Das nemo-tenetur-Prinzip als Schranke verdeckter Ermittlungen
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Das nemo-tenetur-Prinzip als Schranke verdeckter Ermittlungen
Das nemo-tenetur-Prinzip als Schranke verdeckter Ermittlungen Eine Besprechung von BGH 3 StR 104/07* Von Wiss. Assistent Dr. habil. Armin Engländer, Mainz 1. Unstreitig schützt das nemo-tenetur-Prinzip den Beschuldigten vor dem Zwang, sich selbst belasten zu müssen. Soll es ihn aber ebenfalls vor täuschungsbedingten Selbstbelastungen bewahren? Von Bedeutung ist diese Frage nicht nur für die Zulässigkeit der sog. Hörfalle (ein Privater ruft den Beschuldigten an und entlockt ihm selbstbelastende Äußerungen, wobei er die Polizei das Gespräch mithören lässt), sondern auch für die Befugnisse verdeckt operierender Personen. Deren Vorgehensweise besteht schließlich oftmals darin, unter Ausnutzung des ihnen entgegengebrachten Vertrauens einen Tatverdächtigen im Rahmen eines vermeintlich privaten Gesprächs zur Preisgabe selbstbelastender Informationen zu veranlassen. Während der bislang wohl h.M. zufolge allein die Freiheit von Zwang den Gegenstand des nemotenetur-Grundsatzes bildet,1 meint eine im Vordringen befindliche Ansicht, das genannte Prinzip sichere die Entscheidungsfreiheit des Beschuldigten, ob er am Strafverfahren mitwirkt, in einem umfassenderen, auch Täuschungen ausschließenden Sinne.2 Mit der hier zu besprechenden Entscheidung versucht der 3. Senat einen Mittelweg zu gehen. Dem Tenor nach befasst er sich dabei zwar nur mit dem Vorgehen Verdeckter Ermittler, doch dürfte die von ihm gefundene Lösung für andere verdeckt operierende Personen ganz entsprechend gelten. Dem 3. Senat zufolge soll die Aufnahme von Informationen, die der Beschuldigte einem Verdeckten Ermittler aufgrund des diesem entgegengebrachten Vertrauens von sich aus preisgebe, keine Verletzung des nemotenetur-Prinzips darstellen. Ein Verstoß gegen die Selbstbelastungsfreiheit liege hingegen dann vor, wenn der Verdeckte * BGH, Urt. v. 26. Juli 2007 – 3 StR 104/07 – LG Wuppertal. 1 BGHSt 42, 139; Ellbogen, Kriminalistik 2006, 544; Jäger, Beweisverwertung und Beweisverwertungsverbote im Strafprozess, 2003, S. 164 f.; Hellmann, Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2006, Rn. 444; Kindhäuser, Strafprozessordnung, 2006, § 6 Rn. 25; Krey, Rechtsprobleme des strafprozessualen Einsatzes Verdeckter Ermittler, 1993, Rn. 169; Lesch, Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2001, 3/117; Meyer-Goßner, Strafprozessordnung, Kommentar, 50. Aufl. 2007, Einl. Rn. 29a; Ranft, Strafprozessordnung, 3. Aufl. 2005, Rn. 362; Rogall, in: Rudolphi u.a. (Hrsg.), Systematischer Kommentar zur Strafprozeßordnung und zum Gerichtsverfassungsgesetz, 6. Aufl., 46. Lieferung, Stand: September 1998, Vor § 133 Rn. 139 f.; Verrel, Die Selbstbelastungsfreiheit im Strafverfahren, 2001, S. 158 ff., S. 278 f.; Volk, Strafprozessordnung, 5. Aufl. 2006, § 9 Rn. 9. 