Feminicidio an der US- amerikanisch
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Feminicidio an der US- amerikanisch
SE BASE Bachelorseminar Dr.in Patricia Zuckerhut Wintersemester 2012/2013 Feminicidio an der USamerikanischmexikanischen Grenze Machismo als Todesurteil? Sarah Theierling Matrikelnummer: 1003783 Studium: A 033 579 E-mail: [email protected] Geburtsdatum: 21.01.1990 Abgabetermin: 20.06.2013 Sarah Theierling 1. Abkürzungsverzeichnis EOI Export Oriented Industrialisation (dt. Exportgetriebene Industrialisierung) EPZ Export Processing Zone (dt. Exportproduktionszone) GATT General Agreement on Tariffs and Trade (dt. Allgemeines Zoll- und Handelsabkommen) IMF International Monetary Fund (dt. Internationaler Währungsfonds) NAFTA North American Free Trade Agreement (dt. Nordamerikanisches Freihandelsabkommen) SAP Structural Adjustment Papers (dt. Strukturanpassungsprogramme) WB World Bank (dt. Weltbank) 2 Feminicidio an der US-amerikanisch-mexikanischen Grenze. Machismo als Todesurteil? 2. Abstract Die Bachelor-Arbeit setzt sich mit den seit 1993 vermehrt auftretenden Frauenmorden an der US-amerikanisch-mexikanischen Grenze auseinander und zeigt bisherige Erklärungsansätze und Motive für die sexualisierte Gewalt auf. Im Zentrum der Analyse steht die Frage nach der Rolle des Machismos in der (feministischen) Literatur. Die Besonderheit des Feminicidios – des Genozids von Frauen – und die Komplexität der Situation werden mit Hilfe der Faktoren wirtschaftliche Nord-Süd-Integration, gender-basierte Arbeitsteilung, Migration und Straflosigkeit vor dem Hintergrund eines denationalisierten Grenzraums veranschaulicht. Am Ende der Arbeit werden die beiden zentralen Positionen zur Rolle des Machismo und ihre Hauptargumente gegenübergestellt. Während der erste Ansatz den „mexikanischen Männlichkeitskult“ als Ursache für den Feminicidio sieht, lehnt der zweite Ansatz diese kulturalisierende Sichtweise entschieden ab und sieht stattdessen sozioökonomische Entwicklungen und ungleichheitsgenerierende Effekte im Rahmen von neoliberalen Politiken als Basis für den Gender Terror in der Grenzregion. 3 Sarah Theierling 3. Inhaltsverzeichnis 1. Abkürzungsverzeichnis ....................................................................................................... 2 2. Abstract ............................................................................................................................... 3 3. Inhaltsverzeichnis ................................................................................................................ 4 4. Einleitung und Problemstellung .......................................................................................... 5 5. Feminicidio an der Grenze – Erklärungsansätze und Hintergründe ................................. 12 5.1. sozioökonomische Entwicklungen ............................................................................ 24 5.2. Maquiladoras ............................................................................................................. 28 5.2.1. Feminisierung von Arbeit ................................................................................... 30 5.2.2. Worker & Whore ................................................................................................ 32 5.2.3. Fetischisierung der Frau ..................................................................................... 34 5.2.4. Zusammenfassung und Schlussfolgerung: Maquiladoras .................................. 35 5.3. „Macho Backlash“ & „Machista Society“ ............................................................... 35 5.4. Migration ................................................................................................................... 39 5.5. Straflosigkeit – unwilling or unable?......................................................................... 42 5.5.1. Polizei ................................................................................................................. 42 5.5.2. Regierung ........................................................................................................... 44 5.5.3. Justiz ................................................................................................................... 46 5.5.4. „korporatives Verbrechen“ ................................................................................. 47 5.5.5. Zusammenfassung und Schlussfolgerung: Straflosigkeit .................................. 49 5.6. Whose Border? – Denationalisierung ........................................................................ 50 6. Zusammenfassung ............................................................................................................. 52 7. Fazit ................................................................................................................................... 57 8. 4 7.1. Machismo als zentraler Faktor ................................................................................... 58 7.2. Machismo als nebensächlicher Faktor ....................................................................... 59 7.3. Resümee..................................................................................................................... 61 Bibliographie ..................................................................................................................... 64 Feminicidio an der US-amerikanisch-mexikanischen Grenze. Machismo als Todesurteil? 4. Einleitung und Problemstellung Meinen regionalen Schwerpunkt – Lateinamerika – hatte ich eigentlich schon vor dem Beginn meines Studiums gewählt. Die Faszination der Region und ihre/r Geschichte/n rührt von meinem siebenmonatigen Südamerika-Aufenthalt 2009 her, der wesentlich zu meiner Entscheidung für das Studium der Internationalen Entwicklung beigetragen hat. Auf meinen Reisen ist mir des Öfteren auch der sogenannte „Machismo“ begegnet, jedoch meist eher in einer umschmeichelnden Form, selten wirklich aufdringlich. Als „Phänomen Machismo“ haben diese und viele andere Erlebnisse meine Erinnerungen an Südamerika geprägt. Neben den vielen glücklichen Momenten habe ich auch bedrückende Situationen erlebt. Besonders einprägsam waren für mich die großen Unterschiede in der Gesellschaft und die Kluft zwischen Arm und Reich, mit der man tagtäglich konfrontiert wurde. Zurück in Wien wollte ich meine eigenen Erlebnisse in einen größeren Kontext setzten und nach dem Hintergrund für die enorme sozioökonomische Ungleichheit, die große Teile von Südamerika prägt, suchen. Im Laufe meines Studiums wurde mir immer mehr bewusst, dass die Konstruktion von „Andersartigkeit“ als wirkmächtiges Konstrukt der Kolonialmächte dazu dient/e, Hierarchien und Unterdrückung zu legitimieren, und dazu führte, dass sowohl in Europa als auch in den Kolonien mithilfe der Kategorien Race, Class und Gender1 hierarchische Gesellschaftsverhältnisse etabliert und gefestigt wurden, die bis heute die Gesellschaften prägen. Die koloniale Vergangenheit nicht als einseitigen, linearen, sondern als wechselseitigen Prozess zu verstehen, ist daher wichtig, um fortbestehende soziale Spannungsverhältnisse und globale Zusammenhänge zu begreifen. Koloniale Geschichte zeigt überall auf der Welt auf, wie sehr die verschiedenen Ebenen der Unterdrückung zusammenspielen und sich gegenseitig stützen. Die Dynamik von Sexismus, Rassismus und Klassismus spielt beim Erhalt von Machthierarchien auch nach Ende der Kolonialzeit eine zentrale Rolle für globale Interaktionen, wie viele Autor*innen der Postcolonial Studies aufgezeigt haben2. 1 Unter Gender wird hier „soziales“ Geschlecht verstanden, also Zuschreibungen und Erwartungen, die an ein „biologisches“ Geschlecht geknüpft sind. Als soziale Institution ist Gender eines der wichtigsten Ordnungsprinzipien für die Lebensgestaltung der Menschen (vgl. Lorber 1999). In der feministischen Literatur wird oftmals die Unterscheidung von Sex & Gender („biologisches“ & „soziales“ Geschlecht) verwendet, was allerdings auch von einigen Autor*innen (unter anderem: Butler 1991; Fausto Sterling 2000) kritisiert wurde und wird. 2 Bekannte Werke und Vertreter*innen der Postcolonial Studies sind unter anderen Said 1978, Spivak 1988, do Mar Castro Varela/Dhawan 2003. 5 Sarah Theierling Für ein Verständnis von komplexen gesellschaftlichen Phänomenen – wie das des Feminicidios – ist meines Erachtens eine intersektionale Herangehensweise unablässig. Eine Analyse des Zusammenwirkens, der Wechselwirkungen und der Überschneidungen der verschiedenen Unterdrückungskategorien ist notwendig, um sexualisierte Gewalt begreifbar zu machen. In meiner Arbeit widme ich mich der äußerst schockierenden und menschenverachtenden Situation im US-amerikanisch-mexikanischen Grenzraum. Seit 1993 werden in der Grenzregion vermehrt Frauenleichen, die in aller Öffentlichkeit zur Schau gestellt werden, gefunden. Besonders die im Norden des mexikanischen Bundesstaates Chihuahua gelegene Stadt Ciudad Juárez, die seit Mitte der 1960er einerseits wesentlich an der mexikanischen Wirtschaftsentwicklung beteiligt war, andererseits auch zum Schauplatz für kriminelle Verbrechen aller Art geworden ist, wurde daraufhin als „Hauptstadt des Feminizids“ (vgl. Fernandez/Rampal 2007) bekannt. Bei Feminicidio – Genozid von Frauen (vgl. Lagarde y de los Rios 2010) – handelt es sich jedoch nicht um „normale“ Morde; die Leichen weisen grausame Verstümmelungen auf, die auf vermehrte Gewaltanwendung, brutale Vergewaltigungen und Folter schließen lassen. Diese frauenverachtenden, bislang nicht aufgeklärten Verbrechen haben zwar seit einiger Zeit internationale Aufmerksamkeit erregt, dem Gender Terror konnte jedoch bis dato noch kein Ende gesetzt werden. Ich werde in meiner Arbeit diverse Erklärungsansätze für diese Gräuel vorstellen und dabei besonders die Rolle des sogenannten „Machismo“ beleuchten. Es geht hier darum einen möglichen Zusammenhang zwischen Hypermaskulinität und Misogynie herzustellen beziehungsweise herauszufinden, welchen Stellenwert der „mexikanische Männlichkeitskult“ im Zusammenhang mit der sexualisierten Gewalt in der Grenzregion hat. Die zentrale Fragestellung meiner Arbeit lautet „Welche Rolle spielt der Machismo in den (feministischen) Analysen der sexualisierten Gewalt an der US-amerikanisch-mexikanischen Grenze?“. Wie sich aus der Fragestellung bereits erkennen lässt, handelt es sich bei der Methode um eine Literaturrecherche und -aufarbeitung. Es geht hier hauptsächlich darum, bisherige Erklärungen und Motive für die Frauenmorde aufzuzeigen und herauszufinden, welche spezifische Rolle der Machismo in diesen Analysen spielt. In den letzten 20 Jahren wurde bereits sehr viel über den Feminicidio geschrieben und auch das Thema Machismo wurde in diesem Zusammenhang bereits mehrfach aufgegriffen. Es wird jedoch auf völlig 6 Feminicidio an der US-amerikanisch-mexikanischen Grenze. Machismo als Todesurteil? unterschiedliche Art und Weise behandelt, daher finden sich auch widersprüchliche Perspektiven in der wissenschaftlichen Literatur. Teilweise wurde aus einer sehr kulturalisierenden Sichtweise argumentiert, was aber an anderer Stelle durchaus auch problematisiert wurde, da viele Autor*innen eine kritische Position gegenüber Arbeiten, welche auf „kulturellen“ Stereotypen basieren, eingenommen haben. (Zeilinger 2004; Schmidt Camacho 2005; Wright 2004; 2007; 2011; Huffschmid 2006; Iturralde 2010; Weissman 2010; Segato 2010) Ich schreibe zu Beginn des Hauptteils ausführlicher über den derzeitigen Forschungsstand und die verschiedenen Herangehensweisen zum Thema Machismo (siehe Einleitung Machismo), weshalb ich das Augenmerk hier auf die vorherrschenden Erklärungsansätze zum Feminicidio legen möchte. Die Strukturierung meiner Arbeit ist sehr stark an der Akzentsetzung der von mir rezipierten Autor*innen ausgerichtet. Ein erster zentraler Themenkreis beschäftigt sich mit den ökonomischen Entwicklungen der Grenzregion seit circa 1950. Hier kommen zwei grundlegend differente Perspektiven zum Vorschein. Aus marxistisch-feministischer Perspektive werden die wirtschaftspolitischen Entwicklungen im Zuge der Nord-Süd-Integration untersucht und analysiert. Der Fokus liegt hier vor allem auf der doppelten Entwertung der Frau, welche sowohl auf gesellschaftlicher als auch auf ökonomischer Ebene innerhalb der neoliberalen Wirtschaftspolitik stattfindet. (Ballara 2004; Livingston 2004; Zeilinger 2004; Wright 2004; 2007; 2011; Monárrez Fragoso/Estela 2010; Iturralde 2010; Weissman 2010) Die zweite Perspektive erachtet den „mexikanischen Machismo“ und die Gefährdung traditioneller Geschlechterrollen als Basis für die sexualisierte Gewalt an der Grenze. Die Wirtschaftsdynamik im Zuge der Grenzindustrialisierung, die zu vermehrter Erwerbsarbeit für Frauen führte, wird hier als Auslöser und zusätzlich verstärkender Faktor gesehen. (Olivera/Furio 2006; Prieto-Carrón/Thomson/Mcdonald 2007; Arteaga Botello/Valdés Figueroa 2010) Ein weiterer Themenschwerpunkt wird von der Diskussion rund um Rechtsstaatlichkeit und Straflosigkeit gebildet. Dieser Argumentation folgend, reproduziert die enorme Straflosigkeit sexualisierte Gewalt insofern, als dass Hassverbrechen gegen Frauen rechtlich nicht sanktioniert werden und daher ungeahndet wiederholt werden können. (Schmidt Camacho 2005; Olivera/Furio 2006; Ensalaco 2006; Huffschmid 2006; Fernandez/Rampal 2007; Alfarache Lorenzo 2009; Lagarde y de los Ríos 2010; Segato 2010; Melgar 2011) Der dritte zentrale Themenkreis beschäftigt sich mit den Herausforderungen der Grenzsituation, die mit der zunehmenden Migration und der verschärften Militarisierung 7 Sarah Theierling gewachsen sind. Auch die Rolle der verschiedenen Grenzakteure wird genauer thematisiert und dabei die Frage nach Verantwortung und Zuständigkeit in einem denationalisierten Grenzraum aufgeworfen. (Ballara 2004; Zeilinger 2004; Schmidt Camacho 2005; Staudt/Vera 2006; Falcón 2007; Gonzáles-López 2007; Tuider/Wienold 2009; Alfarache Lorenzo 2009) Generell möchte ich anmerken, dass die Inhalte dieser Arbeit nicht immer meine eigene Meinung repräsentieren, sondern auf den verschiedenen Arbeiten der Wissenschaftler*innen basieren. Aussagen, die sich „kultureller“ Zuschreibungen bedienen, entsprechen also nicht meiner persönlichen Meinung, sondern stammen von den Autor*innen, auf deren Arbeiten ich mich beziehe. Es ist mir wichtig, die Zusammenhänge zwischen Gesellschaftsordnung, Geschlechterpolitik und Machtverhältnissen aufzuzeigen, wobei ich klarstellen möchte, dass Machismo und patriarchale Gesellschaftsstrukturen nicht nur Probleme der „Anderen“, der „Entwicklungsländer“ sind, sondern ebenso „unsere“ „westliche“ Gesellschaft betreffen. Die dynamische Interaktion zwischen historischen Machtverhältnissen und aktuellen globalen Wirtschaftsstrategien äußert sich durch diverse sozioökonomische Auswirkungen, die es zu analysieren und thematisieren gilt. Dieses Ziel verfolge ich mit meiner wissenschaftlichen Arbeit, wofür sich die ausgewählte Region besonders gut eignet, galt und gilt die USamerikanisch-mexikanische Grenze doch als Paradebeispiel für eine Grenzziehung zwischen „Erster“ und „Dritter Welt“. Diese Thematiken werden in meiner Arbeit in den Kontext des Feminicidios in der Grenzregion gestellt und im Hinblick auf „mexikanischen Machismo“ behandelt. Was genau unter Machismo und Feminicidio verstanden wird und welche unterschiedlichen Definitionen und Herangehensweisen es zu diesen Begriffen gibt, wird zu Beginn des Hauptteils genauer erläutert. An dieser Stelle möchte ich nur kurz darauf hinweisen, dass, obwohl sich nicht alle rezipierten Autor*innen auf den von Lagarde y de los Rìos vorgeschlagenen Begriff des Feminicidios beziehen, ich trotzdem mit diesem Begriff operieren werde, um die Besonderheit der Mordserie an Frauen zum Ausdruck zu bringen. Durch die Begriffe sexualisierte Gewalt und Gender Based Violence (GBV) soll vor allem der geschlechtsspezifische Aspekt zum Vorschein gebracht werden. Frauen werden zu Opfern, weil sie Frauen sind. (Prieto-Carrón/Thomson/Mcdonald 2007:25f.). Auf die verschiedenen Ansätze innerhalb der Gewaltforschung kann hier leider nicht näher eingegangen werden, ich möchte jedoch anmerken, dass Gender Based Violence (GBV) von vielen Autor*innen als universelles, „kulturübergreifendes“ Phänomen wahrgenommen wird. 8 Feminicidio an der US-amerikanisch-mexikanischen Grenze. Machismo als Todesurteil? „In all societies the cultural models for being a woman assign positions to women that subordinate them to the personal and institutionalized power of men, creating real and symbolic inequalities.“ (Olivera/Furio 2006:105) Es wird davon ausgegangen, dass Gewalt gegen Frauen von ihrer unterdrückten Position in der Gesellschaft herrührt und dazu dient, Macht und Kontrolle über sie zu erlangen. Die männliche Dominanz hat eine historische Vergangenheit und ist in nahezu allen Kulturen zu finden, wo sie sich in institutionalisierter Form auf alle Lebensbereiche von Frauen auswirkt. (Olivera/Furio 2006:105f.; Taylor/Jasinski 2011:432ff.) Um jedoch Dominanz ausüben zu können, muss eine bestimmte Norm, ein Ideal von „Männlichkeit“ (zum Beispiel der Macho), erfüllt werden. In der Literatur wird auch darauf hingewiesen, dass nicht nur Frauen von GBV betroffen sind, sondern auch Männer, die nicht die „ideale Männlichkeit“ darstellen, zum Beispiel homosexuelle Männer. (PrietoCarrón/Thomson/Mcdonald 2007:26) An dieser Stelle und vor allem in Zusammenhang mit der Machismo-Forschung wäre ein Exkurs zu den Men‘s Studies interessant, da dies aber den Rahmen sprengen würde, werde ich nur sehr kurz auf das Konzept der hegemonialen Männlichkeit eingehen. Michel Meuser stützt seine Theorie zur hegemonialen Männlichkeit auf die Arbeiten von Raewyn Connell und Pierre Bourdieu3 und begreift „[...] hegemoniale Männlichkeit als generatives Prinzip der Konstruktion von Männlichkeit [...]“ (Meuser 2006:161). Er richtet den Fokus bei der Männlichkeitsforschung sowohl auf die Machtdimensionen zwischen Männern untereinander, als auch auf Machtdimensionen zwischen Männern und Frauen (homosozial/heterosozial) und untersucht die Zusammenhänge dieser Verhältnisse (Meuser 2006:160f.). Er geht weiters davon aus, dass hegemoniale Männlichkeit an gesellschaftliche Macht gebunden ist, und meint damit, dass die Institutionalisierung und die soziale Praxis von hegemonialer Männlichkeit wichtig sind, um eine gesellschaftliche Hierarchisierung herauszubilden und Eliten zu stabilisieren; sowohl zwischen Männern untereinander als auch zwischen Männern und Frauen (Meuser 2006:167ff.). Hier zeigt sich, dass Ideale rund um „Weiblichkeit“ und „Männlichkeit“ einer bestimmten normativen Orientierung unterliegen und dazu dienen, die soziale Ordnung über hierarchisch strukturierte Geschlechterdifferenzen zu stabilisieren. Inwiefern sich das in Mexiko äußert, wird zu Beginn des Hauptteils im Rahmen einer Auseinandersetzung mit dem MachismoDiskurs erläutert. 3 Im Zentrum von Meusers Analyse stehen neben anderen Werken der beiden Autor*innen vor allem Connell 1999 und Bourdieu 1998. 9 Sarah Theierling In Bezug auf die gendersensible Sprache möchte ich vorweg auf ein paar Besonderheiten hinweisen. Es wäre im Hinblick auf einige Situationen, die hier ausgeführt werden, problematisch, alle personenbezogenen Substantive zu gendern. Da der Feminicidio ein durch Frauenhass motiviertes Verbrechen ist, ist davon auszugehen, dass es sich um ein männliches Täterprofil handelt, obwohl natürlich nicht völlig ausgeschlossen werden kann, dass Frauen auf die eine oder andere Weise (zum Beispiel durch Mitwisser*innenschaft) in die Verbrechen involviert sind. Die Autor*innen, auf deren Arbeiten ich mich beziehe, gehen einheitlich davon aus, dass es sich um männliche Angreifer handelt, weshalb ich mich dieser Annahme anschließe. Zudem würde es den geschlechterspezifischen Aspekt verschleiern, wenn ich beispielsweise von Sex-Tourist*innen sprechen würde, da es sich hier ebenfalls hauptsächlich um männliche Personen handelt, die in Mexiko die Dienstleistungen von SexArbeiterinnen in Anspruch nehmen. Aufbau Die Arbeit richtet sich in ihrem Aufbau nach den zentralen Erklärungsansätzen für den Feminicidio in der wissenschaftlichen Literatur. Vorab werden jedoch zu Beginn des Hauptteils die beiden Begriffe Machismo und Feminicidio besprochen. Während es beim Machismo unterschiedliche Definitionen und Diskussionen über die Herkunft dieses „Phänomens“ gibt, ist bei der Thematik rund um den Begriff Feminicidio ein recht einheitliches Verständnis vorherrschend. Nachdem verdeutlich wurde, wie diese beiden Begriffe in meiner Arbeit zu verstehen sind, widme ich mich den sozioökonomischen Entwicklungen im Mexiko des späten 20. Jahrhunderts (5.1.). Die Ideologie des Neoliberalismus und die wirtschaftlichen Integrationsprogramme der USA nehmen in diesem Kapitel eine wesentliche Rolle ein, da sie maßgeblich an sozioökonomischen Entwicklungen in Mexiko beteiligt waren. Die Maquiladora-Industrie (5.2.), die hauptsächlich im Grenzgebiet zwischen den USA und Mexiko angesiedelt ist, stellt zwar einerseits die Hauptexportprodukte her und trägt somit einen großen Anteil zum Exporthandel bei. Gleichzeitig kommt es jedoch aufgrund von fehlenden Umverteilungsmaßnahmen zu sozialer Polarisierung, wachsender Armut und Ungleichheit. Ausländische Konzerne fokussieren die ökonomische Profitmaximierung und ignorieren dabei sozioökonomische Auswirkungen, die diese Wirtschaftsstrategie für die lokale Bevölkerung hat. Drei zentrale Themen – die Feminisierung von Arbeit, die Kommodifizierung und die Fetischisierung der Frau –, die Ciudad Juárez, die Stadt der Geschäfte, wo alles käuflich ist, kennzeichnen, werden hier aufgegriffen. 