todos dejaremos de ser menos que polvo,
mucho menos que aire o que ceniza,
porque todos habremos descendido
al fondo de la nada, muertos sin ataúd.
Efraín Huerta: ¡Mi país, oh mi país! (1959)
In einer Stadt, in der alle mobil sind, sind territorialisiert, d.h. lokalisiert und lokalisierbar nur
diejenigen, die nicht mehr leben (vgl. ESPINOSA 2006: 78f.). Doch inwiefern kann der
identitätslose
Körper
noch
als
Subjekt
bezeichnet
werden?
Der
Prozess
der
Entindividualisierung und Objektivierung der toten Protagonistinnen beginnt bereits im
Leben. Die systematische Anonymisierung und Entwertung des Individuums durchlaufen
mehrere Stadien: Von der Konfiguration des arbeitenden Körpers in der maquiladora über die
24
strukturelle Gewalt, der diese Körper zum Opfer fallen und nach der sie entsorgt werden.
Diese Stadien wollen wir uns in diesem Kapitel genauer ansehen.
Die meisten Frauen, die tot in Santa Teresa aufgefunden werden, haben zuvor in einer
maquiladora gearbeitet. Wenn sie überhaupt Ausweispapiere bei sich tragen, dann sind das die
Firmenausweise einer Fabrik. Für die in Santa Teresa arbeitenden Subjekte stellt die
maquiladora ihr tägliches Umfeld dar, die maquiladora strukturiert ihren Alltag:
[...] todo dependía de los turnos en la maquiladora, que eran flexibles y obedecían a
protocolos de producción que quedaban fuera de la comprensión de los obreros. (2666:
587)
Sólo una de las maquiladoras tenía cantina para los trabajadores. En las otras los obreros
comían junto a sus máquinas o formando corrillos en cualquier rincón. (2666: 449)
Alles hängt von den Schichten in der Fabrik und den Produktionsprotokollen ab, deren
Organisation den Arbeitern aber verborgen oder unverständlich bleibt. Während die
maquiladora im Leben der Arbeiter den entscheidenden Faktor ausmacht, ist die konkrete,
einzelne Person des Arbeiters für die maquiladora unwichtig, wie es zum einen die Tatsache
bezeugt, dass nicht einmal Essen für sie bereitgestellt wird, zum anderen die Unzuverlässigkeit
der Arbeiterverzeichnisse und Arbeiterakten in den maquiladoras:
En la EastWest su ficha de trabajador se había perdido, lo que no era unusual en las
maquiladoras, en donde el trasiego de trabajadores era incesante. (2666: 518)
Über das Verzeichnis könnten mögliche Täter identifiziert und lokalisiert, Opfer identifiziert
werden. Doch die maquiladoras können nicht nachweisen, wer bei ihnen arbeitet oder
gearbeitet hat. Angesichts der hohen Fluktuation (z.B. durch plötzlichen ‚Verlust‘ einer
Arbeiterin) und Anzahl von Arbeitern macht sich anscheinend keiner die Mühe, alle hier
Tätigen einzeln zu registrieren bzw. die Akten zu sortieren und zu konservieren. Oder jemand
hat Zugriff auf die Akten und lässt die entscheidenden Identitäten verschwinden, bevor die
Ermittler sie einfordern.
Dass der Arbeitsplatz keine Verantwortung für seine Arbeiter übernehmen möchte,
zeugt von der ‚Ethik‘ der maquiladoras bzw. ihrer Anti-Ethik, nach der Menschen nur Arbeiter,
ja nur produktive Körper sind, über die man aufgrund ihrer Verfügbarkeit frei verfügen kann.
Diese Anti-Ethik bestärkt die ohnehin schon durch Migration drohende Entkontextualisierung
und Unzugehörigkeit der ArbeiterInnen, für die weder von staatlicher noch von industrieller
Seite jemand aufkommen will und die in Santa Teresa keine (schützenswerten) Individuen
sind, sondern Teil einer anonymen Masse. Die maquiladoras sind strukturell entscheidend für
das Leben der Arbeiter, übernehmen selbst aber keine schützende Funktion für ihre
Mitarbeiter. Versuchen Arbeiter selbst, sich und ihre Kollegen zu schützen und dafür
geeignete Strukturen zu errichten, so wird dies obendrein bestraft:
[…] una de ellas desempleada en el momento de los hechos pues, según le contó a Juan de
Dios, había intentado organizar un sindicato. [...] Me botaron por exigir mis derechos. El
judicial se encogió de hombros. Le preguntó quién se iba a encargar del hijo de María
Estela. Yo, dijo la sindicalista frustrada. (2666: 721f.)
25
Wer eine Gewerkschaft gründen will, wird entlassen, mit Arbeitslosigkeit bestraft. Arbeiten
darf und kann nur wer sich dem rechtsfreien Leben anpasst. Das Zitat beleuchtet zudem noch
einmal, wie indifferent die Polizei gegenüber der Rechtlosigkeit in Santa Teresa ist. In dieser
Grenz- und Industrieregion, wo nichts ‚gratis‘ ist (vgl. 2666: 702), sind alle, was ihre Sicherheit,
was ihr Leben, ihre Familie betrifft, auf sich allein gestellt. Nur informelle Netze funktionieren
noch, was sich daran zeigt, dass die Gewerkschafterin sich um den Sohn ihrer getöteten
Kollegin kümmert.
Die einzige Sicherheit, die in Santa Teresa neben dieser informellen noch besteht, ist die
private Sicherheit, weshalb die wohl reichsten und so auch mächtigsten Männer der Stadt,
Pedro Rengifo, der Drogenboss, und Pedro Negrete, der Polizeichef, die besten Bodyguards
haben (Rengifo hat allerdings noch bessere). Die Opfer aber sind fast ausnahmslos arme und
marginalisierte Mädchen und Frauen, maquiladora-Arbeiterinnen, für die außer vielleicht ihrer
ebenso entmachteten Familie niemand ein Interesse daran hat, sich für sie einzusetzen, sie zu
schützen. Sie sind ‚nützlich‘ als produktive Körper, darüber hinaus wird ihnen kein Wert als
Mensch beigemessen (vgl. ROJAS/LÓPEZ DE ABAIDA 2012: 195). In Santa Teresa regiert das
Kapital, weshalb nur Reiche eine politische Identität haben, ein Leben, das geschützt wird, am
besten in den USA.
Der entrechtete und entmachtete Status der toten Protagonistinnen ist in vielen
Arbeiten zu 2666 der Anlass, den vierten Teil von 2666 mit Giorgio AGAMBENS Homo sacerKonzept in Verbindung zu bringen (vgl. BURGOS JARA 2010; ROJAS/LÓPEZ DE ABAIDA 2012;
GIORGI 2013). Tatsächlich entbehren die toten Protagonistinnen ähnlich wie AGAMBENS
homines sacri jeglicher politischer Identität, sie werden getötet, ohne dass ihr Mörder dafür
bestraft wird31. Nach AGAMBEN hat sich der Nationalstaat im Zuge der Erklärung der
Menschenrechte für den Schutz des menschlichen Lebens zuständig erklärt: „Die Erklärung
der Menschenrechte stellt die originäre Figur der Einschreibung des natürlichen Lebens in die
juridisch-politische Ordnung des Nationalstaates dar“ (AGAMBEN 2002: 136). Dadurch, dass der
moderne Nationalstaat erstmalig auch das nackte, d.h. das natürliche Leben (nicht nur das
politische Leben) in seine Verfassung aufnimmt, bindet dieser den Schutz dieses Lebens an
seine Territorialität und schließt damit unzugehörige Staatenlose und Flüchtlinge von diesem
Schutz aus (vgl. AGAMBEN 2002: 140). Diese fatale Doppelbödigkeit im System, die AGAMBEN
diachron vom römischen Recht bis zur Erklärung der Menschenrechte durch die Vereinten
Nationen aufarbeitet, lassen sich bedingt auf die fiktionale Situation in Santa Teresa
übertragen. Doch die Exklusivität eines würdigen Lebens, die Straflosigkeit und Rechtsfreiheit
betreffen hier längst nicht nur Staatenlose, sondern auch deterritorialisierte mexikanische
Staatsbürger auf mexikanischem Staatsgebiet. Auch wenn es angesichts einer globalisierten
Weltordnung und durch diverse Migrationen infrage gestellt wird, geht AGAMBEN immerhin
von einem, wenn auch territorial begrenzten, geltenden Recht aus. Dieses Recht wird in
31
Die Definition des homo sacer wird von AGAMBEN auf die folgende Formel gebracht: „homo sacer, der
getötet werden kann, aber nicht geopfert werden darf“ (AGAMBEN 2002: 18) [Kursiv im Original].
26
Mexiko spätestens in der Globalisierung und zumindest in der Industrie- und Grenzregion
aber, wo der Nationalstaat keine alleinige Souveränität mehr genießt und in der Santa Teresa
sich verortet, zur Farce, zu einem leeren Mechanismus ohne Folgen.
Aus den durch den Globalisierungsprozess prekären Lebens- und Arbeitsbedingungen in
Santa Teresa ergeben sich einige Überlegungen zu den Frauenmorden32, deren unberuhigender
und außerordentlicher Charakter ja, so 2666, gerade in ihrer ‚Modernität‘ begründet liegt bzw.
darin, dass sie in irgendeiner Weise mit der modernen Welt zu tun zu haben scheinen (vgl.
2666: 675). Dennoch ist Santa Teresa nicht gleichzusetzen mit den feminicidios, selbst wenn
diese in 2666 eine prominente Rolle spielen, ebenso wie die Lebens- und Arbeitsbedingungen
auch für die lebendigen Figuren in Santa Teresa gelten, wenngleich sie keine Protagonistinnen
in 2666 sind. Dass die maquiladoras indirekte Opfer fordern, wird angedeutet33. Auch wenn
das Wort Globalisierung selbst nicht fällt (eher ist die ‚Moderne‘ die Zielscheibe), ergibt sich so
doch eine Korrelation zwischen Globalisierung und den feminicidios, die Globalisierung bietet
die Umstände oder Bedingungen für die feminicidios. Im Folgenden wollen wir uns diese
Verbindungslinie genauer ansehen.
Wie wir bereits sehen konnten, wird den Frauen in Santa Teresa keine Sicherheit durch
den Staat oder ihren Arbeitsplatz geboten. Wie Yolanda Palacio, die Beauftragte für Sexuelle
Delikte in Santa Teresa, berichtet, ist Vergewaltigung in Santa Teresa an der Tagesordnung
(vgl. 2666: 704). Unter den ermittelnden Polizisten ist es bezeichnenderweise eine ungeklärte
Frage, ob es rein definitorisch in der Ehe Vergewaltigung geben kann (vgl. 2666: 548f.). Auch
die bereits erwähnten Frauenwitze der Polizisten illustrieren den allseits präsenten machismo
in Santa Teresa. In dem durch Globalisierung bedingten Klima der Schutzlosigkeit der v.a.
weiblichen Subjekte scheint eine machistisch motivierte Straftat geradezu begünstigt. Es
scheint, dass die Straflosigkeit die Straftat logisch bedinge, sie wird zum Antrieb, zu einem
motivierenden Umstand34.
Unter den effektiven Folgen von Globalisierung ergibt sich aber auch ein neues Motiv,
denn
Globalisierung
strukturiert
die
existenten
Familiensysteme
um.
Durch
die
Arbeitsmöglichkeiten brauchen viele Frauen, wirtschaftlich betrachtet, keinen Mann mehr. Sie
erstarken:
32
33
34
Im Hinblick auf die realen Frauenmorde von Cd. Juárez durchaus legitime Überlegungen: Vgl. dazu
MONÁRREZ/BEJARANO (2010: 46; 63f.), die in den prekären Bedingungen der maquiladoraArbeiterInnen, in ihrer Austauschbarkeit und Unsichtbarkeit als Arbeitskraft sowie ihrer
Instrumentalisierung zur Profit- und Effizienzsteigerung, kurzum in den Globalisierungstendenzen
die idealen Umstände für die feminicidios sehen.
Vgl. „[...] la maquiladora EMSA, una de las más antiguas de Santa Teresa, que no estaba en ningún
parque industrial sino en medio de la colonia La Preciada, como una pirámide de color melón, con su
altar de los sacrificios oculto detrás de las chimeneas y dos enormes puertas de hangar por donde
entraban los obreros y los camiones“ (2666: 564). Vgl. auch HERLINGHAUS (2013: 215-217), der unter
den Motiven der feminicidios auch die (im Roman nicht ganz geklärte) Rolle der maquiladoras nennt.
Vgl. GONZÁLEZ RODRÍGUEZ (2002: 62), der von der Straflosigkeit als Aphrodisiakum für (potenzielle)
Täter spricht.
27
[...] ya no creía en la palabra de los hombres y trabajó duro e hizo horas extra y llegó
incluso a vender tortas a sus propias compañeras de trabajo, [...] hasta que tuvo dinero
suficiente para alquilar una casita en la colonia Veracruz (2666: 504)
Para qué queremos un hombre si nosotras solas ya trabajamos y nos ganamos nuestro
sueldo y somos independientes? (2666: 586)
Estrella quería saber cosas de computadoras, quería aprender, quería progresar (2666: 588)
Die Geschäftstüchtigkeit der hier porträtierten Frauen (Mütter, Freundinnen von Opfern bzw.
im Falle von Estrella selber Opfer) in Santa Teresa führt zu ihrer Unabhängigkeit. Doch ihre
Emanzipation macht sie paradoxerweise wieder verwundbar: Die Unabhängigkeit der Frauen
führt in eine Maskulinitätskrise (vgl. HERLINGHAUS 2013: 222), die zu einem mögliches Motiv
für einen Frauenmord wird. Häusliche Gewalt geht eben nicht (nur) auf ein individuelles,
häusliches Motiv zurück, sondern basiert auf einem größeren Problem, auf einem
strukturellen, durch die Logik der Globalisierung bedingten Problem35. Genau dieses wird von
Seiten der Ermittlung zu vertuschen versucht und man ermittelt auf der Suche nach einem
(individuellen) Sündenbock mit individuellem Tatmotiv (oft genug erfolgreich) in Richtung
eines eifersüchtigen Ehemannes oder Freundes (vgl. BURGOS JARA 2010: 467f.). Auch die Suche
nach einem Serienmörder versucht, singuläre Individuen für die Gewalt verantwortlich zu
machen. Dennoch weist der vierte Teil durch seinen katalogisierenden Charakter ja gerade auf
analoge körperliche Spuren der Gewalt und Vergewaltigung hin, die implizieren, dass es sich
hier nicht um Einzeltaten handelt, sondern dass die Frauen die immer gleiche Struktur von
Gewalt erfahren. Tat und Täter bleiben abgesehen von einigen Emblemen wie dem PeregrinoAuto im vierten Teil weitestgehend absent und bilden eine Leerstelle in der Erzählung, ebenso
wie der Akt der Vergewaltigung und Tötung, die ultimative Unterwerfung des Anderen, sein
Objekt-werden, ausgespart bleiben. Ebendiese Leerstelle lässt die Deutung zu, dass die Frauen
Opfer eines anonymen Systems und einer strukturellen Gewalt werden.
Im Tod spitzen sich all die genannten Tendenzen zu. Dafür spricht, wie und wo die
Frauenleichen von den Tätern ‚zurückgelassen‘ werden:
El último día de marzo unos niños pepenadores hallaron un cadáver en el basurero El
Chile, en un estado de descomposición total. Lo que quedaba de él fue trasladado al
Instituto Anatómico Forense de la ciudad (2666: 686)
Kinder, die auf und von der Müllhalde El Chile leben, finden eine schon vollständig verweste
Leiche, vermutlich eine von ihrem Mörder hier ‚entsorgte‘ Frau. Die Symbolik dieses Aktes ist
fast
allzu
evident
und
ihr
Lebensweg
steuerte
schon
darauf
hin:
Entwertete,
entkontextualisierte Subjekte, also in ihrem Leben verfügbare, anonyme, produktive, nützliche
Körper werden zu verderblichen Körpern ohne persönliche Geschichte, zu anonymen
Objekten der Betrachtung und schließlich zu einem unproduktiven und unnützen
Abfallprodukt. An einem Ort, wo der Mensch lediglich nach seiner Nützlichkeit bewertet wird
35
Diese Korrelation von wirtschaftlicher Unabhängigkeit und misogyner Gewalt lässt sich wiederum
durch die ‚Realität‘ bestätigen: Die Wahrscheinlichkeit häuslicher Gewalt ist höher unter
maquiladora-Arbeinnen als unter Hausfrauen (vgl. STAUDT/ROBLES 2010: 76).
28
und sein einziger Wert darin besteht, ein Mittel zu sein, wird er, beim Wegfall dieses Wertes,
unweigerlich zu Müll. Er ist nur noch körperliche Masse, die entsorgt werden muss:
No tenía papeles que facilitaran su identificación y nadie acudió a reclamar el cadáver, por
lo que su cuerpo fue enterrado, tras una espera prudencial, en la fosa común. (2666: 631)
Cuando finalmente llegó el informe forense [...] ya nadie se acordaba de la desconocida, ni
siquiera los medios de comunicación, y el cuerpo fue arrojado sin más dilaciones a la fosa
común. (2666: 650)
Immer wieder betonen Figuren im vierten Teil, dass in Santa Teresa fast Vollbeschäftigung
herrscht, dass dies eine moderne, aufstrebende Stadt sei. Doch wo der (weibliche) Körper zum
Opfer von Gewalt und Vergewaltigung wird (nicht zuletzt auch in der Prostitution, wo er als
Ware gehandelt wird, oder in der snuff- und Porno-Industrie) sowie als austauschbarer
produktiver Körper in der Fabrik gehandelt wird, verkommt das Subjekt zum Objekt, das
zudem schnell in Vergessenheit gerät. All dies geschieht auf verstörende Weise in einem
Gebiet der ökonomischen ‚Liberalisierung‘, des Fortschritts und der vermeintlichen
Emanzipation.
2.3 DAS STADTBILD SANTA TERESAS IM ZEICHEN VON SEGREGATION UND EIGENSTÄNDIGER
TRANSFORMATION
Santa Teresa, „un puzzle que se hacía y se deshacía a cada segundo“ (2666: 752), ist eine Stadt,
die sich in ständigem Wandel befindet. Santa Teresa, ein „paisaje fragmentado o en proceso de
fragmentación constante“ (2666: 752) ist eine junge Stadt, die sich in jeglicher Hinsicht, sozial
und räumlich, neu strukturiert, neu gestaltet und durch den ständigen Zufluss der Migranten,
die wiederum durch die maquiladoras und die EPZ angezogen wurden, verändert. Santa
Teresa, „ese caos abandonado“ (2666: 752), ist eine Stadt, in der sich globale Tendenzen der
Migration und Urbanisierung verdichten.