2 Bernsmann, StV 1997, 116; Bosch, Aspekte des nemotenetur-Prinzips aus verfassungsrechtlicher und strafprozessualer Sicht, 1998, S. 204 ff.; Eidam, Die strafprozessuale Selbstbelastungsfreiheit am Beginn des 21. Jahrhunderts, 2007, S. 82 ff.; Eisenberg, Beweisrecht StPO, 5. Aufl. 2006, Rn. 571a; Fezer, NStZ 1996, 289; Kühne, StPO, 7. Aufl. 2007, Rn. 904 f.; Renzikowski, JZ 1997, 710; Roxin, NStZ 1997, 19; Weßlau, ZStW 1998, 1. Ermittler einen Beschuldigten, der sich auf sein Schweigerecht berufen habe, beharrlich zu einer Aussage dränge und ihm in einer vernehmungsähnlichen Befragung Äußerungen zum Tatgeschehen entlocke.3 2. Bemerkenswert erscheint hier zunächst, dass es dieser vom BGH hier erstmals so vertretenen differenzierenden Lösung in dem zu entscheidenden Fall eigentlich gar nicht bedurft hätte, um die Unzulässigkeit des Vorgehens des Verdeckten Ermittlers zu begründen. Ausreichend wäre es gewesen, schlicht auf die unstreitige Zwangsausschließungsfunktion von nemo-tenetur abzustellen. Danach ist jede unmittelbare oder mittelbare Ausübung von Druck zur Erzielung einer Aussage untersagt.4 Das gilt nicht nur für offene Vernehmungen, sondern, wie auch der BGH in mehreren Entscheidungen anerkannt hat,5 gleichermaßen, wenn der Beschuldigte – etwa infolge einer Täuschung – nicht weiß, dass er einer staatlichen bzw. staatlich veranlassten Ausforschung ausgesetzt ist. Die Strafverfolgungsorgane dürfen sich des Verbots des 3 Neben der Problematik der Reichweite des nemo-teneturPrinzips stellen sich dem 3. Senat noch weitere Fragen, so etwa die, ob auch vermeintlich private Befragungen Vernehmungen im Sinne von § 136 StPO darstellen, wenn sie direkt oder indirekt von einem Strafverfolgungsorgan geführt werden, ob – wenn man dies verneint – § 136 StPO auf vernehmungsähnliche Befragungen zumindest analog anzuwenden ist, und ob die Herbeiführung eines Irrtums beim Beschuldigten über die Identität des Verdeckten Ermittlers sowie die Privatheit des Gesprächs unter den Begriff der Täuschung in § 136a Abs. 1 S. 1 StPO fällt. Insoweit wiederholt die Entscheidung des 3. Senats allerdings nur die bekannten Positionen des BGH und bringt nichts substanziell Neues: § 136 StPO sei direkt nicht anwendbar, weil eine Vernehmung nur vorliege, wenn der Fragende der Auskunftsperson in amtlicher Funktion entgegentrete (a.A. etwa Hanack, in: Rieß [Hrsg.], Löwe/Rosenberg, Die Strafprozeßordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz, 26. Aufl. 2003, § 136 Rn. 9, 64 ff.); eine analoge Anwendung scheide aus, da die Gefahr, die die Belehrungspflicht abwenden solle, nämlich die irrtümliche Annahme einer Aussagepflicht durch den Beschuldigten, hier nicht bestehe; § 136a Abs. 1 S. 1 StPO greife nicht ein, weil der Begriff der Täuschung im Hinblick auf den Zweck der Vorschrift eng verstanden werden müsse (für eine analoge Anwendung von § 136 und § 136a StPO hingegen bspw. Beulke, StPO, 9. Aufl. 2006, Rn. 481d f.). Deshalb soll sich die folgende Untersuchung ganz auf die Ausführungen zum nemo-tenetur-Grundsatz konzentrieren. Das ist auch in der Sache gerechtfertigt, weil die unterschiedlichen Auffassungen zu den eben genannten Problemstellungen im Hinblick auf den Einsatz verdeckt operierender Personen ihre Grundlage zumeist in divergierenden Positionen zu nemo-tenetur finden; vgl. dazu auch Weßlau, ZStW 110 (1998), 10. 4 Näher dazu Rogall (Fn. 1), Vor § 133 Rn. 139. 5 Vgl. BGHSt 34, 362; 44, 129. