Carl Zuckmayer Der Hauptmann von Köpenick

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Carl Zuckmayer Der Hauptmann von Köpenick
Carl Zuckmayer
Der Hauptmann von Köpenick
In diesen Tagen – um den 20. Oktober – ist es genau hundert Jahre her, dass die
deutschen Armeen im Ersten Weltkrieg in Frankreich sich hinter den Fluss Marne
zurückzogen. Der Bewegungskrieg kam zum Stehen, die Armeen begannen sich
einzugraben, der Bewegungskrieg ging in den Stellungskrieg über. Vier Jahre
kämpften beide Armeen erbittert gegeneinander um wenige Meter Gelände. Vier
Jahre später – 1918 - standen die Armeen sich immer noch gegenüber, ziemlich
genau in den gleichen Stellungen wie 1914. Mehr als sechs Millionen Menschen
aber haben in diesen vier Jahren Krieg ihr Leben verloren. Besucht man heute die
Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs – und sie sind nicht weit weg, in anderthalb
Stunden ist man von hier aus auf dem Hartmannsweilerkopf in den Vogesen, wo
allein 60'000 Soldaten ihr Leben gelassen haben – besucht man die Schlachtfelder,
wird man sich der Sinnlosigkeit dieses Krieges bewusst, vor allem jedoch des Irrsinns, Millionen Menschen aufs Brutalste hinzuschlachten, um am Schluss mehr
oder weniger am gleichen Ort zu stehen, wie vier Jahre zuvor. Und mit welcher
Euphorie, mit welcher unbegreiflichen Begeisterung hat man in allen Ländern diesen Krieg im August 1914 begrüsst und gefeiert. Ohne undifferenziert sein zu wollen, bleibt doch die Tatsache bestehen, dass die Mittelmächte, also die Habsburger-Monarchie und das Deutsche Kaiserreich, die Hauptverantwortung an diesem
Krieg tragen. Und es ist unbestritten, das nur zwanzig Jahre später auch der Zweite
Weltkrieg von Deutschland ausging. Es gibt Historiker, die von einem zweiten
Dreissigjährigen Krieg – von 1914 – 1945 – sprechen. Als 1945 die Amerikaner
Deutschland besetzten, waren sie sich mit den anderen Besatzungsmächten einig,
dass "Deutschland daran zu hindern sei, je wieder eine Bedrohung des Weltfriedens darzustellen. So steht es in den Besatzungsdirektiven. Der Alliierte Kontrollrat
gab 1945 Richtlinien heraus, nach denen es Deutschen verboten war, militärische
Uniformen, Rangabzeichen oder Orden zu tragen, von Waffen ganz zu schweigen.
Die Richtlinien verboten zudem Militärschulen, militärische Ausstellungen und Zeremonien. Sie ordneten die Vernichtung von Denkmälern, Plakaten, Strassenschildern und Erinnerungstafeln an, die geeignet waren, "die deutsche militärische
Tradition zu bewahren oder militärische Ereignisse zu glorifizieren." Mit diesen
Richtlinien sind wir beim Thema unseres Stücks von heute abend angelangt.
Auch wenn meine Herleitung aus der Geschichte hier jetzt doch gar sprunghaft
und verkürzt ist, so scheint doch etwas Konstantes hindurch: Nach zwei Weltkriegen waren die Siegermächte sich darin einig, dass es in Deutschland etwas gibt,
etwas Äusserliches zwar, das bekämpft werden muss. Es scheint – so müssen die
Alliierten gedacht haben – in Deutschland eine Tradition des Denkens zu geben,
die sich in äusserlichen militärischen Erscheinungen niederschlägt. Offenbar ist das
Deutsche - ich formuliere es absichtlich mit Sorgfalt – dem Militärischen, der Uniform, dem Barras und der militärischen Lebensform, dem Befehlen und Gehorchen,
weit mehr verpflichtet als andere Nationen, diese Lebensform scheint im Deutschen weit mehr verwurzelt zu sein, als in anderen Völkern. Er liegt mir fern zu
behaupten, dass das so sei! Es ist ja ein Klischee, trotzdem haben Klischees auch
immer einen Kern Wahrheit in sich. Unser Stück heute abend nimmt diese Tradition auf, welche die Alliierten 1945 zu tilgen versuchten. Das Militärische als Lebensform und die Uniform als dessen sichtbare Ausprägung stehen im Mittelpunkt.