Gemäß der Fokussierung des vierten Teils von 2666 auf die Marginalisierten und
Verwundbaren der globalisierten Gesellschaft wird auch in diesem Kapitel der Fokus auf der
unteren sozialen Schicht der Migranten und maquiladora-ArbeiterInnen liegen und ihrem
Lebensraum, der urbanen Peripherie. Wie manifestieren ihre Lebensbedingungen und die
Machtverhältnisse sich im (dafür emblematischen) Raum und inwiefern erschafft der Raum
bestimmte Lebensformen und -bedingungen? Dieses Kapitel möchte dabei zwei scheinbar
gegenläufige Tendenzen der ‚Architektur‘ Santa Teresas herausarbeiten: zum einen die durch
Globalisierung
bedingte räumlich-soziale Segregation,
zum
anderen eine innerhalb
bestimmter Stadtteile entstehende, anarchisch anmutende Eigendynamik, die zur ständigen
Transformation des urbanen Raumes führt.
Es gibt klare Anzeichen, welcher sozialen Schicht Santa Teresas ein Bewohner
zuzuordnen ist, betrachtet man die colonia, die er bewohnt oder die Art und Weise, wie er sich
in der Stadt fortbewegt: „si tiene coche, no creo que viva en la Kino“ (2666: 465). Die colonia
Kino ist eine der vielen colonias Santa Teresas, in der die Bewohner so arm sind, dass sie sich
29
kein Auto leisten können und daher eindeutig der „clase peatonal“ angehören: „la clase
peatonal, siendo algunos tan pobres que para dirigirse al trabajo ni siquiera tomaban el
autobús, prefiriendo hacer a pie el camino y así ahorrarse unas pocas monedas“ (2666: 661). Sie
versuchen sogar, auf öffentliche Verkehrsmittel zu verzichten und nur zu Fuß zu gehen. Selbst
mit öffentlichen Verkehrsmitteln aber sind die Distanzen innerhalb der Stadt enorm groß, die
Anbindung ans Zentrum von den peripheren colonias aus prekär:
Caminó tres cuartos de hora hasta la colonia Madero, en donde esperó media hora la
llegada del autobús Avenida Madero-Avenida Carranza. Se bajó en la colonia Carranza y
caminó en dirección norte, atravesando la colonia Veracruz y la colonia Ciudad Nueva
hasta llegar a la avenida Cementerio, desde donde caminó en línea recta hacia su casa de la
colonia San Bartolomé. En total, más de cuatro horas. (2666: 640)
Die Infrastruktur Santa Teresas gestaltet sich derart, dass man nur mit dem Auto schnell durch
die Stadt kommt. Die Fußgängerklasse ist im Hinblick auf ihre eingeschränkte Mobilität
marginalisiert. Somit sind die ehemals mobilen Migranten innerhalb von Santa Teresa zu
relativem Stillstand verurteilt.
Mit dem Auto hingegen lassen sich weite Teile der Stadt schnell durchziehen und
überblicken, wie es an den diversen ‚Außenperspektiven‘ der Besucher der Stadt deutlich wird.
Neben den vier Kritikern im ersten Teil ist das zum einen der FBI-Ermittler Kessler, der sich
bei seinem mehrtägigen Besuch in Santa Teresa stundenlang zunächst mit dem Taxi, dann mit
einem Polizeiwagen durch die ärmsten Stadtviertel fahren lässt. Kessler möchte der
Geographie der Stadt36 genauer auf den Grund gehen und die Orte besuchen, an denen die
meisten Frauenleichen gefunden werden. Nach seinen von Exotismus nicht ganz freien
Spritztouren durch die Elendsviertel kommt Kessler zu folgendem Schluss, den er in der
Pressekonferenz verkündet:
Caminar por estas calles, a plena luz del día, dijo a la prensa, da miedo. Quiero decir: a un
hombre como yo le da miedo. Los periodistas, ninguno de los cuales vivía en aquellos
barrios, asintieron. (2666: 756)
Am helllichten Tag zu Fuß durch die Viertel, in denen die clase peatonal wohnt und die
Kessler durch die Fensterscheibe des Autos betrachtet, zu laufen, bereite ihm, so Kessler,
Angst, so gefährlich seien sie. Die Journalisten, die vermutlich selbst nie in diesen Vierteln
zugegen sind, in jedem Fall nicht in ihnen wohnen, stimmen ihm in ihrem Unwissen zu. Dass
die Viertel, in denen die Bewohner kein Auto haben, für ‚Externe‘, also Angehörige einer
anderen Schicht, nicht begehbar sind, ist eine absurde Asymmetrie, die von der Gespaltenheit
der Gesellschaft Santa Teresas zeugt, von der Zwei-Klassen-Gesellschaft, die sich in räumlicher
Segregation widerspiegelt. Kessler ist sich dessen bewusst, indem er hinzufügt, dass sie
jedenfalls nicht für Menschen wie ihn, für Menschen seiner sozialen Schicht oder für USAmerikaner, zu Fuß begehbar seien.
Die Wahrnehmung der Stadt ist also an eine spezielle Perspektive gebunden. Eine
weitere Außenperspektive ist die Fates aus dem dritten Teil, der sich bei seiner Ankunft in
36
Vgl. dazu Bolaños Skizze vom fiktiven Santa Teresa (Abbildung 2 im Anhang).
30
Santa Teresa in der Stadt orientieren möchte, aber nirgendwo einen Stadtplan des ständig im
Wandel begriffenen Santa Teresa und seines „trazado anárquico“ (2666: 452) auftreiben kann
(vgl. 2666: 345). Als er das erste Mal durch die Peripherie der Stadt fährt, hat er
dementsprechende, überraschende und ungeplante Eindrücke:
Cruzaron un barrio periférico a través de una telaraña de calles sin asfaltar y sin alumbrado
eléctrico. Por momentos, después de rodear potreros y lotes baldíos donde se acumulaba la
basura de los pobres, uno tenía la sensación de que estaban a punto de salir a campo
abierto, pero entonces volvía a surgir otro barrio, esta vez más antiguo, de casa de adobe,
alrededor de las cuales habían crecido chamizos hechos con cartón, con planchas de zinc
[...] (2666: 347f.)
Die peripheren barrios scheinen nicht zu enden: Gerade wenn man denkt, nun ende die Stadt,
erscheint ein neues barrio ohne Beleuchtung und mit unbefestigten Straßen. Die
Beschaffenheit des Bodens ist meist das entscheidende Indiz für die Zuordnung zum reichen
oder armen Teil der Stadt: Asphaltierte Straßen finden sich ausschließlich in entwickelten,
wohlhabenden Vierteln37, calles de tierra hingegen sind ein Zeichen für das auch sonstige
Fehlen von Infrastruktur (öffentliche Beleuchtung, Elektrizität, Müllabfuhr, Abwasserkanäle,
fließendes Wasser usw.) in den peripheren Gebieten. Gebiete, die dennoch dicht wie ein Netz
bebaut sind. So lautet es an anderer Stelle: „sobresalían los techos de las casuchas“ (2666: 449).
Die prekären Häuser oder Hütten überschlagen sich, wuchern wie Unkraut, multiplizieren
sich. In einigen colonias kann dabei durchaus ein alter Stadtkern vorhanden sein: Davon zeugt
im obigen Zitat el adobe, der Lehm, ein dauerhaftes Material, das im Kontrast steht zu den aus
Zink und Pappkarton gebauten Häusern, denen ihre Zeitlichkeit und Fluktuation bereits
materiell eingeschrieben ist. Letztere scheinen spontan gewachsen zu sein, nicht für die Dauer
zu bestehen. Sie spiegeln die ständige Transformation der Stadt und die Mobilität ihrer
Bewohner wider, meist Migranten, die diese prekären Behausungen oft selbst gebaut haben:
„una casa que el mismo padre construyó con cartones y ladrillos sueltos y trozos de zinc“
(2666: 503). Man könnte den Selbstbau ihrer Behausung wie eine Freiheit betrachten, als
eigene Gestaltung und Organisation ihres Lebensraumes38. Doch nicht zuletzt dadurch, dass
die meisten ‚Funde‘ des vierten Teils in ebendiesen Vierteln stattfinden, ist es keine positive
Freiheit. Die Bewohner dieser anarchisch anmutenden Viertel, über die viel geredet und vor
37
38
Oder im Industriegebiet, was dafür spricht, dass Entwicklung und Zivilisation an Kommerz und
Industrie gebunden sind: „Los seis caminos estaban pavimentados y confluían en el Parque Industrial
Arsenio Farrel“ (2666: 737).
Vgl. dazu RIBBECK (2002: 66): „Ob von Slums, Hütten- oder Stadtrandsiedlungen, von ungeplanten,
improvisierten, spontan irregulären oder informellen Siedlungen die Rede ist, immer enthält schon
die Terminologie eine bestimmte Sichtweise: die Armut der Bewohner, die räumliche und soziale
Marginalisierung, die Behelfsmäßigkeit der Bauten, die planlose Gründung, die Ungesetzlichkeit der
Landnahme, die Abweichung vom geltenden Planungs- und Baurecht. Noch in den 70er Jahren
galten die ungeplanten Siedlungen in den Städten der ‚Dritten Welt‘ fast durchweg als Slum, Elendsoder Marginalsiedlung […]. Das explosive Stadtwachstum der 70er Jahre überrollte aber diese
Sichtweise. Plötzlich wurde die positive Seite des improvisierten Bauens entdeckt, bis hin zu
euphorischen Beschreibungen des kreativen Potenzials, das man in den Spontansiedlungen
vermutete“. Ein rezentes Beispiel dieser ‚Idealisierung‘ bildet Doug SAUNDERS (2011), Arrival City: How
the Largest Migration in History is Reshaping Our World, Toronto: Knopf.
31
denen viel gewarnt wird, sind stigmatisiert und im ökonomischen wie im politischen Sinne
sich selbst überlassen.
Die entsprechenden colonias befinden sich zudem oft in unmittelbarer Nähe zur USamerikanischen Grenze:
[...] los barrios que lindaban con la frontera, la colonia México, justo al lado de El Adobe,
que ya era Estados Unidos, [...] la colonia México y su avenida principal permanentemente
sometida a los atronadores ruidos de los camiones y los coches que se dirigían al cruce
fronterizo [...] (2666: 751)
[…] un descampado desde donde se podía ver Arizona y los caparazones de las
maquiladoras del lado mexicano y las carreteras de terracería que conectaban éstas con la
red de carreteras pavimentadas. (2666: 467)
Die Nähe zu den USA ist nicht nur visuell spürbar. Im ersten Zitat wird sie auch sprachlich
deutlich: In einem Satz ist man erst in Mexiko und dann plötzlich schon in den USA, die
sprachliche Kontiguität lässt die räumliche erahnen. Die grenznahe colonia México ist direkt
neben El Adobe gelegen. Beide Orte tragen interessante Namen: Der ‚letzte‘ Ort in Mexiko, als
ärmlich und chaotisch beschrieben, heißt (vielleicht synekdochisch) México, während El
Adobe trotz der unmittelbaren Nähe Welten entfernt zu sein scheint, denn die entwickelte
und reichere US-amerikanische Zwillingsstadt heißt adobe, was von der Beständigkeit des
Ortes, von seiner Dauerhaftigkeit zeugt. Dass die beiden grundverschiedenen Orte trotz ihrer
Trennung durch die Grenze dennoch miteinander verbunden sind, zeigt der nie endende
Grenzverkehr und sein Lärm, dem die Bewohner insbesondere der colonia México Tag und
Nacht ausgesetzt sind und der wohl in großen Teilen durch die Transporte der MNEs zustande
kommt. Aus Santa Teresa gehen ungepflasterte Straßen direkt über in das gepflasterte Netz
der USA und so werden die Asymmetrien der Globalisierung und die Selektivität des
Fortschritts
deutlich39:
Globalisierungsmaßnahmen,
Nicht
die
alle
zu
profitieren
großen
gleichermaßen
Unterschieden
zwischen
von
den
den
beiden
Nachbarländern führen, die sich in Santa Teresa direkt gegenüber stehen.
In den „gottverlassenen“ Vierteln (2666: 752) auf mexikanischer Seite, in die nicht einmal
die Polizei sich traut (vgl. 2666: 756), herrschen zudem oft lebensbedrohliche Bedingungen:
El Obelisco, que ni era propiamente un poblado ni tampoco llegaba a colonia de Santa
Teresa y que era más bien un refugio de los más miserables entre los miserables que cada
día llegaban del sur de la república y que allí pasaban las noches e incluso morían, en
casuchas que no consideraban sus casas sino una estación más en el camino hacia algo
distinto o que al menos los alimentara. Algunos no lo llamaban El Obelisco sino el
Moridero. (2666: 628)
39
Hier werden die Parallelen zum realen Cd. Juárez wieder überaus evident, vgl. GONZÁLEZ RODRÍGUEZ
2002: „Ciudad Juárez resiente la asimetría económica de los dos países“ (29). Dabei könnte das im
Folgenden beschriebene Viertel das reale Pendant zur colonia México sein: “Lomas de Poleo es un
asentamiento paupérrimo de Ciudad Juárez, [...] su territorio consta de brechas que curvean la
desolación y decora un mar de bolsas de plástico errátiles [...] La gente habita casas construidas con
desechos, trozos de madera, lámina de metal o asbesto, alguna puerta metálica. [...] Desde Lomas de
Poleo se observan las construcciones sólidas, el verdor, la tecnología esplendente que rodea a El Paso,
Texas“ (25).
32
Ein Viertel, das einem (lebendigen) Friedhof gleicht. Es wird erwähnt, als gefragt wird: „En qué
otro lugar de Santa Teresa podía haber niñas de diez años que nadie reclamara?“ (2666: 629).
El Obelisco, auf der untersten Stufe der urbanen Hierarchie, hat nicht einmal den Status einer
colonia, es ist ein Auffanglager für Migranten, für die El Obelisco nur eine weitere Station ihres
‚Hungerweges‘ ist, die aber gleich wieder sterben, anstatt ein neues Leben zu beginnen. An
diesem Ort sind ein Identitätsverlust und der frühe Tod, auch von Kindern, geradezu
vorprogrammiert.
Diese tödliche Geographie Santa Teresas wird deutlich in diversen Beschreibungen der
peripheren und teils informellen Spontansiedlungen, aber auch immer wieder in den
detaillierten Beschreibungen der illegalen Müllhalde El Chile:
El basurero no tiene nombre oficial, porque es clandestino, pero sí tiene nombre popular:
se llama El Chile. Durante el día no se ve un alma por El Chile ni por los baldíos aledaños
que el basurero no tardará en engullir. Por la noche aparecen los que no tienen nada o
menos que nada. [...] los seres humanos que pululan solitarios o en pareja por El Chile [...]
son escasos. Su esperanza de vida, breve. Mueren a lo sumo a los siete meses de transitar
por el basurero. (2666: 466)
Die illegale Müllkippe erscheint wie ein Ungeheuer mit Eigenleben, das wächst und
umliegende Brachflächen verschlingt sowie Müllsucher hervorbringt, die sich quasi
symbiotisch mit dem Müll vereinen und daran bald sterben, ähnlich wie in El Obelisco.
Privates Leben, Industrie und Müll lassen sich in Santa Teresa nicht trennen. Schon im
vorangegangenen Kapitel wurde eine Stelle aus 2666 besprochen, in der eine Frauenleiche auf
El Chile gefunden wird. Das folgende Zitat beleuchtet, was sich noch alles hier findet:
En el basurero donde se encontró a la muerta no sólo se acumulaban los restos de los
habitantes de las casuchas sino también los desperdicios de cada maquiladora. (2666: 449)
Auf der illegalen Müllhalde, die größer ist als die offizielle Müllhalde (vgl. 2666: 752) treffen
sich industrieller und kommerzieller Müll der maquiladoras mit privatem Müll und
menschlichem Leben, tot oder lebendig. Die Handhabung von Müll in Santa Teresa ist wohl
die umfassendste Metapher für die globalisierten Lebensbedingungen in dieser Stadt.
Öffentliche Entsorgungsdienste in der Stadt sind rar und wer es sich leisten kann, engagiert
private Dienste. Die niedrigsten der Niedrigen aber haben keine Entsorgungsdienste, im
Gegenteil, sie versorgen sich selbst mit Müll. Müll als Nutzloses, als Unverwertbares,
Wertloses, als Unproduktives steht im größten Kontrast zur sonstigen Konzentrierung auf
utilidad und Kapitalisierung in dieser Region, ist gleichzeitig aber unabdingbare Folge der
Produktion. Wo alles sich um Produktivität und Effizienz dreht, sind verwüstete und enorme
Müllhalden die Folge, Müllhalden, auf denen sich Privates und Öffentliches nicht mehr
trennen lassen, Müllhalden, die zu Friedhöfen werden und auch zum Bestandteil der
Geographie. Sie schreiben sich irreversibel in die Architektur ein, wie es sich am cerro Estrella
bemerkbar macht, einem Hügel, der aus Müll besteht, aus der Ferne aber wie ein natürlich
gegebener Berg aussieht (vgl. 2666: 386; 747).
33
Die Reaktion der örtlichen Behörden, die Müllhalde abzutragen, macht die Übermacht
des Informellen überaus deutlich:
El alcalde de Santa Teresa decretó el cierre del basurero, aunque luego cambió la orden de
cierre (su secretario le informó sobre la imposibilidad jurídica de cerrar algo que, a todos
los efectos, nunca se había abierto) por la orden de demolición, traslado, destrucción de
aquel sitio infecto en donde se infringían todas las leyes municipales. Durante una semana
se mantuvo una vigilancia policial en las fronteras de El Chile y durante tres días unos
pocos camiones de basura, auxiliados por los dos únicos camiones volquete de propiedad
municipal, estuvieron trasladando los desechos hacia el basurero de la colonia Kino, pero,
ante la magnitud del trabajo y la escasez de fuerzas para acometerlos, pronto cedieron.