10 Feminicidio an der US-amerikanisch-mexikanischen Grenze. Machismo als Todesurteil? Der durch die geringen Voraussetzungen einfach gestaltete Einstieg in die Erwerbsarbeit im Zuge der Grenzindustrialisierung ist für viele Frauen eine Möglichkeit, ihre Familien finanziell zu unterstützen. In diesem Kapitel wird konkret auf die These des „Macho Backlash“ (5.3.) eingegangen, die davon ausgeht, dass durch die Aufhebung der traditionellen Geschlechterrollen (Erwerbsarbeit/Reproduktionsarbeit) eine Aggression gegenüber Frauen verursacht wird, die in Gewalt und Terror ausartet. Das nächste Kapitel (5.5.) beschäftigt sich mit der enormen Straflosigkeit und der Frage, ob das Justizsystem aufgrund einer strukturellen Krise nicht in der Lage ist, die Verbrechen aufzuklären, oder ob eine misogyne Grundhaltung und ein mangelnder Wille Ursachen für die unvollständige Aufklärung des Feminicidios sind. Zudem werden die Schwierigkeiten, die die Migration (5.4.) ohne gültige Papiere und die Entstehung eines denationalisierten Raums (5.6.) bei der Frage nach Zuständigkeit und Verantwortung für die Aufklärung und Beendigung der Frauenmorde mit sich bringen, besprochen. In der Zusammenfassung (6.) wird die Situation noch einmal in den Kontext sozioökonomischer Entwicklungen im Zuge der neoliberalen Wirtschaftswachstumsstrategien gestellt. Das Fazit (7.) stellt abschließend die beiden zentralen Grundpositionen zur Rolle des Machismos in den (feministischen) Analysen der sexualisierten Gewalt an der USamerikanisch-mexikanischen Grenze gegenüber und versucht eine vorläufige Antwort auf die Fragestellung zu geben. 11 Sarah Theierling 5. Feminicidio an der Grenze – Erklärungsansätze und Hintergründe Das Jahr 1993 markierte den Beginn der Frauenmorde im Grenzgebiet USA-Mexiko. Junge Mädchen und Frauen wurden entführt, gefoltert, vergewaltigt und umgebracht. Ihre Körper fand man – zumeist nackt – verstümmelt und entstellt am Straßenrand, auf Müllkippen, im Kanal, zerstückelt in Müllsäcken oder halb verscharrt irgendwo in der Wüste. Diese Verbrechen wurden daraufhin als Femizid oder Feminizid (spanisch Feminicidio) bekannt. Bei Feminicidio handelt es sich jedoch nicht einfach um einen „normalen“ Mord; die Frauen sind nicht „nur“ erschossen, erstochen oder erwürgt worden. Viele der geschundenen Frauenkörper weisen Anzeichen von brutaler sexueller Gewalt und Vergewaltigung auf, unter anderem durch anale und vaginale Penetration mit diversen Gegenständen, die teilweise bei der Obduktion in den Körpern gefunden wurden. Primäre und sekundäre Geschlechtsmerkmale wurden verstümmelt und zerschnitten, in einigen Fällen wurden Frauen Brustwarzen oder die ganze Brust abgeschnitten. Die Opfer wurden verbrannt, skalpiert, gehäutet und entstellt. Die Leichen waren zum Teil noch gefesselt und wurden mit gezogenen Fingernägeln aufgefunden. Manchmal wurden die malträtierten Körper der entführten Frauen nur Tage nach ihrem Verschwinden entdeckt. Manchmal dauerte es Monate, manchmal Jahre. Viele Frauen wurden für einen längeren Zeitraum in Gefangenschaft gehalten und gefoltert und missbraucht, bevor sie grausam ermordet und „entsorgt“ wurden. (Amnesty International 2003:6ff.; Livingston 2004:59; Olivera/Furio 2006: 105; Huffschmid 2006:69; Ensalaco 2006:420; Prieto-Carrón/Thomson/Mcdonald 2007:26) Diese Gräuel mit Zahlen zu beschreiben, ist schwierig, da die Anzahl dieser Verbrechen je nach Quelle unterschiedlich ausfällt: (Comisión Especial 2006:69) - laut Generalanwaltschaft von Chihuahua (1993-2005): 364 Frauenmorde - laut derselben Quelle (Juni, Juli, August 2005): 95 Morde, also circa 1 Mord pro Tag - laut der Organisation Casa Amiga (1993-2003): 265 Frauenmorde - laut der Organisation Nuestras Hijas de Regreso a Casa (1993-2005): 430 Morde und 600 verschwundene Mädchen und Frauen - laut der Organisation Justicia para Nuestras Hijas (1993-2005): 433 in Ciudad Juárez und (1999-2005) 20 in Chihuahua City 12 Feminicidio an der US-amerikanisch-mexikanischen Grenze. Machismo als Todesurteil? Am meisten betroffen sind die nördlichen Bundestaaten Chihuahua und Baja California, die eine besonders hohe Mordrate pro Jahr aufweisen (siehe Abbildung 1). Die Bezirke Juárez CHH (389), Tijuana BC (89) und Chihuahua CHH (84) zählten 2010 zu den – für Frauen – tödlichsten Orten Mexikos. (ONU Mujeres/INMujeres/Comisión Especial 2012:49) Abbildung 1 Porcentaje de crecimiento de las tasas de defunciones femeninas con presunción de homicidios (por 100,000 mujeres) por entidad de ocurrencia, 2007-2009. [Wachstum der weiblichen Sterberate mit Verdacht auf Mord (pro 100.000 Frauen) in Prozent, 2007-2009.] Quelle: (ONU Mujeres/INMujeres/Comisión Especial 2011:39) Überblick über die Tendenzen und Entwicklungen der letzten Jahre sowie über Bundesstaaten-spezifische Berichte geben unter anderem die Seite des Instituto Nacional de las Mujeres4 und die im Literaturverzeichnis angegebenen Schriftstücke von ONU Mujeres/INMujeres/Comisión Especial 2011 und 2012. Die zentrale Fragestellung im Zusammenhang mit dem Feminicidio an der US-amerikanischmexikanischen Grenze ist die nach dem Grund für diese Gräueltaten. Im Internet und in den regionalen Zeitungen finden sich schockierende Bilder und jede*r, die*der diese Bilder und die verzweifelten Gesichter der Angehörigen der Opfer sieht, fragt sich zwangsläufig: Warum? 4 Siehe URL 1 in der Bibliografie. 13 Sarah Theierling In den folgenden Unterkapiteln werden, wie bereits in der Einleitung erwähnt, die verschiedenen Erklärungsansätze, die sich in der wissenschaftlichen Literatur finden, sowie einiges an Hintergrundinformation dargestellt und anschließend wird auf die Rolle des Machismo in diesem Kontext eingegangen. Hier wird anhand der Literatur thematisiert, inwiefern der Feminicidio auf den Machismo zurückzuführen ist, oder auch nicht. Bevor dies jedoch geschehen kann, gilt es, die beiden zentralen Begriffe dieser Arbeit genauer auszuführen. Einleitung Machismo Was ist Machismo? Was ist unter „Machista Society“ zu verstehen? Und wie definiert sich ein Macho, beziehungsweise wie wird er definiert? Diese Fragen erscheinen im ersten Moment als überflüssig, da sich jede*r etwas unter einem Macho vorstellen kann und daher anzunehmen ist, dass ein allgemeines Verständnis für diesen Begriff vorherrscht. Die Tatsache, dass diese Vorstellungen aber teilweise sehr stark auseinander gehen, sich sogar widersprechen, macht jedoch eine genauere und differenziertere Betrachtungsweise notwendig. In der wissenschaftlichen Literatur wird Machismo hauptsächlich in Anlehnung an Sigmund Freud als psychohistorische Folge und im Zusammenhang mit dem Konzept des Marianismo erklärt (1) oder von einem historisch-materialistischen Standpunkt aus betrachtet, in dessen Zentrum die Analyse von Klassenhierarchien steht (2). Daneben gibt es auch Strömungen, die eine monolithische und kulturalisierende Darstellung des lateinamerikanischen Machos grundsätzlich kritisieren und stattdessen den Fokus auf die vielfältigen Rollen und Männlichkeiten, die in Lateinamerika vorzufinden sind, legen (3). Im Folgenden wird ein kurzer Überblick über das Konzept/Phänomen/Narrativ Machismo gegeben sowie die unterschiedlichen Zugangsweisen zu diesem Begriff vorgestellt. (1) Machismo wird in der Literatur oft als „Männlichkeitskult“ oder „Männlichkeitswahn“ beschrieben. In dieser Definition wird der Begriff als Bestandteil des Caudillismo (Führerkult) gesehen und der Macho in seinem Ideal als führungsstarker und durchsetzungsfähiger Mann begriffen. Gekennzeichnet durch ein autoritäres Verhalten, wirkt sich der Machismo stark auf die Familie und die Position der Frau innerhalb der Familienstruktur aus. Die Identitätsbildung des Machos ist eng mit Frauenfeindlichkeit und -verachtung verbunden und stellt daher oft die Ursache von physischer und psychischer Gewalt gegenüber Frauen dar. In dieser Definition wird der Macho gekennzeichnet durch 14 Feminicidio an der US-amerikanisch-mexikanischen Grenze. Machismo als Todesurteil? übertriebenes Selbstbewusstsein und Überlegenheitsgefühl, wodurch er sich als furchtlosen Anführer und Frauenheld sieht. (Basham 1976:126f.; Schüler 1987) Die übertriebene Zurschaustellung der eigenen „Männlichkeit“ wird von manchen Autor*innen als Antwort auf die eigentlich überlegene „Weiblichkeit“ gelesen. Der überzogene Autoritätsanspruch wird hier als Folge der empfundenen Machtlosigkeit im Moment der Geburt, in dem die Frau über Leben und Tod bestimmt, gedeutet. Dieses Ohnmachtsgefühl resultiert in einem Kontrollbestreben gegenüber der weiblichen Sexualität bis hin zu einer absoluten Negierung dieser. (Castillo L./Perez/Castillo R./Ghosheh 2010:164f.) Die zentrale Aufgabe der Frau ist das Gebären von gesunden Kindern, weshalb die Frau zuerst eine Mutter, dann eine Ehefrau, eine Schwester et cetera ist. Ihre Sexualität ist daher ein Tabu und Jungfräulichkeit bei Eheeintritt ein gesellschaftlicher Imperativ, der die Ehre der gesamten Familie bestimmt. (Basham 1976:126ff.) Die Kontrolle der weiblichen Sexualität durch die Familie hat aus psychohistorischer Sichtweise ihren Ursprung in der mexikanischen Kolonialisierung. Vertreter*innen der Conquista-Trauma-Theorie, die in Anlehnung an Freuds Theorie über den Ödipus-Komplex5 entwickelt wurde, erklären die vorherrschende Frauenfeindlichkeit mit der Verachtung, die der „Mestizo“ gegenüber seiner „indigenen Mutter“ empfindet. Durch die Vereinigung mit dem „spanischen Vater“ hat sie, La Malinche6, ihm nicht nur Zugang zu ihrer Sexualität gewährt, sondern auch den Grundstein für die Ausbeutung des Landes und seiner Bodenschätze gelegt. Der Machismo basiert in dieser Betrachtungsweise auf einem Minderwertigkeitskomplex, den alle Mexikaner durch die Conquista erlebt haben. Das Trauma, das die Mexikaner aufgrund der „Eroberung“ der indigenen Frau durch spanische Konquistadoren erlitten haben, ist die Ursache für die Aggressivität und rohen Umgangsformen, die sich in „die mexikanische Kultur“ eingebrannt haben. (Paredes 1971:17; Peña 1991:36f.) 5 Der Begriff kommt ursprünglich aus der griechischen Mythologie und bezieht sich auf das Drama des König Ödipus, der seinen Vater tötete und später unwissentlich seine eigene Mutter heiratete. In der Freudschen Psychoanalyse stellt der „positive Ödipuskomplex“ die sexuelle Zuneigung, die der Sohn in der frühgenitalen Phase gegenüber seiner Mutter empfindet, dar; der Vater wird infolgedessen als Rivale betrachtet. Im Gegensatz dazu identifiziert sich der Sohn im Rahmen des „negativen Ödipuskomplexes“ mit dem Aggressor und internalisiert die väterliche Autorität, was zu Verachtung gegenüber dem gegengeschlechtlichen Elternteil führt. (Brech/Bell/Marahrens-Schürg 1999:49-52) 6 La Malinche wird auch als „Mutter der Mestizen“ bezeichnet. Sie wurde 1519 als Sklavin an Hernán Cortés übergeben und wurde später zu seiner Dolmetscherin und „Geliebten“. (Mieling 2012:7f.) 15 Sarah Theierling Die weibliche Asexualtität (verkörpert durch die Virgen de Guadalupe7) stellt im Gegensatz zur weiblichen Sexualität (La Malinche) keine Gefahr für den Mann/Macho dar und wird daher wesentlich mehr geschätzt und geachtet (Melhuus 1996:253; Mieling 2012:7). Anhand dieser Conquista-Trauma-Theorie wird ein starker Zusammenhang zwischen Jungfräulichkeit, Ehre und sozioökonomischem Status der Familie gesehen. Das Ansehen der Familie zu schützen ist Männersache, weshalb die Kontrolle der weiblichen Sexualität auch in den Aufgabenbereich der männlichen Familienmitglieder fällt. Eine verlorene Jungfräulichkeit aufgrund von Vergewaltigung kann zu sozialer Stigmatisierung und zu ökonomischen Schwierigkeiten führen, weil viele Männer nur eine jungfräuliche Frau ehelichen wollen. Diese Umstände führen oft dazu, dass Vergewaltigungen verschwiegen werden – in Extremfällen sind die Mädchen sogar gezwungen, ihren Vergewaltiger zu heiraten, um ökonomische Absicherung für sich und ihre Familie zu gewährleisten. Hier wird der historische Kontext herangezogen, um zu verdeutlichen, welche Kontrolle die patriarchale Familie gegenwärtig über den weiblichen Körper und die Sexualität hat. (Gonzáles-López 2007:227ff.) Die Familie hat in Lateinamerika laut Richard Basham einen hohen Stellenwert, in so mancher Literatur wird sogar von einem Familismo gesprochen (vgl. Castillo L./Perez/Castillo R./Ghosheh 2010:164f.). Die Familienhierarchie ist klar strukturiert und die Positionen und Aufgaben der Familienmitglieder sind eindeutig. Während der Vater als Familienoberhaupt die Familie finanziell versorgt, aber auch als Respektsperson ein eher distanziertes Verhältnis sowohl zu seiner Frau als auch zu seinen Kindern hat, nimmt die Mutter eine liebe- und verständnisvolle Position ein. Die Mutterfigur ist in diesem Verständnis zentral, da sie für den Zusammenhalt der Familie, die als Ort des Rückhalts und der Sicherheit wahrgenommen wird, sorgt. In ihrer Mutterrolle wird der Frau vom Macho jegliche Sexualität abgesprochen. Hier kann auch eine starke Parallele zur christlichen Mythologie, in der die Jungfrau Maria nach einer unbefleckten Empfängnis dem Jesuskind das Leben schenkt, gezogen werden. (Basham 1976) Dieses Konzept des Marianismo ist laut dieser Leseart ausschlaggebend für die Gewalt gegen Frauen und Grund für die hohe Akzeptanz der Gesellschaft gegenüber den Geschlechterdisparitäten. Die kulturellen Wurzeln hierfür liegen in der Fusion vom präkolumbianischen Glauben und der katholischen Glaubensvorstellung. Nach der Ankunft 7 Laut der Legende ist die Jungfrau Maria dem getauften Azteken Juan Diego Cuauhtlatoatzin insgesamt viermal erschienen und hat ihm auf Náhuatl aufgetragen, eine Kapelle auf dem Tepeyac Hügel (heutiges Mexiko-City) zu bauen (Mieling 2012:7f.). 16 Feminicidio an der US-amerikanisch-mexikanischen Grenze. Machismo als Todesurteil? der spanischen Konquistadoren wurde der Glaube an den einen männlichen Gott und die besondere Rolle der Jungfrau Maria adaptiert. (Rondon 2003:157f.) „The Virgin of Guadalupe is everything that the reinterpreted La Malinche is not – forgiving, pious, virginal, nurturing and good. The Virgin represents saintly submissiveness, a dominant subservience – everything the macho man needs in a mother/woman.“ (Rostas 1996:218, Hervorhebung im Original) In der Marienfigur, die in Form der dunkelhäutigen Virgen de Guadalupe starken Zuspruch fand, sah die mexikanische Bevölkerung fortan das Ideal der Frau: aufopfernd, liebevoll, fürsorglich, verständnisvoll, passiv, sich der männlichen Machtposition fügend. Diese Eigenschaften stilisieren die Frau zu einer idealen Mutter, zu der die Kinder eine starke emotionale Bindung aufbauen. Während die Tochter diese Beziehung zur Mutter im Laufe des Erwachsenwerdens beibehalten kann, ist das für den Sohn nicht möglich. Er muss sich von seiner Schwester und seiner Mutter abgrenzen und wird zum Macho. Machismo wird in dieser Erzählweise als Resultat der ambivalenten Gefühle, die der Sohn gegenüber seiner Mutter entwickelt, gedeutet. Basham erklärt den Machismo als lateinamerikanisches Phänomen durch die fehlende Entwicklung zur industriellen Gesellschaft. Seiner Meinung nach nimmt die Reproduktionsfähigkeit der Frau in Gesellschaften, die hauptsächlich von Agrarwirtschaft leben, einen wesentlichen Stellenwert ein. Damit die Frau dadurch aber nicht die dominante Position im Familien- und Gesellschaftssystem erreicht, schaltet sich der Machismo als Mechanismus ein. (Basham 1976:132ff.,136f.) Das Konzept des Marianismo, in welchem die Jungfrau Maria (Virgen de Guadalupe) als Ideal der mexikanischen Frau und Mutter präsentiert wird, basiert auf der eben dargestellten psychohistorischen Sichtweise, die versucht, gegenwärtige gesellschaftliche Organisationsformen aus einem historischen Kontext heraus zu erklären. Die tatsächliche Wirkungsmacht dieses Konzepts im heutigen Mexiko wurde jedoch bereits von mehreren Autor*innen kritisch hinterfragt. Zum einen weichen Ideal und Praxis in der Realität stark voneinander ab und zum anderen umfasst dieses mögliche Ideal auch nicht alle mexikanischen Gesellschaftsschichten (beispielsweise die indigene Bevölkerung) in gleichem Ausmaß (Puchegger-Ebner 2008:26). Die Konstruktion einer „idealen Weiblichkeit“ ist daher ebenso zu hinterfragen wie das vermeintlich homogene und normierte Bild des „mexikanischen Machos“. 17 Sarah Theierling (2) Aufgrund dieser Stereoptypisierung des lateinamerikanischen Machos von mehrheitlich „westlichen“ Wissenschaftler*innen machten kritische Stimmen auf den universellen Charakter des Machismos aufmerksam. Die Kreation dieses negativen Stereotyps durch Outsider (meint: Situierung außerhalb der lateinamerikanischen Lebenswelt) diene, so lautete der Vorwurf, der Legitimierung von politischer und ökonomischer Überlegenheit (Mirandé 1997:5). Im Gegensatz dazu wird Machismo als universelles Phänomen und nicht als Resultat des von der Conquista zurückgebliebenen Traumas begriffen. (Paredes 1971, Peña 1991:31) Für Paredes nimmt die Folkloremusik (im 20. Jahrhundert vor allem in der Mittelschicht und Arbeiterklasse verbreitet), über welche machistische Ideologie verbreitet und erhalten bleibt, eine besondere Rolle ein. Machismo wird hier als post-revolutionäres Phänomen, das von den 1930ern bis heute anhält, verstanden. (Paredes 1971) „But any evaluation of Mexican machismo will not be complete if the following point is ignored: the fundamental attitudes on which machismo is based (and which have caused so much distress to those wishing to psychoanalyze the Mexican) are almost universal.