Wie sehr dies zur Zeit der Entstehung des Stücks aktuell war, zeigt das folgende:
Unser Stück wurde 1930 uraufgeführt, in der Zeit des aufsteigenden Nationalsozialismus'. 1930 vereinigten die Nationalsozialisten 18,3% der Stimmen auf sich,
1932 waren es bereits 37,8%. Man kann den beispiellosen Aufstieg Hitlers, der mit
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der Machtübernahme im Januar 1933 einen ersten Höhepunkt erlebt, natürlich aus
den geschichtlichen Ereignissen seit dem Kaiserreich, dem Ersten Weltkrieg, dem
Versailler-Vertrag und der Weimarer Republik herleiten und begründen. Aber die
bange Frage, warum ein Hitler möglich war, bleibt bestehen. Thomas Mann hat in
seinem letzten grossen Roman, dem Doktor Faustus, den Nationalsozialismus aus
der deutschen Geistesgeschichte herzuleiten gesucht. Es ist eine der überzeugendsten Erklärungen für die Genese der Bewegung und der Katastrophe. Das ist
die Stimmung, in der unser Stück entsteht. Es entsteht in der Zeit der sich anbahnenden Katastrophe des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges! Und es
greift ein irrationales Thema auf, vordergründig das Thema des Kadavergehorsams, hintergründig jedoch fragt es nach dem deutschen Wesen, nach jenem irrationalen Grundcharakter, es stellt die Frage "Was ist deutsch?" auf bange Weise,
es sucht im Irrationalen Antwort auf die Frage, wie es möglich war, dass das Volk
der "Dichter und Denker" die Welt innert dreissig Jahren in den tiefsten Abgrund
hat herunterreissen können. Und stellt die Frage, ob dies im Zusammenhang steht
mit dem, was die alliierten 1945 zu verbieten suchten: mit dem preussischen Uniformgeist. Wir haben also zuerst ein Zeitstück vor uns, ein Stück, das seine Zeit
auf die Bühne zu bringen sucht.
Auf diese Fragen möchte ich näher eingehen. Aber dazu ist es nötig, dass ich Ihnen
kurz den Inhalt des Stücks erzähle.
Die Hauptperson ist die Figur des Schusters Wilhelm Voigt. Er ist eine historische
Figur, es hat ihn gegeben. Die Begebenheit, die im dritten Akt dargestellt wird, ist
wirklich passiert. Zuckmayer erfindet zum Teil dazu eine Vorgeschichte, er denkt
also das Stück vom Ende her.
Voigt kommt zu Beginn des Stückes aus dem Gefängnis, wo er eine mehrjährige
Strafe wegen Urkundenfälschung verbüsst hat. Wir befinden uns in Potsdam bei
Berlin, der Wiege des Preussentums. Das Militär ist omnipräsent. Militärmusik begleitet die erste Szene, sie spielt im Uniformengeschäft Wormser. Der Gardehauptmann von Schlettow hat sich eine Uniform machen lassen, stellt nun aber zu seinem Entsetzen fest, dass die dekorativen Gesässknöpfe um einen halben Zentimeter nicht richtig sitzen. Die Uniform ist für ihn das Symbol des Menschen als
blosses Mittel des Staates; nicht ist der Staat das Mittel für den Menschen. Nur in
der Uniform kann der Mensch in seinem Sinne Mensch sein, da er darin äusserlich
als ein Funktionsträger dieses Staates erscheint und sichtbar ist. In dieser Szene,
im Gespräch zwischen Schlettow, dem Zuschneider Wabschke, der nicht gedient
hat und dem deswegen "der Benimm und die Haltung" fehlen, und dem Uniformenschneider Wormser exponiert sich auf genial dramatische Weise das Thema
des Stücks: Obwohl Wormser Jude ist, hat er die preussischen Tugenden ohne
Rest verinnerlicht: Der Alte Fritz, der kategorische Imperativ mit seiner abstrakten
Forderung nach Pflichterfüllung, das Exerzierreglement und dann auch noch die
Klassiker Schiller und Goethe. Das ist es, was in der preussischen Vorstellungswelt
massgebend ist. Die "Gesässknöppe" müssen also versetzt werden. Voigt, soeben
aus dem Gefängnis entlassen, tritt in den Laden ein, um nach Arbeit zu fragen.