(2666: 581)
Santa Teresa wird längst nicht mehr vertikal organisiert, durch den Eingriff von Institutionen,
sondern horizontal, durch die informelle Selbstorganisation der Massen. Die anarchische
Eigendynamik der Stadt wird spätestens dann deutlich, als die Behörden sich gezwungen
sehen zu handeln, über die Dimensionen des abandono aber längst die Kontrolle und den
Überblick verloren haben. Sie kommen weder rechtlich noch konkret hinterher, soweit ist es
schon fortgeschritten, so sehr haben sich die Vorgänge schon entfesselt von den steuernden
Institutionen. Die Bestrebungen, die Müllhalde zu schließen, sind angesichts des Ausmaßes
völlig unrealistisch und kommen Scheinmaßnahmen gleich.
In der Geographie Santa Teresas, seinem Stadtbild, in der Beschaffenheit des Raumes,
zum Teil ganz buchstäblich des Bodens, manifestieren sich die Verhältnisse von Macht und
Subjekt in der Globalisierung, die Scheinfreiheit der Migranten und maquiladoraArbeiterInnen, ihre Ausgrenzung und (unfreiwillige) Selbstständigkeit. Dass die Tendenzen
der Globalisierung keine rein homogenisierenden sind, wurde in diesem Kapitel überaus
deutlich: Die Grenzen zwischen Arm und Reich sind nach wie vor deutlich vorhanden und
markiert. Das Neue aber ist, dass sie sich auf dem engsten urbanen Raum befinden, sich
räumlich annähern, globale und nationale Asymmetrien an ein und demselben Punkt sichtbar
werden. Dafür steht die spontane ‚Architektur‘ Santa Teresas paradigmatisch ein.
2.4 DIE METAPHYSIK DER GLOBALISIERUNG: WÜSTE UND VERWÜSTUNG
The city […] is only the desert in disguise.
Thomas Pynchon: V. (1963)
Wenn wir bislang über die räumlichen Transformationen im urbanen Raum Santa Teresas
sprachen,
dann
war
damit
immer
impliziert,
dass
diese
in
irgendeiner
Weise
menschengemacht sind. Der Mensch verändert den Raum beispielsweise durch Siedlungsbau
oder durch den Müll, den er produziert. Schaut man sich aber an, welche räumliche
Beschaffenheit diesen raumtransformierenden, auch verwüstenden Praktiken zugrunde liegt,
dann ändert sich die unilaterale Wirkung des Menschen auf seine Umwelt. In den Leerstellen,
die meist Fundorte sind, kommt eine bestimmte Natur zum Vorschein, auf die der urbane
34
Raum Santa Teresas gebaut ist: die Wüste. Wir wollen uns diese ‚ökologischen Bedingungen‘
Santa Teresas, die Spezifizität der ‚Natur‘, auf denen die Industrialisierung und Globalisierung
fußen, genauer ansehen:
Amalfitano pensó que la naturaleza del noroeste de México, en aquel lugar preciso de su
jardín quebrantado, era más bien exigua. Una mañana, mientras esperaba el autobús que lo
llevaría a la universidad, se hizo el firme propósito de plantar césped o pasto, y también de
comprar un arbolito ya un poco crecido en alguna tienda dedicada a tal menester, y de
plantar flores a los lados. Otra mañana pensó que cualquier trabajo que se tomara
encaminando a hacer más grato el jardín resultaría a la postre inútil, puesto que no
pensaba quedarse mucho tiempo en Santa Teresa. (2666: 252)
Die Reflexionen des Neuankömmlings Amalfitano über die Geographie Santa Teresas sind
erhellend: Der Versuch, hier einen Garten anzubauen, scheitert. An einem Tag möchte er
gegen den Widerstand, den die hiesige karge Natur gegen ihre Domestizierung zu leisten
scheint, angehen, indem er Bäume und Gräser pflanzt. Doch der Versuch, im wahrsten Sinne
des Wortes Wurzeln zu schlagen, wird von Amalfitano an einem anderem Tag wieder
verworfen oder scheitert, da er nicht vorhat, hier tatsächlich sesshaft zu werden. Warum? Liegt
es an seinem (von seinem derzeitigen Aufenthaltsraum unabhängigen) Vorhaben, nirgendwo
dauerhaft zu verweilen oder ist es die natürliche Beschaffenheit des Grund und Bodens, auf
dem sein neues Haus steht, welche ihn zur Aufgabe zwingt? Die Natur des Raumes, in dem er
sich verortet, derzeit aufhält, begünstigt keine Sesshaftigkeit. Weiter lauten seine
Gedankengänge:
[...] ¿qué me impulsó a venir aquí? ¿Por qué traje a mi hija a esta ciudad maldita? ¿Porque
era uno de los pocos agujeros del mundo que me faltaba por conocer? Porque lo que deseo,
en el fondo, es morirme? (2666: 252)
Die tödliche Geographie Santa Teresas, von der im vorangegangenen Kapitel die Rede war,
beschränkt sich keineswegs nur auf die allerärmsten barrios der Stadt, sondern wird auch von
Mittelklässlern wie Amalfitano so wahrgenommen. Santa Teresa erscheint wie ein oder der Ort
zum Sterben. So denkt auch Lalo Cura angesichts der scheinbar unendlichen Wüste, die Santa
Teresa umgibt:
Vivir en este desierto, pensó Lalo Cura mientras el coche conducido por Epifanio se alejaba
del descampado, es como vivir en el mar. La frontera entre Sonora y Arizona es un grupo de
islas fantasmales o encantadas. [...] El desierto es un mar interminable. Éste es un buen
sitio para los peces, [...] no para los hombres. (2666: 698)
Die Wüste als ein immenses Meer: In literaturhistorischer Perspektive ist dies keine neue
Metapher, dennoch verdeutlicht die Metapher an dieser Stelle, dass die Wüste ein
menschenfeindlicher Raum ist. Das sesshafte Menschengeschlecht gehört nicht hierher,
höchstens bewegliche Fische, denn in der Wüste kann man keine Wurzeln schlagen. Insofern
ist es auch nicht verwunderlich, dass die Szenerie der Leichen, die Kulisse der gefundenen
Körper, oft genug, neben peripheren barrios und Brachflächen, die Wüste Sonoras ist:
La primera mujer muerta del año 1994 fue encontrada […] en un desvío de la carretera a
Nogales, en medio del desierto. (2666: 499)
35
Oft werden die Leichen in der Wüste ‚entsorgt‘. Neben der urbanen und industriellen
Müllhalde wird so auch die Wüste zum Abfallort, zum Friedhof des globalisierten Santa
Teresa. Das nomadische, heimatlose Leben der Migranten endet bezeichnenderweise in der
anonymen, menschenleeren, einsamen Wüste. Die Kadaver verwesen und verderben hier
schnell, die Personen verlieren wörtlich und im übertragenen Sinne hier ihr Gesicht, ihre
Identität, werden von zopilotes, Aasgeiern, den Boten des Todes, angefressen. Die Wüste, so
heißt es an einer Stelle, umklammert Santa Teresa auf bedrohende Weise (2666: 716). Dies
zeigt sich sinnbildlich anhand Amalfitanos verödetem und zerrüttetem Garten:
Amalfitano […] volvió a salir al jardín devastado, donde todo era de color marrón claro,
como si el desierto se hubiera instalado alrededor de su nueva casa (2666: 241)
Die Wüste kesselt Santa Teresa ein und scheint punktuell durch, wird immer wieder sichtbar,
arbeitet man nicht gegen sie an. Sand legt sich auf alle Bestrebungen der Domestikation,
Sesshaftigkeit und Zivilisation40. Die Wüste verlängert sich bis in die Übergangsräume, also in
die peripheren Gebiete der Stadt und erobert die Stadt zurück in ihren Zwischenräumen, also
in Brachflächen und freien, leeren Feldern in der Stadt41, wodurch die Stadt zu einer Art Vorort
der Wüste wird:
En la plaza había seis árboles, uno en cada extremo y dos en el centro, tan cubiertos de
polvo que parecían amarillos. (2666: 449)
Ähnlich wie in Amalfitanos Garten ist auch bei dem Staub auf den Bäumen unklar, ob dies
Wüstensand ist oder Industriestaub der maquiladoras. Zu unterscheiden sind diese beiden
‚Elemente‘ ohnehin nicht mehr. Industriestadt und Wüste gleichen sich einander immer mehr
an. Die Industrialisierung produziert einen ähnlich ‚glatten Raum‘ wie die Wüste. Glatte
Räume im Sinne von DELEUZE/GUATTARI (1980) stehen ‚gekerbten Räumen‘ gegenüber,
Räumen der staatlich-institutionellen Organisation, der Kontrolle und Sesshaftigkeit, in denen
alles verortbar und registrierbar ist, nichts verschwinden kann. Was den urbanen Raum
klassischerweise charakterisiert, wird in der Industriestadt Santa Teresa zumindest in ihrer
anarchischen Peripherie wieder aufgehoben, also wieder geglättet. Die Stadt konvergiert so in
Richtung der Wüste und wird, ähnlich wie die Wüste, zu einem nicht kontrollierbaren, nicht
domestizierbaren, nicht eingrenzbaren, nicht einnehmbaren Terrain. Der Sand verweht jede
menschliche Spur. Santa Teresa wird zu einer urbanen Wüste, in der Subjekte zirkulieren,
ohne Spuren zu hinterlassen, die aber dennoch die Stadt ständig neu gestalten, mutieren
40
41
Diese Beobachtungen in 2666 entsprechen im Übrigen wiederum der realen, ökologischen
Beschaffenheit der Grenzregion: „a desert region impacted by a 100-year-old drought. […] Few would
consider these ecological conditions suitable and hospitable for human settlements housing
thousands of people throughout the borderland region“ (NÚÑEZ/KLAMMINGER 2010: 162). Dies scheint
immer wieder durch: „The number of empty lots within colonias contributes to the accumulation of
desert brush“ (NÚÑEZ/KLAMMINGER 2010: 154).
Vgl. OLIVIER (2014: 369): „el desierto no solo se halla en los alrededores sino que se esparce en esas
raras remanencias suyas que son los baldíos, las colonias inconclusas, los basureros salvajes y [...], los
parques industriales“.
36
lassen ohne Institutionen, die dies steuern (vgl. DELEUZE/GUATTARI 1980: 601)42. Wüste und
Stadt bzw. Industrie gehen also ineinander über, zum einen was ihre Eigenschaften angeht,
zum anderen durch ihre unmittelbare räumliche Nähe, denn in den Ausläufen von Santa
Teresa beginnt bereits die Wüste: „el desierto, que se extendía al otro lado de la carretera“
(2666: 639).
Beide Orte, beide glatten Szenerien, werden wie bereits erwähnt zum Schauplatz der
Verbrechen und Leichenfunde43. Nicht umsonst werden diese Fundorte von den Ermittlern
Lalo Cura und Kessler aufgesucht, als ob die räumliche Beschaffung des Ortes das Motiv der
Tat erkennen ließe, diese in irgendeiner Weise erklären würde oder gar der Raum die Tat
bedingte bzw. die Frage des ‚warum‘ an die Frage des ‚wo‘ gebunden wäre (vgl. FARRED 2010:
700). Der Wüstenraum Santa Teresas erscheint paradigmatisch für das hier verübte
Verbrechen und so wiederholen sich Taten nicht nur insofern in ihrer Struktur, als vielen
Frauen die gleiche perfide Gewalt zugefügt wird, sondern auch in der ‚Wahl‘ des Tat- oder
Entsorgungsortes: „en un baldío junto a la preparatoria Morelos, ya se había cometido un
crimen“ (2666: 620). Einige Orte scheinen so prädestiniert für ein Verbrechen, dass diese
beginnen, sich hier zu wiederholen. Neben der Wüste und den urbanen Flächen und Lücken,
an denen die Wüste durchscheint, sind das auch die narcorranchos, die gegen Ende des vierten
Teils immer wieder erwähnt werden. Diese „ranchos vacíos“ (2666: 751) oder „casas
abandonadas“ (2666: 644), sind leerstehende (Bauern-)Häuser, die zu Orten der rituellen
Gewalt und des Verbrechens werden, in denen oder in deren Nähe später viele Frauenkörper
gefunden werden.
All diese Räume sind Leerstellen, die jeglicher sinngebender Instanz entbehren oder
diese unsichtbar machen, und werden zu Orten der Straflosigkeit und der Barbarei. Der leere
Raum ist geprägt von einer Gottlosigkeit und Schutzlosigkeit, wie Amalfitanos Eindruck von
Santa Teresa und Umgebung bestätigt:
[…] todo lo que había visto en el extrarradio de Santa Teresa y en la misma ciudad,
imágenes sin asidero, imágenes que contenían en sí toda la orfandad del mundo,
fragmentos, fragmentos. (2666: 265)
Santa Teresa trägt in sich alle Verwaisung der Welt, die Stadt, das sind Fragmente der
Haltlosigkeit. Diese emblematische Inszenierung Santa Teresas erinnert an einen mythischen
Urzustand der Welt, wie er im Alten Testament geschildert wird: „Und die Erde war wüst und
leer“ lautet der zweite Vers der Schöpfungsgeschichte44. Die extremen Auswirkungen der
Globalisierung, in der weite Flächen des Globus dem globalen Kapitalismus zur Verfügung
42
43
44
Vgl. auch HARDT/NEGRI (2000: 329): „The breakdown of the institutions, the withering of civil
society, and the decline of disciplinary society all involve a smoothing of the striation of modern
social space“.
Die Fundorte der feminicidios von Cd. Juárez weisen ähnliche räumliche Eigenschaften auf, vgl.
GONZÁLEZ RODRÍGUEZ (2002: 111): „Sus cadáveres persistían en aparecer en parajes desérticos o
semidesérticos de la periferia de Ciudad Juárez. Siempre los mismos: Lote Bravo, Lomas de Poleo,
Cerro Bola...“.
Vgl. Genesis 1,2. Zitiert wird aus der Lutherbibel von 1912.
37
gestellt werden, führen dazu, dass die Leere und die Wüste die Welt wieder einzuholen
scheinen. „[...] aquella ciudad levantada en medio de la nada“ (2666: 243) erfährt Widerstand
durch die sie umgebende Wüstennatur, läuft Gefahr, von dem Nichts, auf dem sie gebaut ist,
wieder vernichtet zu werden. Diese durch wirtschaftlichen ‚Fortschritt‘ drohende Rückkehr
zu einem biblischen Urzustand ist das paradoxe Streben der Globalisierung, das Bolaño
offenlegt und mit dem absurden Streben des baudelaire’schen Reisenden verbindet. Die ganze
Welt wird durch menschengemachte Verwüstung zu einer monotonen Wüste oder ist längst
eine monotone Wüste, die wir uns vielleicht weigern, als solche anzuerkennen und
wahrzunehmen, die aber menschliche Bestrebungen immer wieder zunichte macht.
Was sich hier in der Grenzregion verbildlicht, steht sinnbildlich für ganz Mexiko und für
das Geheimnis der (globalisierten) Welt. „[L]a frontera, [...] ese territorio mítico entre Estados
Unidos y México“ (BOLAÑO 2004: 147) ist der Ausdruck einer vereinsamten und verwaisten
Welt. Trotz ihrer Spezifizität steht die Grenzregion paradigmatisch ein für den ganzen
Planeten. Die Situierung Santa Teresas erscheint kontingent und ist dennoch metaphorisch.
Santa Teresa wird dargestellt als in Raum und Subjekt, Geographie und Mensch völlig von der
Globalisierung gezeichnet und wird so zur Metapher der Globalisierung selbst. Sie verdeutlicht
die Verwüstung des Planeten durch ein bildliches apokalyptisches Szenario der globalen
Barbarei. Globalisierung und Wüste gehen in 2666 eine Verbindung ein, deren Folge
Monotonie und Homogenisierung sind.
Dass diese mythische, leere Region der Romanwelt eine „geografía tan real como
fantástica“ (GONZÁLEZ RODRÍGUEZ 2002: 86) zum Vorbild hat, macht sich auch in einem Gefühl
der Irrealität (vgl. HERLINGHAUS 2013: 209) bemerkbar, wie Fate sie, schon wieder auf USamerikanischem Gebiet, hat:
Al dejar atrás la frontera los pocos turistas que vieron por las calles de El Adobe parecían
dormidos. Una mujer de unos setenta años, con un vestido floreado y zapatillas Nike,
estaba arrodillada examinando unas alfombras indias. [...] Tres niños tomados de la mano
contemplaban unos objetos que se exhibían en una vitrina. Los objetos se movían
imperceptiblemente, pero Fate no pudo saber si eran animales o ingenios mecánicos. Junto
a un bar unos tipos con pinta de chicanos y sombreros vaqueros gesticulaban e indicaban
direcciones contrapuestas. Al final de la calle había unos galpones de madera y
contenedores de metal en la acera y más allá estaba el desierto. Todo esto es como el sueño
de otro, pensó Fate. (2666: 437)
Die asymmetrische, geradezu absurde Realität der Grenze: die Mischung und extreme Nähe
von US-amerikanischen Markenartikeln und indigenen, ‚exotistischen‘ Produkten; Tiere, die
ebenso mechanische Objekte sein könnten; die Orientierungslosigkeit der Menschen in dieser
Region, die alle in unterschiedliche Richtungen weisen; die Wüste im Hintergrund – all dies
lässt in Fate das Gefühl entstehen, dass nicht er es ist, der diese Dinge wahrnimmt, sondern
jemand anders. Diese verschobene Wahrnehmung bezieht sich nicht nur auf den Betrachter,
sondern auch auf das Objekt der Betrachtung und auf den Ort, an dem all dies
wahrgenommen wird. Ein Ort, der dieser ist, aber ebenso ein anderer sein könnte.
38
3. SANTA TERESA IM SPIEGEL DER GLOBALITÄT
3.1 MOBILISIERUNG UND ENTPERSONALISIERUNG ALS WIEDERKEHRENDE MOMENTE DER
GESCHICHTE
Nach der Charakterisierung eines globalisierten Santa Teresa, in dem sich sinnbildlich die
Verwüstung des Planeten kristallisiert, stellt sich die Frage, inwiefern die Tendenzen der
Globalisierung, die sich hier lokal artikulieren, von globaler Dimension für die in 2666
konstruierte Welt sind. Die Paradigmatik des von der Globalisierung betroffenen Falls Mexiko
gilt insbesondere für den heutigen sog. ‚Globalen Süden‘ und somit für ehemalige Kolonien,
die im vergangenen Jahrhundert ‚Opfer‘ der Strukturanpassungsprogramme wurden. 2666
baut
aber,
neben
dieser
historisch
evidenten
Verbindungslinie,
noch
andere
Querverbindungen auf, die eher indirekter Natur sind, die Globalität von 2666 aber in
bedeutender Weise mit bestimmen. Wir wollen diese nun genauer untersuchen.