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 163 Armin Engländer _____________________________________________________________________________________ Selbstbelastungszwangs selbstverständlich nicht einfach dadurch entledigen, dass sie eine heimliche Vorgehensweise wählen, bei der der Beschuldigte zunächst darüber im Unklaren bleibt, zu welchem Zweck ihm eine selbstbelastende Äußerung abgenötigt wird. In dem vom 3. Senat rechtlich zu würdigenden Fall wurde nun aber auf den sich aufgrund einer anderen Straftat in Haft befindenden Beschuldigten Zwang ausgeübt: Der Verdeckte Ermittler, für ihn die einzige Kontaktperson außerhalb der JVA, auf den er zum Erhalt von Vollzugslockerungen wie Ausgang oder Hafturlaub angewiesen war, und der ihm zudem in Form gemeinsamer Geschäfte eine Lebensperspektive nach Haftverbüßung in Aussicht gestellt hatte, setzte ihn gezielt mit der Drohung unter Druck, den Kontakt abzubrechen, wenn er sich ihm nicht offenbare. Zwar ist diese Zwangslage des Beschuldigten dem BGH nun durchaus nicht verborgen geblieben. Anders als in ähnlichen früheren Entscheidungen wie etwa dem WahrsagerinnenUrteil6 stützt er die Verletzung der Selbstbelastungsfreiheit jedoch nicht maßgeblich auf diesen Punkt, sondern führt ihn lediglich ergänzend an.7 3. Warum also stellt der BGH hier nicht wie bislang in vergleichbaren Fällen einfach auf das Verbot des Selbstbelastungszwangs ab, sondern propagiert mit einigem Argumentationsaufwand eine differenzierende Lösung zur Vereinbarkeit des heimlichen Vorgehens Verdeckter Ermittler mit dem nemo-tenetur-Prinzip? Der Grund dürfte wohl darin liegen, dass der 3. Senat die Gelegenheit nutzen wollte, der neueren, nach Maßgabe des BVerfG auch von ihm zu beachtenden8 Rechtsprechung des EGMR zu diesem Themenkomplex Rechnung zu tragen und sie zur bisherigen BGH-Rechtsprechung in Bezug zu setzen. Während nämlich nach dem für die bisherige Rechtsprechung des BGH grundlegenden Hörfallen-Beschluss des Großen Senats die Freiheit von Irrtum nicht in den Anwendungsbereich des nemo-teneturGrundsatzes fallen soll,9 hat der EGMR zwischenzeitlich im Fall Allan gegen Großbritannien entschieden, dass das Schweigerecht zwar in erster Linie bezwecke, den Beschuldigten vor unzulässigem Zwang zu bewahren, jedoch nicht auf diese Funktion beschränkt sei. Es diene vielmehr ganz prinzipiell der Freiheit einer verdächtigen Person zu entscheiden, ob sie in Polizeibefragungen aussagen oder schweigen wolle. Eine solche freie Entscheidung werde aber effektiv unterlaufen, wenn die Behörden gegenüber dem von seinem Schweigerecht Gebrauch machenden Beschuldigten eine Täuschung anwendeten, um ihm Geständnisse oder andere belastende Äußerungen zu entlocken, die sie in der Vernehmung nicht erlangen konnten. Bedienten sich die Strafverfolgungsorgane eines staatlich gesteuerten Informanten, der den Beschuldigten im Rahmen eines zur staatlichen 6 BGHSt 44, 129. So spricht der 3. Senat davon, die Missachtung des Schweigerechts wiege um so schwerer, als die Situation des Beschuldigten der besonderen Zwangslage eines Untersuchungshäftlings nahe komme, dem ein Polizeispitzel in die Zelle gelegt werde. 8 Vgl. BVerfG NJW 2004, 3407 (3409). 9 Vgl. BGHSt 42, 139 (153). 7 Vernehmung funktional äquivalenten Gesprächs zu selbstbelastenden Eingeständnissen veranlasse, liege deshalb eine Verletzung der Aussagefreiheit vor.10 Für die Beurteilung des heimlichen Vorgehens des Verdeckten Ermittlers im konkreten Fall sollen die unterschiedlichen Annahmen von Großem Senat und EGMR zur Reichweite des nemo-tenetur-Prinzips nach Auffassung des 3. Senats allerdings keine Rolle spielen. Ob die Rechtsprechung des EGMR eine Neuinterpretation erforderlich mache, könne deshalb dahinstehen. Trotz der Ausgrenzung der Freiheit