Selbstverständlich wird er von Wormser sofort weggewiesen. Aber der Bezug ist
hergestellt: Voigt wird später genau diese Uniform in einem Trödlerladen kaufen,
um seinen Coup zu landen. Aber soweit sind wir noch nicht.
Voigt ist zum jetzigen Zeitpunkt bereits zweimal für Jahre im Gefängnis gewesen.
Trotzdem ist er kein gewohnheitsmässiger Verbrecher, er möchte im Gegenteil
seinen Lebensunterhalt ehrlich als Schuster verdienen. Aber als ehemaliger Häftling, der erst noch lange im Ausland war, bekommt er keine Arbeit, und wenn er
keine Arbeit hat, bekommt er auch keine Aufenthaltsbewilligung. Ohne Arbeit,
keine Bewilligung, ohne Bewilligung keine Arbeit. Das ist der Teufelskreis der preussischen Ordnung. Da man die Häftlinge aus den Zivilstandsregistern gestrichen
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hat, bekommt er auch keinen Pass, um wieder ins Ausland zu gehen. Er ist dem
Recht und der Ordnung völlig ausgeliefert. Trotzdem ist er entschlossen, ein ehrliches Leben zu führen. "Üb‘ immer Treu und Redlichkeit" spielt das Glockenspiel
der Potsdamer Garnisonskirche, als Voigt die Strasse überquert.
Im Café National in der Friedrichstrasse, wo Voigt sich mit seinem Gefängniskollegen Kalle aufhält, kommt es zu einer Schlägerei, von einem betrunkenen Soldaten
angezettelt. Die Halbweltdamen, mit denen Kalle angebändelt hat, gehen sofort
zur Uniform über, als der betrunkene Gardegrenadier eintritt. Hauptmann Schlettow, in Zivil, mischt sich ein, den betrunkenen Soldaten zurechtweisend. Da er
aber nicht Uniform trägt, wird er von diesem nicht ernst genommen. Schlettow
muss hinnehmen, dass er nur Hauptmann ist in Uniform. Da er als Zivilist sich in
eine Schlägerei in einem zwielichtigen Lokal verwickelt hat, ist seine Ehre als Offizier zerstört und er muss den Abschied nehmen, was dem völligen gesellschaftlichen Bankrott gleichkommt. So muss er denn auch die Uniform, deren Gesässknöppe jetzt vorschriftgemäss angebracht sind, zurückgeben. Heinrich von Kleist
sagt irgendwo, Mensch und Offizier schlössen sich gegenseitig aus!
Voigt hat unterdessen mehrfach versucht, Arbeit als Schuster zu bekommen, ohne
jeden Erfolg. Deswegen lässt er sich von Kalle überreden, an einem Einbruch in
ein Polizeirevier teilzunehmen. Voigt will sich aber nicht bereichern, sondern er will
nur an die nötigen Formulare und Stempel heran kommen, um sich sich selbst
einen Pass auszustellen. Natürlich geht das Unternehmen schief und Voigt landet
wieder für zehn Jahre hinter Gittern. Das ist der erste Akt.