Um dabei auch die Gliederung dieser Arbeit weiterhin nachvollziehbar zu machen, sei
vorab erwähnt, wie sich das folgende Kapitel 3 gestaltet. Die beiden subjektbezogenen Kapitel
2.1 und 2.2 laufen zusammen in diesem Kapitel 3.1, das die Aspekte Mobilisierung bzw.
Deterritorialisierung und Entindividualisierung bzw. Entpersonalisierung, die in Santa Teresa
bereits deutlich wurden, anhand des in 2666 entworfenen historischen Panoramas in
ergänzender Weise wieder aufnimmt. In Kapitel 3.2 sollen die in Kapitel 2.3 und 2.4
thematisierten räumlichen Paradigma anhand des globalen Raums aktualisiert werden:
Inwiefern finden sich auch an anderen Orten, die parallel zu Santa Teresa konfiguriert werden,
ähnliche Strukturen der Gewalt und Verwüstung? Wenn Globalität also eine bestimmte,
historisch aktualisierbare Auffassung vom Zustand der Welt ist, dann findet sich in 2666
ebenso sehr eine kritische Auseinandersetzung mit ebendieser Globalität, der wir uns in
Kapitel 3.3 widmen wollen. Die oftmals wichtige Rolle von Fiktionen und Narrativen in dieser
Globalität wurde bereits im theoretischen Teil dieser Arbeit betont; vor diesem Hintergrund
wäre es undenkbar, wenn man nicht auf die Darstellungsweise von 2666 selbst eingehen würde
und auf ihre Implikationen für die Globalität von 2666. Diesen Versuch wollen wir in Kapitel
3.4 unternehmen.
Ist der Kolonialismus der Ursprung der globalen Gewalt? Die postkoloniale Perspektive
von MIGNOLO, die in Kapitel 1.3 besprochen wurde, scheint dies zu vermitteln. Wie aber
positioniert sich 2666 dazu?
An einer Stelle wird eine Analogie zwischen den Frauenvergewaltigungen in den 1990er
Jahren und den Massenvergewaltigungen der indigenen Frauen auf heutigem mexikanischem
Gebiet durch die spanischen Kolonialherren geschaffen (vgl. 2666: 365). Vergewaltigung
behauptet sich als historische Konstante, die ihren Ursprung in der Kolonialzeit und dem
Beginn der Mestizengesellschaft zu haben scheint. Auch in der Genealogie des Polizisten Lalo
Cura, eine sich über sechs Generationen erstreckende Vergewaltigungskette, beginnt die erste
39
Vergewaltigung im Jahre 1865 durch einen Ausländer, einen belgischen Soldaten, welcher die
Kette von Gewalttaten einleitet (vgl. 2666: 693). Ähnlich wie in Gabriel GARCÍA MÁRQUEZ‘
Roman Cien años de soledad (1967) fungiert die Familiengenealogie hier als generelle Allegorie
auf die Nationalgeschichte (vgl. VALDIVIA 2013: 463). Während in Cien años de soledad die zu
beobachtende Gewalt aber klar eine neoliberale bzw. neokoloniale ist (bzw. diese beiden nicht
mehr zu trennen sind) und sich auf die koloniale Ursprungsgewalt zurückführen lässt, die der
Dynamik von Ausbeuter und Ausgebeutetem gehorcht, sind die Rollen in 2666 nicht mehr so
eindeutig verteilt. Die Komplexität der Gewalt verdichtet sich am Grenzraum USA/Mexiko, wo
mehrere Akteure auf undurchsichtige Weise agieren (vgl. VALDIVIA 2013: 465), und wo
außerdem nicht aus einer Nationalperspektive erzählt wird. Aus diesem Grund ist auch der
Versuch, Bolaño für die postcolonial theory zu ‚gewinnen‘, wie es beispielsweise BALKAN (2010,
2013) und FARRED (2010) tun, nicht fruchtbar. Kolonialismus ist in 2666 ein Aspekt unter
vielen45, jedoch nicht der alles determinierende Faktor wie in Cien años de soledad.
Sehr viel auffälliger sind die in 2666 geflochtenen Verbindungen und Analogien von
historischen Situationen, deren Zusammenhang auf den ersten Blick nicht evident erscheint
(vgl. ELMORE 2008: 265; FARRED 2010: 690). Dabei sind es insbesondere der Zweite Weltkrieg
und der Holocaust, die von Bolaño immer wieder als indirekte historische Wegbereiter der
Geschehnisse in Santa Teresa ins Feld geführt werden. Das ist nicht erst in 2666 der Fall: In El
Tercer Reich (2010) beispielsweise wird die Militärgeschichte des Zweiten Weltkriegs als eine
den Globus modifizierende Kraft spielerisch verhandelt und das Dritte Reich fast schon
verschwörungstheoretisch oder mythifizierend als „phantasmatischer Ursprung jeder Gewalt“
(DÜNNE/HANSEN 2014: 271) gesehen, dessen Totalitarismus sich im Lateinamerika der
Militärdiktaturen wiederholt. In 2666 werden, insbesondere durch die Juxtaposition des
vierten und des fünften Teils, zwischen dem Zweiten Weltkrieg (1939-1945) und dem globalen
Kapitalismus der 1990er Jahre Parallelen gezogen, deren gemeinsame Strukturen wir uns im
Folgenden näher ansehen wollen46.
Mobilität behauptet sich in 2666 als Konstante in der Menschheitsgeschichte. So sind
nicht nur in der Gegenwart die vier Kritiker aus dem ersten Teil überaus mobil47, ebenso wie
45
46
47
So werden an verschiedenen Stellen Kolonialismus-Episoden collagenartig oder als Zitate
eingearbeitet. Der Afroamerikaner Fate liest zur Sklavengeschichte (vgl. 2666: 334f.); Amalfitano zur
Kolonialgeschichte Chiles, gleichbedeutend mit dem Ende des bis dato genutzten
Kommunikationsmittels der Telepathie (vgl. 2666: 276-287).
Auch DELEUZE/GUATTARI (1980: 582) sprechen von den Analogien von Kapitalismus und Krieg, die
beide zunehmend zu Materialkämpfen werden: „[…] la guerre suit évidemment le même mouvement
que celui du capitalisme: de même que le capital constant croît proportionnellement, la guerre
devient de plus en plus ‘guerre de matériel’, où l’homme ne représente même plus un capital variable
d’assujettissement, mais un pur élément d’asservissement machinique“.
Mit Ausnahme von Morini, der an den Rollstuhl gefesselt ist, aber genau darunter auch zu leiden hat.
Seine erzwungene Immobilität verrät viel über die Mobilität, die in der gegenwärtigen europäischen
Identität dazugehört: Nachdem sein Arzt ihm von der Reise nach Mexiko abrät, verfällt er in
substanzbedrohende Resignation: „su propia imagen […] se iba diluyendo de forma gradual e
incontenible, como un río que deja de ser río o como un árbol que se quema en el horizonte sin saber
que se está quemando“ (2666: 145). Man denke auch an den General Entrescu und seine Aussage: „lo
40
Amalfitano und Fate, es wird auch auf verschiedene Momente der Migration in der Geschichte
verwiesen, beispielsweise auf die Migration nach Buenos Aires Ende der 1920er Jahre (vgl.
2666: 36) oder am Beginn des fünften Teils auf das Ende des Ersten Weltkriegs, das Hans
Reiters Vater von einem Ort in den nächsten katapultiert. Neben diesen kürzeren Passagen
wird im fünften Teil immer wieder der Vormarsch der militärischen Divisionen im Zweiten
Weltkrieg (z.B. Reiters Division, vgl. 2666: 835) beschrieben, die den Raum einnehmen, ihn
kerben und gleichzeitig glätten, da sie die Bewohner der Ortschaften deterritorialisieren,
indem sie sie vertreiben oder zur Flucht zwingen. Der Zweite Weltkrieg erscheint in der
Globalität von 2666 wie der Beginn der erzwungenen Massenmobilität. So ist die Rede von
„campesinos que se movían constantemente“ (2666: 846) und entleerten, verlassenen Dörfern
als Folge davon, wie z.B. in dem fiktiven und für Hans Reiters Biographie wichtigen Dorf
Kostekino am Dnepr:
La mayor parte de las casas estaban abandonadas, según algunos porque los aldeanos
habían huido ante la irrupción del ejército alemán, según otros porque el ejército rojo los
había enrolado a fuerza. [...] Una noche, [...] Reiter escuchó una versión distinta: los
aldeanos ni habían sido enrolados a la fuerza ni habían huido. El despoblamiento era
consecuencia directa del paso por Kostekino de un destacamento del Einsatzgruppe C, los
cuales procedieron a eliminar físicamente a todos los judíos de la aldea. (2666: 882)
Weshalb Kostekino keine Einwohner mehr hat, wird auf verschiedene Möglichkeiten
zurückgeführt. Geographisch eingekesselt zwischen Wehrmacht und Roter Armee, sind die
hauptsächlich jüdischen Einwohner entweder geflohen oder vom eigenen Heer eingezogen
worden. Die dritte Möglichkeit ist, dass die Bewohner des wahrscheinlich ukrainischen Dorfes
Kostekino einer der Einsatzgruppen Hitlers unter der Führung Heinrich Himmlers zum Opfer
fielen, jener ‚Sondereinheiten‘, die mobil oder stationär für die Vernichtung von Juden, Roma,
Kommunisten und anderen vom Nationalsozialismus Verfolgten insbesondere in den
osteuropäischen Ländern eingesetzt wurden48. Fest steht, dass von den ursprünglichen
Bewohnern Kostekinos, darunter Borís Ansky, jedes Lebenszeichen fehlt.
Der Krieg selber wird als ein hoch technologisierter, schwer bewaffneter Kampf
beschrieben, so dass der Wehrmachtssoldat Hans Reiter vollkommen überrascht ist, als er
Opfer einer Attacke durch Faustschläge eines polnischen Soldaten wird: Nie hatte er sich eine
solche direkte Konfrontation ‚von Mann zu Mann‘ vorgestellt, immer nur medial kanalisierte
Angriffe mit einer Waffe (vgl. 2666: 836f.). Diese im wahrsten Sinne des Wortes
unmenschlichen Dimensionen des Krieges sind tatsächlich nur dann realisierbar, wenn die
schlichte
Begegnung
von
Angesicht
und
Angesicht
nicht
mehr
stattfindet.
Die
Entmenschlichung wird auch deutlich anhand der florierenden nervösen Krankheiten und der
vielen Soldaten, die durch die Ausmaße des Krieges und der Vernichtung wahnsinnig werden.
48
importante era moverse, la dinámica del movimiento, lo que equiparaba a los hombres y a todos los
seres vivos“ (2666: 850f.).
Die Einsatzgruppe C operierte in der nördlichen und mittleren Ukraine (vgl. Abbildung 3 im
Anhang).
41
Borís Anskys Tagebücher, die Reiter in einem Versteck im Kaminsims des Hauses in
Kostekino findet, machen den Soldaten Hans Reiter bekanntlich zum Schriftsteller
Archimboldi. An diesem Schlüsselpunkt in Reiters Biographie wird dieser endgültig zum
Deserteur, da ihm bewusst wird, dass der Jude Ansky, von dem jede Spur fehlt, theoretisch von
ihm hätte getötet werden können:
[...] vio a Ansky en sueños. Lo vio caminar por el campo, de noche, convertido en una
persona sin nombre, que dirigía sus pasos hacia el oeste, y también lo vio morir a balazos.
Durante varios días Reiter pensó que había sido él quién le había disparado a Ansky. Por las
noches tenía pesadillas horribles que lo despertaban y lo hacían llorar. [...] Una noche soñó
que volvía a estar en Crimea. [...] Disparaba su fusil en medio de múltiples humaredas que
brotaban aquí y allá como géiyseres [sic]. Después se ponía a caminar y encontraba a un
soldado del ejército rojo muerto, boca abajo, con un arma todavía en la mano. Al inclinarse
para darle la vuelta y verle el rostro temía [...] que aquel cadáver tuviera el rostro de Ansky.
Al coger el cadáver por la guerrera, pensaba: no, no, no, no quiero cargar con este peso,
quiero que Ansky viva, no quiero que muera, no quiero ser yo el asesino, aunque haya sido
sin querer, aunque haya sido accidentalmente, aunque haya sido sin darme cuenta. (2666:
921f.)
Reiter träumt, wie Ansky sich als Soldat der Roten Armee durch die Kriegslandschaft bewegt
und in der immensen dunklen Szenerie zu einer namenlosen Person wird, die er zufällig,
geradezu unbemerkt, ohne sich darüber bewusst zu werden und ohne es zu wollen, hätte töten
können oder tatsächlich getötet hat. Ausgerechnet diese Ziel- und Absichtslosigkeit, die
anonyme Masse an Gegnern ohne Gesichter oder ohne identifizierbare Gesichter (und Reiter
weiß dabei nicht einmal, wie Anskys Gesicht aussieht) steht in fundamentalem Widerspruch
zum einzigartigen Wesen und reichen Innenleben Anskys, dem Reiter durch die Lektüre seiner
Tagebücher begegnet und welches Reiter von seinem Wunsch zu sterben abbringt. Das ist der
reale Albtraum eines Krieges, der das Menschsein ausschaltet, Menschen bzw. Körpern ihre
Identität nimmt und Soldaten dazu zwingt, eben dieses Menschliche auszuschalten, um den
Befehlen zu gehorchen und die Masse an Tötungen vorzunehmen. Die Entpersonalisierung des
Todes im Krieg wird auch am folgenden Zitat deutlich:
Reiter adquirió la costumbre de contemplar a los muertos como quien contempla una
parcela en venta o una finca o una casa de campo y luego registrar sus bolsillos por si
tenían algo de comida guardada. (2666: 923)
Die unbekannten, fremden Leichen werden wie zum Teil der Landschaft oder des Bodens. Sie
werden zu reiner Materie ohne Gesicht oder Identität, zu letzten Quellen der Nützlichkeit.
Reiter betrachtet sie wie leblose Objekte. In seiner Indifferenz werden sie zu unbedeutenden
Gegenständen, die nach und nach verschwinden.
Wie aber ist das Töten, das das Menschliche zu übersteigen scheint, organisatorisch
möglich? Welches System verbirgt sich hinter der Vernichtung? Im fünften Teil wird die
Binnenerzählung des eichmannartigen Funktionärs Sammer alias Zeller eingeschaltet (vgl.
2666: 938-960), der erzählt, wie ihm, der eigentlich in einem polnischen Dorf Arbeitskräfte für
die Fabriken des Deutschen Reichs bereitstellt, zur Zeit des Zweiten Weltkrieges plötzlich und
unerwartet eine Gruppe von rund 500 osteuropäischen Juden untersteht. Der Zug, in dem sie
ankommen, soll eigentlich nach Auschwitz fahren und kommt fälschlicherweise bei ihm an.
42
Sammer ist von seinem neuen, ungeplanten und nicht eindeutigen ‚Befehl‘, der außerhalb
seines eigentlichen Aufgabenbereichs liegt, überfordert, da er sonst nicht mit der
‚Handhabung‘ von Juden betraut ist. So tut sich plötzlich eine Leerstelle im System auf, über
die Sammer sich mit dem Bürgermeister Tippelkirsch berät:
–¿Cómo vamos a devolverlos? –dije–. ¿Tengo acaso un tren a mi disposición? ¿Y en caso
de tenerlo: no debería ocuparlo en algo más productivo?
El alcalde sufrió una especie de espasmo y se encogió de hombros.
–Póngalos a trabajar –dijo.
–¿Y quién los alimenta? ¿La administración? No, señor Tippelkirsch, he repasado todas
las posibilidades y sólo hay una viable: delegarlos a otro organismo.
–¿Y si, de forma provisional, le prestáramos a cada campesino de nuestra región un par de
judíos, no sería una buena idea? –dijo el señor Tippelkirsch–. Al menos hasta que se nos
ocurriera qué hacer con ellos.
Lo miré a los ojos y bajé la voz:
–Eso va contra la ley y usted lo sabe –le dije.
–Bien –dijo él–, yo lo sé, usted también lo sabe, sin embargo nuestra situación no es
buena y no nos vendría mal un poco de ayuda, no creo que los campesinos protestaran –
dijo.
–No, ni pensarlo –dije yo. (2666: 945)
Für den überaus der Bürokratie verpflichteten Sammer steht fest, dass er, der sich für diese
Angelegenheit nicht zuständig fühlt, sich der Aufgabe möglichst schnell wieder entledigen
möchte und die Gruppe von Juden am besten einer anderen Behörde übergibt oder zurückgibt
– höchstwahrscheinlich, und er muss sich dessen bewusst sein, zu ihrer Vernichtung. Bei
diesem Grenzfall im System möchte Sammer sicher gehen, alles richtig zu machen und bloß
gegen kein Gesetz zu verstoßen, das ist ihm das Wichtigste. Gerade in dieser „bürokratischen
Sackgasse“ (vgl. ANDREWS 2014: 163) aber hätte er Handlungsspielraum und könnte so das
Leben der Juden retten, in Form des Vorschlags von Tippelkirsch, doch der innere Zwang,
‚korrekt‘, also dem Recht und der nationalsozialistischen Ideologie entsprechend zu handeln,
sind ihm wichtiger als Menschenleben, zumindest das Menschenleben der homines sacri der
Nazi-Ideologie, den Juden. Er denkt dabei gar nicht an die Menschen hinter der Bezeichnung
‚Juden‘, ja er muss das Menschliche an ihnen ausblenden, um ‚produktiv‘ zu denken, die
vorgegebene Ordnung zu realisieren und die Ziele des Krieges zu vertreten. Interessant ist,
dass er dabei überaus kühl wirkt, während Tippelkirsch, der eine relativ humane Möglichkeit
vorschlägt, gesundheitlich am Abgrund steht. Die Juden, deren Nationalität im Übrigen unklar
bleibt, sind lebendige Überbleibsel eines Systems und werden in der Sammer-Episode wie
unproduktive Reste behandelt, denen jedes Menschsein abgesprochen wird.