von Irrtum aus dem Schutzbereich von nemo-tenetur habe der Große Senat nämlich anerkannt, dass die vernehmungsähnliche Befragung eines Tatverdächtigen ohne Aufdeckung der Ermittlungsabsicht einem Verstoß gegen den nemo-tenetur-Grundsatz zumindest nahe kommen und deshalb je nach Einzelfall, nach Abwägung mit dem Gebot der effektiven Strafverfolgung, unzulässig sein könne.11 Ferner sehe er bestimmte Konstellationen heimlicher Befragungen von Tatverdächtigen aus rechtsstaatlichen Gründen von vornherein als verboten an. In diesem Zusammenhang erwähne der Große Senat auch den Fall, dass die Polizei die Befragung des Beschuldigten durch eine Privatperson veranlasse, obwohl ersterer zuvor in einer Vernehmung ausdrücklich erklärt habe, keine Angaben zur Sache machen zu wollen.12 4. Im Schrifttum ist die Lösung des Großen Senats indessen als inkonsequent und in sich widersprüchlich kritisiert worden.13 Und in der Tat lässt sich bestreiten, dass das Postulat eines Beinahe-Verstoßes – selbst wenn man die methodischen Bedenken gegen die Konstruktion einer solchen Kategorie14 einmal zurückstellt – wirklich zu überzeugen vermag. Wenn der Schutzzweck von nemo-tenetur ausschließlich darin bestehen soll, den Beschuldigten vor einer erzwungenen Selbstbelastung zu bewahren, drängt sich die Frage auf, wie dann ein eben nicht auf Zwang, sondern auf Täuschung abzielendes Vorgehen einem Verstoß auch nur nahe kommen kann. Schließlich werden doch von einem rein zwangsbezogen verstandenen nemo-tenetur-Grundsatz definitionsgemäß alle Arten der Selbstbelastung, die nicht auf Zwang beruhen, als unerheblich ausgeblendet.15 Solange eine Maßnahme zur 10 Vgl. EGMR StV 2003, 257. Vgl. BGHSt 42, 139 (156 f.). 12 Vgl. BGHSt 42, 139 (155). 13 Vgl. etwa Bernsmann, StV 1997, 116; Bosch, Jura 1998, 236; Derksen, JR 1997, 167; Renzikowski, JZ 1997, 710; Roxin, NStZ 1997, 18. 14 Kritisch auch Bernsmann, StV 1997, 116 (119); Roxin NStZ 1997, 20; Verrel (Fn. 1), S. 156 f.; Weßlau, ZStW 110 (1998), 15. 15 Eine Relevanz im Hinblick auf nemo tenetur könnte daher nur bestehen, wenn das den Beschuldigten täuschende Vorgehen zugleich gewisse Zwangsmomente beinhaltete. Ganz in diesem Sinne hat denn auch der 5. Senat im Wahrsagerinnen-Urteil die Entscheidung des Großen Senats gedeutet: Die auf staatliche Veranlassung erfolgte Ausforschung des Tatverdächtigen durch eine Privatperson ohne Offenlegung des staatlichen Ermittlungsauftrags verstoße zwar für sich ge11 _____________________________________________________________________________________ ZIS 3/2008 164 Das nemo-tenetur-Prinzip als Schranke verdeckter Ermittlungen _____________________________________________________________________________________ Herbeiführung einer selbstbelastenden Äußerung keinen Zwangscharakter hat, taucht sie gleichsam überhaupt nicht auf dem revisionsgerichtlichen Radarschirm auf. Für den vom 3. Senat zu beurteilenden Sachverhalt folgt daraus: Da in dem bloßen Entlocken von selbstbelastenden Informationen im Rahmen einer vernehmungsähnlichen Befragung noch kein Zwang liegt (zumindest solange nicht weitere zwangsbegründende Umstände hinzutreten), ist auf der Grundlage der vom Großen Senat befürworteten nemo-tenetur-Deutung ein Verbot des streitgegenständlichen Verhaltens des Verdeckten Ermittlers nicht schlüssig begründbar. Entgegen der Einschätzung des 3. Senats kommt es also sehr wohl darauf