“ (Paredes 1971:35) Im Zentrum liegt hier also keine spezifisch lateinamerikanische Trauma-Erfahrung durch die Conquista, sondern ein Minderwertigkeitskomplex, der zum Beispiel auch in ähnlicher Weise beim nordamerikanischen Cowboy anzufinden ist. Der Cowboy, als Spiegelbild des lateinamerikanischen Machos, litt im 19. Jahrhundert ebenfalls unter einem Minderwertigkeitsgefühl gegenüber den Europäer*innen, was in einem verstärkten Streben nach Unabhängigkeit und Überlegenheit mündete. (Paredes 1971:34f.) Aus einer historisch-materialistischen Perspektive, die die Wurzeln des Machismo in der Unterdrückung der Arbeiterklasse lokalisiert, steht die starke Verbindung zwischen Class, Gender and Culture im Mittelpunkt der Analyse. Dass die mexikanische Kultur stark von ökonomischer Ausbeutung und Entfremdung beeinflusst war, bedingte auch, dass das Wirtschaftssystem noch heute auf einer starken Hierarchisierung aufgebaut ist. Die Ausbeutung und Unterdrückung des männlichen mexikanischen Arbeiters (siehe auch Prieur 1996:99f.) und die damit einhergehende Verarmung führten zu Ohnmachtsgefühl, Frustration und Wut. Diese wurden zunehmend auf die Frau projiziert, da die Unterordnung der Frau in einem patriarchalen Gesellschaftssystem die einzige Befriedigung ist, die dem männlichen Subalternen bleibt. (Peña 1991:40ff.) “It is thus in the realm of gender relations that class conflict is reformulated and given new cultural purpose - the total subjugation of women. In consequence, oppressive yet tolerated cultural practices thrive: physical and psychological violence against women - in the form of beatings and the denial of 18 Feminicidio an der US-amerikanisch-mexikanischen Grenze. Machismo als Todesurteil? personal autonomy - as well as symbolic violence, in the form of degrading but richly elaborated cultural expressions like the folklore of machismo and its treacherous-woman stereotype.” (Peña 1991:42) Der Machismo stellt dieser Deutungsweise nach nicht den Auswuchs eines kulturellen Ödipuskomplexes dar, Geschlechterungleichheit, sondern was entsteht aus infolgedessen der vor Fusion allem von der Klassen- herrschenden und Klasse zugutekommt, da eine Solidarität zwischen Männern und Frauen der Arbeiterklasse somit erschwert und einen Umbruch im Gesellschaftssystem verhindert. (Peña 1991:44) (3) Die Ansätze, die bisher vorgestellt wurden, präsentieren Machismo einheitlich als negatives Phänomen, das je nach Zugang auf eine andere Ursache zurückzuführen ist. In den folgenden Theorien wird diese einheitlich negative Betrachtungsweise abgelehnt und stattdessen durch ein breitgefächertes und vielseitiges Verständnis von Machismo ersetzt. Alfredo Mirandé differenziert zum Beispiel stark zwischen einer Insider- und einer Outsider Perspektive und stellt die Annahme, dass Machismo ein spezifisch lateinamerikanisches Phänomen sei, in Frage. Er behauptet, dass es grundsätzlich zwei Machos gibt: den „guten“ und den „bösen“. Im positiven Sinne wird der Macho mit einer Art Held assoziiert. Das Machoverhalten im Zusammenhang mit Kolonisation, Fremdherrschaft und Klassenausbeutung steht für einen widerborstigen, starken und mutigen Helden (wie zum Beispiel die beiden Nationalhelden Villa und Zapata), der sich durch Verantwortungsbewusstsein, Selbstlosigkeit, Aufopferungsbereitschaft und feste Prinzipien auszeichnet. Das Gegenbild dazu bildet der „negative Macho“, der gekennzeichnet wird von einer „übertriebenen Männlichkeit“, Autoritätsbestreben, Gewaltbereitschaft, Aggression und Egoismus. Anhand einer Studie mit lateinamerikanischen Männern hat Mirandé einige interessante Beobachtungen gemacht, deren Ergebnisse sich überaus spannend für die Männlichkeitsforschung gestalten. Laut dieser Studie handelt es sich beim „positiven Macho“ um Verhaltensweisen und innere Werte, die nicht nach außen getragen werden müssen, während der „negative Macho“ seine „Männlichkeit“ nach außen hin präsentieren und zur Schau stellen muss. (Mirandé 1997:66-69) Das Ergebnis, zu dem Mirandé anhand seiner Arbeit kommt, ist, dass es mehrere – sich teilweise widersprechende oder gegenläufige – Männlichkeiten gibt und daher kein homogenes und monolithisches Bild des „Machos“ gezeichnet werden kann (Mirandé 1997:17). Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangen auch andere Wissenschaftler*innen. In einer weiteren Studie mit gebürtigen Mexikanern und US-amerikanischen „Latinos“ wurde Machismo als psychologisches Konstrukt entlarvt. Was bei Mirandé als „positiver“ versus „negativer“ 19 Sarah Theierling Machismo (siehe auch Melhuus 1996:242f.) betitelt wird, wird hier als „Caballerismo“8 versus „traditional Machismo“ bezeichnet. Wiederum zeigt sich, so das Resultat, dass Machismo nicht als allgemeines „männliches Verhalten“ oder „männliche Identität“ gedeutet und damit generalisiert werden kann, da es vielmehr mehrere Männlichkeiten gibt, die von multidimensionalen Facetten geprägt sind. (Arciniega/Anderson/Tovar-Blank/Tracey 2008:19f.; Estrada/Rigali-Oiler/Arciniega/Tracey 2011:358f.) Wie also „Männlichkeit“ bestimmt wird und welche Bedeutungen diesem Begriff beigemessen werden, variiert mit dem Kontext. Ebenso muss die Definitionsmacht – wer oder was definiert eine Norm? – lokalisiert und analysiert werden, um universell gültige Normen von „Weiblichkeit“ und „Männlichkeit“ zu hinterfragen. Dies gilt sowohl für das Konzept des Marianismo als auch für das Konzept des Machismo und führt uns weiters zu der Frage, inwiefern diese „universell gültigen“ Konzepte überhaupt im Alltag relevant sind, beziehungsweise wie sich deren Wirkungsmacht im Laufe der Zeit verändert hat. Die Infragestellung von homogenen und monolithischen Vorstellungen und Idealen sowie die Auseinandersetzung mit multidimensionalen und facettenreichen Ausprägungen von Geschlechtlichkeit verdeutlichen die Komplexität von Gender-Rollen – nicht nur – in Lateinamerika. Wenn hier also die Frage nach der Rolle des Machismo in den (feministischen) Analysen der sexualisierten Gewalt an der US-amerikanisch-mexikanischen Grenze gestellt wird, gilt es vorab zu klären, welches Verständnis von Machismo in der verwendeten Literatur vorherrschend ist. Wenn hier nämlich von Machismo die Rede ist, ist der oben genannte „negative Machismo“ oder „traditional Machismo“ gemeint. In den verschiedenen Werken, die zur Erstellung dieser Arbeit verwendet wurden, wird Machismo kaum definiert beziehungsweise wird auf eine kritische Herangehensweise an den Begriff nur bedingt verwiesen und auf eine Vorstellung der verschiedenen Machismo-Konzepte gänzlich verzichtet. Wie ich im vorherigen Abschnitt dargestellt habe, gibt es durchaus mehrere kritische Zugänge zum Konzept/Phänomen/Narrativ Machismo, in der verwendeten Literatur wird jedoch einheitlich von Machismo in einem negativen Sinne, vor allem in Bezug auf die Mann-Frau-Beziehung, gesprochen. In den Unterkapiteln des Hauptteils sowie im Fazit werden einige kritische Stimmen zu Wort kommen, die eine solche generalisierende Sichtweise auf den „mexikanischen Macho“ grundsätzlich ablehnen. In anderen Arbeiten wird 8 Caballero (spanische Bezeichnung für Edelmann, Ritter, Gentleman) 20 Feminicidio an der US-amerikanisch-mexikanischen Grenze. Machismo als Todesurteil? jedoch dem „mexikanischen Männlichkeitskult“ eine zentrale Rolle im Zusammenhang mit der sexualisierten Gewalt in der Grenzregion zugesprochen. Was unter dem Begriff Feminicidio zu verstehen ist, in welchem Kontext er entstanden ist und welche Grundannahmen ihm zugrunde liegen, soll im Folgenden genauer erläutert werden. Einleitung Feminicidio Zu Beginn des Hauptteils, „Feminicidio an der Grenze – Erklärungsansätze und Hintergründe“, wurde bereits auf einige Zahlen und Fakten im Zusammenhang mit dem Feminicidio im Grenzgebiet USA-Mexiko eingegangen. Hier soll nun auf die Hintergründe, die theoretischen Annahmen und auf die Entstehungsgeschichte des Begriffs eingegangen werden. Zu Beginn der 1990er kam es vermehrt zum Verschwinden von jungen Frauen und Mädchen, deren verstümmelten und malträtierten Körper später meist an öffentlichen Plätzen gefunden wurden. Je nach Quelle (Regierung, nationale und internationale NGOs, Frauenorganisationen oder internationale Organisationen wie Amnesty International) variiert die Zahl der Ermordeten zwischen 200 und 400 pro Jahr. Hinzu kommen noch die vermissten Frauen und bisher unbekannte Fälle. (Huffschmid 2004; 2006:72; Ensalaco 2006; Comisión Especial 2006:69; Alfarache-Lorenzo 2009:106) Die Auswertung der zur Verfügung stehenden Fakten gestaltet sich jedoch schwierig, da manche Statistiken nicht zwischen fahrlässiger Tötung und vorsätzlichem Mord unterscheiden, was das genaue Erfassen des Ausmaßes zusätzlich erschwert (AlfaracheLorenzo 2009:112). Fest steht jedoch, dass es sich hier um grausame, durch eine misogyne Grundhaltung motivierte Gewaltverbrechen handelt, deren mangelnde rechtliche Ahndung einen brutalen Frauenmord zum Kavaliersdelikt deklariert (Huffschmid 2006:87). Diese menschenverachtende Situation, die auf makabre Art zur Berühmtheit der mexikanischen Grenzstadt Ciudad Juárez als „Hauptstadt des Femizids“ führte, ist jedoch kein Einzelfall (Fernandez/Rampal 2007:117). Auch in anderen amerikanischen Ländern, in arabischen Staaten und in asiatischen Regionen wird von zahlreichen Frauenmorden berichtet. Einige Autor*innen nennen daher Faktoren, die derartige Verbrechen begünstigen und auch in anderen Ländern anzufinden sind: Neben der Transition der Bevölkerung (Wachstum, Migration) und schwacher Staatlichkeit führen vor allem ökonomische Krisen und damit verbundene Umbrüche und Veränderungen der Geschlechterrollen in einer „Machista Society“, in der das Männliche die Norm darstellt, das Weiblich hingegen die Abweichung 21 Sarah Theierling und „das Andere“9, zu vermehrter Gewalt gegen Frauen. Die strukturelle institutionalisierte Diskriminierung von Frauen, die zu Gender Based Violence (GBV) führt, tritt oft gemeinsam mit der Unfähigkeit oder dem Unwillen der Justiz, die Verbrechen strafrechtlich zu verfolgen, auf. (Ensalaco 2006:417-421) Die aktuelle Debatte rund um eine Rape Society, ausgehend von mehreren Fällen sexualisierter Gewalt in Indien und den USA10 und die vehemente Einforderung des Rechts auf körperliche Unversehrtheit von zivilgesellschaftlichen Organisationen, erweckt immer mehr internationale Aufmerksamkeit und legt den Fokus auf lokale Ursachen und das globale Ausmaß von Gender Based Violence. Unter Femicidio wird im Allgemeinen durch Frauenhass motivierter Massenmord verstanden, was somit die extremste Form von Misogynie darstellt (Huffschmid 2004). Dieser Begriff wurde von Marcela Lagarde y de los Ríos11 noch erweitert, um die besondere Grausamkeit zu betonen. Sie spricht daher aufbauend auf den Arbeiten von Diana Russell und Jill Radford (vgl. Russell/Radford 1992) von „feminicidio“. „Die Übersetzung von femicide ist femicidio. Ich übersetzte ihn ohne zu zweifeln von femicide in feminicidio und auf diese Weise habe ich den Ausdruck verbreitet. Auf Spanisch ist femicidio analog zu homicidio (deutsch Mord) und bedeutet schlicht: Mord an Frauen. Um zu differenzieren, bevorzugte ich den Ausdruck feminicidio, um so die Gesamtheit der Verletzung der Menschlichkeit, die die Verbrechen an den Frauen und ihr Verschwinden kennzeichnen, zu benennen.“ (Lagarde y de los Ríos 2005, Hervorhebung ST) Die Adaption des Begriffs, soll auf die besonderen Merkmale dieser Gewaltverbrechen aufmerksam machen: „By invoking and gendering the legal term genocide, the protest movement seeks to reconstruct conventional understandings about where personal violence intersects with official terror.“ (Schmidt Camacho 2005:275) 9 Das Wesen der Frau erklärt sich durch seine Beziehung zum Mann. Siehe hierzu Simone de Beauvoirs Begriffsgegensatzpaar das Eine / das Andere. „Sie ist das Unwesentliche gegenüber dem Wesentlichen. Er ist das Subjekt, er ist das Absolute: sie ist das Andere“ (Beauvoir 2011 [1949]:12) 10 Am 11. August 2012 wurde ein 16-jähriges Mädchen von mehreren Mitgliedern eines Football-Teams in Steubenville im Bundesstaat Ohio (USA) vergewaltigt. Zahlreiche Zeugen filmten die Tat und posteten Videos und Kommentare auf Twitter. Nach einer Vertuschungsaktion und zahlreichen Drohgebärden gegen das Mädchen, wurden zwei Jugendliche erst Mitte März 2013 strafrechtlich verurteilt. Zeitgleich berichteten die Medien über die Vergewaltigung einer 23-jährigen Studentin aus Neu-Dehli, die am 27. Dezember 2012 von mehreren Männern brutal vergewaltigt und anschließend nackt aus einem fahrenden Bus geworfen wurde. Die junge Frau erlag wenige Tage später ihren Verletzungen, was heftige Demonstrationen in Indien auslöste. 11 Marcela Lagarde y de los Ríos ist Professorin für Anthropologie und Soziologie an der Universidad Nacional Autónoma de México. Von 2003 bis 2006 war sie Kongressabgeordnete der PRD (Partido de la Revolución Democrática) und Vorsitzende der Sonderkommission zur Untersuchung von Frauenmorden (Comisión Especial para Conocer y Dar Seguimiento a los Feminicidios en la República Mexicana y la Procuración de Justicia Vinculada), die 2003 gegründet wurde. 22 Feminicidio an der US-amerikanisch-mexikanischen Grenze. Machismo als Todesurteil? Zusammenfassend wird Feminicidio als extreme Form von Gender Based Violence (GBV) verstanden und verbreitet durch seine Gegenwart Angst und Terror, was zur Isolation von Frauen und infolgedessen zu einer defekten Demokratie führt (Zeilinger 2004:46; Huffschmid 2006:69; Alfarache Lorenzo 2009:114). Spannend bei der Analyse der Situation an der US-amerikanisch-mexikanischen Grenze ist auch die Tatsache, dass nicht alle Gesellschaftsschichten gleichermaßen von Feminicidio betroffen sind. Dies ist besonders durch die ähnlichen Merkmale der Mädchen und jungen Frauen (mehr als die Hälfte der Opfer war zwischen 13 und 22 Jahren alt) ersichtlich. Das Opferprofil umreißt junge, attraktive und mehrheitlich arme Mädchen und Frauen mit dunkler Hautfarbe. Aufgrund ihrer Lebenssituation sind sie vermehrt von Ungleichheit, Armut und Gewalt betroffen. Manche von ihnen wiesen einen Migrationshintergrund auf. Ein Teil der Opfer arbeitete in Maquiladora-Fabriken. Unabhängig vom Beruf kann festgehalten werden, dass sich ein Großteil der Frauen in einer prekären Arbeitssituation befand. Meist wurden sie nachts auf dem Nachhauseweg von der Arbeit oder vom Tanzlokal überfallen und verschleppt. (Zeilinger 2004:45; Huffschmid 2004; 2006:72; Livingston 2004; Schmidt Camacho 2005:259; Fernandez/Rampal 2007:117ff.) Über das Motiv dieser Verbrechen gibt es von verschiedenen Seiten viele Vermutungen und teilweise waghalsige Thesen12: Während von staatlicher Seite Selbstverschuldung durchaus eine Rolle spielt und unter anderem Thesen in Zusammenhang mit den Drug Wars13, Organhandel oder Spekulationen über Serienkiller und Psychopathen („Bloodsports“; Snuffvideos) aufgestellt wurden, kam auch Kritik an der strukturellen Krise Mexikos auf, die ein recht- und tabufreies „Niemandsland“ konstituiere (vgl. Olivera 2006). Auch die Involvierung von Polizei und Politik in die Verbrechen wird nicht ganz ausgeschlossen (vgl. Ensalaco 2006). Manche Autor*innen erklären die Situation mithilfe eines psychoanalytischen Zuganges, in dem es vor allem um Machtanspruch, welcher über uneingeschränktes Morden und Terror demonstriert wird, geht (vgl. Segato 2006). Aus einer marxistisch-feministischen Perspektive nimmt die Kommodifizierung der Frau und die Sexualisierung von weiblicher Arbeitskraft im Rahmen neoliberaler Politiken einen zentralen Stellenwert ein (vgl. Livingston 2004; Schmidt Camacho 2005; Wright 2007; Monárrez Fragoso/Estela 2010; Weissman 2010). Aus einer kulturalisierenden Perspektive spielen der 12 Einen Überblick geben: Huffschmid 2006; Fernandez/Rampal 2007:125f.; Lagarde y de los Ríos 2010. Unter sogenannten Drug Wars sind Machtkämpfe zwischen den verschiedenen Drogenbanden (spanisch Narcos), beziehungsweise zwischen Drogenbanden und Exekutive zu verstehen. 13 23 Sarah Theierling Machismo und die „misogyne Kultur Mexikos“ wichtige Rollen (siehe Einleitung Machismo). Für meine Fragestellung besonders interessant ist die These des „Macho Backlash“, auf die ich im Kapitel 5.3. ausführlich eingehen werde (vgl. Livingston 2004; PrietoCarrón/Thomson/Mcdonald 2007). Während einige Theorien, die vor allem in den Medien große Aufmerksamkeit fanden, vermutlich eher unwahrscheinlich sind, versuchen wissenschaftliche Ansätze die komplexe Situation und die diversen zum Tragen kommenden Faktoren zu untersuchen und unter anderem auch in den Kontext des patriarchalen Gesellschaftssystems zu stellen (Lagarde y de los Ríos 2010:13f.). In den folgenden Kapiteln werden die verschiedenen Punkte, die im Mittelpunkt der feministischen Analysen stehen, genau dargestellt und ein möglicher Zusammenhang mit dem Machismo untersucht. In der Zusammenfassung wird noch einmal ein Überblick über die Situation in Mexiko und diverse Entwicklungen im globalen Kontext geliefert. Das Fazit fasst die zentralen Erklärungsansätze unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen, politischen und sozialen Faktoren noch einmal zusammen und analysiert diese im Hinblick auf die Fragestellung. 5.1. sozioökonomische Entwicklungen Um die Krise des mexikanischen Rechtsstaats in Bezug auf die steigende Tendenz der Gewaltverbrechen und damit einhergehende Verletzungen der Menschen- und Frauenrechte besser verstehen zu können, muss die Situation im Kontext von sozioökonomischen Entwicklungen betrachtet werden. Hierbei spielen vor allem das globale „Entwicklungsmodell“ des Neoliberalismus und die sich daraus ergebenden wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Mexiko und den USA zentrale Rollen. Zur genaueren Erläuterung wird hier kurz auf die historische Entwicklung der neoliberalen Nord-Süd- Integrationsstrategie und die damit verbundenen Folgen für die mexikanische Bevölkerung eingegangen. Zwischen 1940 und 1970 erzielte Mexiko mithilfe der Importsubstituierenden Industrialisierung (ISI)14 ein stetiges Wirtschaftswachstum, welches zum Anstieg der Einkommen und zur Ausdehnung der Mittelschicht führte. Das Ende des wirtschaftlichen 14 Bei der ISI handelt es sich um eine Wirtschaftsform, die sich nach der Weltwirtschaftskrise der 1930er entwickelt hat. Das „nach innen gerichtete Entwicklungsmodell“ fokussiert die Binnenmarktentwicklung (Importe werden durch Eigenproduktion ersetzt), die Subvention inländischer Produktion und den Schutz des einheimischen Marktes durch Zölle und Einfuhrbeschränkungen. (Boris 2012:62-65) 24 Feminicidio an der US-amerikanisch-mexikanischen Grenze. Machismo als Todesurteil? Aufschwungs wurde jedoch 1982 durch die Schuldenkrise eingeleitet. Fortan galten neoliberale Wirtschaftsregeln, die vom Internationalen Währungsfonds (englisch IMF) und der Weltbank (WB) mittels Strukturanpassungsprogrammen (englisch SAP) umgesetzt wurden. Die Ideologie des Neoliberalismus basiert auf der Öffnung der Märkte, freiem Kapitalverkehr, Budgetauflagen, Privatisierung von Staatsunternehmen, einer Verdichtung von internationalen Wirtschaftsbeziehungen und der Senkung von Sozialausgaben. Diese Maßnahmen führten aber nicht immer zum erhofften Wirtschaftsaufschwung, was an den ökonomischen Auswirkungen des NAFTAs für Mexiko veranschaulicht werden kann. Das North American Free Trade Agreement (NAFTA), welches am 1. Jänner 1994 von Kanada, den USA und Mexiko unterzeichnet wurde, sollte eigentlich als Vorstufe zur gesamtamerikanischen Freihandelszone dienen. Diese wurde aber aufgrund des massiven Widerstands der Länder Brasilien, Venezuela und Argentinien nicht ausgebaut. Die Freihandelszone versprach laut (neo)liberalen Denkmustern wirtschaftlichen Erfolg und damit einhergehende „Entwicklung“ mittels Außenöffnung im Bereich Handel, Dienstleistungen und Investitionen. Das Entwicklungsversprechen erfüllte sich aber nur mäßig, unter anderem wegen des starken Leistungsbilanzdefizits, das von der Bindung des Pesos an den US-Dollar ausgelöst wurde. Zudem führten die stark subventionierten US-Exporte zur Verarmung des Landwirtschaftssektors, da mexikanische Bäuer*innen ihre Produkte auf dem mexikanischen Markt nicht mehr gewinnbringend verkaufen konnten. (Jäger 2012:29f.; Gandarilla Salgado/Ortega/Pimmer 2012:131-138) Einhergehend mit der Außenöffnung kam es zudem zur rechtlichen Gleichstellung ausländischer Investor*innen (und damit zu vermehrten Investitionen im Bereich des Gemeinde- und Gemeinschaftseigentums), was zur Zerschlagung kollektiver Produktionsformen auf dem Land führte und nachhaltige Auswirkungen auf mexikanische Produktionsstrukturen hatte. Der neue wirtschaftspolitische Fokus lag fortan auf der Exportgetriebenen Industrialisierung (englisch EOI), die mittels der Maquiladoras vorangetrieben wurde. Bei den Maquiladoras handelt es sich um Montagefabriken (meist im Besitz transnationaler Unternehmen), die vor allem in der Konsumgüterherstellung (Elektronik, Textil, Automobilindustrie) tätig sind. Hier werden importierte Vorprodukte fertiggestellt und anschließend wieder exportiert. In Mexiko sind die meisten MaquiladoraIndustrien im Grenzgebiet angesiedelt; vor allem in den Städten Tijuana und Ciudad Juárez werden viele Produkte hergestellt, die dann in die USA oder nach Kanada exportiert werden. (Tuider/Wienold 2009:11ff.; Gandarilla Salgado/Ortega/Pimmer 2012:139ff.) 25 Sarah Theierling Die Maquiladora-Industrie ist beispielhaft für die internationale Arbeitsteilung, die von scheinbar unveränderlichen Hierarchien geprägt ist. Obwohl Mexiko nicht mehr in die klassische Dichotomie zwischen Rohstofflieferant und Industrieland einzuordnen ist, sondern hauptsächlich im Weiterverarbeitungssektor, der irgendwo dazwischen liegt, angesiedelt ist, dominiert die ökonomische und technische Abhängigkeit Mexikos von den USA nach wie vor die binationale Beziehung. In dieser Vorstellung von internationaler Arbeitsteilung übernimmt Mexiko die industrielle Weiterverarbeitung beziehungsweise Exportaufbereitung, zu einer selbstständigen Industrialisierung auf eigenständiger technologischer Grundlage kommt es jedoch nicht. (Tuider/Wienold 2009:11f.) Durch den Fokus auf den Exportsektor kommt es kaum zu einer Vernetzung der verschiedenen Sektoren, weshalb das mexikanische Wirtschaftswachstum trotz des Anstiegs der Exporte nur mäßig forciert wird und die mexikanische Wirtschaft wenig Reserven für Krisenzeiten hat und daher bei Rezessionen stark gefährdet ist. Mexiko kämpft beispielsweise heute immer noch mit den wirtschaftlichen Folgen der von den USA ausgelösten Krise 2008 (Platzen der Immobilienblase), welche vor allem hohe Arbeitslosigkeit und gestiegene Armut umfassen. Die wirtschaftliche Rezession führte zu einem