Aus diversen Telefonaten, die Sammer führt, geht hervor, dass niemand sich für die
Juden ‚verantwortlich‘ fühlt und so wird Sammer schließlich unmissverständlich aufgetragen,
sie selbst zu vernichten. Dieser rechtfertigt sich später gegenüber Reiter damit, dass er die
Juden nicht eigenhändig umgebracht hätte, sondern Andere damit beauftragte. Gerade diese
Aussage entschuldigt ihn aber nicht, sondern macht seine Schuld noch viel gravierender, da er
die Last und Entfremdung für die menschliche Psyche und Physis durch die Ideologie, die mit
der massenhaften Vernichtung einhergehen, an Andere delegiert. Die von ihm Beauftragten
43
geben nach ca. 300 Tötungen auf, da sie körperlich zu erschöpft von der ‚Aktion‘ sind. Es wird
klar, dass Verbrechen in diesem Ausmaß und in dieser Geschwindigkeit das Menschliche
übersteigen und nur dann möglich sind, wenn der Mensch sich auf Maschinen und mediale
Zwischenschübe verlässt und eine direkte Konfrontation von Angesicht zu Angesicht
vermieden wird.
Die Sammer-Episode demonstriert, wie wirkungsvoll Narrative der Produktivität und
Ordnung sein können, so sehr, dass Menschen andere Gruppen von Menschen nach dem Grad
ihres Nutzens und ihrer Produktivität beurteilen, ihnen das Menschsein abgesprochen wird
und sie so zu namenlosen Objekten werden. Sammer ist Handlanger dieses Systems, das in
diesem Punkt strukturelle Ähnlichkeiten zum globalen Kapitalismus, wie er sich in Santa
Teresa artikuliert, aufweist und gibt somit dem System, nach dem die anonymen maquiladoras
in Santa Teresa operieren, ein Gesicht. Auch hier sind die maquiladora-Arbeiterinnen eine
segregierte und marginalisierte Gruppe von Menschen, die auf ihre Produktivität reduziert
werden und denen darüber hinaus kein allgemeiner oder individueller menschlicher Wert in
der gegenwärtigen Gesellschaft zugesprochen wird. Demnach werden sie nicht geschützt und
verfallen spätestens im Tod der endgültigen Wertlosigkeit und sind nur noch körperliche
Masse.
Die Schilderung der Entvölkerung in der Kriegslandschaft der Ukraine der 1940er Jahre
im fünften Teil, die casas abandonadas in Kostekino, vervollständigen zudem das Bild der
Romanwelt, das im vierten Teil insbesondere die Ankunftsorte und Zielstationen der
Migranten zeigt, ihre Herkunftsorte in den zentralen und südlichen Bundesländern Mexikos
aber außen vor ließ. Die zentrale Leerstelle der Täter im vierten Teil wird zwar im fünften Teil
nicht explizit gefüllt, dennoch lässt die Sammer-Episode erkennen, wie Menschen im Sinne
eines unmenschlichen Systems agieren können bzw. die Ausführung an andere Menschen oder
Maschinen delegieren. Die Globalität von 2666 und dabei insbesondere die Puzzlestücke des
vierten und fünften Teils suggerieren also, dass in der dargestellten Welt Sammer bzw. das
System, für das er steht, der symbolische Täter der Frauenmorde in Santa Teresa sein könnte.
Über Entmenschlichung, Produktivitätswahn und die Verbindung von Produktion und
Vernichtung wird zwischen dem Zweiten Weltkrieg und der Globalisierung in Santa Teresa die
wohl auffälligste globale Gewaltlinie in 2666 gezogen. Die Frage, ob der Zweite Weltkrieg
wirklich der ‚Ursprung‘ jeder Gewalt ist oder ob sich hier etwas kristallisiert oder reproduziert,
was schon vorher vorhanden war, beantwortet dabei weder der Text noch sein Kontext. Es
scheint aber, dass die analogen Strukturen der dargestellten Gewalt Konstanten der
Menschheitsgeschichte sind, die zu jeder Zeit an jedem Ort stattfinden und wiederkehren, sich
ständig aktualisieren können, sei es im Mexiko der Kolonialzeit oder der 1990er Jahre, im
Polen oder der Ukraine der 1940er Jahre oder auch schon in der Antike: „los griegos […] vieron
el mal que todos llevamos dentro […] Usted dirá: todo cambia. Por supuesto, todo cambia, pero
los arquetipos del crimen no cambian, de la misma manera que nuestra naturaleza tampoco
44
cambia“ (2666: 338). Dass die Globalität von 2666 nicht nationalhistorisch ausgerichtet ist,
sondern allgemein globalgeschichtlich, machen auch die weiteren in 2666 erwähnten
Analogien in der Geschichte und auf dem Globus deutlich. So wird von einem Land im Nahen
Osten gesagt: „En este país desaparecen miles de personas cada año y nadie intenta
encontrarlos“ (2666: 371). Oder über die Toten während der Pariser Kommune von 1871, über
die niemand eine Träne vergoss, da sie sich „en los extramuros de la sociedad“ (2666: 338)
befanden und daher nicht zur Gesellschaft dazugehörten. Die vielen namenlosen Toten
erinnern an die anonymen Frauenleichen in Santa Teresa.
Die Delegation des menschlichen Lebens an die Bürokratie und an die Maschine, die
Invisibilisierung des Todes und Verbannung des Körperlichen aus dem Leben, deren logische
Folge die Abwesenheit des Leichnams bedeutet, wiederholen und steigern sich darüber hinaus
im ‚Zukunftsszenario‘ Santa Teresas, die USA der 1990er Jahre, exemplarisch am Tod von Fates
Mutter:
[...] acordaron que su madre sería incinerada y que la ceremonia, si todo marchaba por los
cauces normales, tendría lugar al día siguiente, en la funeraria, a las 7 de la tarde. A las 7.45
todo habría acabado. [...] Después el señor Lawrence abordó delicadamente el asunto
económico. (2666: 297)
3.2 PARALLELE ORTE DER GEWALT UND VERWÜSTUNG
„Todas las ciudades son parecidas“, behauptet Lola Amalfitano (2666: 218). Im Folgenden
wollen wir uns ansehen, wie die räumlichen Paradigma, die in Kapitel 2.3 und 2.4 in Bezug auf
Santa Teresa formuliert wurden, sich an anderen Orten der im Roman dargestellten Welt
wiederholen, aktualisieren oder ergänzen. Im vorangegangenen Kapitel wurde durch die Figur
der Wiederholung insbesondere ein Fokus auf die Zeit gelegt bzw. auf die Diachronie. In
diesem Kapitel werden die zu besprechenden Analogien, die 2666 eröffnet, eher über die
Technik der Parallelisierung geschaffen, also einer räumlichen Figur, in der Punkte an
verschiedenen Orten der Welt sich einander annähern bezüglich der an ihnen geschehenden
menschlichen Praktiken oder auch nur in einer ähnlichen Beschaffenheit des Bodens.
Parallelisierung kommt zum einen über die homogenisierenden Tendenzen und Praktiken der
Globalisierung zustande, die zu einer monotonen Geographie der Globalisierung und des
Kapitals führen, aber nicht erst – wie in „Le voyage“ sichtbar – seit der Globalisierung
bestehen. Zum anderen kann diese Globalität nur geschaffen werden über eine bestimmte
Betrachtungsweise des Subjekts, d.h. der Figuren in der Romanwelt.
Santa Teresa werden auf dem ganzen Globus Zwillingsstädte zugeschrieben. An einer
Stelle ist die Rede von „la gran ciudad que no dormía nunca“ (2666: 519), aber hier ist nicht
New York gemeint, sondern Santa Teresa. Neben dieser relativ positiv konnotierten Analogie
gibt es aber auch negativere. Die vom Zweiten Weltkrieg gezeichnete und auf der Halbinsel
Krim liegende Stadt Sewastopol wird ähnlich wie das Santa Teresa der 1990er Jahre
beschrieben:
45
En las inmediaciones de la ciudad, junto a las trincheras rusas, se hacinaban los cuerpos
destrozados de los soldados alemanes y rumanos. [...] La ciudad, a lo lejos, era una mole
negra con bocas rojas que se abrían y se cerraban. Los soldados la llamaban la trituradora
de huesos [...] (2666: 880)
Sewastopol erscheint wie ein Moloch, der Menschenleben verschlingt, Tote produziert und
sichtbar macht. Die Stadt gleicht einem Friedhof von Kriegsopfern und toten Soldaten, ähnlich
wie Santa Teresa, wo ebenso in der Peripherie (Frauen-)Leichen gefunden werden und überaus
sichtbar sind.
Auch andere reale Städte der Gegenwart werden, wenn auch weniger ausführlich,
parallel zu Santa Teresa konstruiert. So ist die Rede von „los campos oscuros y [... las]
carreteras solitarias y los respectivos e interminables suburbios que rodeaban París y Madrid“
(2666: 62). Die nie endende Peripherie gibt es nicht nur in Santa Teresa, sondern auch in
anderen ‚modernen‘ Städten, wo sie in solitäre Felder und glatte Räume übergeht. Die Wahl
des Adjektivs respectivos impliziert auch, dass die jeweiligen Auswüchse der einzelnen Städte
analog zu denken sind. Urbanisierung erscheint als paradigmatisches Produkt der
Globalisierung und der globalen Kapitalakkumulation. Ebenso in der Passage, die Thessaloniki
beschreibt:
[...] se podía apreciar un cerro pelado, de color marrón amarillento, y un edificio de oficinas
coronado por el anuncio comercial de una inmobiliaria que ofrecía chalets en una zona
presumiblemente próxima a Salónica. La urbanización (aún no construida) ostentaba el
nombre de Residencias Apolo (2666: 55)
Das hier beschriebene Stadtbild Thessalonikis erinnert stark an das Erscheinungsbild Santa
Teresas, wo Brachflächen der Bebauung und dem Kommerz zur Verfügung gestellt werden und
die Stadt durch Industrialisierung immer weiter wächst. Das einzige örtliche Spezifikum ist der
kommerzielle Name der angekündigten Wohnungen, Apoll, der dem Wohnbaugebiet, das
theoretisch in jedem industrialisierten Land auf der Erde so stehen könnte, ein authentisches
Lokalkolorit verleihen soll. Die Beschreibung der europäischen Städte der Gegenwart macht
die Tendenzen der Angleichung der Globalisierung sichtbar.
Ebenso wie die Orte selbst scheinen sich auch die sich hier abspielenden Gewalttaten auf
geradezu unheimliche Weise einander anzugleichen, ja anzunähern. So wiederholt sich die
Episode, in der Pelletier und Espinoza einen Taxifahrer in London zusammenschlagen und
derer Liz Norton Zeugin wird, kurze Zeit später mit anderen Akteuren in ähnlicher Weise für
Norton, die die Szene aus ihrem Hotelfenster betrachtet, in Mexiko-Stadt, wo diese Gewalt
bereits als Normalität oder Routine bezeichnet wird (vgl. 2666: 103-110; 147f.). Die Gewalt, die
alle
Menschen
heimsuchen
kann,
selbst
die
gebildeten
und
europäischen
Literaturwissenschaftler Pelletier und Espinoza im 20. Jahrhundert, stellt hier das Bindeglied
der Globalität von 2666 dar. Die Komposition des Romans lässt Norton zwei Gewaltakte an
verschiedenen Punkten der Welt direkt hintereinander miterleben: Die Romanwelt wird durch
diese universalen Gewalttaten zusammengezogen.
Dass die Weltkomposition von 2666 eine entscheidende Leerstelle lässt, wurde bereits
erwähnt: Die Täter oder Mörder der feminicidios von Santa Teresa bleiben weitestgehend
46
ausgespart, es gibt keine endgültige Aufklärung der Morde (vgl. LÜCKE 2011: 46). Damit
verpflichtet Bolaño sich zum einen dem Realismus, denn auch in der Realität wurden die
Frauenmorde von Ciudad Juárez bekanntlich nicht aufgeklärt (vgl. ANDREWS 2014: 167).
Bolaños englischer Übersetzer Chris ANDREWS betont aber, dass die Leerstellen, die „gaps“ in
Bolaños Erzählung bewusst offen gehalten werden: „to answer them would be to shut down a
motor of writerly invention and dry up a source of readerly curiosity“ (ANDREWS 2014: 169). Für
Andrews sind die Lücken konstituierend für Bolaños Schreibweise und machen die Spannung
seiner Texte aus, sie sind nicht nur realistisch, sondern auch strategisch. Das würde bedeuten,
dass das secreto del mundo eben ein Geheimnis bleiben soll (vgl. ANDREWS 2011; ESPINOZA
2006) und dass der Leser zwar darüber rätseln darf, der Text aber keine Lüftung des
Geheimnisses bietet. Die Aussage, dass sich in Santa Teresa das Geheimnis der Welt verberge,
wäre somit keine analytische, sondern eine mythifizierende, eine das Weltgeschehen
enthüllende und zugleich verklärende Aussage (vgl. LÜCKE 2011: 50; 52). Diese strategische
Verdunklung (vgl. ELMORE 2008: 289) ist zweifelsohne Bestandteil von Bolaños Erzähltechnik
und seiner Romanwelt.
Verweilt man aber bei der Feststellung dieser Leerstelle und beharrt man auf der Unlogik
der Gewalt, befindet man sich in perfektem Einvernehmen mit der Scheininstitution der
Polizei in Santa Teresa: „el judicial le dijo que no intentara buscarles una explicación lógica a
los crímenes“ (2666: 701). Die Zusammenhänge, auf die 2666 verweist, ohne sie je ganz
aufzudecken, sind komplex. Guadalupe Roncal erzählt Fate von einem Journalisten, ihrem
Vorgänger, der nach sieben Jahren schließlich die Machenschaften hinter den Frauenmorden
durchschaut hatte und alles verstand, als Bestätigung für sein Wissen aber umgebracht wurde
(vgl. 2666: 378).
Im letzten Kapitel haben wir bereits darüber gesprochen, wie das lückenhafte Bild im
vierten Teil, seine ‚dunklen Flecken‘, durch die Charakterisierung eines Mörders in Form von
Sammer sowie durch die Schilderung der verlassenen Heimat der Vertriebenen im fünften Teil
zunehmend komplettiert wird. Diese ‚ergänzende Technik‘ ergibt sich maßgeblich aus dem
vierten und fünften Teil, da der fünfte Teil die Leerstellen des vierten Teils implizit schließt49.
Eine weitere entscheidende Ergänzung betrifft die Beschreibung der räumlichen Bedingungen
des Verbrechens. In Kapitel 2 dieser Arbeit wurde insbesondere auf die Fundorte von Leichen
Bezug genommen, da durch die Aussparung des Vorgangs des Frauenmordes selbst im vierten
Teil der Tatort meist unbekannt bleibt, der nicht der Fundort sein muss. Wiederum bietet die
Sammer-Episode ergänzende Parallelen, indem sie Einblick in die im vierten Teil fehlende
Täterperspektive gibt: Nachdem ihm aufgetragen wird, die Juden selbsttätig zu vernichten, ist
Sammer auf der Suche nach einem ‚idealen‘ Ort der Vernichtung, nach einem Tatort, und so
lässt er sich eine Stunde lang durch die Peripherie des polnischen Dorfes fahren:
El chofer nos condujo hacia las afueras del pueblo. Durante una hora estuvimos dando
vueltas por carreteras comarcales y antiguos senderos de carromatos. […] A unos quince
49
Vgl. auch HERLINGHAUS (2013: 208): Der vierte und fünfte Teil spiegeln einander.
47
kilómetros del pueblo había una hondonada [...] Era un sitio apartado, lleno de pinos, de
tierra oscura. [...] El sitio no estaba alejado de la carretera. (2666: 951)
Die Suche nach einer geeigneten Niederung ist schließlich erfolgreich. Interessant ist, dass der
anvisierte Ort zum einen abgeschieden und isoliert ist, zum anderen direkt angebunden an die
Fahrbahn. Diese räumlichen Bedingungen werden auch von den Tätern in Santa Teresa
gewählt, wo die Wüste direkt hinter der Autobahn beginnt. In der Wüste Sonoras verweht der
Sand dabei die menschlichen Spuren; in Polen bedeckt der Schnee die bereits gefüllten Gräber:
La nieve había borrado el más mínimo rastro de los judíos. [...] parecía que en el fondo de la
hondonada ya no había sitio para nada más. Sin embargo, al final [...e]ncontramos un lugar
vacío (2666: 955f.)
Die Suche nach einem Vernichtungsort ist die Suche nach einem leeren Ort, d.h. einem von
Menschen nicht genutzten oder bebauten Terrain. Doch während in Santa Teresa, wo der
Wüstenwind die Leichen verwesen und schnell verschwinden lässt, die geographischen
Bedingungen den Tätern zuträglich sind, ist der die menschlichen Spuren verbergende Schnee
in Polen ein Hindernis für das Unterfangen, da die leeren Stellen nicht mehr als solche zu
erkennen sind und die noch zu folgenden ‚Begräbnisse‘ somit erschwert werden. Das über
Nacht geschaffene Grab scheint voll zu sein und die Natur macht dem Vorhaben einen Strich
durch die Rechnung, leistet Widerstand gegen ihre Nutzung. Die Schneelandschaft ist ein
glatter Raum nach DELEUZE/GUATTARI, da der Mensch ihn sich nicht zu Eigen machen kann.
Während man sich im vierten Teil fragt, wer all die Frauenleichen auf den Brachflächen
der Stadt oder in der Wüste ‚verteilt‘, und mit den immer gleichen, analogen Strukturen und
Spuren der Gewalt zurücklässt, wird der Leser hier Zeuge einer strategischen (wenn auch nicht
gelingenden) Planung der monotonen Massenvernichtung. Auch wenn bei den feminicidios in
Santa Teresa nie endgültig geklärt wird, ob es sich um eine verantwortliche Person à la
Sammer oder ein Kollektiv oder einzelne Individuen oder Imitationstäter (sog. copycats)
handelt, so inszeniert die Gesamtkomposition des Romans über Analogien doch das
Massengrab in der polnischen Schneelandschaft als einen komplementären Pol zu den
‚Gräbern‘ in der mexikanischen Wüste, die aber nur noch nach vollendeter Tat aus der aus der
Perspektive der Ermittler gefunden werden.
Welches Zukunftsszenario erwartet Santa Teresa? Auch dafür gibt es in 2666 Visionen.
Fate reist noch vor seiner Reise nach Santa Teresa nach Detroit, der brachliegenden
Industrieregion:
El barrio parecía un barrio de jubilados de la Ford y de la General Motors. Mientras
caminaba iba mirando los edificios, de cinco o seis pisos, y sólo veía a viejos sentados en las
escaleras o fumando acodados en las ventanas. [...] El bar estaba junto a un lote baldío lleno
de malezas y de flores silvestres que ocultaban los cascotes del edificio que se levantaba allí.