Der zweite Akt spielt zehn Jahre später: Im Gefängnis erteilt der Direktor vaterländischen Unterricht, der jedoch ausschliesslich aus militärischer Taktik besteht.
Voigt tut sich hierin besonders hervor. Am Schluss des Unterrichts singen die Gefangenen den Choral: "Bis hierher hat uns Gott gebracht!" Dann wird Voigt entlassen und der Teufelskreis beginnt, sich erneut zu drehen, Arbeit und Aufenthaltsbewilligung und Pass. Er geht zu seiner Schwester, sie und ihr Ehemann Hoprecht
nehmen Voigt ohne Vorurteile auf. Aber Hoprecht ist bei aller Rechtschaffenheit
vom Militär restlos überzeugt, vor allem jedoch von der Gerechtigkeit ohne Fehl
und Tadel der preussischen Staatsordnung. Dieser Sinn wird auch nicht erschüttert, als Hoprecht bei der militärischen Beförderung übergangen wird. Bei Hoprechts wohnt zur Untermiete ein todkrankes Mädchen, um das sich Voigt rührend
kümmert. Er liest ihr aus den "Bremer Stadtmusikanten" vor: "Komm mit, sagte
der Hahn – etwas Besseres als den Tod werden wir überall finden.“ In weiteren
Szenen wird das Thema des Stücks gesteigert. Einerseits wiederholt sich immer
wieder die Szene, in der Voigt Arbeit sucht oder einen Pass oder eine Aufenthaltsbewilligung, was ihm immer wieder verweigert wird, da alle drei voneinander abhängen. Andererseits verfolgen wir die Geschichte der Uniform von Schlettow, die
am Schluss des Aktes bei einem Trödler landet.
Da all seine Bemühungen um eine Arbeit und der Versuch seiner Meldepflicht nachzukommen gescheitert sind, wird Voigt ein Ausweisungsbefehl zugestellt. Er ist
erschüttert! Sein Schwager vertritt jedoch die Ansicht: man müsse sich fügen und
gehorchen. Das ist zu viel für Voigt! Bei einem Trödler ersteht er die gebrauchte
Uniform mitsamt Säbel!
Als Voigt in dieser Uniform in die Öffentlichkeit tritt, ist die Wirkung ganz erstaunlich: Bahnbeamte stehen stramm und Soldaten folgen widerspruchslos seinem Befehl. So beschliesst Voigt, die Behörden mit ihren eigenen Waffen zu schlagen!
Um endlich seinen lang ersehnten Pass zu erhalten und aus seinem Teufelskreis
auszubrechen, kommandiert er einige Soldaten ab und besetzt im Stadtteil Köpenick das dortige Rathaus, lässt Bürgermeister Dr. Obermüller gefangennehmen
und zur Wache bringen.
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Doch Voigt hat sich zuwenig genau ins Bild gesetzt. Das Rathaus von Köpenick hat
gar keine Passstelle. Also kann er das, was er eigentlich beabsichtigt hatte, nicht
umsetzen. So beschlagnahmt er eben die Stadtkasse und zieht mit seinen Soldaten
ab.
Die Nachricht über den Streich des falschen Hauptmanns - der ja nur gültige Papiere wollte - verbreitet sich sehr schnell. Kurze Zeit später stellt sich Voigt und
gibt die Stadtkasse zurück, da man ihm einen gültigen Pass verspricht. Die Polizisten behandeln ihn sehr höflich und amüsieren sich köstlich, sie wollen natürlich
wissen, wie so etwas möglich war. Darauf Voigt: "So ne Uniform, die macht das
meiste ganz von alleine". Als er gebeten wird, er möge diese Uniform noch einmal
anziehen, verlangt er einen Spiegel. Bei seinem Anblick kann Voigt sich nicht mehr
halten vor Lachen...