Anstieg des informellen Sektors und der damit einhergehenden Kriminalität, was unter anderem vermehrte Gewaltverbrechen zur Folge hatte. (Gandarilla Salgado/Ortega/Pimmer 2012:131;140) An dieser Stelle muss darauf hingewiesen werden, dass vor allem Frauen von dieser wirtschaftlich prekären Situation betroffen waren und sind. Einerseits weil sie dadurch zunehmend Opfer von Gewaltverbrechen werden, andererseits weil sie gerade im Grenzgebiet einen hohen Anteil am Arbeitsmarkt haben. Die Beteiligung der Frauen am mexikanischen Arbeitsmarkt liegt heute je nach Quelle um die 40 Prozent. Zu Beginn der Grenzindustrialisierung in den 1960ern betrug sie sogar mehr als 50 Prozent, da meist Frauen, deren Arbeitskraft billig erworben werden konnte, in den von ausländischem Kapital gestützten Exportmanufakturen tätig waren. Noch heute stellen Frauen billige, leicht ersetzbare Arbeitskräfte dar und die an binären Geschlechtercodes orientierte Unterscheidung zwischen skilled und unskilled worker rechtfertigt Lohnunterschiede und verminderte Fortbildungschancen für Frauen. (Livingston 2004; Staudt/Vera 2006:138f.; Wright 2007; Monárrez Fragoso/Estela 2010). (Auf diesen Aspekt wird im folgenden Abschnitt (Kapitel 5.2.) ausführlicher eingegangen.) Hier zeigt sich auch, wie Ungleichheit und dadurch gestiegene Gender Based Violence in sozioökonomische Entwicklungen eingebunden ist und daher nicht unabhängig von regionalen politischen und ökonomischen Prozessen betrachtet werden kann (Staudt 2004; 26 Feminicidio an der US-amerikanisch-mexikanischen Grenze. Machismo als Todesurteil? Weissman 2010:225). Gleichzeitig stellt die Kategorie Gender auch ein wichtiges Werkzeug zur Aufrechterhaltung dieser von Hierarchien und Ungleichheiten geprägten internationalen Arbeitsteilung dar. Die Dualismenbildungen „Erste Welt“/„Dritte Welt“, „Entwickelt“/„Unterentwickelt“, Rohstofflieferant/Industrielle Verarbeitung gehen einher mit den ungleichen Machtverhältnissen entlang der Geschlechterlinie, die unter anderem Machtpositionen auf dem Arbeitsmarkt rechtfertigen (skilled/unskilled beziehungsweise trainable/untrainable worker). Gender spielt daher eine große Rolle bei der Konstruktion von Hierarchien (Sexismus, Rassismus und Klassismus) auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene. (Livingston 2004: 59,70; Zeilinger 2004:44; Tuider/Wienold 2009; Monárrez Fragoso/Estela 2010:62f.) Die Verbindung beziehungsweise Wechselseitigkeit der Unterdrückungsmechanismen kann vor allem anhand von Lohnunterschieden veranschaulicht werden. Auf der Seite der USA, beispielsweise in der Grenzstadt El Paso, kommt zu geschlechtsspezifischen Einkommensunterschieden auch noch eine Diskriminierung aufgrund der Ethnie hinzu. Untersuchungen haben ergeben, dass spanischsprachige Women of Colour15 in den USA circa ein Drittel des Gehaltes der US-amerikanischen „weißen“ Männer verdienen. (Staudt/Vera 2006:141-146.) In diesem Kapitel sollte ein grober Überblick über die unterschiedlichen wirtschaftlichen Entwicklungsphasen Mexikos in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geliefert werden. Der Aufstieg des Neoliberalismus zur führenden Ideologie, sowohl auf politischer als auch auf ökonomischer Ebene, liefert den historischen Hintergrund für das „Entwicklungsmodell“ der Exportgetriebenen Industrialisierung, das in Mexiko bis heute vorherrschend ist. Mithilfe dieses geschichtlichen Aufrisses sollte auf den starken Zusammenhang zwischen neoliberalen Staatspolitiken beziehungsweise wirtschaftlicher Globalisierung und lokalen sozioökonomischen Entwicklungen hingewiesen werden. Die Schaffung einer ExportÖkonomie in Mexiko zugunsten von globalökonomischer Politik und kapitalistischem Interesse ging einher mit sozialer Kontrolle, die aufgrund von genderspezifischen Ungleichheiten auf lokaler und globaler Ebene ausgeübt werden kann (Livingston 2004; Schmidt Camacho 2005:259; Weissman 2010:225). Im folgenden Kapitel werden die Auswirkungen der globalen neoliberalen Strategie auf lokaler Ebene analysiert und anhand einer Auseinandersetzung mit der Maquiladora-Industrie im Grenzgebiet USA-Mexiko dargestellt. 15 Women of Colour dient hier als politische Selbstbezeichnung, welche die Klassifikation aufgrund der Hautfarbe als gesellschaftliche und historische Konstruktion kritisiert. 27 Sarah Theierling 5.2. Maquiladoras Das Border Industrialization Program von 1965 kennzeichnete den Beginn der MaquiladoraIndustrie im Grenzgebiet zwischen den USA und Mexiko. Maquilas16 gab es daher schon vor 1994, durch das NAFTA stieg die Produktion jedoch weiter an und damit auch der Bedarf an Arbeitskräften. Vor allem Frauen schienen „geeignete“ Arbeitskräfte für die Fließbandarbeit, für die wenige Vorkenntnisse benötigt wurden und die daher auch schlecht entlohnt wurde, zu sein. Als die Hauptexportprodukte in den 1990ern ausschließlich aus den MaquiladoraIndustrien stammten, stieg die Frauenerwerbsquote doppelt so schnell wie die der Männer. (Livingston 2004:59-62; Zeilinger 2004:42; Schmidt Camacho 2005:256) In den 1970ern waren drei Viertel der in den mexikanischen Maquilas beschäftigten Arbeitskräfte Frauen. Seit den 1980er nahm dieser Wert jedoch aufgrund von Automatisierung und Technologisierung ab, da mit den gestiegenen Qualifikationsansprüchen an die Arbeiter*innen, wieder mehr Männer dauerhaft eingestellt wurden. (Truider/Wienold 2009:17) Mit der Ausweitung der Maquiladora-Industrie kam es sowohl auf ökonomischer Ebene als auch in frauenpolitischer Hinsicht zu zwei gegenläufigen Tendenzen. Einerseits wurden scheinbare Gewinne und Fortschritte erzielt, andererseits kam es trotz der Modernisierung zu einem Rückfall in alte hierarchisierende Denkmuster: 1. Die mexikanische Wirtschaft erzielte teilweise eine Angleichung an US-amerikanische Verhältnisse, kam aber trotzdem bis heute nicht aus der untergeordneten Position gegenüber den USA heraus. 2. Die Arbeit in den Maquiladoras stellt für viele Frauen eine emanzipatorische Möglichkeit dar, führt aber gleichzeitig zu einer starken Repression konservativer Gegenkräfte. Aus ökonomischer Hinsicht zeigte die neue Grenzpolitik zunächst eine positive Entwicklung für Mexiko und eine zunehmend konvergierende Tendenz in Richtung „reicher Nachbar“: Das Grenzgebiet auf mexikanischer Seite ist im Durchschnitt reicher als das restliche Mexiko. Gleichzeitig ist das Einkommen im Grenzgebiet auf US-amerikanischer Seite im Durschnitt geringer als im Rest der USA, was bedeutet, dass die Grenzregion ein regionales Mittelmaß zwischen Reich und Arm bildet. (Anderson 2003: 553) Trotz dieser konvergierenden Tendenz herrschen nach wie vor enorme Unterschiede, zum Beispiel in Bezug auf den Mindestlohn, der in den USA zehnmal höher ist als in Mexiko (vier US-Dollar) (Staudt/Vera 2006:130f.). Seit der Angleichung des mexikanischen Pesos an den 16 Maquila ist die Kurzform von Maquiladora. Das Wort kommt vom spanischen Verb maquilar (deutsch montieren, zusammensetzen). 28 Feminicidio an der US-amerikanisch-mexikanischen Grenze. Machismo als Todesurteil? US-Dollar ist der Lohn der mexikanischen Arbeitskräfte stark gesunken. Im Grenzgebiet ist die Inflation aufgrund der geografischen Nähe zu den USA sogar noch höher als im restlichen Mexiko, weshalb die Lebenshaltungskosten im Vergleich zum Lohn ungleichmäßig steigen. Durch die Inflation wirkt es zwar so, als ob die Löhne steigen würden, tatsächlich passiert aber das Gegenteil. (Livingston 2004: 65) Zudem wirkt sich die Maquiladora-Industrie nur mäßig auf die lokale wirtschaftliche Entwicklung aus, da die geringen Steuern (zum Beispiel Importsteuer) nur wenig Einnahmen für lokale Behörden schaffen (Zeilinger 2004:42f.). Trotz dieser teilweise repressiven Entwicklungen versprach die Exportgetriebene Industrialisierung unter dem Banner des Neoliberalismus in den 1990ern Wohlstand und Entwicklung. Aus diesem Grund zog es auch viele Arbeitskräfte in die Grenzregion und eine verstärkte Land-Stadt-Migration setzte ein. Während sich jedoch der Norden Mexikos an der Grenze zum Reichtum sah, profitierten die USA von der Ausbeutung billiger Arbeitskräfte (80 Prozent der Maquiladoras befinden sich in US-amerikanischem Besitz). Diese Entwicklung scheint auch unter dem Aspekt des historischen Gedächtnisses der Mexikaner*innen bedenklich, worunter vor allem weibliche Arbeitskräfte in den Maquiladoras leiden. Aufgrund der konfliktreichen Geschichte zwischen den USA und Mexiko17 ist die Beziehung zwischen den beiden Ländern stark vorbelastet. Zusammenarbeit und Kooperation mit den USA wird von manchen Mexikaner*innen als Verrat betrachtet, was im Zusammenhang mit den Maquiladora-Industrien besonders für die weiblichen Arbeitskräfte zu einer sozialen Stigmatisierung führen kann. Oft werden Analogien zwischen weiblichen Arbeitskräften, die von US-amerikanischen Firmen bezahlt werden, und „Prostituierten“, die mit „dem Feind“ ins Bett gehen, gezogen. (Livingston 2004:64ff.) Diese negative Stereotypisierung der Maquila-Arbeiterinnen trägt auch zur Stabilisierung von hierarchischen Arbeitsverhältnissen und zum Festfahren von gender-basierter Arbeitsteilung bei. Zusätzlich zu der prekären ökonomischen Situation, in der sich die Niedriglohnarbeiterinnen befinden, kommen also soziale Hürden hinzu. Doch nicht nur die negative Stereotypisierung erschwert den Frauen den Zugang zum Arbeitsmarkt. Das traditionelle Frauenbild, das die Frau auf Reproduktionsarbeit und Hausarbeit einschränkt, sieht keine Erwerbsarbeit für Frauen vor. Wer also die Beschränkung auf die traditionelle Mutterrolle ablehnt und stattdessen einen Beruf ergreift, verstößt gegen gesellschaftliche 17 Im Zuge des US-amerikanisch-mexikanischen Krieges (1846-48) verlor Mexiko die Hälfte seines Staatsgebietes (heutiges Kalifornien, Arizona, Neu-Mexiko, Utah, Nevada und Texas) an die USA, was mit dem Friedensvertrag von Guadalupe Hidalgo am 2. Februar 1848 besiegelt wurde (Kontinentalband: South America, Central America and the Caribbean 2012:637). 29 Sarah Theierling Erwartungen. In den Maquilas sind allerdings Schwangerschaften strengstens verboten (da die Kosten für Arbeitsgeber steigen und die Produktion sinkt), was Frauen daran hindert, sowohl einem Kinderwunsch als auch einer Erwerbsarbeit nachzugehen. In manchen Fällen werden die Frauen sogar dazu genötigt, in regelmäßigen Abständen Menstruationsblut und negative Schwangerschaftstests vorzuweisen, um die Möglichkeit einer Schwangerschaft auszuschließen. Gleichzeitig vermindert die Reproduktionsfähigkeit die Aussicht auf eine Lohnsteigerung und Weiterbildung, da eine mögliche Schwangerschaft eine Fortbildung wenig rentabel für den Konzern erscheinen lässt und somit eine Kurzanstellung legitimiert wird. (Zeilinger 2004:44; Livingston 2004:67f.; Wright 2007:196f.; Iturralde 2010:249-252) In dieser Einleitung zum Kapitel Maquiladoras sollte gezeigt werden, wie stark die in den Maquiladoras arbeitenden Frauen auf der einen Seite in das Industrialisierungsprogramm, dessen Ziele Modernisierung und Wirtschaftswachstum sind, eingebunden werden – auf der anderen Seite haben aber besonders Frauen, da sie großteils in den Maquiladoras beschäftigt sind, Schwierigkeiten damit, den gesellschaftlichen Ansprüchen gerecht zu werden und ihren Beruf auszuüben. Dass viele Frauen sich trotzdem dafür entschieden haben beziehungsweise aufgrund der Rezession dazu gezwungen waren, einer Erwerbsarbeit nachzugehen, führte jedoch zu einem Entwertungsprozess auf doppelter Ebene. Sowohl auf gesellschaftlicher als auch auf wirtschaftlicher Ebene kommt es zur Kommodifizierung und Entwertung der Frau. Einerseits wird sie aufgrund ihres „Frau-Seins“ auf dem Arbeitsmarkt entwertet, andererseits wird ihr sozialer Status als Frau aufgrund ihrer Position im Arbeitsmarkt (billige, leicht ersetzbare Arbeitskraft) entwertet. (Livingston 2004, Wright 2004; 2007; 2011; Monárrez Fragoso/Estela 2010) 5.2.1. Feminisierung von Arbeit Die Maquiladora-Industrie erleichtert Frauen den Einstieg in die Erwerbsarbeit und bietet somit eine Chance auf Selbstversorgung und Unabhängigkeit. Fällt der Einstieg in das Gewerbe zwar aufgrund der geringen Voraussetzungen sehr leicht, bedeutet dies gleichzeitig aber auch eine geringe Entlohnung, da eine entsprechende Qualifizierung für den Aufgabenbereich kaum notwendig ist und der Lohn dadurch niedrig gehalten werden kann. Die schlechte Entlohnung wird mit der schwachen Ausbildung der Frauen von den KonzernBetreiber*innen legitimiert und es kommt zu einer Feminisierung von Arbeit. Die Unterteilung in skilled labour (meist Männer) und unskilled labour (meist Frauen) klassifiziert die Frau als billige, leicht ersetzbare Arbeitskraft, die im Normalfall keine 30 Feminicidio an der US-amerikanisch-mexikanischen Grenze. Machismo als Todesurteil? Möglichkeit auf längerfristige Anstellung oder fixe Arbeitsverträge hat. (Livingston 2004:5962; Ballara 2004:36) Forderungen nach mehr Lohn stoßen mehrheitlich auf Granit, einerseits bedingt durch die Schwächung der Gewerkschaften im Zuge der neoliberalen Politik und andererseits ist eine Arbeitskraft, die mehr Lohn fordert, leicht zu ersetzen, da das Angebot an Arbeitskräften durch die generelle Arbeitslosigkeit die Nachfrage übersteigt. Zudem stellt die chinesische Maquiladora-Industrie, die ihren Arbeiter*innen noch weniger Lohn bezahlt und daher ihre Produkte günstiger weiterverkaufen kann, eine große Konkurrenz für mexikanische Betriebe dar. (Schmidt Camacho 2005:262; Gandarilla Salgado/Ortega/Pimmer 2012: 139ff.) Die Arbeitsteilung ist anhand der geschlechtsspezifischen Aufgabenbereiche klar erkenntlich. Während männliche Arbeitskräfte meistens anspruchsvollere Tätigkeiten übernehmen und regelmäßig fortgebildet werden, stellt die Frau eine nicht trainierbare Arbeitskraft, deren Fähigkeiten nicht ausgebaut werden können, dar. Der Mann hat also mit der High-TechTransformation die Möglichkeit, seine Fähigkeiten auszubauen, und kann dadurch seinen Wert behalten oder sogar steigern; die Frau jedoch verliert, sobald ihre Ressourcen als Arbeitskraft aufgebraucht sind, an Wert und wird ersetzt. (Wright 2007:184ff.) Diese Trennung in trainable/untrainable worker passiert mithilfe der Essenzialisierung der Frau, die hier als das „natürlich Passive“ dargestellt wird und somit der Immanenz verhaftet bleibt. Dieses Gendering der Arbeitsteilung aufgrund von „natürlichen“ Umständen wird über diverse Erklärungsweisen legitimiert. Laut dem „Turnover“-Narrativ (deutsch Fluktuation, Umlauf) sind Frauen der Firma gegenüber nicht loyal und wechseln oft den Arbeitsplatz. Ausgaben für Weiterbildung und Lohnsteigerungen scheinen aus diesem Blickwinkel daher für den Betrieb nicht rentabel. Gleichermaßen eigenen sich Frauen aber auch besonders für die Fließbandarbeit, da sie es gewohnt sind, sich patriarchalen Führungspersonen unterzuordnen. Hier lässt sich erkennen, wie nützlich dieses „Turnover“-Narrativ für die Gewinngenerierung der Maquiladora-Industrie ist: solange die weibliche Arbeitskraft einen Mehrwert generiert, wird sie eingestellt, sobald ihr Wert jedoch aufgebraucht ist (aufgrund von Schwangerschaft oder Alterungsprozess), kann sie leicht ersetzt werden. (Wright 2007:192-196) „She is a subject always in need of sorting because eventually the value of her presence on the production floor will be spent while the value of her absence will have appreciated.“ (Wright 2007:197) 31 Sarah Theierling Das bedeutet, dass sich weibliche Arbeitskräfte immer in einem instabilen Umfeld bewegen, da durch eine situationsbedingte Veränderung der Wert ihrer Anwesenheit leicht von dem Wert ihrer Abwesenheit übertrumpft werden kann. Dieser Status der Frau als leicht ersetzbare, billige Arbeitskraft, im Rahmen von neoliberaler Politik führt/e zur sozialen Disorganisation. Die mangelnde Absicherung des Wohlfahrtsstaates mithilfe sozialer Ausgaben aufgrund von Privatisierung forciert erhöhte Armut und Ungleichheit; kurz: lebensunwürdige Bedingungen. (Weissman 2010:227) Als Ausweg aus dieser Situation wählen manche Frauen den Weg in die Prostitution. Diese Entwicklung wird von einigen Teilen der Gesellschaft jedoch nicht aufgrund von sozioökonomischen Umständen erklärt, sondern beispielsweise aufgrund von „moralischem Verfall“ der mexikanischen Mädchen durch die Nähe zu den USA. (Wright 2007:186f.) Als Folge dieser Entwicklung wird vielen jungen Frauen vorgeworfen ein Doppelleben (Doble Vida) zu führen – tagsüber als Maquiladora-Arbeiterinnen, nachtsüber als Prostituierte. Sie tragen somit zu einem „kulturellen Verfall“ bei und es wird, wie bereits in den Maquila-Betrieben, ein Mechanismus ausgelöst, der bewirkt, dass die Absenz der Frau den Wert ihrer Präsenz übersteigt. Die Verdrängung der Frau aus dem öffentlichen Raum und das Verschwinden zahlreicher Mädchen können als direkte Folge dieser Sichtweise gedeutet werden. (Wright 2004; 2007) 5.2.2. Worker & Whore Obwohl der Vorwurf des Doble Vida auf weitaus weniger Mädchen und Frauen zutrifft als angenommen, spielt Prostitution in der Grenzregion eine zentrale Rolle, galt sie doch lange als wichtiger ökonomischer Faktor. Viele kaufstarke Touristen oder Industriearbeiter aus dem Norden haben die angebotene Sexarbeit in Anspruch genommen, wovon auch die Clubs und Bars der Umgebung profitierten. In Ciudad Juárez gab es keine limitierten Rotlichtbezirke, stattdessen dehnte sich die Sexarbeit auf die ganze Stadt aus. Mit dem Aufkommen der Maquiladora-Industrie wurde ein Modernisierungsprozess gestartet, in dem Frauenarbeit einen wesentlichen Beitrag zum Wirtschaftswachstum leistete. (Wright 2004:369; Schmidt Camacho 2005:265) Als Ciudad Juárez jedoch in den 1990ern aufgrund der Drug Wars immer mehr zu einem heruntergekommenen Zentrum für Drogen und Prostitution wurde, entschieden politische Eliten, die Stadt als Tourist*innen- und Geschäftsattraktion neu zu inszenieren. Zu diesem Zweck wurde Prostitution gänzlich verboten, was dazu führte, dass weibliche Präsenz auf den 32 Feminicidio an der US-amerikanisch-mexikanischen Grenze. Machismo als Todesurteil? Straßen plötzlich illegal war. Etwa in diesem Zeitraum startete die brutale Mordserie an jungen Frauen. (Wright 2004:369f.) Melissa Wright sieht hier einen Zusammenhang zwischen dem Verdrängen der Sexarbeiterinnen aus dem öffentlichen Raum und dem vermehrten Verschwinden und Ermorden von Frauen. Im Vordergrund ihrer These steht die Marxistische Theorie des Wertes beziehungsweise der Entwertung. Die Frau war vor 1990 in der Gesellschaft als Maquila- und Sexarbeiterin ein Symbol für wirtschaftliches Wachstum. Mit der Vision einer modernen, für Tourist*innen und Geschäftsleute attraktiven Stadt, ging in Ciudad Juárez jedoch eine Entwertung der Frau einher. Die Maquiladora-Industrien sollten auf Wunsch der Eliten in Zukunft über einen High-Tech-Standard verfügen, womit die Fließbandarbeit der Frauen obsolet wurde und die Prostitution gänzlich aus dem Blickfeld verschwinden sollte. Dass der Wert der Frau durch ihre Abwesenheit zunehmend stieg, hatte jedoch schwerwiegende Konsequenzen. (Wright 2004:370f.) Als ab 1993 vermehrt Mädchen und junge Frauen verschwanden, entschied sich die Regierung für die sogenannte „Blame the Victim“-Strategie, um sich aus der Verantwortung zu ziehen. Diese stützte sich auf die „Doble Vida“-These, wodurch das Verschwinden, die vermehrten Vergewaltigungen und Morde als selbstverschuldet dargestellt wurden, insofern als dass einer „normalen, sich korrekt verhaltenden“ Frau ja nichts passieren kann, während sich eine Prostituierte in vollem Bewusstsein dem Risiko, angegriffen werden zu können, aussetzt. Wer also durch unziemliches Verhalten sein Glück herausfordert, ist selbst schuld. (Livingston 2004:62; Wright 2004:377; Zeilinger 2004:46) „The discourse of prostitution as the degraded outcome of the public woman is therefore a technology for normalizing female disappearance in a context where creating a sense of a normal city is valuable.