(2666: 306f.)
In Detroit, dem ehemaligen Standort der Autoindustrie, hat sich die vormalige
Geschäftstüchtigkeit in die Lethargie ehemaliger Arbeiter verwandelt. Die Natur holt sich in
den brachliegenden Flächen ihren Raum zurück und verdeckt dabei gleichzeitig die Ruinen
48
der ehemaligen Industriegebäude. Diese fast barock anmutende Szenerie verleitet Fate dazu,
im späteren Dialog mit Chucho Flores, die aktuellen Entwicklungen in Santa Teresa kritisch zu
betrachten:
–Ésta es una ciudad completa, redonda –dijo Chucho Flores– . Tenemos de todo. Fábricas,
maquiladoras, un índice de desempleo muy bajo, uno de los más bajos de México, un cártel
de cocaína, un flujo constante de trabajadores que vienen de otros pueblos, emigrantes
centroamericanos, un proyecto urbanístico incapaz de soportar la tasa de crecimiento
demográfico, tenemos dinero y también hay mucha pobreza, tenemos imaginación y
burocracia, violencia y ganas de trabajar en paz. Sólo nos falta una cosa –dijo Chucho
Flores.
–Petróleo, pensó Fate, pero no lo dijo.
–¿Qué es lo que falta? –dijo.
–Tiempo –dijo Chucho Flores–. Falta el jodido tiempo.
¿Tiempo para qué?, pensó Fate. ¿Tiempo para que esta mierda, a mitad de camino entre
un cementerio olvidado y un basurero, se convierta en una especie de Detroit? (2666: 362)
Bereits in Kapitel 2.2 wurde angerissen, wie sich in 2666 der Mythos der modernen,
aufstrebenden Stadt mit der tödlichen Geographie Santa Teresas vermengt. Chucho Flores
erscheint hier wie der fortschrittswillige, globalisierungsbejahende Prototyp, der mit der
Fortschrittsskepsis des US-Amerikaners Fate konfrontiert wird, welcher die Folgen der
Industrialisierung kurz zuvor in Detroit gesehen hat. Für Chucho Flores gehören die Armut
und Drogenökonomie, die klaffenden Unterschiede zwischen Arm und Reich, auf
unspektakuläre und gewöhnliche Weise zur Realität50: Eine Aussage, die angesichts der
prominenten Rolle der Mordserie in Santa Teresa beschönigend, evtl. ironisch, wenn nicht
aber übermäßig provokativ daherkommt. Für Chucho Flores befindet sich Mexiko auf dem
richtigen Weg der Entwicklung, der ihm zufolge über wirtschaftliche Aktivität bestritten wird
und lediglich mehr Zeit benötigt. Betrachtet man die Situationen der beiden Länder USA und
Mexiko auf einer vergleichbaren linearen Skala, könnte man sagen, dass ihre Entwicklung
zeitlich verschoben ist: Die USA hatte ihre Industrieblütezeit bereits bzw. hat ihre Industrie
nach Mexiko ausgelagert. Daher meint Fate, dass Santa Teresa das gleiche Schicksal wie
Detroit erwartet, wenn nicht bereits ein schlimmeres erleidet: Er sieht in dieser Stadt eine
Mischung aus Friedhof und Müllhalde.
Für die Globalität von 2666 bedeutet dies, dass nicht nur die ‚internen‘ Folgen der
Globalisierung, die wir uns in Kapitel 2 genauer angesehen haben, dargestellt werden. Es
werden auch über eine transnationale Perspektive die asymmetrischen, ungleichen Zustände
auf dem Globus offengelegt. Ähnliche globale Tendenzen bedeuten keine vollständige
Homogenisierung als Resultat, wie es die kontrastierende Darstellung von Santa Teresa und El
Adobe, die, obwohl sie direkt beieinander liegen, unendlich different erscheinen, bezeugt.
Gleichzeitig aber werden auch scheinbar entfernte Situationen entweder simultan oder
historisch verschoben parallelgeführt, um fehlende Aspekte einer Situation in neuer Weise
50
Ebenso wie gesagt wird, dass man in Mexiko an bestimmte Morde ‚gewöhnt’ sei: “Las muertes
habituales, [...] las usuales, gente que empezaba festejando y terminaba matándose [...] muertes que
no asustaban a nadie.” (2666: 675).
49
ergänzend zu beleuchten. Dabei kontrastieren verschiedene Sichtweisen auf die sich
annähernden Städte, die zu eigenen globalparadigmatischen Mikrokosmen werden, da sie alle
Akteure der Globalisierung in sich vereinen.
An dieser Stelle wird also deutlich, dass die hergestellten Parallelen in 2666 zum einen
durch die Gesamtkomposition des Romans entstehen, aber nicht ohne die einzelnen Figuren
bestehen. Analogien kommen zum einen durch die homogenisierenden Tendenzen der
Globalisierung
zustande,
gleichzeitig
konstituieren
sie
sich
über
eine
subjektive
Wahrnehmungserfahrung, die entscheidend ist für den Eindruck von Ähnlichkeit. Dies zeigt
sich deutlich bei Fate, der auf seinem Weg nach Santa Teresa durch die Wüste ein déjà-vuErlebnis hat:
En el extremo más alejado del valle creyó discernir una luminosidad. [...] Una caravana de
camiones moviéndose con gran lentitud, las primeras luces de un pueblo. O tal vez sólo su
deseo de salir de quella oscuridad que de alguna manera le recordaba su niñez y
adolescencia. Pensó que en algún momento, entre una y otra, había soñado con ese paisaje,
no tan oscuro, no tán desértico, pero ciertamente similar. Iba en un autobús, con su madre
y una hermana de su madre, y hacían un viaje corto, entre Nueva York y un pueblo cercano
a Nueva York. Iba junto a la ventana y el paisaje invariablemente era el mismo, edificios y
autopistas, hasta que de pronto apareció el campo. (2666: 343)
Dass die ‚kapitalistische Landschaft‘, bestehend aus Autobahnen und Gebäuden, in der USamerikanischen/mexikanischen Grenzregion eine ähnliche ist wie die des Bundesstaats New
York, ist hier nur eine Komponente der Analogie. Es ist insbesondere Fates Blick aus dem
Autofenster, der ihn an seinen Blick aus dem Busfenster in seiner Kindheit erinnert. Ihm
erscheint eine Fata Morgana des Lichts in der Dunkelheit, die die beiden Situationen
verbindet. Die Ähnlichkeitserfahrung bezieht sich auf eine zurückliegende Traumlandschaft,
die das, was er in diesem Moment betrachtet und wahrnimmt, bereits antizipiert hatte.
Es ist also Teil der Globalität in 2666, zum einen verschiedene Globalitäten der einzelnen
Figuren in sich zu vereinen und zum anderen zu betonen, dass diese Globalitäten durch eine
bestimmte Wahrnehmungshaltung zustande kommen, die wiederum maßgeblich durch
bestimmte Transportmedien geprägt ist. So heißt es über Kesslers Sichtweise:
El mundo, en realidad, es pequeño, pensaba a veces Albert Kessler, sobre todo cuando iba
en avión, en un asiento de primera o de business. (2666: 725)
Aus der bequemen Perspektive eines Erste-Klasse-Sitzes im Flugzeug erscheint einem die
ganze Welt zugänglich und über das Medium des Flugzeugs und seine Perspektive überdies
klein. Ebendiese Zugänglichkeit kommt über die Transportmedien der Globalisierung
zustande und spricht über die Art des Tourismus und des Reisens, wie sie im Zeitalter der
Globalisierung praktiziert wird, nämlich die Zugänglichkeit von Orten gegen Bezahlung. In
Santa Teresa lässt Kessler sich bekanntlich im Taxi durch die peripheren Stadtgebiete
kutschieren und kommt darüber zu dem Schluss, dass sie gefährlich sind. Liz Norton im ersten
Teil reist nach diversen Autofahrten durch Santa Teresa schnell wieder aus „esa horrible
ciudad“ (2666: 187) ab.
50
Die Wechselwirkung von Horror und Monotonie (vgl. GALDO 2005: 28f.), der
ausgewählten Motive aus dem Baudelaire-Motto, wird an diesen Außenperspektiven auf Santa
Teresa deutlich. Sowohl die Gleichheitserfahrung bzw. die Wahrnehmung von Monotonie als
auch die Horrorszenarien und -konstrukte der fremden Orte (Fates, Nortons, Kesslers)
kommen über die distanzierte Wahrnehmungs- und Betrachtungsweise aus einem
Transportmedium (Bus, Flugzeug, Taxi, Auto) zustande. Somit aktualisiert sich die Tourismusund Fortschrittskritik aus „Le voyage“ in der Globalität von 2666 insofern, als die im Gedicht
geschilderten enttäuschenden Analogien und Ähnlichkeiten zwischen verschiedenen Orten
auf der Welt durch die Nutzung bestimmter Transportmittel überhaupt erst zustande
kommen. Enttäuschung selbst ist eine Frage der Wahrnehmung, der Betrachtung und der
Erwartungshaltung. Gleichzeitig schafft der globale Kapitalismus, durch Verfügung über Orte
und ihre kommerzielle Nutzung, sich einander ähnelnde Orte, sodass diese nur als homogen
wahrgenommen werden können.
In den folgenden Kapiteln werden wir hieran anknüpfen: Zum einen wird deutlich, dass
die Frage der Wahrnehmung nicht nur ein Kritikpunkt in 2666 ist, sondern auch Ansatzpunkt
für gedachte Alternativen. Im übernächsten Kapitel wird deutlich werden, dass die
Medienproblematik in 2666 sich durchaus nicht nur auf Transportmedien reduziert.
3.3 DIE (UNAUFHALTSAME?) ÖKONOMISIERUNG DES LEBENS
Die Quantifizierung des Raumes führt also zu ähnlichen räumlichen Erscheinungsbildern rund
um den Globus. Bedeutet die Entstehung und Wahrnehmung von Ähnlichkeiten aber auch,
dass das Innenleben der Subjekte sich immer mehr einander angleicht, wie HARDT/NEGRI es
mit der in Kapitel 1.3 besprochenen Verinnerlichung des Ökonomischen meinen? Wie
aktualisiert sich die Globalität in 2666 angesichts der Globalisierung? Interessant ist, dass 2666
einen Fokus auf scheiternde Figuren legt, die darüber hinaus die einzigen sind, die Kritik am
bestehenden Zustand der (fiktionalen) Welt äußern. Während in den beiden vorangegangenen
Kapiteln die Gesamtkomposition des Romans bezüglich der Konstruktion von Globalität im
Vordergrund stand, kommen in diesem Kapitel vorrangig die einzelnen Globalitäten
verschiedener Figuren zur Sprache.
Die Erzählung eines Obdachlosen, die Morini auf einer Londoner Parkbank hört, über
seine frühere Arbeitserfahrung in einer Tassenfabrik im ersten Teil soll uns erste
Anhaltspunkte für die Erörterung der kapitalistischen ‚Moral‘ liefern:
[…] pasó a explicarle que él, hacía tiempo, tuvo un trabajo en una empresa que se dedicaba
a fabricar tazas, [...] unas tazas con leyendas insulsas, y que un día, seguramente debido a la
demanda, cambió radicalmente los lemas de las tazas y además empezó a incluir dibujos
junto a los lemas, dibujos sin colorear al principio, pero luego, gracias al éxito de esta
iniciativa, dibujos coloreados, de índole chistosa pero también de índole erótica.
–Incluso me aumentaron el sueldo –dijo el desconocido–. [...] Los trabajadores
trabajábamos más a gusto. Los encargados también trabajaban más a gusto y el jefe se veía
feliz. Pero al cabo de un par de meses de estar produciendo esas tazas yo me di cuenta de
que mi felicidad era artificial. [...] me sentía más desdichado que antes de que me subieran
51
el sueldo. [...] Se me agrió el humor, me había vuelto más violento que antes, cualquier
tontería me enojaba, empecé a beber. Así que [...] finalmente llegué a la conclusión de que
no me gustaba fabricar ese determinado tipo de tazas. [...] Un día me enfrenté con uno de
los encargados. Le dije que estaba harto de fabricar esas tazas idiotas. [...] Me preguntó si
prefería hacer las tazas que hacíamos antes. Eso es, le dije. [...] ¿Te dan más trabajo las tazas
nuevas? En modo alguno, le dije, el trabajo es el mismo, pero antes las jodidas tazas no me
herían como ahora me hieren. [...] ¿Y qué demonios las hace tan distintas, aparte de que
ahora son más modernas?, dijo Andy. Justamente eso, le respondí, antes las tazas no eran
tan modernas [...]. Al día siguiente pedí mi liquidación y me marché de la empresa. (2666:
72f.)
Die Geschichte des unbekannten Obdachlosen erzählt den Werdegang eines am Rande der
Gesellschaft stehenden Individuums. Die Dynamiken von Wachstum, Produktion und
Beschäftigung in einem Unternehmen werden von allen Fabrikmitarbeitern positiv
aufgenommen und wohlwollend akzeptiert, außer von ihm. Die Produktentwicklung passt sich
an die Mechanismen des Marktes an: Das Design wird geändert, es kommen Zeichnungen
hinzu und die Tassen werden koloriert, gemäß der Nachfrage und zur Profitsteigerung. Doch
er entfremdet sich von den neuen Tassenmodellen, die an die Gesetze des Marktes gebunden
sind. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass sein Gehalt erhöht wird. Im Gegenteil:
Während alle anderen Arbeiter glücklich darüber scheinen, immer mehr zu arbeiten und dafür
entlohnt zu werden, wird er unglücklich. Sein professioneller ‚Abstieg‘ ist daran gebunden,
dass er sich nicht an die neue Produktionsweise der Tassen anpassen kann. Diese mangelnde
Anpassungsfähigkeit an die Dynamiken des Marktes sowie die Fähigkeit, sich vom
hergestellten Produkt entfremden zu können, wirken in einer globalisierten Welt
unverständlich, in der wirtschaftlicher Erfolg ein von vielen geteiltes Ziel darstellt. Doch
gerade
das
Scheitern
macht
die
Geschichte
des
Londoner
Obdachlosen,
einem
Marginalisierten der kapitalistischen Gesellschaft, so interessant. Nicht zuletzt sehen wir hier
anhand der mangelnden Identifikation, anhand der produktionsbedingten Entfremdung auch,
wie und warum jemand beginnt, gewalttätig zu werden.
Dieser ‚existenzielle Kapitalismus‘, mit dem man sich entweder identifiziert oder nicht,
wird auch an anderen Stellen des Romans beschrieben. So ist von einem lethargischen
Ladenbesitzer im ersten Teil die Rede, dem der Misserfolg auf das Gemüt schlägt:
A veces el proprietario, de tan deprimido que estaba, se quedaba a dormir en la tienda. No
estaba deprimido, por supuesto, por los ruidos o gemidos del fantasma, sino por cómo le
iba el negocio, al borde de la ruina. (2666: 133)
Das Leben dieses Ladenbesitzers ist völlig gezeichnet von seinem wirtschaftlichen Misserfolg,
dies führt aber dazu, dass er gar kein Leben außerhalb seines Geschäfts mehr führt, er schläft
sogar an seinem Arbeitsplatz, wird lethargisch und deprimiert. Mit dem fantasma ist der Geist
seiner Großmutter gemeint, der sich in seinem Haus in Form von Geräuschen und Wehklagen
bemerkbar macht. Er klagt, da er in dem Haus, in dem die Großmutter früher lebte, nichts
mehr wiedererkennt und die moderne Einrichtung ihm vulgär erscheint.
Dieser Ladenbesitzer steht in 2666 nicht alleine da mit seinen Wahnvorstellungen.
Amalfitano ist wohl das ausführlichste Beispiel einer am Rande des Wahnsinns stehenden
Figur, d.h. einer Figur, die Angst davor hat, wahnsinnig zu werden und sich dessen bewusst ist.
52
Nicht nur begegnet ihm sein Vater in Form eines Geistes, eines Nachts hat er auch einen
Traum, in dem ihm Boris Jelzin erscheint und zu ihm spricht:
La vida es demanda y oferta, u oferta y demanda, todo se limita a eso, pero así no se puede
vivir. Es necesaria una tercera pata para que la mesa no se desplome en los basurales de la
historia, que a su vez se está desplomando permanentemente en los basurales del vacío.
(2666: 291)
Jelzin, der laut 2666 letzte kommunistische Philosoph (vgl. 290), spricht sich in Amalfitanos
Traum dafür aus, dass es unmöglich sei zu leben, wenn lediglich die wirtschaftlichen Faktoren
Angebot und Nachfrage das Leben bestimmen. Es ist eine weitere Komponente im Leben
vonnöten, damit, metaphorisch gesprochen, der Tisch des Lebens nicht auf die Müllhalde der
Geschichte und somit auf die abgründige Müllhalde der Leere fällt. Um ein würdiges und
bedeutsames Leben zu führen und um erinnert zu werden, nicht in Vergessenheit zu geraten,
um nicht in Anonymität, ins Nichts zu (ver-)fallen, ist ein drittes Standbein notwendig.
Ausgehend von dieser Kritik können wir andere Entwürfe von Globalität in 2666
betrachten, andere Weltanschauungen, die sich gegen die kapitalistische Norm in der
Globalisierung wenden. Einige Figuren aus 2666 verkörpern alternative Kosmovisionen. Im
vierten Teil ist das vor allem Florita Almada, die im Fernsehen auftritt und dort von ihren
Visionen erzählt oder sogar auf Sendung Visionen hat, die außerdem offen und kritisch die
Gewalt gegen Frauen und die Straflosigkeit in Santa Teresa anprangert. Wie bereits in Kapitel
2.1 erwähnt, ist sie eine der wenigen, die sich mit den toten Protagonistinnen identifiziert und
solidarisiert und sie als „mis hijas“ (2666: 547) bezeichnet. Florita Almada, Autodiktatin und
Heilerin, ist für die einen heilig, für die anderen eine verrückte Alte. Sie erzählt im Fernsehen
auch von ihrem Leben, sie begann als Viehhändlerin und reiste somit durch ganz Mexiko:
Era una oportunidad única para ver el mundo. Para fijarse en otros paisajes, que aunque
parecían el mismo, si uno los miraba bien, con los ojos bien abiertos, resultaban a la postre
muy distintos de los paisajes de Villa Pesqueira. Cada cien metros el mundo cambia, decía
Florita Almada. Eso de que hay lugares que son iguales a otros es mentira. (2666: 538)
Florita Almadas Sicht auf die Welt ist eine ganz andere als die des baudelaire’schen Reisenden51
und auch als die im vorangegangenen Kapitel thematisierte Sicht auf die Welt Albert Kesslers.