Die Entstehungsgeschichte ist interessant. Zuckmayer hatte den Auftrag erhalten,
für die Heidelberger Festspiele ein Stück zu verfassen. Er dachte dabei an ein Eulenspiegel –Stück. Durch einen Hinweis von Max Reinhard erkennt er, dass der
Schuster Voigt genau der Eulenspiegel ist, den er sucht. Der arme Kerl, der durch
"die Not helle wird". In zwei Monaten entsteht das Stück, es ist ganz filmisch gedacht, eine lockere Szenenfolge. Es gibt keine dramatische Entwicklung im Stück,
da sich Voigt ja eben gerade nicht entwickelt, es wird eine Gesellschaft dargestellt,
die starr und ohne Dynamik ist, so sehr, dass sie den Aussenseiter, der sie in
keiner Weise bedroht, nicht integrieren kann. Es ist auch ganz vom Ende her gedacht. Das Ende, die Scharade im Rathaus von Köpenick, ist das einzig Historische.
Die Vorgeschichte ist frei erfunden.
Es gab ihn ja wirklich, diesen Hauptmann von Köpenick, der Mummenschanz ist
historisch. Der echte Schuster Voigt bekam für seine Tat vier Jahre Gefängnis,
wurde aber nach zwanzig Monaten vom Kaiser begnadigt. Er lebte fortan das Leben
des "Hauptmanns von Köpenick", trat auf Jahrmärkten auf, liess sich besichtigen
und verkaufte Postkarten mit seiner Unterschrift. 1922 stirbt er verarmt in Luxemburg.
Das Stück hatte einen Riesenerfolg! Es wurde auf allen Bühnen Deutschlands gespielt, es wurde mehrfach verfilmt, die berühmteste Verfilmung ist wohl diejenige
mit Heinz Rühmann in der Hauptrolle. 1933 haben die Nazis das Stück selbstverständlich verboten.
Zuckmayer nennt sein Stück nicht Schauspiel, nicht Komödie, nicht Drama, sondern er nennt es "ein deutsches Märchen!" Das ist nun von grosser Bedeutung!
Also Zeitstück und Märchen. Was hat diese Handlung mit einem Märchen zu tun?
Das Märchen zeichnet sich vor allem durch zwei Merkmale aus: Die Situation, in
der die Figuren sich befinden, wird nicht hinterfragt. Die Märchenland und die Märchengesellschaft sind konstant, unveränderlich und vor allem ohne Entwicklung.
Dadurch entwickeln sich eben auch die Figuren, die Protagonisten, nicht. Das Rotkäppchen bleibt Rotkäppchen, auch wenn es vom Wolf gefressen wird. Und das
Märchen der "Bremer Stadtmusikanten", das im Stück eine Rolle spielt, hört genau
dort auf, als die vier Tiere ihr Ziel erreicht haben, das sie von Anfang an verfolgt
haben.
Das Märchen ist also in der Lage, Situationen, Hintergründe darzustellen, ohne sie
hinterfragen zu müssen. Es ist ein komplexer Gedankengang, aber ich meine, er
ist im Stück konstituierend: Zuckmayer stellt Preussens Gloria dar am Dingsymbol
"Uniform". Natürlich ist seine Art und Weise, Preussen zu sehen, ein Klischee. Aber
weil er es eben märchenhaft macht, muss er diese Klischees nicht hinterfragen, er
muss sie im Stück nicht problematisieren. Im Stück selbst wird die Kritik an dieser
Gesellschaft gar nicht zum Thema. Umso eindrücklicher und deutlicher wird sie
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Carl Zuckmayer: Der Hauptmann von Köpenick
damit auf einer höheren Ebene. Die Statik und Sturheit der Preussen wird unheimlich deutlich, weil sie im Stück selbst gar nicht in Frage gestellt wird.