“ (Wright 2004:377) Diese „Blame the Victim“-Strategie zielt also auf eine Degradierung des Opfers ab, was eine Normalisierung von Gewalt zur Folge hat. (Livingston 2004:62; Wright 2004:377; Melgar 2011:92f.) Durch den Aufbruch des traditionellen Bildes einer harmonischen Dichotomie (Mann: Erwerbsarbeit, Öffentlichkeit / Frau: Privatsphäre, Haus und Familie) entwickelte sich zunehmend eine negative Zeichnung von arbeitenden Frauen. Der „Public Woman“-Diskurs führte dazu, dass die Public Woman als Schande für die Familie und die Nation dargestellt wurde. Das Public Cleansing ist also als Reaktion auf diesen Bruch mit der patriarchalen Normalität und traditionellen Werten zu lesen. Untermauert wird dies durch die Annahme, dass der Frau, solange sie sich in dem ihr zugewiesenem Bereich (Haushalt, Familie) aufhält, 33 Sarah Theierling nichts passieren kann. Hier offenbart sich die „Doble Vida“-These („Worker and Whore“Narrativ) als weitere Erzählung, welche sicherstellt, dass die Frau ihre Position in der Gesellschaft nicht verlässt. (Wright 2011:713ff.) Die Gleichsetzung von Worker und Whore bestimmte die zunehmende Sexualisierung von weiblicher Arbeitskraft und stellt im Prinzip den Grundstein der verwobenen Repressionsstrategien gegen Frauen dar. Die Entwertung der Frau auf dem Arbeitsmarkt geht einher mit dem Prozess des Public Cleansing, in dem der Wert der Frau durch ihre Abwesenheit gekennzeichnet wird. Die Präsenz der Frau im öffentlichen Raum wird durch lebensgefährliche Umstände sanktioniert und bestätigt die Grundannahme, dass die eigenen vier Wände der einzig sichere Platz für eine Frau sind. Neben der Feminisierung von Arbeit und der Sexualisierung von weiblicher Arbeitskraft kommt es gleichzeitig auch zu einer Kommodifizierung der Frau. In diesem Prozess wird der weibliche Körper zu einem Objekt (der Begierde), das konsumiert werden kann/darf/muss. (Wright 2004; 2007) 5.2.3. Fetischisierung der Frau Die bereits beschriebene Sexualisierung von weiblicher Arbeitskraft beschreibt den Werdegang der Frau vom (politischen) Subjekt in einer Gesellschaft hin zu einem Objekt der sexuellen Begierde und der damit einhergehenden Entwertung der Frau. Die Art und Weise, wie die ermordeten Frauenkörper gefunden wurden – nackt, verstümmelt, im Müll deponiert – gibt einiges über die geringe Wertschätzung gegenüber Frauen preis. Sie sind wortwörtlich wertlos. Der Subjektstatus wird ihnen entzogen, stattdessen werden sie zum Objekt gemacht: sie werden zu einem „Sexually Fetishized Commodity”. Die Misshandlung des Körpers ist ein Ausdruck der Macht der Täter über die Opfer und deren Familien (siehe Kapitel 5.5.4.). Es handelt sich um eine schutzlose Ware, die konsumiert und weggeworfen wird. (Wright 2007:186f.; Monárrez Fragoso/Estela 2010:59f.) Das Zusammenspiel von patriarchalem und kapitalistischem System impliziert die Transformation des (weiblichen) Körpers zu einer erwerblichen Ware. Die MaquiladoraIndustrie dient als Schauplatz, auf dem (durch den Austausch von Geld, in diesem Fall Lohn) die Arbeitskraft des Körpers „verkauft“ wird. Auch wenn nicht alle Opfer des Feminicidios unmittelbar in den Arbeitsmarkt integriert waren, stellten sie doch eine potentielle Arbeitskraft dar. Die Konstruktionen von Race, Class und Gender spielen in diesem Vermarktungsprozess eine wesentliche Rolle, denn sie bestimmen den Preis/Wert der Arbeitskraft. Mit anderen Worten könnte man sagen, die Wertgenerierung der Maquilas findet 34 Feminicidio an der US-amerikanisch-mexikanischen Grenze. Machismo als Todesurteil? mittels diesem variablen Kapital statt; Arbeitskraft wird gegen Lohn ausgetauscht und ist demnach mehr oder weniger wert. (Wright 2007:184f.; Monárrez Fragoso/Estela 2010:61ff.) Der Terror gegen die Frau dient ihrer Kennzeichnung als ersetzbarer Körper und ist ein Mittel der sozialen Kontrolle. Mit dem Ermorden der Frau wird der Konsum der Frau signalisiert, was verhindert, dass jemand anderes die Frau konsumieren kann; dieser Besitzanspruch ist bei der Objektivierung des Subjekts entscheidend. Die Frau wird von einem menschlichen Subjekt in ein Objekt der (ökonomischen/sexuellen) Begierde transformiert. Durch das Othering, das Andersmachen, ist die Frau nicht länger ein Mensch, Staatsbürgerin, Mexikanerin; sondern sie wird zu einem Objekt, das konsumiert werden kann/darf/muss. Diese Ein-/Unterordnung in das kapitalistische System dient gleichzeitig auch dem Erhalt des patriarchalischen Systems, da der Frau eine eindeutige Position zugeordnet wird. Diese Art von Kontrolle stellt einen neuen „modernen“ Mechanismus dar, in dem ökonomische und patriarchale Unterdrückung ineinander fließen. (Schmidt Camacho 2005:265f.; Monárrez Fragoso/Estela 2010:64-67) 5.2.4. Zusammenfassung und Schlussfolgerung: Maquiladoras Wie bereits ausführlich dargestellt wurde, gestalten sich die Emanzipation der Frauen und der Ausbruch aus traditionellen Geschlechterrollen aufgrund von Narrativen und „kulturellen“ Werte- und Moralvorstellungen äußerst schwierig. Mehrere soziale, politische und ökonomische Mechanismen greifen ineinander und führen zur Entwertung der Frau auf beruflicher und auf privater Ebene. Zudem wird ihr der Status als politisches Subjekt aberkannt und sie wird als Folgewirkung zum Objekt konstituiert, das Konsumwunsch und Machtansprüchen nicht standhalten kann. Neben diesem Prozess der Kommodifizierung der Frau wird die weibliche Arbeitskraft aber gleichzeitig auch zur Konsumentin. Somit wird sie zur „Brötchenverdienerin“ und mit ihrer steigenden Kaufkraft klinkt sie sich aus dem patriarchalen System aus. Sie tritt also in einen Wettstreit um den Arbeitsplatz mit männlichen Kollegen und verstößt somit gegen die traditionelle patriarchale Ordnung. 5.3. „Macho Backlash“ & „Machista Society“ Neben den wirtschaftlichen Misserfolgen der neoliberalen Nord-Süd-Integrationsstrategie kam es auch zu Umbrüchen und Veränderungen in der sozialen Organisation der mexikanischen Gesellschaft. Wie im vorherigen Kapitel (5.2.) dargestellt wurde, zeigt sich, dass die gewünschte Modernisierung und der wirtschaftliche Fortschritt, die durch die Exportgetriebene Industrialisierung erreicht werden sollten, mit den traditionellen 35 Sarah Theierling Geschlechterbildern kollidiert/en, worunter sowohl Männer als auch Frauen, wenn auch auf unterschiedliche Weise, leiden (Weissman 2010:232f.). Die vermehrte Präsenz der Frauen auf dem Arbeitsmarkt (Öffentlichkeit) widerspricht der traditionellen Rolle der Frau (Privatsphäre) und stellt somit laut einigen Autor*innen einen Angriff auf die „mexikanische Männlichkeit“ dar. Die Genderrollen geraten außer Kontrolle, wenn die Frau plötzlich durch Erwerbsarbeit in der Öffentlichkeit steht und der Mann arbeitslos an den Haushalt gebunden ist. (Livingston 2004 69f.; Prieto- Carrón/Thomson/Mcdonald 2007:29f.) „Femicide represents a backlash against women who are empowered, for instance by wage employment, and have moved away from traditional female roles. These are deaths that cause no political stir and no stutter in the rhythm of the region’s neo-liberal economy because, overwhelmingly, state authorities fail to investigate them, and the perpetrators go unpunished.“ (Prieto-Carrón/Thomson/Mcdonald 2007:26, Hervorhebung ST) In dieser Auffassung entsteht Feminicidio, eingebettet in das ideologische und soziale Umfeld des Machismo, durch eine Gegenreaktion (englisch backlash) auf das weibliche Emanzipationsbestreben. Durch das Forcieren der industriellen Produktion steigt auch der Anteil der Frauen in den Maquilas. Dass die Frauen aber durch ihren höheren Verdienst die Familie unterstützen und somit einen bedeutenden Beitrag zur Gesellschaft leisten, beinhaltet ein enormes Konfliktpotential. Die Männer haben nicht mehr die Möglichkeit, die Alleinverdiener zu sein, und fürchten daher um ihre Rolle als Familienoberhäupter. Somit gefährdet das Aufbrechen der traditionellen Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau auch die Harmonie im Privatleben. (Olivera/Furio 2006:107ff.) „For many men the stereotypical self-image of the macho makes it difficult to accept roles that are inferior either objectively or symbolically to those of their mates. It is not uncommon in this situation for men to direct their aggression against their wives and children.“ (Olivera/Furio 2006:109, Hervorhebung im Original) Der Macho hat also laut diesem Verständnis einerseits mit einer Identität, die durch Selbstdefinition entsteht, zu tun, ist andererseits aber auch ein Bild, das nach außen getragen werden muss. Wer es also nicht mehr schafft „seinen Mann zu stehen“, verliert nicht nur sein Gesicht gegenüber der Gesellschaft, sondern kämpft auch mit einem Identitätsverlust, was zur vermehrter Aggression gegenüber anderen führt. (Olivera/Furio 2006; Prieto- Carrón/Thomson/Mcdonald 2007) Durch den erlittenen Identitätsverlust, der gekoppelt ist mit der neuen Subjektivität und Unabhängigkeit der Frau, formt sich ein “machismo ultrajado”, der als Gegenreaktion auf 36 Feminicidio an der US-amerikanisch-mexikanischen Grenze. Machismo als Todesurteil? diese schmerzhafte Veränderung in der sozialen Organisation zu verstehen ist (Arteaga Botello/Valdés Figueroa 2010:16ff.). Die genauen Ursachen des Feminicidios in Mexiko und der besonders hohen Mordrate in der Grenzregion sind sehr schwer zu ermitteln. Während wie oben bereits ausgeführt einige Autor*innen die von Machismo geprägte Gesellschaft („Machista Society“) als Hauptursache für die Gewalttaten sehen, verneinen andere diese kulturalisierende Sichtweise und verweisen stattdessen auf einen globalen Kontext und sozioökonomische Veränderungen. Internationale Marktmechanismen nehmen dem Staat die Kontrolle über ökonomische und politische Entscheidungen aus der Hand, was zu einer Dezentralisierung von Macht führt. Die von WB und IMF diktierten Strukturanpassungsprogramme haben den mexikanischen Staat in seiner Handlungsfähigkeit enorm geschwächt. Unter dem Banner des Neoliberalismus wird auch eine höhere Besteuerung von internationalen Konzernen, die in Mexiko tätig sind, verhindert. Es kommt zu einer paradoxen Entwicklung: trotz der Etablierung einer vermeintlich vielversprechender Export Processing Zone (EPZ) steigt die Armut weiter an. Der Staat verliert an Macht und somit seinen Status als Gewaltmonopol; als Folge formatiert das organisierte Verbrechen einen „alternativen Staat“ (siehe Kapitel 5.5.4.). Um nicht noch tiefer in die Armutsspirale zu rutschen, klammert sich der Staat an internationale Vorgaben, wodurch die Abhängigkeit von transnationalen Konzernen weiterhin bestehen bleibt. Durch den verstärkten Privatisierungsdiskurs der neoliberalen Globalpolitik (ab circa 1980) und Reformen im Arbeitsrecht, die unter Einfluss von transnationalen Firmen durchgesetzt wurden, wurden sowohl die Rechte der Arbeiter*innen als auch die Handlungsmöglichkeiten des Staates enorm geschwächt. Viele Arbeiter*innen haben aufgrund der wirtschaftlichen Rezession gar kein Interesse daran bei Überschreitung der rechtlich vorgeschriebenen Maximalarbeitszeit zu klagen, da sie die Überstunden brauchen, um finanziell durchzukommen. Zusätzlich zu diesem deregulierten Arbeitsfeld, trägt die Privatisierung von staatlichen Behörden, wie beispielsweise der Polizei, dazu bei, dass der Nationalstaat das Sicherheitsmonopol verliert und nicht länger in der Lage ist, seine Bürger*innen zu schützen. (Weissman 2010:234-237) Von Seiten der Maquila-Inhaber*innen fehlt jede Wahrnehmung für den idealen Nährboden für Ungleichheit und Diskriminierung, den dieses deregulierte Arbeitsfeld bietet. Die ausländischen Konzerne erklären der Feminicidio stattdessen mit dem „Death by Culture“Narrativ. Die Maquiladora-Industrie hat nur insofern mit den Frauenmorden zu tun, als dass 37 Sarah Theierling die Anstellung von Frauen die „traditionellen kulturellen Werte“ durcheinander bringt und sie somit aufgrund ihrer Emanzipation zu kulturellen Opfern des Machismo werden. (Wright 2007:188f.) Durch Narrative über den mexikanischen Machismo und der Essenzialisierung der mexikanischen Frau („Doble Vida“-These, „Turnover“-Narrativ) wird die „mexikanische Kultur“ als Auslöser für den Feminicidio dargestellt („Death by Culture“-Narrativ), woraufhin die Maquila-Industriebetreiber*innen nicht zur Verantwortung gezogen werden können. Diese Entwicklungen dienen dem Erhalt patriarchaler und kapitalistischer Hegemonie und helfen dabei, die mexikanischen Frauen über mehrere Ebenen (lokale, nationale, internationale) zu kontrollieren und subordinieren. (Wright 2004; 2007; 2011) Wie bereits im Kapitel „Fetischisierung der Frau“ (5.2.3.) ausgeführt wurde, stützen sich das patriarchale System und das kapitalistische System (Zirkulation und Akkumulation von Kapital) somit gegenseitig (Monárrez-Fragoso/Estela 2010:61-67). Die Theorie des „Macho Backlash“ kann weder verifiziert noch falsifiziert werden. Die „kulturell“ bedingten Geschlechterrollen als Hauptgrund für den Feminicidio zu betrachten, birgt jedoch eine gewisse Gefahr, die Situation zu simplifizieren und das komplexe Zusammenspiel mehrerer Faktoren außer Acht zu lassen (Iturralde 2010:258f.). „If it is therefore necessary to look at root causes in a much more expansive sense rather than reducing it to a debate about Machismo and cultural inferiority.“ (Iturralde 2010:259.) Um es in den Worten von Deborah Weissman zu sagen: Es ist schwieriger, die Beziehung zwischen sozioökonomischen Entwicklungen und GBV zu verstehen, als die Schuld einfach den mordlüsternen unmoralischen Mexikanern zuzuschieben (Weissman 2010:225). Was daher in der Debatte um den „Macho Backlash“ nicht außer Acht gelassen werden darf, ist, dass die Entwicklung der Export-Ökonomie in Mexiko die „traditionellen Rollenbilder“ der Geschlechter und die Beziehungen zwischen Männern und Frauen zwar verändert hat und es möglicherweise zu einer Art Identitätsverlust der Männer aufgrund von erhöhter Arbeitslosigkeit kam. Die starke Charakterisierung des „mexikanischen Machos“ jedoch suggeriert die Annahme von statischen, unveränderlichen Gender-Rollen. Kultur wird hier als etwas Festgefahrenes, nicht Veränderbares beschrieben und polit-ökonomische Entwicklungen und ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft werden komplett ausgeblendet. Die Möglichkeit einer Reduzierung von Machismo in der Gesellschaft eben durch das vermehrte Auftreten der Frau als Arbeitskraft wird ebenfalls nicht in Betracht gezogen. (Weissman 2010:230ff.) 38 Feminicidio an der US-amerikanisch-mexikanischen Grenze. Machismo als Todesurteil? „If, in fact, gender backlash contributes to the murders of women, there has been little effort to consider how the dynamic is produced or to examine the way in which both men’s and women’s identities are constructed in current economic conditions. Without such consideration, the possibilities for community agency and solidarity against constructive economic forces are limited.“ (Weissman 2010:231, Hervorhebung ST) Die aktuelle Situation kann daher nicht allein auf die weibliche Erwerbsarbeit und den „beleidigten Macho“ zurückgeführt werden. Diese Totalisierung der Geschlechterrollen verdrängt die sozioökonomischen Ursachen von GBV und ignoriert den Gesamtkontext. (Weissman 2010:230ff.) Diese Entwicklungen zeigen, dass es zweifelsohne wichtig ist, dass internationale Konzerne Verantwortung für lokale sozioökonomische Entwicklungen übernehmen. Denn wenn die massiven Auswirkungen dieser Entwicklungen nicht beachtet werden, kommt es zu einer ungleichen Verteilung von Gerechtigkeit, was zur stärkeren Unterdrückung der ohnehin schon verletzlichsten Gruppe einer Gesellschaft führt. Im Falle der Grenzsituation handelt es sich vor allem um von Armut betroffene Migrantinnen und Women of Colour. (Iturralde 2010:257f.) 5.4. Migration Wie in Kapitel 5.2. bereits kurz angesprochen wurde, kam es aufgrund der neuentstandenen Exportökonomie in Mexiko zur Generierung von Arbeitsplätzen, und damit zu einer starken Land-Stadt-Migration. Beinahe die Hälfte aller Einwohner*innen von Ciudad Juárez sind Migrant*innen, die in den Maquila-Fabriken tätig sind. (Schmidt Camacho 2005:261) Ein weiterer Teil der Migrant*innen wird durch den American Dream in die Grenzregion gelockt. Für viele Frauen stellt die Aussicht auf ein besseres Leben eine große Chance dar, für die sie auch ein gewisses Risiko eingehen und sich unter schwierigsten Umständen – unter anderem illegal von Schlepperbanden (Coyotes) – über die Grenze bringen lassen. Migration ist generell immer mit Chancen und Risiken verbunden, je nach Wissensstand und Informationsfluss fällt die Vorbereitung auf einen Ortswechsel leichter oder schwerer. Besonders für Frauen birgt die selbstbestimmte Migration ein emanzipatorisches Potenzial und einen möglichen Ausstieg aus traditionellen Geschlechterkonzepten und Rollenverteilungen. Andererseits begeben sie sich dadurch auch in eine risikobehaftete und prekäre Situation. Migrierende Frauen verlassen ihr vertrautes Umfeld und kommen an einen fremden Ort, wo sie zunächst selten eine Verankerung in ein soziales Netz erwarten können. Durch den fehlenden Rückhalt und wenig Wissen über Rechtsanspruch stellt Migration einen 39 Sarah Theierling Zustand erhöhter Verwundbarkeit dar. (Ballara 2004:33; Tuider/Wienold 2009:13-19; Alfarache Lorenzo 2009:109f.) Gender ist daher ein wichtiger Faktor bei Migration (vor, währenddessen und danach). Durch soziale und kulturelle Zuschreibungen besteht die Gefahr, Opfer von (sexualisierter) Gewalt zu werden. Vergewaltigungen werden aufgrund von Angst vor einem Statusverlust, bedingt durch soziale Stigmatisierung, oft nicht angezeigt. (Zudem spielt Jungfräulichkeit bei Eheeintritt bei manchen Gesellschaftsschichten eine wichtige Rolle und ist eine Grundvoraussetzung für ökonomische Sicherheit. Siehe Einleitung Machismo). (GonzálesLópez 2007:225-229) Sexualisierte Gewalt in Zusammenhang mit Migration bildet also ein zentrales Thema, das allerdings von gegenseitiger Schuldzuweisung der beiden Grenznationen gekennzeichnet ist. Als Preis für die Ausreise in die USA müssen viele Frauen Vergewaltigungen von Coyotes und Border Patrol Agents über sich ergehen lassen, viele nehmen daher schon vorher Antikonzeptiva ein (Schmidt Camacho 2005:279f.; Falcón 2007:206; Gonzáles-López 2007:224). Illegale Einwanderinnen ohne Visa können zudem die Vergewaltigungen aus Angst vor Abschiebung weder in den USA noch in Mexiko aufgrund der „Blame the Victim“Strategie der mexikanischen Behörden anzeigen (Schmidt Camacho 2005:279). Die Grenzregion wird vor allem für Frauen zu einem gefährlichen Ort, an dem Militarisierung, Hypermaskulinität, Kolonialismus18 und Patriarchat aufeinandertreffen. Die systematischen Vergewaltigungen an der Grenze müssen auch als Folge der von den USA forcierten Militarisierung betrachtet werden. Diese Militarisierung wurde im Zuge der „Operation Gatekeeper“19 seit dem Beginn des US-amerikanischen War on Drugs weiter vorwärts getrieben, was dem Militär zusätzlichen Einfluss auf innerstaatliche Aktivitäten verschaffte (bis 1982 war die Zusammenarbeit zwischen Militär und Polizei verboten). Diese Entwicklung trug zur Etablierung einer männlich dominierten (Un-)Sicherheitszone bei, in der im Namen der nationalen Sicherheit vermehrte Kontrolle und Repression gegenüber Migrant*innen und Einwanderer*innen ausgeübt werden konnte/kann. Migrant*innen und Flüchtlinge wurden somit als Bedrohung der nationalen Sicherheit eingestuft, was fortan mit militärischer Aktivität gehandhabt wurde; seit jeher eine „klassisch-männliche“ Aufgabe. (Falcón 2007:203ff.) 18 Der Begriff Kolonialismus wird hier von Sylvanna M. Falcón im Sinne von historischer Tradition der Machtausübung der USA gegenüber Mexiko, in der Frauenkörper oft ein Symbol für umkämpftes Territorium darstell(t)en, verwendet (Falcón 2007:203f.). 19 Unter „Operation Gatekeeper“ wird die seit 1994 verstärkte Militarisierung an der Grenze, welche den War on Drugs forcieren und illegale Grenzübertritte verhindern soll, um die nationale Sicherheit zu gewährleisten, verstanden (Falcón 2007:204f.). 