Sie nimmt nirgendwo monotone Ähnlichkeiten wahr. Wenn man genau hinsehe, bemerke
man die großen Unterschiede zwischen den einzelnen Orten und die Diversität der Welt.
Floritas Aussage macht klar, dass die Erfahrung von Ähnlichkeit nicht nur eine Frage der
Wahrnehmung, sondern insbesondere eine Frage der oberflächlichen Wahrnehmung ist.
Florita Almada legt aber auch nicht weite Strecken mit dem Flugzeug oder im Taxi zurück,
sondern geht über „caminos de terracería o por sendas de animales y por atajos que bordeaban
aquellas montañas intrincadas“ (2666: 538), also langsam und von Dorf zu Dorf, eine
entschleunigte Form des Reisens, die es ihr ermöglicht, den Menschen und der Landschaft
tatsächlich zu begegnen. Es ist zu betonen, dass hier aber von keinem konstruierten
51
Dennoch gleicht eine ihrer Visionen stark den zentralen Begriffen des Baudelaire-Mottos: „Dijo que
había visto mujeres muertas y niñas muertas. Un desierto. Un oasis. […] Una ciudad. Dijo que en la
ciudad mataban niñas“ (2666: 545).
53
Regionalismus die Rede ist, der der Monotonisierung kommerziell entgegengehalten werden
soll, sondern von natürlichen Unterschieden der Beschaffenheit der Welt.
Auch äußert Florita sich zum Thema des aburrimiento in Verbindung mit horror:
[…] mirar cara a cara al aburrimiento era una acción que requería valor y que Benito Juárez
lo había hecho y que ella también lo había hecho y que ambos habían visto en el rostro del
aburrimiento cosas horribles que prefería no decir. (2666: 542)
Sich dem ennui wirklich zu stellen, sei eine mutige Tat, denn in seinem Gesicht verbirgt sich
ein unsagbarer Horror. Wiederum wird hier die Technik der Verdunklung von Bolaño
eingesetzt. Welches ist dieser Horror? Ist es das Nichts, der Abgrund, die Nicht-Existenz? Der
Mörder Sammer behauptet, wie ihn mitten inmitten der Tötungsaktionen ein Gefühl von
aburrimiento überkommt (vgl. 2666: 950). Die eindimensionale, oberflächliche Wahrnehmung
führt in eine grausame Monotonie. Florita Almada hält dem ihre Bejahung des Lebens
entgegen und trägt somit religiöse, wenn nicht christliche Züge, nicht umsonst wird sie
bezeichnend La Santa genannt und wie die Schutzheilige von Santa Teresa gehandelt, der
Stadt, die, wie sie sagt, vom Teufel besessen ist (vgl. 2666: 546). Auch an anderer Stelle des
Romans wird gesagt, dass, sofern man an Gott glaube, Menschen nicht einfach so
verschwinden, sich auflösen, zu Nichts werden können (vgl. 2666: 527). Eine interessante
Verbindungslinie könnte sich dazu ergeben mit dem sog. Büßer, der zu Beginn des vierten
Teils Kirchen beschmutzt.
Das Fehlen einer Religion und damit verbunden einer Ethik wird auch von Fate
wahrgenommen, der beklagt, dass in seinem Leben das ‚Heilige‘ fehle:
¿Veo lo sagrado en alguna parte? Sólo percibo experiencias prácticas, pensó Fate. Un hueco
que hay que llenar, hambre que debo aplacar, gente a la que debo hacer hablar para poder
terminar mi artículo y cobrar. (2666: 399)
Fate, der aus wirtschaftlichen Gründen Journalist wurde und nicht, wie er eigentlich wollte,
Schriftsteller, kann überall nur nützliche und praktische Entscheidungen und Erfahrungen
wahrnehmen. Wenn er Menschen interviewt, dann ist dies nur Mittel zum Zweck, kein
wirkliches Gespräch, sondern sein Broterwerb. Das das Nützliche übersteigende Spirituelle,
das Sakrale, das Heilige fehlen in seinem Leben, wo alles auf Zweckmäßigkeit und Effizienz
ausgerichtet ist.
Ähnlich äußert sich der ehemalige Künstler Edwin Johns, der sich zum Zeitpunkt der
Erzählung in einer Schweizer Nervenklinik aufhält, wo er von den Kritikern im ersten Teil
aufgesucht wird. Er führt die Zufälligkeit als entscheidende Komponente des menschlichen
Lebens ins Feld und hält diese seinem praktisch orientiertem Freund entgegen:
Mi amigo [...] creía en la humanidad, por lo tanto creía en el orden [...]. En el fondo hasta es
posible que creyera en el progreso. La casualidad, por el contrario, es la libertad total a la
que estamos abocados por nuestra propia naturaleza. La casualidad no obedece leyes y si
las obedece nosotros las desconocemos. La casualidad, si me permite el símil, es como Dios
que se manifiesta cada segundo en nuestro planeta. (2666: 123)
Johns entschuldigt sich für seine religiöse Metapher, die aus der Mode gekommen ist.
Zufälligkeit bedeute, so Johns, die Relativierung des Menschen, seiner Fähigkeiten und seines
54
linearen Strebens. Zufälligkeit bedeute, das Verlangen nach Fortschritt sowie die Beherrschung
des Lebens und der Welt aufzugeben und die eigene Unwissenheit anzuerkennen. Die einzige
Allmacht sei Gott. Diese Auffassung Johns steht konträr zur Voraussetzung, die MIGNOLO dem
Kolonialismus zugrunde legt, nämlich dem Drang nach Beherrschung des Globus auf der
Grundlage einer fiktiven, menschengemachten, linearen Skala. Dass der Mensch sich selbst das
Recht eingeräumt hat, frei über die Natur zu verfügen, wird an einer ganz anderen Stelle des
Romans wieder deutlich, die indirekt auf den Kolonialismus Bezug nimmt. Hier reisen
französische Anthropologen nach Borneo und begegnen dort einer Gruppe von Indigenen. Es
ist eine Passage aus Borís Anskys Tagebuch:
Los indígenas no plantaban nada. Los que el bosque quisiera darles ya se lo daría y lo que
no quisiera darles les estaría vedado para siempre. Su simbiosis con el ecosistema en el que
vivían era total. Cuando cortaban las cortezas de algúnos árboles para utilizarlas de suelo
de las cabañitas que construían, en realidad estaban contribuyendo a que los árboles no
enfermaran. Su vida era similar a la de los basureros. Ellos eran los basureros del bosque.
(2666: 914f.)
Die hier beschriebenen Indigenen führen ein völlig alternatives, von der kapitalistischen Norm
abweichendes Leben. Sie passen ihre Lebensweise (für die Franzosen unverständlicherweise,
denn auch wenn hier nicht mehr von der Epoche des Kolonialismus die Rede ist, so führen die
Anthropologen hier doch zivilisatorische Absichten im Schilde) ihrem Lebensraum an, nicht
umgekehrt. Nicht etwa sind sie es, die Müll produzieren, vielmehr ernähren sie sich von den
Abfällen des Waldes. Dass hier wiederum die Müllmetapher bemüht wird, ist eine eindeutige
Anspielung auf die urbane Müllhalde Santa Teresa. Die ‚Müllmänner‘ des Waldes in Borneo
wirken wie Helden der Erzählung, da sie selber Müll verwerten und sich eben nicht über die
Natur des Raumes hinwegsetzen oder ihre eigenen Nützlichkeitswege bauen, wie in Santa
Teresa, wo die Natur Widerstand leistet gegen diese menschlichen Bestrebungen. Die
Indigenen tun Nützliches für ihre Umwelt und erhalten sich somit selbst.
Nachhaltigkeit und soziales Handeln gegenüber der eigenen Umwelt wird wiederum in
einer ganz anderen Zeit und Epoche in 2666 thematisiert, im Detroit der 1990er Jahre in Form
von Barry Seaman, der sich kritisch zum kapitalistischen Streben äußert. Der ehemalige
Gefängnishäftling und afroamerikanische Aktivist wird von Fate im dritten Teil aufgesucht, der
Zeuge seiner Predigt in der Kirche wird:
[...] no estaba de acuerdo en la forma en que gastaban su dinero los pobres, sobre todo los
pobres afroamericanos. Me hierve la sangre, dijo, cuando veo a un chulo de putas
paseándose por el barrio a bordo de una limousine o de un Lincoln Continental. No lo
puedo soportar. Cuando los pobres ganan dinero deberían comportarse con mayor
dignidad, dijo. Cuando los pobres ganan dinero, deberían ayudar a sus vecinos. Cuando los
pobres ganan mucho dinero, deberían mandar a sus hijos a la universidad y adoptar a uno o
más huérfanos. (2666: 317)
Was Seaman hier anprangert, ist die Art und Weise, wie sich Neureiche verhalten, nachdem sie
zu Geld gekommen sind. Ihm zufolge verhalten sie sich nicht würdevoll, sondern stellen ihren
neu erworbenen Reichtum viel zu ostentativ zur Schau und wollen sich so von den Armen
abheben, zu den sie ja selbst einmal gehörten. Sie wollen demonstrieren, dass ihnen, nachdem
55
sie zu Reichtum gekommen sind, nun die Welt gehöre. Vielmehr sollten sie sich aber mit
ihnen identifizieren, sie sollten ihren Nächsten helfen, Kinder adoptieren und in Bildung
investieren.
Nach dieser Collage diverser alternativer Entwürfe und Globalitäten quer durch den
Roman stellt sich die Frage nach der sie einenden Gesamtglobalität, die die 2666 ausmacht.
Alle Figuren, die in diesem Kapitel zu Wort kamen, sind in irgendeiner Weise gesellschaftlich
marginalisiert oder stehen am Rande des Wahnsinns. Ein Obdachloser sowie der verrückt
gewordene Künstler Edwin Johns im ersten Teil; der esoterische und an Stimmen und
Wahnvorstellungen leidende Philosophieprofessor Amalfitano im zweiten Teil; ein ehemaliger
Häftling und Afroamerikaner namens Barry Seaman sowie der Afroamerikaner Fate im dritten
Teil; die TV-Heilige Florita Almada im vierten Teil; der Jude Borís Ansky im fünften Teil.
Allesamt üben sie nicht nur Kritik am kapitalistischen und nutzenorientierten System der
Globalisierung, sondern verweisen auf ihre Weise allesamt auf eine höhere alternative
göttliche oder gottähnliche Instanz, die in all ihrer Leben zu fehlen scheint. Mit dieser Instanz,
bei dem einen mehr, bei dem anderen weniger, ist das Soziale und Ethische verbunden, der
Einklang mit der Natur, weshalb viele Aussagen der genannten Figuren religiös anmuten.
Es ist dabei wohl kein Zufall, dass es hauptsächlich verrückte, kranke, an
Wahnvorstellungen leidende und außenstehende Personen sind, die Kritik üben und
gleichzeitig immer Gefahr laufen, nicht ernst genommen, indem ihre Aussagen ins Irrationale
abgedrängt werden. Bei ihnen wird der existenzielle Kapitalismus besonders sichtbar. Auch
während des Zweiten Weltkrieges haben diejenigen Soldaten Nervenleiden, die angesichts der
Dimensionen des Krieges verzweifeln; im globalisierten Zeitalter sind es diejenigen, die nicht
produktiv und effizient denken und handeln. Somit werden die Norm und der vorherrschende
Diskurs der Anpassung an den (wirtschaftlichen) Fortschritt insbesondere anhand der in
dieser Hinsicht scheiternden Figuren in 2666 erkennbar. Die Komposition der fiktionalen Welt
in 2666 und die Globalität des Romans machen zudem deutlich, dass die Paradigma der
gegenwärtigen Welt nicht erst seit der Globalisierung bestehen. Die Globalität in 2666 ist aber
auch ein Gegenmodell zu dieser vorherrschenden kapitalistischen Moral, ein ethischer
Diskurs, der jedoch auf verlorenem Posten steht in der Globalisierung, in der die Kritik an
Globalisierung nur noch aus den Mündern von Verrückten stammt.
3.4 GLOBALITÄT UND FIKTION
„Sólo la poesía está fuera del negocio“ (2666: 288f.), lautet es an einer Stelle des Romans.
Glaubt man dieser Aussage, würde dies bedeuten, dass selbst Romane sich nicht ausnehmen
können von der Kommerzialisierung, ebenso wie die Kunst im Allgemeinen. In diesem Kapitel
wollen wir uns die Überlegungen zur Rolle der Kunst im Allgemeinen und zur Funktion des
literarischen Textes in 2666 genauer untersuchen, um ihre Bedeutung für die dem Roman
56
eigene Globalität zu begreifen. Dazu werden wir zunächst die Kunst- und Medienreflexion in
2666 beleuchten, um schließlich ausführlicher auf die Darstellungsweise des Romans,
insbesondere des vierten Teils, einzugehen, bei dem sich die Frage nach der Ethik (in der
Ästhetik) stellt. Während es also bislang vor allem um die Globalität in der Fiktion, nämlich
des Romans 2666 ging, ist nun die Frage, welche Rolle der Fiktion in der Globalität zukommt.
Die Wahrnehmung der Realität durch die Figuren in 2666 wird, wie bereits thematisiert,
zum einen geprägt durch die Transportmittel, in denen sie sich, die Welt betrachtend,
fortbewegen. Gleichzeitig wird die dargestellte Realität auch als Produkt medialer
Darstellungen präsentiert. Die Prägung durch mediale Darstellungen, insbesondere filmische,
ist bei den Figuren in 2666 so stark, dass die Realität eher wie ein Abbild der Fiktionen wirkt
als andersherum. So betrachtet Fate die Abschiedsszene zwischen Amalfitano und seiner
Tochter Rosa „como si fuera una película“ (2666: 433). Und auch die Ermittlung zu den
Frauenmorden ist geprägt durch mediale Imagination: „Tenemos un asesino en serie, como en
las películas de los gringos“, behauptet der Gerichtsvollzieher Ernesto Ortiz Rebolledo (2666:
588f.). Auch Kessler nimmt bei seiner Taxifahrt durch die Elendsviertel die Dinge gemäß seiner
filmischen ‚Bildung‘ wahr. So malt er sich aus, in einem der Viertel sei eine Atombombe
gefallen und äußert sich folgendermaßen über die zombiehaften Bewohner dieses Viertels: „los
afectados no cuentan porque han enloquecido o porque están muertos, aunque caminen y nos
miren, ojos y miradas salidos directamente de una película del oeste, del lado de los indios o de
los malos, por descontado“ (2666: 752f.).
Darüber hinaus finden sich, wie gewöhnlich bei Bolaño, denkt man beispielsweise an
Carlos Wieder aus Estrella Distante (1996), diverse Überlegungen zur ambivalenten Rolle der
Kunst: Das gilt nicht nur für die Beeinflussung der subjektiven Wahrnehmung der Welt,
sondern auch für konkretere Implikationen. Eine Art historischer ‚Vorgeschmack‘ auf den
vierten Teil von 2666, obwohl er in der Reihenfolge des Romans danach kommt, ist das Werk
des Künstlers Conrad Halder, über den gesagt wird, dass er nur Bilder von toten Frauen male
(vgl. 2666: 853). Auch andere literarische, utopische Entwürfe ähneln später auf unheimliche
Weise der dargestellten Realität oder scheinen diese vorwegzunehmen:
En tres horas, Ivánov escribió su primer cuento de ciencia ficción. Se titulaba El tren de los
Urales y un niño, que viajaba en un tren cuya media de velocidad era de doscientos
kilómetros, contaba con su propia voz aquello que pasaba ante sus ojos: fábricas
relucientes, campos bien trabajados, aldeas nuevas y modélicas constituidas por dos o tres
edificios de más de diez pisos, visitadas por alegres delegaciones extranjeras que tomaban
buena nota de los progresos logrados para aplicarlos después en sus respectivos países.
(2666: 889)
Diese kommunistische Zukunftsutopie aus dem Russland nach der Revolution 1917 soll das
Leben in Russland 1940 darstellen. Fortschritt und Produktivität spielen in diesem
kommunistischen Imaginarium interessanterweise eine ebenso große Rolle wie in der
kapitalistischen Realität, wie wir sie in diversen Epochen und verschiedenen Orten der
Geschichte, insbesondere in Santa Teresa, haben sehen können, ebenso das Bestreben anderer
Länder, denselben Weg von Entwicklung einzuschlagen. Ivánov wird gefeiert für seine
57
„fórmula del futuro“, für seine „visiones arcádicas“ (2666: 891). Wie nah diese arkadischbukolischen Fantasien jedoch am Schrecken sind, wird kurze Zeit später in anderem Kontext
erwähnt, eine Stelle, die ebenso wie die Nacherzählung der Science-Fiction-Erzählung aus
Borís Anskys Tagebuch stammt: „una película […] que empezaría de forma bucólica y que poco
a poco se iría convirtiendo en una película de horror“ (2666: 913).
Ebenso wie die Kunst also eine Art ‚Mitschuld‘ an der gegenwärtigen Situation trägt,
wird sie aber auch immer wieder zu ihrem Opfer. So berichtet beispielsweise wiederum Ansky,
wie Gustave COURBETS Gemälde Le retour de la conférence (1863) von einem reichen Katholiken
zuerst gekauft und dann verbrannt wird (vgl. 2666: 912). Die Kunst kann durch ihre
Kommerzialisierung zum Opfer ebendieser Kommerzialisierung werden, steht ohne Schutz da,
ist ihrem Besitzer ausgeliefert.
Die Rolle der Literatur im Allgemeinen in 2666 ist ambivalent. Barry Seaman spricht sich
in seiner Predigt noch für das Lesen als einzige wirklich sinnvolle Tätigkeit im ansonsten
korrumpierten und effizienzorientierten Leben aus (vgl. 2666: 326); Archimboldi und sein
Œuvre hingegen werden im ersten Teil eher als ein Opfer der eifrigen, geradezu wütigen
Literaturwissenschaftler dargestellt; Borís Anskys Tagebücher hingegen sind der einzige
Lichtblick für den Soldaten Hans Reiter im fünften Teil und bringen ihn von seinem Wunsch
ab, im Krieg einen sicheren Tod zu finden.