Zeitstück und Märchen. Aber heute abend läuft auch eine spezielle Form des "grossen Welttheaters". Zuckmayer führt uns in einzelnen Figuren alle Schichten der
preussischen Gesellschaft vor, die alle ihre Rolle ernsthaft spielen: Da ist zuerst
der Militarist aus Überzeugung, der Hauptmann Schlettow, er vertritt das Offizierscorps, dann die Funktionäre, die Beamten, die buchstabengetreu Recht und
Ordnung umsetzen und Voigt keinen Pass ausstellen und keine Arbeitsbewilligung
geben. Dann gibt es die Opportunisten, dargestellt im Oberbürgermeister von Köpenick, Obermüller. Er ist derjenige, der sich, trotz besseren Wissens, aus Karrieregründen der Obrigkeit anpasst. Auch Wormser, der Uniformenschneider, ist ein
Opportunist, als Jude muss er sich besonders anstrengen, der Obrigkeit und obrigkeitlichen Meinung zu gefallen. Dann gibt es die Untertanen und Kleinbürger, zu
denen Hoprecht, Voigts Schwager gehört, denen nichts anderes übrigbleibt, als zu
gehorchen. Und das sterbende Mädchen, Lieschen, das – wie Voigt – in dieser
Gesellschaft keine Chance hat. Zuunterst findet sich die Halb- und Unterwelt, die
Welt der Prostituierten und der kleinen Gauner. Voigt gehört zu keiner Schicht. In
der festgefügten und entwicklungslosen Gesellschaft gibt es für ihn keinen Platz.
Er kann sich nur durch einen unerhörten Coup Gehör verschaffen. Die Hauptperson
des Stücks ist aber eigentlich eine Uniform, die leere Hülle als Dingsymbol und als
Visualisierung Preussens. Die zweite Hauptperson ist natürlich der Schuster Voigt.
Die beiden Protagonisten laufen im Stück parallel. Die Uniform –angefertigt für den
Hauptmann Schlettow – erlebt im Laufe des Stücks einen sozialen Abstieg, bis sie
beim Trödler landet. Auch Voigt steigt gesellschaftlich ab, als beide ganz unten
sind, finden sie sich, der Kampf gegen die Behörde, das hat Voigt eingesehen, ist
nur mit einer Uniform zu gewinnen. Was zählt, im Staate Preussen, ist, was man
sieht. Der preussische Staat ist durch und durch militarisiert. Man steckt die Kinder
in kleine Offiziersuniformen, der Traum jeden Mädchens ist der Offizier. Schale,
Äusserlichkeit ist alles. Es gibt nur die militärische Ehre oder die Schande. Schlettow muss das bitter erfahren, als er im Café in eine Schlägerei eingreift. Da er aber
ohne Uniform ist, gilt er als unbedeutender Zivilist. Schlimmer noch, er verfällt der
Schande. Ehre oder Schande, dazwischen gibt es nichts! Ein Hauptmann ist nur
ein Hauptmann, wenn er eine Uniform trägt.
Trotz der revueartigen Anlage hat das Drama einen Höhepunkt. Es ist der Moment,
in welchem Voigt sich zum Coup mit der Uniform entschliesst, im Dialog und der
Auseinandersetzung mit seinem Schwager Hoprecht. Hoprecht ist der Kleinbürger.
Im Stück hat er die Rolle des Katalysators, der Voigt durch seine Haltung die Augen
öffnet. Er lebt ständig an der Grenze der Armut, die er aber niemals dem schlechten Lohn als Staatsbeamter und damit dem Staat anlasten würde. Im Gegenteil:
er identifiziert sich völlig mit diesem Staat. Mensch und Beamter sind identisch.