40 Feminicidio an der US-amerikanisch-mexikanischen Grenze. Machismo als Todesurteil? Staatssicherheit (in Verbindung mit bestimmten politischen und ökonomischen Interessen) orientiert sich nicht unbedingt an der Sicherheit der Migrant*innen und Flüchtlinge. Die Vergewaltigungen an der Grenze sind daher nicht als Ausnahmeerscheinung zu betrachten, sondern als systematisches Verbrechen. Vor allem illegale Einwanderinnen werden vor den Tausch Sex gegen Papiere gestellt oder mit einer Deportationsdrohung gefügig gemacht. Eine rechtmäßige Verfolgung dieser Verbrechen erfolgte von Seiten der USA bisher nur zögernd. Kommt es zur Anzeige von sexuellen Übergriffen von Border Patrol Agents, müssen tatkräftige Beweise vorliegen, um eine tatsächliche Verurteilung zu erreichen. Da eine Vergewaltigung ohne morphologische Verletzungen und ohne DNA-Spuren schwer nachzuweisen ist, kommt es in den seltensten Fällen zu Verurteilungen. Die Anzahl der beschuldigten Beamten, die sich trotz Anzeigen und Beschwerden im Dienst befinden, markiert das Desinteresse des US-amerikanischen Staates an einer Gewaltprävention. Einige Border Patrol Agents wurden nach einer erfolgreichen Verurteilung sogar mit einer von staatlichen Geldern finanzierten Kaution freigekauft. (Falcón 2007:206-215) In den 1990er Jahren kam es im Grenzgebiet Mexiko-USA zu einer interessanten Entwicklung. Während einerseits wirtschaftliche Integration forciert wurde, kam es andererseits zur Errichtung eines vier Meter hohen Stacheldrahtzaunes (Anderson 2003:535f.). Gleichzeitig fanden also Zusammenschluss und Abgrenzung statt, was das Leben für viele Menschen erschwerte und – besonders für Frauen – dramatische Entwicklungen nach sich zog. Die Grenze bildet einen Raum, in dem mehrere Lebenswelten aufeinander treffen und viele verschiedene Faktoren ihre Wirkungsmacht entfalten. Die zunehmende Militarisierung und der von den USA forcierte War on Drugs tragen dazu bei, dass die Grenzregion zu einer Unsicherheitszone wird, die viele Gefahren birgt. Vor allem migrierende Frauen sind leicht verwundbar, da sie meist auf sich allein gestellt sind und kaum über ihre Rechte Bescheid wissen. Systematische Vergewaltigung an der Grenze tritt hier als ein weiterer Mechanismus, die soziale Kontrolle über Frauenkörper (sei es als Arbeitskraft (siehe Kapitel 5.2.) oder als Migrantin) beizubehalten, auf. Es können also auch Parallelen zwischen der Feminisierung von Arbeit in den Maquilas und der Hypermaskulinität der Grenzakteure gezogen werden. (Falcón 2007:221) Egal, ob das Migrationsziel die USA oder Mexiko ist, politischen Rückhalt und Schutz vor GBV finden die Frauen kaum. Die enorme Straflosigkeit trägt dazu bei, dass viele Vergewaltigungen und sexuelle Nötigungen nicht anzeigen und der Feminicidio ungestraft weiter geht. 41 Sarah Theierling 5.5. Straflosigkeit – unwilling or unable? Trotz Unterzeichnung und Ratifizierung von mehreren internationalen und regionalen Übereinstimmungen (unter anderem der Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination Against Women – CEDAW) kam es kaum zu einem Fortschritt bei der Prävention und Aufklärung des Feminizids (Prieto-Carrón/Thomson/Mcdonald 2007:31). Zudem wurden mehr als 50 Empfehlungen von den Vereinten Nationen und internationalen Menschenrechtsorganisationen bezüglich Prävention und Aktion gegen Justizineffizienz ausgesprochen (Lagarde y de los Ríos 2010:12; siehe auch Comisión Especial 2006:60). Laut Marcela Lagarde y de los Ríos ergab eine Untersuchung der Comisión Especial20, dass es zwischen 1999 und 2005 mehr als 6.000 getötete Frauen in Mexiko gab. Das entspricht etwas mehr als 1000 Toten pro Jahr. Des Weiteren werden bis zu 400 Fälle von häuslicher Gewalt pro Woche in Mexiko angezeigt. Die genaue Größe der Dunkelziffer von Straftaten, gegen die nicht Anzeige erstattet wurde, kann nur vermutet werden. Die enorme Straflosigkeit wird hier als Zeichen für institutionelle und strukturelle Gender Based Violence gesehen, die mit Ungleichheiten und Diskriminierung miteinhergeht. (Fernandez/Rampal 2007:120; Lagarde y de los Ríos 2010:21f.) Im Zentrum der Debatte steht die Frage, ob eine misogyne Grundhaltung zur Straflosigkeit führt oder ob die Straflosigkeit erst den Auslöser für die ungestrafte Gewalt gegen Frauen bildet. Um dieser Frage nachzugehen, werden in diesem Kapitel die verschiedenen Instanzen, die die Schuld an der Straflosigkeit mittragen, dargestellt und abschließend die Theorie über das „korporative Verbrechen“ von Rita Laura Segato vorgestellt. 5.5.1. Polizei Die bürokratischen Mühlen in Mexiko mahlen langsam. Oftmals wurden und werden Verbrechen aufgrund dieser Hürden gar nicht erst angezeigt und die Erwartungshaltung gegenüber der erfolgreichen Aufklärung von Verbrechen ist daher eher niedrig (PrietoCarrón/Thomson/Mcdonald 2007:33). Die ineffizienten Ermittlungen der Polizei sind entweder ein Hinweis auf sanierungsbedürftige Staatsapparate oder als Zeugnis des enormen Ausmaßes an Korruption in diesem Land zu lesen. Die verringerten Staatsausgaben im Zuge des neoliberalen Sparkurses führten zu einem Sinken der Löhne für Polizist*innen und dem gleichzeitigen Anstieg von Korruption. Das Vertrauen in die Polizei von Seiten der Bevölkerung ist schwer erschüttert, da aufgrund der hohen Korruption oft keine klare 20 Comisión Especial para Conocer y Dar Seguimiento a las Investigaciones Relacionadas con los Feminicidios en la República Mexicana y la Procuración de Justicia Vinculada. 42 Feminicidio an der US-amerikanisch-mexikanischen Grenze. Machismo als Todesurteil? Trennlinie zwischen Kriminellen und Polizei zu ziehen ist. (Huffschmid 2004; Ensalaco 2006:421-424; Weissman 2010:234) Im Zusammenhang mit der Mordserie an Frauen in Ciudad Juárez und Umgebung gibt es einen berechtigten Zweifel an der Kompetenz der Polizei und an deren erfolglosen Ermittlungen: Zeug*innenaussagen und Notrufe wurden ignoriert und die Suche nach Vermissten oft erst eingeleitet, als es schon zu spät war. Auch die Spurensicherung weist erhebliche Mängel auf; DNA-Funde21 wurden nicht ausgewertet, was in Folge zur Falschidentifizierung von Opfern führte und einen DNA-Abgleich mit potenziellen Tätern unmöglich machte. Diese Liste der Fahrlässigkeit und die hohe Anzahl von ungelösten Mordfällen löste in Zusammenhang mit mangelnder Transparenz über den Fortschritt der Untersuchungen großen Ärger bei den Angehörigen aus, die erschüttert waren über die Ineffizienz und Inkompetenz der Polizei und erzürnt über den Mangel an politischem Willen, die Frauenmorde aufzuklären. Die steigende Unzufriedenheit der Bevölkerung führte in der Vergangenheit vermehrt zu Verhaftungen von „Sündenböcken“ und zur Fälschung von Beweisen, um die Öffentlichkeit zu beruhigen. (Huffschmid 2004; 2006:73; Ensalaco 2006:421-424) Das berühmteste Beispiel hierfür ist die Verhaftung des gebürtigen Ägypters Abdel Latif Sharif 2003. Der in den USA bereits vorbestrafte Sexualstraftäter wurde von den Behörden als Täter für mehrere Morde „identifiziert“ und zu 20 Jahren Haft verurteilt. Nachdem vergeblich Berufung eingelegt wurde, wurde 2005 schlussendlich ein Urteil gefällt: 30 Jahre Haft. Das Kuriose an diesem Schauprozess ist, dass die Frauenmorde bereits während Sharif noch in Untersuchungshaft saß, weitergingen, was die These eines einzelnen Serienkillers mehr als unglaubwürdig erscheinen ließ, die Justiz aber trotzdem nicht dazu bewogen hat, ihre Theorie aufzugeben. Aufgrund des Nicht-enden-Wollens des Feminicidios trotz mehrerer Verhaftungen sind daher auch Nachahmungstäter nicht auszuschließen. (Ensalaco 2006:424; Fernandez/Rampal 2007:122ff.) Mehrere Gerüchte über die Zusammenarbeit der Polizei mit Drogenkartellen stellen zudem die Frage in den Raum, in wie viele Verbrechen die Polizei tatsächlich involviert ist. Das Ausmaß der Korruption ist jedoch offen. (Ensalaco 2006:424) Anhand der veranschaulichten Mängel ist jedoch von einem gewissen Unwillen von Seiten der Polizei, die Frauenmorde restlos aufzuklären, auszugehen. Eine frauenfeindliche Grundhaltung und die bereits angesprochene traditionelle Dichotomie zwischen Privatsphäre 21 Der erste Vaginalabstrich wurde erst 1999, sechs Jahre nach Beginn der Mordserie, zur DNA-Analyse entnommen (Iturralde 2010:247). 43 Sarah Theierling und Öffentlichkeit (siehe Kapitel 5.3.) spielt daher auch für polizeiliche Ermittlungen eine Rolle. Häusliche Gewalt wird zum Beispiel bis zu einem bestimmten Grad von den Behörden trotz Anzeige toleriert, da sie in den Bereich des Privaten fällt und somit zu einer Angelegenheit von Eheleuten und nicht zu einer Staatsangelegenheit wird, daher auch nicht den Aufgabenbereich der Exekutive betrifft. (Ensalaco 2006:427; Huffschmid 2006:83) 5.5.2. Regierung Sowohl der Polizei als auch der Regierung wird vorgeworfen, der Aufklärung der Frauenmorde nur geringen Wert beizumessen, was sich unter anderen auch durch den Mangel an einheitlich transparenten Daten zeigt. Offizielle Zahlen entsprechen oft nicht der Wahrheit und das tatsächliche Ausmaß der Gewaltverbrechen wird von der Regierung heruntergespielt, um keinen nationalen Aufstand, der eventuell internationale Aufmerksamkeit erregen könnte, zu entfachen. (Prieto-Carrón/Thomson/Mcdonald 2007:32f.; Alfarache Lorenzo 2009:107; Lagarde y de los Ríos 2010:14f.) Durch diese Verschleierung von Tatsachen kann eine genaue Analyse der Situation nur schwer erfolgen. Der Zusammenhang zwischen Migration und den Frauenmorden ist zum Beispiel aufgrund der mangelnden offiziellen Angaben nicht genau festzumachen. Viele Migrant*innen reisen ohne Papiere, was das Identifizieren der Personen beim Auffinden der Leichen oft unmöglich macht. Es gibt infolgedessen auch keine genauen Angaben wie viele von den unbekannten nicht identifizierbaren Frauenleichen Migrantinnen oder Ortsansässige sind. In der mehrheitlichen Migrationsbevölkerung lässt sich das Morden daher leicht „unbemerkt“ fortführen. Denn dort, wo ein reges Kommen und Gehen herrscht, fällt das Verschwinden von Personen erst auf, wenn sie tot wiedergefunden werden. (Schmidt Camacho 2005:277; Alfarache Lorenzo 2009:113) Das ungehinderte Fortschreiten des Feminicidios brachte die Regierung zunehmend in Erklärungsnot, woraufhin sie mehrere Theorien entwickelte, um die Bevölkerung zu beruhigen. Zu Beginn wurden die Frauenmorde mit einer „normalen Kriminalitätsrate“ einer Stadt dieser Größe beschrieben. Die Frauenopfer aber in den Schatten einer generell hohen Gewalttätigkeit zu stellen, verschleiert nicht nur die gender-spezifische Ungleichheit, sondern blendet auch den sozioökonomischen Zusammenhang aus. (Huffschmid 2006:73; Monárrez Fragoso/Estela 2010:60) 44 Feminicidio an der US-amerikanisch-mexikanischen Grenze. Machismo als Todesurteil? Später ging man daher von staatlicher Seite zur „Blame the Victim“-Strategie über, nach welcher die Frauen durch Selbstverschuldung Opfer dieser Verbrechen wurden (Huffschmid 2004; Wright 2004:377; Iturralde 2010:245ff.) (siehe Kapitel 5.2.3.). Als sich Demonstrierende mit diesen Erklärungen nicht zufrieden gaben, wurden sie angehalten, kein allzu großes Aufsehen wegen der Verbrechen zu machen, da dies das Verschwinden der Frauen noch forcieren würde und zudem das Image von Ciudad Juárez beschädigen und eventuelle Tourist*innen oder ausländische Investor*innen verscheuchen könnte (Wright 2004:378f.; 2011:718; Schmidt Camacho 2005:273f.). Die regelrechte Bedrohung von demonstrierenden Müttern, die die mangelhafte Aufklärung des Feminicidios anklagen, wird bereits als zweite Welle von Gender Crimes bezeichnet (Schmidt Camacho 2005:273). Ein weiterer Erklärungsversuch der Regierung brachte die Gender Based Violence in Zusammenhang mit der gestiegenen Drug Violence. Seit 2003 kam es aufgrund von USamerikanischem Druck in Mexiko zu einer stärkeren Bekämpfung der Drogenkartelle. Diese Situation hat zum Anstieg der Gewalt und zu massiven Menschen- und Zivilrechtsverletzungen geführt. Von staatlicher Seite wird die erhöhte Gewalt allerdings mit der erfolgreichen Bekämpfung der kriminellen Banden erklärt und legitimiert. (Wright 2011:707ff.) Mit Hilfe des Konzepts der „Narcopolitics“22 diskutiert Melissa Wright den Diskurs rund um Gewalt als War of Interpretation. Von Regierungsseite wird der Anstieg von Gewalt durch den Kampf gegen das organisierte Verbrechen erklärt, während NGOs vor allem die Machtlosigkeit des Staates als Ursache nennen. Die Regierung verfolgt hier wieder eine „Blame the Victim“-Strategie und behauptet, dass Drug Violence, ähnlich zu Gender Based Violence, keine Unschuldigen trifft, sondern nur jemanden, die*der in gewisser Weise in illegale Geschäfte involviert ist. (Wright 2011:719ff.) Untermauert wird dieser Erklärungsversuch zusätzlich durch das Narrativ der „männlichen Rationalität“. Die Bosse der Drogenkartelle seien rationale Geschäftsmänner, daher sind die Opfer des Drogenkrieges keine unschuldigen Zivilpersonen, sondern Menschen, die in kriminelle Machenschaften verwickelt sind. (Wright 2011:724ff.) 22 In Anlehnung an Michel Foucaults Theorie der „Biopolitics and Biopower“ (Foucault 1979) und in Weiterführung des Konzepts Necropolitics (Mbembe 2003) entwickelte Melissa Wright ihrerseits eine Theorie über Narcopolitics (Narcos: mexikanische Drogengangs). Laut Foucault besteht die Neuerung in den Machttechniken des 18. Jahrhunderts in der Konstruktion der Bevölkerung als ökonomisches und politisches Problem, was das Eingreifen in die Körper der Menschen (via Sexualität) legitimiert und entscheidet, wer sich fortpflanzen darf und wer nicht. Wright schlussfolgert, dass der moderne mexikanische Staat über sogenannte Narcopolitics auch bestimmt, wer lebt und wer nicht, da er das Leben bestimmter Menschen beschützt und den Tod anderer legitimiert (via „Blame the Victim“-Strategie). 45 Sarah Theierling In der Art und Weise, wie die Regierung den Feminizid als Problem negiert und diverse Erklärungsversuche für das Morden heranzieht, um die Bevölkerung und die Angehörigen der Mordopfer zu beruhigen, wird ein politischer Unwille erkennbar, der sich auch in der Gesetzgebung zum Schutz der Frauenrechte wiederfindet. Obwohl sich die rechtliche Situation der Frauen in den letzten Jahren einigermaßen verbessert hat, klaffen die Rechtsgrundlage und ihre Umsetzung (Strafverfolgung) weit auseinander. Diese Beobachtung kann als Widerspruch zwischen dem Erhalt der sozialen Ordnung und der Verpflichtung, die Rechte der Staatsbürgerinnen zu schützen, gedeutet werden. (Schmidt Camacho 2005:269f.) 5.5.3. Justiz Wie bereits angesprochen wurde, hat sich die rechtliche Situation der mexikanischen Frauen in den letzten Jahren zunehmend gebessert, unter anderem durch das Gleichheitsgesetz (2005) und das „allgemeine Gesetzt für einen Zugang der Frauen zu einem gewaltfreien Leben“, welches 2007 in Kraft getreten ist und das erste Gesetz in Mexiko ist, das Frauen als Rechtssubjekte anerkennt. Dieses Gesetzt benennt fünf Formen von Gewalt (psychische, physische, sexuelle, ökonomische und eheliche Gewalt) sowie fünf Modalitäten, in welchen Gewalt auftreten kann (in der Familie, in der Arbeit, im Unterricht oder in der Gemeinde, in institutioneller Form und in Form von feminizider Gewalt). Durch dieses Gesetz ist der Staat zum Schutz ihrer Rechte, unter Berücksichtigung dieser fünf Formen und fünf Modalitäten verpflichtet, um den Frauen ein gewaltfreies Leben und daher auch einen uneingeschränkten Zugang zur Demokratie zu ermöglichen. (Alfarache Lorenzo 2009:113f.; Melgar 2011:90f.) Trotz dieser rechtlichen Grundsteine gestaltet sich ein selbstbestimmtes Leben für eine mexikanische Frau durch den sozialen Imperativ und gesellschaftliche Anforderungen oft schwer. Als Beispiel kann hier die Abtreibungsdebatte genannt werden. Abtreibungen sind in Mexiko, außer im Fall einer Vergewaltigung, illegal. Die an der Grenze lebenden Frauen fahren zu diesem Zweck oft ins benachbarte El Paso in die USA, um dort eine Abtreibung durchführen zu lassen. Circa ein Drittel der in El Paso behandelten Frauen sind Mexikanerinnen. (Staudt/Vera 2006:150f.) GBV kann im Hinblick auf die eben genannten Punkte daher als Ausdruck von systematischer Repression auf mehreren Ebenen (sozialer, rechtlicher) gelesen werden. Die strukturelle GBV produziert und reproduziert Machthierarchien und Unterdrückungsformen entlang der Geschlechterdifferenz, die durch das nichtfunktionale Justizsystem noch gefestigt werden. (Schmidt Camacho 2005:271; Olivera/Furio 2006:106;112) 46 Feminicidio an der US-amerikanisch-mexikanischen Grenze. Machismo als Todesurteil? Gleichzeitig setzt Straflosigkeit eine gewisse „Staatsmisogynie“ voraus, was eine Normalisierung von Gewalt, insbesondere geschlechtsspezifischer Gewalt, noch begünstigt. Die strukturelle geschlechtsspezifische Gewalt und der institutionalisierte Frauenhass führen daher einerseits zur Kriminalisierung der Opfer (Stichwort: „Doble Vida“-These, „Blame the Victim“-Strategie) und andererseits zu einer Homogenisierung von Gewaltverbrechen, durch welche die verschiedenen Arten von Aggression gegen Frauen nicht differenziert werden. Eingebettet in eine machistische Gesellschaft, kommt es zu einem generellen „Prozess der Institutionalisierung der Straflosigkeit“, in dem Schuldige inszeniert werden und Feminizid als Mythos abgestempelt wird. (Huffschmid 2006:72-75; Melgar 2011:92ff.) Das Vorgehen der Justiz, Frauenmorde als Individualverbrechen zu klassifizieren, muss also kritisch hinterfragt werden. Dadurch wird nämlich einerseits der spezifisch frauenfeindliche Charakter ausgespart und zudem auch die Rolle von ökonomischer Ungleichheit (siehe Kapitel 5.1. und 5.2.) ausgeblendet. Mit den SAP kam es zur Anpassung an die Wünsche des internationalen Marktes, was die Gesetzesgrundlage in Mexiko – zu Gunsten der transnationalen Konzerne und zu Ungunsten der dort beschäftigten mexikanischen Arbeiter*innen – grundlegend verändert hat. (Weissman 2010:237f.) 5.5.4. „korporatives Verbrechen“ In den vorhergehenden drei Unterkapiteln wurde auf die Rolle der drei Staatsgewalten, Legislative, Judikatur und Exekutive, im Zusammenhang mit der Straflosigkeit in Bezug auf sexualisierte Gewalt eingegangen. Diese Analyse ging von einer strukturellen beziehungsweise institutionalisierten GBV innerhalb des mexikanischen Staates aus. Der folgende Ansatz der brasilianischen Anthropologin Rita Laura Segato fokussiert jedoch auf einen „Zweit- oder Parallelstaat“, in dem Machtkämpfe, Besitzansprüche und „MännlichkeitsRituale“ auf Frauenkörpern ausgetragen werden. Segato wehrt sich vehement gegen den „Mythos Feminicidio“ und die Erklärung der Gender Crimes als „Individualverbrechen“. Sie vertritt stattdessen die These, dass die Frauenmorde keine Taten von verwirrten Einzelpersonen oder psychisch Kranken sind, sondern verortet vielmehr eine Einbettung in eine Gesellschaft, die strukturiert ist von bestimmten Vorstellungen über Geschlechterverhältnis und Geschlechterhierarchie. (Segato 2005; 2010) Die Vergewaltigungen und der körperliche Missbrauch werden als Ausdruck von Kontrollverlangen und dem Wunsch nach vollkommener Vereinnahmung des anderen Körpers erklärt. „Das Andere“ verliert durch diese Einverleibung nicht nur die Kontrolle über 47 Sarah Theierling ihren*seinen eigenen Körper, sondern auch über ihre*seine Subjektivität. Segato zieht hier eine Parallele zu dem Kontrollwunsch des herrschenden Souveräns über ein bestimmtes Territorium und den Vergewaltigungen, die in dieser Leseart als eine physische und moralische Beherrschung und Unterwerfung „des Anderen“ – also absolute Kontrolle – gedeutet werden können. (Segato 2005; 2010:74) In den Gewaltakten zeigt sich eine gewisse „Handschrift der Täter“, die als Botschaft dienen soll. Die Vergewaltigung stellt eine Mitteilung dar, die einerseits an das Opfer gerichtet ist, andererseits auch an Gleichgesinnte. Diese Botschaft an die „Bruderschaft“ ist ein Mittel, sich einen bestimmten Platz und Status in diesem „Geheimbund“ zu verschafften. Es geht um Anerkennung, Zugehörigkeit und Loyalität; das „Teilen“ einer Frau (Gang Rape) stellt eine gewisse Intimität unter den Mitgliedern dieser „Mafia Brotherhood“ dar (Segato 2010:82f.). Die Konstruktion von „Männlichkeit“ spielt hier eine überaus wichtige Rolle. Segato postuliert, dass „Männlichkeit“ im Gegensatz zu „Weiblichkeit“ durch bestimmte Riten und Taten ständig unter Beweis gestellt werden muss. Bei den Verbrechen geht es also nicht in erster Linie um Misogynie, sondern um die Aufnahme beziehungsweise Bestätigung in und von einem Bund von Gleichgesinnten. Diese verlangt eine gewisse Zurschaustellung von „Männlichkeit“ und Macht. Das Opfer ist in diesem Bild nur das Mittel zum Zweck, eine Zugehörigkeit zu erlangen. Segato sieht also den Feminicidio nicht als Konsequenz von Straflosigkeit, sondern als (Re-)Produktion von Straflosigkeit. In der meistkontrollierten Grenzregion der Welt mit derartigen Verbrechen ungestraft davonzukommen, zielt auf die Demonstration von absoluter Macht ab. (Segato 2005; 2010:74-79) „Sovereign power does not affirm itself unless it is able to spread terror in a way that nobody is safe.“ (Segato 2010:81) In Bezug auf den Souverän, der über ein bestimmtes Territorium herrscht, regiert dieses Netzwerk von mächtigen Akteuren einen „Zweit- oder Parallelstaat“, in dem es über absolute Kontrolle verfügt. Der weibliche Körper repräsentiert hier ein Territorium, das erobert werden muss, und dient als Schauplatz für die vollkommene physische und moralische Vereinnahmung. (Segato 2005; 2010:80-83) Die Entstehung dieses „Zweit- oder Parallelstaates“ wird mit der Schwächung des Nationalstaates als Produkt neoliberaler Politiken, was zur Dezentralisierung von Macht führte und in diesen Provincial Totalitarianism oder Regional Micro-Fascism resultierte, erklärt. Mit korporativen Verbrechern meint sie die Elite des „Parallelstaates“, die mittels einer „Wir“-Identität einerseits ein klares „Anderes“ kreiert und andererseits eine Loyalität gegenüber dem Geheimbund erreicht. (Segato 2010:84-87) 48 Feminicidio an der US-amerikanisch-mexikanischen Grenze. Machismo als Todesurteil? „Der mysteriöse Tod der Frauen von Ciudad Juárez kann der definitive Hinweis darauf sein, dass die Dezentralisierung vor dem Hintergrund von Entstaatlichung und Neoliberalismus nichts anderes hervorruft als einen Provinztotalitarismus, ein rückschrittliches Zusammenspiel von Postmoderne und Feudalismus, in dem der weibliche Körper wieder zu einem Anhängsel des Territoriums wird.