Wie aber steht es, neben diesen unterschiedlichen Referenzen auf ‚fremde‘ Werke, um
den Roman 2666 selbst bzw. seine literarische Form? Das über 1100 Seiten lange Werk fällt,
auch da es Bolaños einziges Werk von dieser Größe ist, zunächst einmal durch seinen Umfang
auf. Nicht zuletzt deshalb und gemeinsam mit der Tatsache, dass es posthum erschien, wird es
wohl oft als Bolaños Meisterwerk bezeichnet. Stefano ERCOLINO (2014: 25-32) betont, dass die
sog. maximalist novels, zu denen er 2666 zählt, zum einen aus einer Spätphase des
Kapitalismus resultieren, zum anderen den oft enzyklopädisch anmutenden Versuch
unternehmen, die hyperkomplexe und chaotische Welt irgendwie zu greifen oder zu begreifen,
indem sie in die ‚Ordnung‘ des Romans überführt wird. Dementsprechend erhofft sich der
Leser, der im Kapitalismus ja auch ein Käufer ist, von einer maximalist novel, dass darin in
irgendeiner Weise die ganze Welt verhandelt wird oder vielleicht sogar das Geheimnis der
Welt wenn nicht aufgedeckt, so doch zumindest angesprochen wird.
Der ‚sensationellste‘ Teil von 2666 ist bekanntermaßen der vierte, zu dessen neutraler
Darstellungsweise bereits viele poetologische Überlegungen angestellt wurden, die aber in die
unterschiedlichsten Richtungen weisen. Wir wollen uns diese ‚Interpretationen‘ der
provokanten Darstellungsweise des vierten Teils von 2666 abschließend ansehen. Dabei stehen
sich eine ethische Lesart und eine weniger ethische Lesart gegenüber.
Zur ‚Verteidigung‘ des vierten Teils könnte man sagen, dass die Darstellung Bolaños
lediglich eine überaus realistische ist. Denn anonyme Leichenfunde stehen in einigen Teilen
der Welt an der Tagesordnung. Doch obwohl wir uns der Realität ‚ferner Länder‘ bewusst sind,
58
ist ein Fund nach dem anderen im vierten Teil schockierend für den Leser, der in den meisten
Fällen wohl kein maquiladora-Arbeiter ist und sich als Anhänger der Menschenrechte versteht.
Diese Rezeption wurde von Bolaño sicherlich mitbedacht. Warum hält der Schock trotz
unseres Wissens über die Welt an? Das liegt wohl daran, dass das Leben von Romanfiguren,
literaturhistorisch betrachtet, wenn nicht schützenswert, dann doch zumindest bedeutsam ist.
2666 aber ist die endgültige Einfahrt der Literatur in das nackte Leben derjenigen anonymen
und schutzlosen Körper, die jeglicher politischer Identität und Relevanz entbehren und bislang
in den seltensten Fällen zu Romanfiguren wurden.
Vor dem Hintergrund der Asymmetrie zwischen der kruden Realität und der (vielleicht
weltfremden) literarischen Realität lässt sich auch der folgende historische Exkurs Kesslers
besser verstehen, der seinem Gesprächspartner, der sagt, wir hätten uns an den Tod gewöhnt,
entgegnet, dass dies schon immer der Fall war:
No queríamos tener a la muerte en casa, en nuestros sueños y fantasías, sin embargo es un
hecho que se cometían crímenes terribles, descuartizamientos, violaciones de todo tipo, e
incluso asesinatos en serie. [...] Todo pasaba por el filtro de las palabras, convenientemente
adecuado a nuestro miedo. ¿Qué hace un niño cuando tiene miedo? Cierra los ojos. [...] Las
palabras servían para ese fin. [...] las palabras solían ejercitarse más en el arte de esconder
que en el arte de develar. (2666: 337-339)
Chroniken des 19. Jahrhunderts haben laut Kessler eine Sprache gefunden, die die gewalttätige
Realität verschleiert und die Angst der Leute reduziert. Niemand möchte den Tod bei sich
zuhause haben, von ihm heimgesucht werden. Wie also sollen journalistische und literarische
Texte vom Tod berichten? Sie schaffen es in irgendeiner Weise, dass ihre Worte dabei helfen,
die Augen vor der Gewalt zu verschließen. Auch sehr viel später im Roman ist die Rede davon,
wie sog. obras menores Teil einer großen Camouflage seien (vgl. 2666: 984).
Wie genau diese Verschleierungstechnik vonstatten geht, wird nicht gesagt, jedoch gibt
uns eine Chronik des Argentiniers Roberto ARLT eine Idee davon, was Bolaño hier vielleicht
meint. So heißt es bei ihm:
[…] la palabra se descubre tartamuda, impotente. Los hechos del pasado y del presente no
guardan relación entre sí. Han variado las velocidades. Ejemplo:
1914. Un documental cinematográfico de Lovaina. Letrero de la época: ‘Aquí murieron
quinientos civiles’.
1940. Un documental cinematográfico de Ámsterdam. Letrero del momento: ‘Aqui
murieron cien mil civiles’.
Quinientos…cien mil…Qué relación guardan entre sí estas dos cifras? Ninguna. (ARLT 1940:
567)
Die journalistische Berichterstattung kennt nur Zahlen als Mittel, um auf die Toten zu
verweisen. Zahlen machen die realen Toten in ein anderes Medium ‚exportierbar‘, die Zahl
alleine gibt die Massen an Toten wieder. Jedoch werden die Quantifizierung und die abstrakte
Zahl den Umständen nicht gerecht. Wo das Wort machtlos erscheint, Sprachlosigkeit herrscht,
wird auf Zahlen ausgewichen, die aber die Repräsentationsproblematik nur verschärfen.
Ist der vierte Teil von 2666 also der Versuch, eine Sprache oder Darstellungsweise der
Gewalt zu finden? Ist die Katalogisierung, wie HERLINGHAUS (2013: 214) sagt, ein Gegenentwurf
59
zum (nicht existenten) vorherrschenden Diskurs über den Tod? Will, wie BORSÒ (2012: 227f.)
meint, 2666 wirklich Lebenszeichen der anonymen Körper aufdecken, ein Antlitz à la LEVINAS
rekonstruieren? Möchte 2666 die toten Frauen aus dem (globalen) Vergessen retten? Gelingt
es 2666, die unerzählbaren Tatsachen (vgl. BALMACEDA 2010: 327) zu erzählen? Immerhin wird
der Roman der Forderung Amalfitanos gerecht, eine obra maestra solle „ese aquello que nos
atemoriza a todos“ enthalten sowie „sangre y heridas mortales y fetidez“ (2666: 290)52.
Doch ist die Sprache des vierten Teils bekanntlich eine, die die nüchterne,
wissenschaftliche Sprache der Forensik imitiert. Eine Sprache, mit der Zeitgenossen der
Diktaturen des Cono Sur (darunter Bolaño selbst) bestens vertraut sind, da sie in der
Berichterstattung über die durch die Militärdiktatur Verschwundenen eingesetzt wurde (vgl.
MUNIZ 2010: 36). Vielerorts wird betont, dass es gerade diese in 2666 bemühte Sprache ist, die
eine Distanz zu den toten Protagonistinnen schafft: Es herrscht ein sezierender, distanzierter,
objektivierter, abstrahierender Blick, eine geradezu in sich gewalttätige Sprache (vgl. WALKER
2010: 106f.). Die Körper der Frauen werden für den Leser so selber zum Objekt der Betrachtung
durch die Erzählweise. Angesichts der Masse an Fällen gewöhnt sich der Leser an die Leichen
(vgl. BALMACEDA 2010: 332).
Die ständige Wiederholung mit kargen Details ist dem Anspruch der Vollständigkeit,
dem Realismus verpflichtet, doch für den Leser bleibt dadurch eine anonyme, die immer
gleiche Gewalt aufweisende Masse von Toten im Kopf, zu denen in den seltensten Fällen eine
tiefergehende, individuelle Geschichte geboten wird und so verliert der Leser selbst den
Überblick, die Fälle multiplizieren sich. Diese anti-narrative Technik (vgl. HERLINGHAUS 2013:
212) führt zur Abstumpfung des Lesers selbst angesichts der sich stetig reproduzierenden,
monotonen Gewalt, distanziert uns vom Verbrechen, anstatt es uns näher zu bringen (vgl.
MUNIZ 2010: 41) und am schlimmsten: Sie distanziert uns von den Schicksalen selbst. Der vierte
Teil wird zu einem Horror, der zu allem Unglück auch noch beginnt, uns streckenweise zu
langweilen. Somit vollzieht der Leser ungewollt das, was ihn an 2666 eigentlich schockiert: Er
blättert weiter, vergisst die Identität der einzelnen Figuren, zu sehr ähneln sie sich, zu sehr
reproduziert sich hier die immer gleiche Gewalt. Ein ennui, der auch durch die Perspektive auf
die Masse entsteht.
Nicht zuletzt kann man soweit gehen, zu behaupten, dass 2666 selbst (zumindest
ästhetisches) Kapital aus dieser Darstellungsweise schlägt. So wie Fate aus dem Material der
harten Realität eine sensationalistische Reportage machen möchte (vgl. 2666: 373), muss man
sich fragen, inwiefern die die Gewalt reproduzierende Darstellungsweise nicht selbst als
52
Interessant in diesem Kontext ist auch die Stelle, in der der Mann, der Hans Reiter alias Archimboldi
die Schreibmaschine verkauft, erzählt, wie er seinem großen Schriftstelleridol in Form eines
Pathologie-Mitarbeiters der Universität wieder zu begegnen glaubt und ihm das folgende erzählt:
„[...] trabajar en la morgue sin duda lo llevaría a reflexiones atinadas o por lo menos originales acerca
del destino humano. [...] Aquel marco, dije extendiendo los brazos y abarcando todo el depósito, era
en cierta manera el lugar ideal para pensar en la brevedad de la vida, el lo insondable que resulta el
destino de los hombres, en la futilidad de los empeños mundanos“ (2666: 988).
60
‚spektakulärer Roman‘ davon profitiert. An einer Stelle wird der kinematographische Charakter
der Frauenmorde selbst betont (vgl. 2666: 675). Es gibt im Roman darüber hinaus den
Verdacht, dass hinter den Frauenmorden die sog. snuff-Industrie stehen könnte, also die
Aufzeichnung
realer
Morde
(vgl.
2666:
669-681).
Snuff
überwindet
den
Repräsentationscharakter der Kunst und die damit verbundene Problematik, da die ‚Kunst‘
nicht mehr nur die Ausstellung des Verbrechens ist, sondern das Objekt der Darstellung selbst
beinhaltet (vgl. VALDIVIA 2013: 485; TOPCZEWSKA 2012: 6). Gilt das auch für die ‚gewalttätige
Sprache‘ von 2666, deren Romanstoff die körperlichen Objekte der Leichen sind (vgl.
TOPCZEWSKA 2012)? Fest steht, dass die Realität viele Möglichkeiten der avantgardistischen
Darstellungsweise bietet, sodass der Drang selbst nach Fortschritt, Steigerung und
Überbietung in 2666 eingeschrieben ist, was aber durch den Verweis auf die ambivalente Rolle
der Kunst reflektiert wird.
Ist Bolaños Inszenierung also ethisch oder unethisch, ist sie anklagend oder selber
verwickelt
in
die
dargestellte
Gewalt?
Wir
können
abschließend
nur
auf
die
Unentscheidbarkeit darüber verweisen: Bolaño spielt mit der Unentschlossenheit des Lesers,
wie er das, was er liest, zu bewerten hat. Die schwankende Ethik in der Globalisierung
manifestiert sich somit nicht nur auf thematischer, sondern auch auf diskursiver Ebene.
Enthüllung und präzise Sprache führen zu keiner Klarheit, trotz minutiöser Aufdeckung
herrscht am Ende doch Ratlosigkeit über die Geschehnisse, ihre Umstände und ihr Verhältnis
zum Geheimnis der Welt.
ABSCHLIEßEND: Al borde del abismo
Wird das Geheimnis der Welt, auf das in 2666 verwiesen wird, abschließend also aufgedeckt
oder verdeckt? Man könnte sagen, beides zugleich, denn obwohl wir eine geradezu
enzyklopädische Überfülle an einsehbaren Informationen und Fakten vorliegen haben, scheint
das Essentielle doch verborgen. Die Namen diverser, potentieller Täter der Frauenmorde
werden genannt, die analogen Spuren weisen fast zu offensichtlich in Richtung der in Santa
Teresa ansässigen Industrie und Drogenökonomie, aber gleichzeitig entziehen sich diese
jeglicher Schuldfrage und lassen die Vermutungen haltlos dastehen. So erscheint das
übermäßig
Sichtbare
zugleich
unerreichbar,
absurd
und
unwahrscheinlich;
der
Hyperrealismus und die Hypervisibilität des vierten Teils verdunkeln, verwirren, wirken irreal.
Diese Undurchdringlichkeit, auch der Machtverhältnisse, verdeutlicht die zugängliche und
doch verborgene Informations- und Wissensstruktur des globalisierten Zeitalters.
2666 blickt auf eine unmenschliche Menschheitsgeschichte zurück und dabei auf ein
besonders unmenschliches 20. Jahrhundert, wobei Santa Teresa zu einem transnationalen
Emblem des Fortschrittswahns und somit der Tendenzen der Globalisierung wird. Die Folgen
der globalisierten Wirtschaftspolitik manifestieren sich in omnipräsenter Migration und
Mobilität, in der Entmenschlichung der Produktion, in der Trennung und gleichzeitiger Nähe
61
von Arm und Reich im urbanen Raum (die Grenzregion Mexiko/USA symbolisiert dabei eine
besondere Verdichtung und unmittelbare Nähe der asymmetrischen Welten zueinander)
sowie in der menschengemachten, räumlichen Umgestaltung des Globus, die in der
Verwüstung und Vermüllung des Lebensraums mündet.
Ein Streifzug durch die Globalgeschichte und ihre Verbrechen gibt Anhaltspunkte für die
Situation in Santa Teresa und auch für die hier stattfindende Gewalt an Frauen, die symbolisch
für die Selbstzerstörung des Menschen steht, da dieser durch sein lineares Streben nach
Fortschritt und nach Produktivität überall auf dem Globus und zu jeder Zeit unmenschliche
Systeme schafft, die über exzessive Gewalt verbunden werden. Die Komposition der fiktionalen
Welt und die Globalität des Romans 2666 deuten dabei immer wieder auf den in der
unveränderlichen menschlichen Natur tief verankerten Hang zur Gewalt hin, der nicht erst seit
der Globalisierung besteht. Somit ist Bolaños Werk nicht nur eine Kritik am kapitalistischen
System und an dessen paradoxalem liberalen Impetus, sondern auch Zeugnis einer negativen
Anthropologie.
Wenngleich alle Menschen das Potenzial zu Gewalttaten haben, ohne dabei
ausgesprochen ‚böse‘ zu wirken, so gibt es im Roman doch einzelne Figuren, die aus dem
negativen Menschenbild herausstechen: Es sind die kritischen Stimmen innerhalb des
Romans, die aber allesamt entweder dabei sind, zu verstummen, zu erkranken oder als
verrückt stigmatisiert zu werden, die also in der im Roman 2666 dargestellten Welt zu den
Verlierern gehören. Diese Fokussierung des Romans auf die Marginalisierten der globalisierten
Gesellschaft wird wohl am deutlichsten anhand der anonymen Masse von toten
Protagonistinnen, denen selbst keine Möglichkeit mehr gegeben ist, für sich zu sprechen bzw.
ihre individuelle Geschichte zu erzählen, die sie vor dem Vergessen bewahren könnte.
Es lässt sich abschließend konstatieren, dass nicht etwa die in 2666 dargestellte Realität
und Präsenz von exzessiver Gewalt ein Novum ist, sondern vielmehr die Art der Darstellung
und die entsprechende Wahrnehmung des Lesers, der so selbst mit der Routine und
Anonymität von Gewalt in Berührung kommt. Die globale Sicht auf das Elend entfremdet
derart, dass der moderne Horror vor dem ennui zu einem ennui des Horrors wird. Der Roman
und sein Leser verorten sich inmitten der Werte-Freiheit der globalisierten Gesellschaft.
Bolaños Nihilismus konstatiert die klaffende Lücke, die die Abkehr von politischen Idealen
hinterlässt, ein identifikatorisches Vakuum ohne Nationalismus, aber auch ohne soziale
Entwürfe, eine globale Gesellschaft, in der die Frage der Ethik, auch der Ethik der Ästhetik, die
er austestet und mit der er experimentiert, noch ungeklärt ist, aber sich bedrohlich nah am
Rande des Abgrunds bewegt.
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fälschlicherweise mit dem Titel eines anderen im entsprechenden Sammelband
abgedruckten Aufsatzes von Luis MARTÍNEZ DE MINGO abgedruckt „2666 personajes en
busca de un destino”]
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ABBILDUNGEN
Abbildung 1: Mexiko größter Kreditnehmer des IWF in den Jahren 1987 bis 1992
Quelle: „Kurs auf die Krise“, in: LE MONDE DIPLOMATIQUE (2011), Atlas der Globalisierung. Das
20. Jahrhundert, Berlin: Le monde diplomatique/taz, 71.
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Abbildung 2: Bolaños Skizze des fiktiven Santa Teresa
Quelle: Juan INSUA, Hrsg. (2013), Archivo Bolaño 1977 – 2003 [Katalog zur Ausstellung 2013 im
Centre de Cultura Contemporània de Barcelona], Barcelona: Diputació, 106f.
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Abbildung 3: Einsatzgebiet der Einsatzgruppe C
Quelle: „Der Zweite Weltkrieg“, in: LE MONDE DIPLOMATIQUE (2011), Atlas der Globalisierung.
Das 20. Jahrhundert, Berlin: Le monde diplomatique/taz, 29.
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ERKLÄRUNG
Hiermit erkläre ich an Eides statt, dass ich diese Masterarbeit selbstständig verfasst und keine
anderen als die angegebenen Quellen und Hilfsmittel benutzt habe. Die Stellen meiner Arbeit,
die dem Wortlaut oder dem Sinn nach anderen Werken und Quellen, einschließlich der
Quellen aus dem Internet, entnommen sind, habe ich in jedem Fall unter Angabe der Quelle
als Entlehnung kenntlich gemacht. Dasselbe gilt sinngemäß für Tabellen, Karten und
Abbildungen. Diese Arbeit habe ich in gleicher oder ähnlicher Form oder auszugsweise nicht
im Rahmen einer anderen Prüfung eingereicht.
Ich versichere zudem, dass der Text der elektronischen Fassung mit dem Text der vorgelegten
Druckfassung identisch ist.
Köln, den 13.08.2015
Leyla Bektaş
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