Ordnung und Recht sind heilig und dürfen auf keinen Fall hinterfragt werden. Die
Autorität des preussischen Staates ist heilig. Würde man sie hinterfragen oder gar
bezweifeln, dann wäre kein Halten mehr. Und der Kleinbürger wäre der erste, der
unterginge. Preussisches Gesetz und Weltordnung sind identisch. Wenn etwas in
diesem Staate schief läuft, ist das höhere Gewalt oder man ist selber schuld. Der
Staat und die Gesellschaft bleiben rein. Hoprecht ist bei aller Rechtschaffenheit
eine gefährliche Figur. Wenn das Gesetz des Staates identisch ist mit dem Recht,
wenn es also nicht mehr durch den Juristen interpretiert und menschlich angewendet werden muss, dann bleibt nur der unbedingte Gehorsam. Die Ordnung im
Staate ist die Ordnung der Strafkolonie oder des Konzentrationslagers. In der
Frage, warum ein Hitler möglich war, findet sich in dieser Art Kleinbürgertum immerhin eine Teilantwort. Unbedingter Gehorsam, weil im unbedingten Gehorsam
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Carl Zuckmayer: Der Hauptmann von Köpenick
die einzige Möglichkeit des Überlebens und die einzig mögliche Sicherheit gegeben
ist. Im Gespräch mit dem Schwager erkennt Voigt, dass dessen Glauben an Staat
und Ordnung zum Selbstzweck geworden ist. Losgelöst von aller Funktion und aller
Vernunft kann mit dieser Ordnung und mit diesem Recht jeder Missbrauch getrieben werden. Voigt bringt es auf den Punkt, wenn er sagt: "Was steht dahinter?
Gott oder Teufel?" Das Gespräch zwischen Voigt und Hoprecht zeigt, dass in dieser
Gesellschaft nur der Opportunist oder der Narr eine Chance hat. Die Rolle des
Opportunisten ist Voigt verwehrt, also wählt er die Rolle des Narren und schlägt
die Gesellschaft mit ihren eigenen Mitteln.
Das Stück endet offen. Die preussische Intelligenzija bemerkt und reflektiert diese
Zusammenhänge nicht. Sie findet im Gegenteil selbstgefällig Gefallen daran. Sogar
der Kaiser amüsiert sich über den Hauptmann von Köpenick mit der dumm-gefährlichen Bemerkung: "Da kann man sehen, was Disziplin heißt! Kein Volk der
Erde macht uns das nach!" Womit er zum Glück recht hatte. Voigt wird eingeladen
auf dem Polizeiposten, als er die Stadtkasse zurückbringt, nochmals die Uniform
anzuziehen. Er tut es und tritt zum ersten Mal vor einen Spiegel. Er bricht in unbändiges Gelächter aus und das Stück endet mit seinem Wort: "Unmöglich!" Dieses "Unmöglich" lässt sich mehrfach deuten. Zuckmayer bezog es bestimmt nicht
bloss auf das Aussehen Voigts, sondern auf den preussischen Staat als ganzer.
1930 wurde das Stück geschrieben und uraufgeführt. Liest man in der Sekundärliteratur, so fällt auf, dass diese Tatsache fast schamhaft marginalisiert wird, obwohl Zuckmayer in seiner Autobiographie ganz explizit sagt, das Stück sei eben
ein Zeitstück und greife die Entwicklungen des heraufkommenden Hitlertums auf.
Ich möchte diesen Aspekt ganz klar in den Vordergrund stellen. "Der Hauptmann
von Köpenick" ist weit mehr ein Stück gegen das Nazitum, als ein Stück, das den
Militarismus des Wilhelminischen Zeitalters darstellt. Es ist ein Stück, das als Märchen und als Komödie vor dem warnt, was in Deutschland im Begriffe ist an die
Macht zu kommen. Nicht von ungefähr haben die Nazis das Stück bereits 1933
verboten. Der Propagandaapparat der Nazis war weit intelligenter als der Kaiser!
Zuckmayer musste Deutschland verlassen, er emigrierte in die USA und später
nach Saas Fee in die Schweiz.
Über alle Zeitgebundenheit hinaus, ist das Stück heute abend aktuell: es ist eine
Gestaltung des Armen und des Geknechteten, des Aussenseiters und Ausgestossenen. Und Gottfried Kellers Wort: "Kleider machen Leute" ist eine immer gültige
Wahrheit, mag es sich um Uniform oder um Zivilkleidung handeln.
19. Oktober 2014
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