“ (Segato 2005) Segato tritt für eine klare Trennung zwischen häuslicher Gewalt und öffentlichen Gewaltverbrechen ein. Bei der Mordserie an Frauen geht es nämlich auch darum, die Machtergreifung über den weiblichen Körper öffentlich zur Schau zu stellen. Diese Macht dehnt sich also nicht „nur“ über einen bestimmten Haushalt aus, sondern über ein ganzes Territorium. Für Segato ist die Mitgliedschaft von Politik und Exekutive in diesem „Geheimbund“ unabdingbar, da es viel Einfluss braucht, um dieses System über einen so langen Zeitraum hinweg ungestraft aufrecht erhalten zu können. Die gender-spezifischen Gewaltverbrechen können also nicht als „normale“ Verbrechen definiert werden, sondern müssen als „korporative Verbrechen“ betitelt werden, da es sich um ein komplexes Netzwerk handelt, in welches mehrere Täter aus unterschiedlichsten Gesellschaftsschichten eingebunden sind. (Segato 2005; 2010:73; Huffschmid 2006:79) 5.5.5. Zusammenfassung und Schlussfolgerung: Straflosigkeit Unabhängig davon, ob solch eine mafiöse Bruderschaft nun tatsächlich existiert oder nicht, die verstörende Serie an Frauenmorden scheint unaufhaltsam. Während einige Autor*innen dies auf einen geschwächten Nationalstaat, der mit dem Verlust des Machtmonopols zu kämpfen hat, zurückführen, sehen andere in der Mordserie einen Ausdruck des politischen Unwillens, diesem Morden ein Ende zu setzen. Dies wird in dieser Lesart bedingt durch eine machistische Grundhaltung und die patriarchale Hegemonie, die ein sexistisches, machistisches und misogynes Verhalten legitimiert und reproduziert. Die soziale Organisation einer Gesellschaft bildet den Grundpfeiler für feminizide Gewalt. Wenn keine Gleichheit zwischen den Geschlechtern herrscht und Frauen keinen anerkannten Status als Rechtssubjekt und Staatsbürgerinnen haben, liegt feminizide Gewalt in der Verantwortung des Staates. Da die Wahrung der Menschenrechte Aufgabe des Staates ist, spielt die Straflosigkeit (impunidad) somit eine zentrale Rolle bei der Ausübung von Staatsmacht (Alfarache Lorenzo 2009:103-107). Reicht die Staatsmacht nicht aus, scheitert der Staat daran, die Rechte seiner Bürger*innen zu schützen und wird somit Komplize an feminiziden Verbrechen (Lagarde y de los Ríos 2010:21f.). 49 Sarah Theierling 5.6. Whose Border? – Denationalisierung Wie im vorigen Kapitel diskutiert wurde, ist die Wahrung der Menschen- und Bürger*innenrechte eine zentrale Aufgabe des Nationalstaates. Da das Grenzgebiet aber ein Raum ist, der sich einer eindeutigen Zuordnung zu einer Nation entzieht und eher einen Zusatz zum Nationalen bildet, stellen die Entwicklungen in dieser Region für einige Autor*innen ein ideales Beispiel für das Postnational Citizenship dar. Ciudad Juárez wird von vielen Durchreisenden und Arbeitspendler*innen als denationalisierte Metropole gesehen. Diese Situation spielt besonders für die rechtlichen Grundlagen eine wichtige Rolle und wirft einige zentrale Fragen in Hinblick auf die Grenzsituation auf: Wie ist in einem denationalisierten Raum mit internationalen Menschen- und Frauenrechten sowie mit den Zivilrechten von Staatsbürger*innen umzugehen? Und inwiefern wirkt sich die zunehmende (ökonomische) Globalisierung auf den Feminicidio an der US-amerikanisch-mexikanischen Grenze aus? (Zeilinger 2004:41; Schmidt Camacho 2005:273-278) Nach der Wirtschaftskrise von 1982 startete eine neoliberale Offensive, die die Abhängigkeit Mexikos von den USA (via Kapital und Investor*innen) durch die Umsetzung von GATT23 und NAFTA noch forcierte. Das binationale Projekt der EPZ und die damit einhergehende Privatisierung und Denationalisierung führten dazu, dass nationale Rechtsansprüche zunehmend weniger greifbar und wohlfahrtsstaatliche Projekte auf ein Minimum reduziert wurden, wovon vor allem Frauen, die aufgrund dieser Entwicklungen entweder in den illegalen Arbeitsbereich (in dem Arbeitsrechte keine Gültigkeit haben) oder vermehrt zurück in den Haushalt und damit in die private Sphäre gedrängt wurden, betroffen waren. Begleitet wurde dieser Prozess von mehreren Narrativen rund um die weibliche Arbeitskraft (siehe Kapitel 5.2.), was die politischen und sozialen Handlungsfähigkeiten und -möglichkeiten der Frauen enorm einschränkte. (Schmidt Camacho 2005:261-266) Hier offenbart sich ein repressiver Prozess, der auf zwei verschiedenen Ebenen festgemacht werden kann. Einerseits wird Staatsbürgerschaft entwertet, da die Zugehörigkeit zu einem Staat nicht mehr zwingend mit Rechten, Schutz und Zugang zu Ressourcen verbunden werden kann. Andererseits kann der Staat mithilfe dieses instabilen Status eine neue Form der Unterdrückung und damit den Erhalt einer bestimmten sozialen Ordnung und die Zementierung patriarchaler Strukturen herbeiführen. (Schmidt Camacho 2005:260, 263) 23 50 Das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen war bis 1995 Vorläufer der Welthandelsorganisation (WTO). Feminicidio an der US-amerikanisch-mexikanischen Grenze. Machismo als Todesurteil? Die Feminisierung des denationalisierten Subjekts führt zu einem regelrechten Gender Terror im post-staatlichen Raum, der zwangsläufig von einer dezentrierten Macht (siehe auch Kapitel 5.5.4.) gekennzeichnet ist. Im Zusammenhang mit der Grenzsituation bedeutet dies, dass Polizei, paramilitärische Gruppen, Schlepperbanden und Drogengangs die Kontrolle über die soziale Ordnung, welche durch die Unterdrückung der Frau mithilfe von GBV gestützt wird, übernehmen. (Schmidt Camacho 2005: 259, 276) Während also einerseits die Rechte von Staatsbürger*innen in einem denationalisierten Raum, in dem der Nationalstaat nicht mehr das Machtzentrum darstellt, nicht gewährleistet und Zugehörigkeiten zu einer bestimmten Nation aufgrund mangelndem Mitspracherecht nicht eindeutig bestimmt werden können – der Grenzraum sich also in einen nicht klar definier- und fassbaren Raum verwandelt –, bekommt er andererseits aufgrund der Globalisierung und in Zusammenhang mit wirtschaftlicher Integration jedoch gleichzeitig auch eine besondere Bedeutung im globalen Wirtschaftssystem (Zeilinger 2004:41f.). „The broad gender violence evident at the border reminds us that feminicidio is not simply a Mexican problem, and that the weakness of the Mexican response to the crimes relates in part to its dependence on the United States.“ (Schmidt Camacho 2005:278) Wiederum zeigt sich also, dass die Strukturen, die den Gender-Terror erst ermöglichen, nicht nur im mexikanischen Nationalstaat, also auf lokaler Ebene, verankert sind, sondern dass auch Abhängigkeitsverhältnisse, die durch die internationale Arbeitsteilung entstehen, in die Analyse des Feminicidios zu integrieren sind. Die Frage nach „Whose Border? Whose Responsibility?“ stellt sich also insofern nicht, da die Verantwortung für die erhöhte GBV auf beiden Seiten der Grenze liegt. Geschlechtsspezifische Gewaltverbrechen müssen demnach binational thematisiert und das Zusammenspiel von Governance and Growth, also die Kombination von politischer Repression und ökonomischer Ausbeutung, mehr ins Zentrum gerückt werden. Vor allem auf dem wirtschaftlichen Sektor muss eine Hebung der Löhne von beiden Seiten forciert werden, um eine emanzipatorische Möglichkeit für mexikanische Maquiladora-Arbeiterinnen zu schaffen. Zudem sind Frauenrechte Menschenrechte und die kennen bekanntlich keine Grenzen. (Schmidt Camacho 2005:279, 282; Staudt/Vera 2006:150f.) 51 Sarah Theierling 6. Zusammenfassung Zusammenfassend gilt es nun die verschiedenen Faktoren noch einmal zu beleuchten und ihr Zusammenspiel zu analysieren, um abschließend ein Verständnis für die komplexe Situation, um die es sich bei dem Feminicidio an der US-amerikanisch-mexikanischen Grenze handelt, entwickeln zu können. Wichtig hierfür ist zunächst zu erkennen, dass lokale Ereignisse nicht unabhängig und getrennt von globalen Veränderungen gedacht werden können, sondern zu erkennen, dass es sich hier um eine Einbettung in trans- und internationale Prozesse handelt, die lokale Vorgänge auf sozialer, politischer und wirtschaftlicher Ebene maßgeblich beeinflussen. Das Jahr 1965 kennzeichnete die Geburtsstunde der Maquiladora-Industrie im Grenzgebiet USA-Mexiko und den Beginn einiger folgenschwerer Entwicklungen im Norden Mexikos. Das vielversprechende neoliberale Wirtschaftsmodell, das Außenhandel und Öffnung für ausländische Investor-Firmen propagierte, brachte nicht den erwünschten Erfolg. Das Ausbleiben des Wirtschaftsaufschwunges stürzte Mexiko 1982 eine tiefe Krise, von der sich das Land bis heute nicht erholt hat, was auf mehrere Ursachen zurückzuführen ist: Um das Land nach der Krise wieder aufbauen zu können, wurden Kredite benötigt, die der IMF und die WB nur unter Einhaltung bestimmter Auflagen gewährten. Dazu zählten die bereits erwähnte Öffnung für ausländisches Kapital, exportorientierte Wirtschaftsmechanismen und die Privatisierung von Staatsunternehmen. Diese Auflagen hatten jedoch Entwicklungen zufolge, die die strukturelle Krise Mexikos noch verschärften und die subordinierte Stellung des Landes innerhalb der internationalen Arbeitsteilung zusätzlich festigten. Zum Einen waren mexikanische Produkte gegenüber staatlich-subventionierten Produkten der USA nicht wettbewerbsfähig, zum Anderen verhinderte die geringe Besteuerung von internationalen Konzernen, die sich in Mexiko angesiedelt hatten, ein positive Leistungsbilanz. Die mexikanischen Staatskassen blieben somit leer. Durch den Fokus auf Montage- und Weiterverarbeitungsfabriken konnte weder eine eigenständige Industrialisierung noch eine Diversifizierung von unterschiedlichen Wirtschaftssektoren erreicht werden. Das Entwicklungsversprechen des Neoliberalismus konnte also nicht eingehalten werden. Ganz im Gegenteil: die im Rahmen des Border Industrialization Program geschaffene MaquiladoraIndustrie und das 1994 unterzeichnete NAFTA haben dazu beigetragen, die bestehende internationale Arbeitsteilung, sehr zum Nachteil Mexikos, zu stabilisieren. (Livingston 2004; Tuider/Wienold 2009; Jäger 2012; Gandarilla Salgado/Ortega/Pimmer 2012) 52 Feminicidio an der US-amerikanisch-mexikanischen Grenze. Machismo als Todesurteil? Dies äußert sich auch in der prekären rechtlichen Situation, in der sich viel Mexikaner*innen heute befinden. Da es sich bei der EPZ in der Grenzsituation um ein binationales Projekt handelt, fällt es schwer, bestimmte Rechte durchzusetzen, da nicht immer klar ist, in wessen Zuständigkeitsbereich die Wahrung dieser Rechte fällt. Nach der Wirtschaftskrise von 1982 wurde der Norden Mexikos mit Hilfe neoliberaler Projekte (NAFTA, GATT) immer mehr zu einem denationalisierten Raum, in dem nationale Rechtsansprüche kaum geltend gemacht werden können. Die fortschreitende Privatisierung der Unternehmen und die damit einhergehende Deregulierung brachten tiefe Einschnitte im Arbeitsrecht mit sich, wogegen sich die mexikanischen Arbeiter*innen aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit und der generellen prekären wirtschaftlichen Situation kaum wehren können. Der mexikanische Staat hat mit einer gewissen Machtlosigkeit zu kämpfen, da die Abhängigkeit von USamerikanischem Kapital und Investor*innen, die infolge der Wirtschaftsintegration eintrat, einen realpolitischen Widerstand gegen diese problematische arbeitsrechtliche Situation unmöglich macht. (Zeilinger 2004; Schmidt Camacho 2005; Iturralde 2010, Weissman 2010) Diese Ausgangssituation bildet den idealen Nährboden für Diskriminierung und Ungleichheit, und bringt infolgedessen einen enormen Anstieg von Gewalt mit sich. Würde das kapitalistische Interesse an der Generierung des Mehrwerts dem nicht entgegenstehen, hätten jedoch gerade die transnationalen Konzerne aufgrund ihrer überlegenen Position die Möglichkeit, bessere Arbeitsrechte durchzusetzen und damit den Schutz der mexikanischen Arbeiter*innen zu sichern. (Iturralde 2010:249-252; Weissman 2010:234ff.) Wie sich also zeigt, sind wirtschaftliche Nord-Süd-Beziehungen auch lange nach dem Ende des Kolonialismus von einer Hierarchie geprägt, die eine wirtschaftliche Entwicklung Mexikos in Richtung Niveau der Industrieländer beinahe unmöglich macht. Die Auswüchse neoliberaler Projekte treffen jedoch nicht alle Gesellschaftsschichten gleich und wirken alles andere als geschlechtsneutral. An den Ereignissen im Norden Mexikos lassen sich sehr wohl geschlechtsspezifische Auswirkungen erkennen: Die Feminisierung von Arbeit und die geringe Entlohnung weiblicher Arbeitskraft zeigen die untergeordnete Position von Frauen auf dem Arbeitsmarkt, die sich auch auf das Privatleben und auf die politische Repräsentation von Frauen auswirkt. Die Entscheidungsträger sowohl in der Wirtschaft als auch in der Politik sind männlich, was den starken Zusammenhang von Geschlecht und Privilegien auf mehreren Ebenen verdeutlicht. (Staudt/Vera 2006: 163-166) Die Essenzialisierung vermeintlich „natürlicher“ Unterschiede legitimiert eine Hierarchie zwischen den Geschlechtern. Beliebte bipolare „geschlechtsspezifische Eigenschaften“ wie aktiv/passiv, rational/emotional et cetera spielen nicht nur im Privatleben eine Rolle, sondern 53 Sarah Theierling haben auch massive Auswirkungen auf die politische Sphäre und den Arbeitsmarkt. Auf biologische Merkmale zugeschriebene „typisch weibliche“ Eigenschaften variieren je nach Kontext und konstituieren so unterschiedliche „Frauenbilder“ – von der „Mutter“ zur „Hure“. Die Art und Weise, wie „die Frau“ definiert wird, welche Eigenschaften und welcher Wert ihr zugesprochen werden, verändern sich, das Resultat dieser Mechanismen bleibt jedoch gleich: sie bestimmen die soziale Position der Frau in der patriarchalen Gesellschaft und sie festigen – in einem komplexen Zusammenspiel und in gegenseitiger Wechselwirkung – Klassismus und Rassismus auf internationaler, nationaler und regionaler Ebene. Auf einer lokalen Analyse-Ebene wird von einem doppelten Entwertungsprozess der Frau ausgegangen: 1. Auf ökonomischer Ebene kommt es mit der Etablierung der Maquiladora-Industrie zur Feminisierung von Arbeit. Hier handelt es sich um einen tautologischen Prozess. Die zu verrichtende Arbeit ist ohne bestimmte Qualifizierungen und besondere Ausbildung möglich, daher ideal für Frauen, die erstmals einen Einstieg in die Berufswelt wagen. Gleichzeitig wird die geringe Entlohnung dieser Arbeit durch die fehlende Qualifikation legitimiert. Die Frau wird hier als unskilled und untrainable labour dargestellt, sie ist daher ihrer Position als billige, leicht ersetzbare Arbeitskraft verhaftet und hat weder Aussicht auf ein sichergestelltes Arbeitsverhältnis noch auf Lohnsteigerung und Beförderung. 2. Auf sozialer Ebene ist sie einer doppelten Belastung ausgesetzt: Einerseits ist sie trotz der prekären Arbeitssituation oft gezwungen, einer Erwerbsarbeit nachzugehen, um die Familie finanziell zu unterstützen. Die Familie hat als wichtiges soziales System einen zentralen Stellenwert und die Mutterrolle ist für viele mexikanische subalterne Frauen ein starker identitätsbildender Faktor. Hier befinden sich viele Frauen jedoch in einem Dilemma, da es für sie aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit und der steigenden Armut zunehmend schwieriger wird, sich ausschließlich auf ihre Mutterrolle zu konzentrieren und damit in ihrem traditionell zugeordneten Bereich der Privatsphäre zu bleiben. Gleichzeitig finden sie sich auch im Bereich der Erwerbsarbeit in einem instabilen Umfeld wieder, da mögliche Schwangerschaften den Wert der weiblichen Arbeitskraft reduzieren und so die Legitimationsbasis für ihren „Austausch“ bilden. (Ballara 2004; Livingston 2004; Zeilinger 2004; Wright 2004; 2007; 2011; Schmidt Camacho 2005; Staudt/Vera 2006; Tuider/Wienold 2009; Monárrez Fragoso/Estela 2010; Weissman 2010; Iturralde 2010) 54 Feminicidio an der US-amerikanisch-mexikanischen Grenze. Machismo als Todesurteil? Die verschiedenen Erwartungshaltungen gegenüber der mexikanischen Frau bewirken, dass sie sich in einem Feld bewegt, in dem der Grat zwischen dem Wert ihrer Abwesenheit und dem Wert ihrer Anwesenheit verschwindend gering ist, was die Frauen im Grenzgebiet in eine außerordentlich gefährliche Situation bringt. Seit dem das Verschwinden der Frauen und ihre brutalen Ermordungen 1993 öffentlich bekannt geworden sind, gab es mehrere Versuche von Seiten der Regierung, diese Ereignisse zu erklären, um sowohl die Bevölkerung als auch ausländische Medien und Investor*innen zu beruhigen. Eine besonders beliebte Strategie, dies zu erreichen, war und ist das „Worker and Whore“-Narrativ, das auf der „Doble Vida“-These basiert. Die nördlichen Bundesstaaten Mexikos waren seit jeher von binationalen Handelsbeziehungen an der Grenze geprägt, auch der Drogenhandel und die Prostitution waren davon nicht ausgeschlossen. Besonders Ciudad Juárez profitierte davon und die legale Sexarbeit lockte viele kaufstarke Touristen aus den USA. Mit dem Aufkommen der Maquiladora-Industrie wurden die Sexarbeiterinnen jedoch zunehmend aus dem öffentlichen Raum verdrängt, da wirtschaftliches Wachstum fortan mit Hilfe von modernen Technologien anstatt mit Prostitution und Drogenkonsum angekurbelt werden sollte. Im Zuge der Kriminalisierung von Sexarbeiterinnen und dem Verdrängen der Frau aus dem öffentlichen Raum (Public Cleansing) startete ein Prozess, in dem die weibliche Absenz den Wert ihrer Präsenz überstieg – für viele Frauen eine lebensgefährliche Entwicklung. Als die ersten Frauen verstümmelt, entstellt und in der Öffentlichkeit deponiert gefunden wurden, wies die Regierung jegliche Verantwortung von sich und stellte die Verbrechen als selbstverschuldet dar. Jene Frauen, die ein Doppelleben (spanisch Doble Vida) – tagsüber als MaquiladoraArbeiterinnen, nachtsüber als Prostituierte – führten, waren selber schuld, wenn sie sich einem erhöhten Risiko aussetzten. Die schützende Privatsphäre zu verlassen und stattdessen eine Position im öffentlichen Raum einzunehmen, wurde mit lebensgefährlichen Sanktionen begegnet. Diese „Blame the Victim“-Strategie, basierend auf der Annahme eines Doppellebens, verweigerte den Frauen den Schutz vor Gewalt und Terror und führte infolgedessen zu einer Normalisierung von Gewalt, die bis heute aufgrund der enormen Straflosigkeit nicht überwunden werden konnte. Das Bild der mexikanischen Frau, das hier infolge der ökonomischen und sozialen Prozesse gezeichnet wurde, ist verstörend. Durch die Gleichsetzung von Worker and Whore kommt es zur Sexualisierung von weiblicher Arbeitskraft, was folgenschwere Konsequenzen beinhaltet. Es kommt zur Fetischisierung und Kommodifizierung der Frau, sie wird zum „Sexually Fetishized Commodity”. Durch das Inwertsetzen ihrer Leistung wird ihr der Subjektstatus entzogen, und sie wird stattdessen zu einem Objekt konstituiert, dessen Wert anhand der Kategorien Race, Class, Gender et cetera 55 Sarah Theierling definiert wird. Hier äußert sich das Zusammenspiel zwischen ökonomischer und patriarchaler Kontrolle, die sich gegenseitig stützen und verstärken, sowohl auf lokaler als auch auf globaler Ebene. Gesellschaftliche Hierarchien und die soziale Ordnung werden dadurch, dass der mexikanischen Frau ein bestimmter Platz zugewiesen wird, den sie aufgrund von öffentlichem Terror und gesellschaftlichen Sanktionen nicht verlassen kann, stabilisiert. Diese Mechanismen verfolgen das Ziel, die Frau in eine bestimmte Position zu rücken und ihre Handlungsfähigkeiten einzuschränken, um die soziale, politische und ökonomische Ordnung nicht zu gefährden. (Livingston 2004; Staudt 2004; Wright 2004; 2007; 2011; Zeilinger 2004; Schmidt Camacho 2005; Monárrez Fragoso/Estela 2010; Arteaga Botello/Valdés Figueroa 2010; Weissman 2010; Iturralde 2010) Gleichzeitig findet auch auf internationaler Ebene eine Hierarchisierung aufgrund von Vorurteilen und Narrativen statt. Der Feminicidio wird hier mithilfe des „Death by Culture“Narrativ erklärt. Hier wird das neoliberale Wirtschaftsmodell und die damit konform gehende Politik mit einem emanzipativen Charakter beschrieben, da durch die für Frauen geschaffene Erwerbsarbeit in den Maquilas eine Emanzipationsmöglichkeit von traditionellen Rollenbildern eröffnet wurde. Dieses Aufbrechen der Geschlechterrollen wird jedoch von der „primitiven“, „traditionellen“ mexikanischen Gesellschaft, die mit einem „Macho Backlash“ auf diese Veränderungen reagiert, verhindert. Die mexikanische Gesellschaft wird hier als rückständig und unwillig, eine tatsächliche Modernisierung einzuleiten, dargestellt. Somit werden ökonomische Ausbeutung und soziale Ungleichheit legitimiert, was wiederum internationale Hierarchien festschreibt und stabilisiert. (Wright 2007; Weissman 2010; Iturralde 2010) Der American Dream und die neoliberale Ideologie versprechen, dass jede*r den ökonomischen und sozialen Aufstieg schaffen kann, wenn er*sie nur hart genug daran arbeitet. Dass die Möglichkeiten jedoch realiter aufgrund von zahlreichen Vorurteilen und festgefahrenen Hierarchien entlang der Kategorien Race, Class, Gender et cetera eingeschränkt sind, wird am Ende dieser Geschichte nicht erzählt. 56 Feminicidio an der US-amerikanisch-mexikanischen Grenze. Machismo als Todesurteil? 7. Fazit In der Zusammenfassung wurden die bisherigen Ereignisse noch einmal kontextualisiert und in Zusammenhang mit globalen Wirtschaftspolitiken kritisch beleuchtet. Abschließend werden jetzt anhand der Fragestellung die zentralen Grundpositionen pro/contra Machismo als ausschlaggebenden Faktor für die sexualisierte Gewalt an der US-amerikanischmexikanischen Grenze dargestellt und zum Schluss wird auf Basis der bisherigen Forschungsergebnisse ein vorläufiges Resümee gewagt. Wie sich aus dem Hauptteil erkennen lässt, gibt es in der derzeitigen Diskussion im Prinzip zwei vorherrschende Erklärungsansätze für den Feminicidio der Grenzregion: 1) Der erste Ansatz vertritt die Meinung, dass der „mexikanische Machismo“ und die „frauenverachtende Kultur“ die Basis für diese unmenschlichen Verbrechen bilden. Die traditionell untergeordnete Position der Frau in der Gesellschaft ist demnach der Grund für die Normalisierung der Gewalt an Frauen und die hohe Straflosigkeit bei sexualisierten Verbrechen. Die wirtschaftlichen Prozesse, die von einer neoliberalen Politik gesteuert werden und Umbrüche in der sozialen Ordnung der mexikanischen Gesellschaft zur Folge haben, werden hier als zusätzlich verstärkende Faktoren gesehen, die in den grausamen Hassverbrechen an Frauen gipfeln. Vor allem die Identität des Mannes wird in dieser Lesart durch wirtschaftliche und gesellschaftliche Veränderungen destabilisiert, was eine erhöhte Aggression gegenüber Frauen auslöst. 2) Andere Autor*innen distanzieren sich von einer solchen kulturalisierenden Sichtweise und positionieren sich – in marxistischer Tradition – in einem kapitalismuskritischen Erklärungsansatz, bei dem vor allem die Inwertsetzung und die Kommodifizierung der Frau im Zentrum steht. Durch den Verlust ihres Subjektstatus wird ein Konsum der Frau – sowohl als Arbeitskraft als auch als sexuelles Objekt – ermöglicht. Der Fokus auf wirtschaftliche Prozesse, die die Entwertung der Frau auf dem Arbeitsmarkt und in der Gesellschaft zur Folge haben, ermöglicht eine Analyse des Zusammenspiels von ökonomischen und patriarchalen Ausbeutungs- und Unterdrückungsmechanismen. Diese beiden Grundpositionen werden im Folgenden anhand der Argumente, die bereits im Hauptteil ausführlich dargestellt wurden, verdeutlich und zusammengefasst. Zum Schluss werden im Resümee die Ergebnisse im Hinblick auf die Forschungsfrage präsentiert und ein kurzer Ausblick gegeben. 57 Sarah Theierling 7.1. Machismo als zentraler Faktor “Feminicidal violence is produced by the patriarchal, hierarchical, and social organization of gender, based on supremacy and inferiority that creates gender inequality between women and men. It is also due to the women’s exclusion from power structures or their exposure to oppressive powers, be they personal, social, or institutional. And it results from the acceptance and tolerance that are demonstrated by the multiple complicities among supremacist, macho, and misogynist men – indeed, from the social silences that prevail about those who commit crimes and are not punished.” (Lagarde y de los Ríos 2010:21, Hervorhebung ST) Viele Autor*innen sehen in der Kategorie Gender die zentrale Ordnungsinstanz einer Gesellschaft. Geschlecht regelt nicht nur soziale Organisation und Arbeitsteilung, sondern bestimmt auch über Recht und Unrecht. Machoide Strukturen, die institutionell verankert sind, versuchen, eindeutige Geschlechterrollen und damit eine bestimmte Hierarchie aufrechtzuerhalten, und reagieren äußerst repressiv auf gesellschaftliche Umbrüche und Veränderungen. Es wird zwar betont, dass Machismo nicht den einzig ausschlaggebenden Faktor für feminizide Gewalt darstellt, dennoch wird geschlussfolgert, dass er die Grundlage für derartige Verbrechen bildet. Der Feminicidio, eingebettet in eine machistische Gesellschaft, wird als Reaktion auf die bereits ausführlich erwähnten sozioökonomischen Veränderungen verstanden. Durch diesen Umbruch, der neben Prekarisierung auch ein gewisses emanzipatorisches Potenzial birgt, hat die Frau auch die Möglichkeit, losgelöst von ihrer bisherigen untergeordneten Rolle, eine eigene Subjektivität zu formen und selbst über ihre Position in der Öffentlichkeit (Erwerbsarbeit) und über ihre Sexualität (Reproduktionsfähigkeit) zu bestimmen. Der durch die Frauenmorde verbreitete Terror versucht, dies zu verhindern, und dient hier als Werkzeug, die alte traditionelle Ordnung aufrecht zu erhalten. (Olivera/Furio 2006:109; Arteaga Botello/Valdés Figueroa 2010:12-18) Dass den Frauenmorden bis heute kein Ende gesetzt werden konnte, wird von einigen Autor*innen durch eine institutionalisierte misogyne Grundhaltung erklärt. Die enorme Straflosigkeit gilt in diesen Analysen als Resultat des Unwillens der drei Staatsgewalten, dem Feminicidio ein Ende zu bereiten. In einer machistischen Gesellschaft – so der Tenor –, in der die untergeordnete Position der Frau dazu führt, dass nicht nur ihre Arbeit, sondern auch ihr Leben weniger wert ist, ist eine sogenannte „Staatsmisogynie“ zu beobachten. Ein Staat, der es weder schafft, präventive Maßnahmen – nicht nur in Form von formaler Gleichberechtigung, sondern auch in Form von einer tatsächlichen Gleichstellung der Geschlechter – einzuleiten, noch eine lückenlose Aufklärung der Morde zu forcieren, wird zum Komplizen der Frauenmörder. Das Vorgehen, den Feminicidio zum Mythos zu erklären, jegliche Verantwortung von sich zu weisen und die Opfer zu kriminalisieren, hat nicht dabei 58 Feminicidio an der US-amerikanisch-mexikanischen Grenze. Machismo als Todesurteil? geholfen, diesen Vorwurf an den mexikanischen Staat zurückzuweisen. (Huffschmid 2006:7275; Alfarache Lorenzo 2009:107-114; Lagarde y de los Ríos 2010:14-21.; Melgar 2011:9094) 7.2. Machismo als nebensächlicher Faktor Die Annahme, dass durch veränderte Produktionsweisen, die die Frau dazu bringen, ihre „traditionelle Position“ in der Gesellschaft zu verlassen, und sie infolgedessen als aktive Akteurin in der Öffentlichkeit die „Männlichkeit“ der traditionellen „Brötchenverdiener“ untergräbt, was laut dieser Argumentationslinie in tödlichem Terror endet, wird von vielen feministischen Autor*innen zurückgewiesen. Um sich aus der Verantwortung zu stehlen, greifen im Grenzgebiet angesiedelte transnationale Firmen die Idee des „Macho Backlash“ auf (Wright 2004; 2007; 2011). Den „mexikanischen Machismo“ jedoch als einzige Ursache für die Frauenmorde („Death by Culture“) darzustellen, wird durch mehrere schlagkräftige Argumente von feministischen Theoretiker*innen in Frage gestellt. Zunächst einmal hatten viele von Armut betroffene Frauen nie die Möglichkeit, das bürgerliche Ideal der Hausfrau und Mutter zu leben, da sie gezwungen waren, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, um die Familie finanziell zu unterstützen. Diese scheinbar klar abgrenzbaren Räume von Öffentlichkeit versus Privatsphäre spielen in einigen Familien also keine zentrale Rolle und dieses vermeintliche Ideal kann ebenso wenig für alle Gesellschaftsschichten gültig erklärt werden. (Puchegger-Ebner 2008:26) Sogar in Haushalten, wo innerfamiliäre Arbeitsteilung laut Breadwinner-Model (Mann: Erwerbsarbeit / Frau: Reproduktionsarbeit) real gelebt wird, bedeutet die Arbeitslosigkeit des Mannes zwar, dass möglicherweise ein stabiles Familiensystem untergraben wird, jedoch betrifft diese Unsicherheit Frauen und Männer gleichermaßen. Durch diese prekäre Situation ist es zwar möglich, dass Familienmitglieder gezwungen sind, umzuziehen und woanders Arbeit zu suchen, oder dass es zu Streit, Scheidung und Gewalt kommen kann, dass es jedoch zwingend zum feminiziden Massenmorden kommt, ist nicht wahrscheinlich. (Weissman 2010:232f.) Zudem geht die These des „Macho Backlash“ davon aus, dass es sich bei den Frauenmorden um Rachefeldzüge der Ehemänner, die sich „in ihrer Männlichkeit beleidigt fühlen“, handelt. Falls dem so wäre, würde dies bedeuten, dass die Verbrechen in den Bereich der häuslichen Gewalt fallen. Dies erklärt aber nicht, warum die Frauen oft in der Öffentlichkeit verschwinden und wiederum beabsichtigt in der Öffentlichkeit deponiert wieder gefunden 59 Sarah Theierling werden. Die Zurschaustellung ihrer geschundenen und verstümmelten Körper wird von einigen Autor*innen als Markierung oder als Mitteilung an die Öffentlichkeit verstanden (Huffschmid 2006:71, 83; Segato 2010:73). „Die Minderachtung alles Weiblichen, also ein kulturell verwurzelter Machismo, ist zwar Voraussetzung eines solchen Kalküls, reicht als Motiv aber nicht aus.“ (Huffschmid 2006:82) Wenn die Morde also durch die These des „Macho Backlash“ in die Privatsphäre verlagert werden und nicht als öffentliche Angelegenheit gehandhabt werden, kommt es zur Entpolitisierung des Feminicidios und infolgedessen zur Einschränkung der Handlungsfähigkeit des Staates (Huffschmid 2006:71). Der gewalttätige Ausschluss von Frauen aus dem öffentlichen Leben ist jedoch ein massiver Angriff auf die Demokratie und muss vom Staat auch so wahrgenommen werden. Die Frauen leben in einem Umfeld, in dem sie Gefahr laufen, Opfer von tödlichem Frauenhass zu werden. Daraus resultiert eine lähmende Angst, die die Frauen dazu zwingt, sich in dem Bereich des Privaten in Sicherheit zu bringen, und sie davon abhält, am öffentlichen/politischen Leben zu partizipieren. (Prieto-Carrón/Thomson/Mcdonald 2007:30; Alfarache Lorenzo 2009:114) Mehrere Autor*innen weisen zudem darauf hin, dass das sexuelle Motiv nicht ausreichend ist, Misogynie daher nicht als Hauptgrund betrachtet werden kann. Vielmehr gilt es, das Zusammenspiel mehrerer Unterdrückungskategorien und die Ausbeutung über rassistische, sexistische und kulturelle Stereotype zu untersuchen. (Zeilinger 2004:44; Segato 2005) Rita Laura Segato vertritt beispielsweise die These, dass das Ziel des modernen Staates nicht mehr die Akkumulation von Kapital ist, sondern die (Re-)Produktion von Unterschieden und Hierarchien ist. Die „arme, mestizische Frau“ bildet hierfür das ideale „Andere“24. Hier sieht sie auch eine Verbindung zwischen Tod und Kapital, beziehungsweise bringt sie die Gewaltverbrechen in einen ökonomischen Kontext, da sie eine Verbindung zwischen dem Missbrauch von Arbeitskraft und dem Missbrauch von Frauen herstellt: den Konsum des/der „Anderen“. (Segato 2005; 2010) Zahlreiche wissenschaftliche Artikel beschäftigen sich mit der Frage, ob die ökonomische Globalisierung und internationalisierte Arbeitsteilung zu einer besonderen Form von Gewalt führt oder führen kann. Dass scheinbare „wirtschaftliche Integration“, wie hier im Fall von Wirtschaftskooperation zwischen den USA und Mexiko, oft von Machtunterschieden und Ausbeutung gekennzeichnet ist, trifft besonders Frauen, da sich Sexismus, Rassismus und 24 Cornelia Klinger beschreibt den Ausschluss des „Anderen“ in kapitalistischen Gesellschaften über die Kategorien Race, Class und Gender als gezielt eingesetzten ungleichheitsbegründenden und -legitimierenden Fremdheitseffekt, der zur Externalisierung und Ausbeutung der „Anderen“ innerhalb der Herrschaftssysteme Rassismus, Imperialismus und Patriarchat führt (Klinger 2003). 60 Feminicidio an der US-amerikanisch-mexikanischen Grenze. Machismo als Todesurteil? Klassismus in diesem Kontext überlagern und sich gegenseitig stützen. (Zeilinger 2004; Schmidt Camacho 2005; Wright 2007; Monárrez Fragoso/Estela 2010) 7.3. Resümee Vor allem die enorme Straflosigkeit ist ein zentraler Streitpunkt der beiden Grundpositionen. Es stellt sich die Frage, ob Straflosigkeit als Auslöser für feminizide Gewalt zu betrachten ist oder eine misogyne Grundhaltung die Ursache der mangelhaften strafrechtlichen Verfolgung dieser Verbrechen bildet. Es gibt mehrere Indizien, die auf eine sogenannte „Staatsmisogynie“ hinweisen: jahrelanges Abstreiten des Feminicidio als „Mythos“, fehlende Gleichstellung der Frau trotz gesetzlicher Besserstellung der letzten Jahre und mangelnde Chancen auf Fort- und Weiterbildung sowohl im Bildungs- als auch im Arbeitssektor. Dass in Mexiko teilweise machoide Strukturen, die eine Hierarchie zwischen Frauen und Männern aufrechterhalten wollen, vorzufinden sind, ist kaum abzustreiten. Trotzdem ist es wichtig zu erwähnen, dass dieses Problem der institutionalisierten Ungleichheit kein spezifisch mexikanisches Problem ist und dass auch viele „westliche“ Gesellschaften bis heute mit der tatsächlichen Umsetzung formaler Gleichstellungsrechte zu kämpfen haben (siehe Kapitel 5.2., 5.2.2., 5.5.3.). Wie zu Beginn des Hauptteiles und gegen Ende des Kapitels 5.3. dargestellt wurde, braucht es daher einen differenzierten Umgang mit lateinamerikaspezifischen Generalismen wie dem Machismo (oder dem Marianismo), zumal es sich hier nicht um ein spezifisch lateinamerikanisches Phänomen handelt und wie kritische Autor*innen gezeigt haben, von allem anderen als von homogenen und statischen Geschlechterrollen auszugehen ist. Den Macho als „hegemoniale Männlichkeit“ zu bezeichnen, birgt daher Konfliktpotenzial, da nicht von einer homogenen „Männlichkeit“, sondern vielmehr von pluralen Identitäten auszugehen ist. Zudem muss die kontextbezogene Wirkungsmacht von „Männlichkeits“Konzepten untersucht werden, statt ein einheitliches und unveränderbares „Männer-Ideal“ vorauszusetzen. Eine Differenzierung sowie die Anerkennung von Pluralität und widersprüchlichen Identitäten helfen daher, Stereotype aufzubrechen und in diesem Fall auch eurozentristische Annahmen zu überwinden. (Mathes 2009:175) Eine monokausale Erklärung für den Feminicidio greift also zu kurz. Stattdessen müssen mehrere Faktoren, die in die Situation miteinfließen, analysiert werden (Schmidt Camacho 2005:267). Dass die mexikanische Regierung die verheerende Situation lange verneint und den Feminicidio als „Mythos“ abgestempelt hat, ist ein enormes Problem. Jedoch wurde diese 61 Sarah Theierling „Blame the Victim“-Strategie sowohl bei den Opfern des Feminicidios als auch bei den Opfern der Drug Wars angewandt. Das hängt aber vor allem damit zusammen, dass Mexiko unter starkem internationalem Druck steht und weder ausländische Investor*innen noch Tourist*innen verschreckt werden dürfen. (Wright 2004; 2011; Schmidt Camacho 2005) Daher muss die Straflosigkeit, die in Mexiko vorherrschend ist, in einem größeren Kontext betrachtet werden. Mexiko befindet sich in einer strukturellen Krise, die ausgelöst wurde durch internationale Marktmechanismen und dem Hegemoniebestreben der USA. Das nichtfunktionierende Justizsystem ist eine Folge der wirtschaftlichen Rezession, durch die parallel zur gestiegenen Armut auch Kriminalität und Korruption zunahmen. Violencia Feminicida ist ein Ausdruck der strukturellen Gewalt, ausgehend vom neoliberalen System, das vermehrt zu durch die Privatisierung forcierter sozialer Polarisierung, führte und zur Entstehung eines „alternativen Staates“, der von Drogen-Kartellen, Straßengangs und anderen nicht-staatlichen Akteuren regiert wird, beitrug. (Olivera/Furio 2006:106-110) In einem zunehmend denationalisierten Raum ist das Machtmonopol des Nationalstaates geschwächt, was ermöglicht, dass ein „Parallel- oder Alternativstaat“ die Staatsmacht übersteigt. Dezentralisierung und Entstaatlichung vor dem Hintergrund neoliberaler Politiken untergraben das Justizsystem, was dazu führt, dass die Polizeiarbeit von kriminellen Vereinigungen kontrolliert und gesteuert wird, weshalb auch das Morden ungehindert weitergehen kann und der Terror gegen Frauen zum Kavaliersdelikt deklariert wird. (Segato 2005; 2010; Huffschmid 2006:87; Arteaga Botello/Valdés Figueroa 2010:12-15) Die gesamte Grenzregion gilt aufgrund der Militarisierung einerseits und der Schaffung eines recht- und tabufreien „Niemandslandes“ andererseits als generelle Gefahrenzone. Besonders Frauen sind häufig von sexueller Gewalt durch Coyotes oder Border Patrol Agents betroffen. Rückhalt und Zuspruch auf rechtlichen Schutz bekommen sie kaum, weder nördlich noch südlich der Grenze. In den USA haben illegale Einwander*innen keine Chance auf staatliche Unterstützung, da sie neben den erlittenen Gewaltverbrechen bei Anzeigeerstattung zusätzlich mit einer Abschiebung rechnen müssen und in Mexiko besteht aufgrund des nichtfunktionalen Justizsystems wenig Aussicht auf Rechtszuspruch. (Schmidt Camacho 2005:279f.; Falcón 2007:206; Gonzáles-López 2007:224) Wie in den vorigen Kapiteln schon ausführlicher erläutert wurde, kommt es, wenn es um die Verantwortung für den Feminizid geht, zu einer gegenseitigen Schuldzuweisung. Von USamerikanischer Seite liegt die Ursache nicht in der Grenzindustrialisierung, daher trägt der mexikanische Staat die Verantwortung dafür, die hohe Kriminalität in den Griff zu bekommen. Die mexikanischen Behörden wiederum wollen ausländische Investor*innen 62 Feminicidio an der US-amerikanisch-mexikanischen Grenze. Machismo als Todesurteil? nicht verärgern und schieben die Schuld auf die Opfer. Da unklar ist, in wessen Verantwortungsbereich diese Verbrechen fallen, ist auch die rechtliche Lage alles andere als eindeutig. Klar ist, dass die Morde trotz nationalem Aufschrei und mittlerweile internationaler Aufmerksamkeit weiterhin unvollständig aufgeklärt werden, was dazu führt, dass die Mordserie ungestraft und uneingeschränkt weitergeht. (Iturralde 2010:247) Trotz der Tatsache, dass viele Frauen auf dem Hin- oder Heimweg zur beziehungsweise von der Arbeit überfallen werden, weisen die inhabenden Konzerne der Maquiladorafabriken jede Schuld von sich, da diese Verbrechen außerhalb der Fabriken passieren. Dabei haben aber gerade Konzerninhaber*innen aufgrund ihrer mächtigen und wichtigen Position eine Möglichkeit, Druck auf die mexikanische Gesetzgebung auszuüben, um strengere Richtlinien zum Beispiel für ihre Partnerkonzerne zu entwickeln. Darüber, ob oder inwiefern Maquiladora-Manager*innen tatsächlich in die Morde involviert sind, kann nur spekuliert werden. Das Faktum, dass viele Opfer auf dem Hin- oder Rückweg zum beziehungsweise vom Arbeitsplatz angegriffen wurden, kann allerdings nicht bestritten werden, genauso wenig wie der Nährboden, den die deregulierte Arbeitssituation in den Maquiladoras für Ungleichheit und Diskriminierung bietet. (Wright 2007:188f.; Iturralde 2010: 247-254) Wichtig wäre es daher, GBV als internationales Problem zu begreifen, das in sozioökonomische Entwicklungen eingebettet ist und durch vielschichtige Prozesse hervorgebracht wird. Gerade an der Grenze wird die Einbindung des Lokalen in das Globale sichtbar. Hier greifen mehrere Mechanismen und Unterdrückungsformen ineinander, was dazu führt, dass besonders Frauen von Armut betroffen und als marginalisierte Gruppe leichter Opfer von Diskriminierung, Ausbeutung und Gewalt sind. Die Verantwortung, die Rechte der Arbeiter*innen zu sichern und die Löhne zu heben, um ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen, liegt auf beiden Seiten der Grenze. Frauenrechte sind Menschenrechte und stellen somit ein globales Thema dar, weshalb die Wahrung ihrer Rechte auch als globale Aufgabe betrachtet werden muss. (Zeilinger 2004:41; Staudt 2004; Schmidt Camacho 2005:255-261; Staudt/Vera 2006:166) 63 Sarah Theierling 8. Bibliographie Alfarache Lorenzo, Àngela (2009): Frauen, Migration und feminizide Gewalt in Mexiko. In: Tuider, Elisabeth; Wienold, Hanns; Bewernitz, Torsten (Herausgeber*innen) (2009): Dollares und Träume. Migration, Arbeit und Geschlecht in Mexiko im 21. Jahrhundert. Münster: Westfälisches Dampfboot, S. 103-115. Anderson, Joan B. (2003): The U.S.-Mexico border. A half century of change. In: The Social Science Journal, 40/4, S.535-554 Arciniega, Miguel G.; Anderson, Thomas C.; Tovar-Blank, Zoila G.; Tracey, Terence J. G. (2008): Toward a Fuller Conception of Machismo. In: Journal of Counseling Psychology, 55/1, S.19-33. 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