an, ob man das nemo-tenetur-Prinzip rein zwangsbezogen, wie der Große Senat meint, oder in einem umfassenderen Sinne, wie es der EGMR sieht, zu verstehen hat.16 5. Der Sache nach übernimmt deshalb der 3. Senat das weitergehende nemo-tenetur-Verständnis des EGMR, wenn nommen nicht gegen den nemo-tenetur-Grundsatz. Sie werde jedoch dann unzulässig, wenn zur Heimlichkeit der Ausforschung weitere Umstände hinzuträten, die die Freiheit des Beschuldigten, sich über seine Tat zu äußern, zusätzlich beeinträchtigten, vgl. BGHSt 44, 129 (133 f.). Freilich geht es dann im Grunde nicht mehr um das heimliche Vorgehen, sondern ganz einfach um die Ausübung unzulässigen Zwangs. Die Täuschung des Beschuldigten spielt dafür lediglich insoweit eine Rolle, als sie faktisch die Voraussetzungen für die Zwangsanwendung schafft. Den Grund für die Unzulässigkeit der Maßnahme bildet auf der Basis dieses nemotenetur-Verständnisses jedoch allein der Einsatz von Zwang zur Erzielung einer Aussage. Für die vom Großen Senat gebildete Kategorie des Beinahe-Verstoßes bei vernehmungsähnlicher Befragung eines Beschuldigten ohne Aufdeckung der Ermittlungsabsicht bleibt damit kein eigenständiger Anwendungsbereich; sie ist schlicht überflüssig. 16 Teile des Schrifttums haben die Entscheidung des EGMR denn auch als angemessene Erweiterung gegenüber einer zu restriktiven Schutzbereichsbestimmung des Großen Senats begrüßt; vgl. etwa Eidam (Fn. 2), S. 65 ff.; Gaede, StV 2003, 260. Bei genauerer Betrachtung der Entscheidungsgründe bestehen allerdings auch hier gewisse Unklarheiten. Zwar vertritt der EGMR zunächst in der Tat eindeutig ein umfassenderes, auch bestimmte Täuschungen verbietendes nemo-tenetur-Verständnis. Später stützt er die konkrete Feststellung über die Verletzung des Schweigerechts darauf, dass der Beschuldigte dem Informanten die selbstbelastenden Auskünfte nicht spontan preisgegeben habe, sondern nur aufgrund eines beharrlichen Nachfragens, bei dem er zwar keinem unmittelbaren Zwang ausgesetzt gewesen sei, wohl aber – auch aufgrund der U-Haft-Situation und dem direkten Druck der polizeilichen Vernehmungen – einem solchen psychologischen Druck, dass dies die Freiwilligkeit seiner Offenbarungen eingeschränkt habe. Damit greift auch der EGMR zur Begründung des Verstoßes gegen das nemotenetur-Prinzip auf zwangsbezogene Aspekte zurück, bei denen nicht ganz klar wird, in welchem Verhältnis sie zu den täuschungsbezogenen Kriterien stehen sollen; insoweit kritisch zur Argumentation des EGMR, Esser, JR 2004, 105. er fordert, dass einem Beschuldigten, der sich auf seine Aussagefreiheit berufen habe, ein Verdeckter Ermittler nicht in einer vernehmungsähnlichen Befragung unter Ausnutzung eines geschaffenen Vertrauensverhältnisses selbstbelastende Äußerungen zum Tatgeschehen entlocken dürfe. Wie aber begründet er nun diesen Standpunkt? In den Entscheidungsgründen führt der 3. Senat aus, erkläre der Beschuldigte gegenüber den Ermittlungsbehörden, schweigen zu wollen, so verdichte sich der allgemeine Schutz, den der Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit ihm biete, in der Weise, dass die Strafverfolgungsbehörde seine Entscheidung, nicht aussagen zu wollen, grundsätzlich zu respektieren hätten. In dieser Argumentation wird indes schlicht vorausgesetzt, was der Große Senat noch bestritten hatte und was daher erst noch zu rechtfertigen wäre, nämlich dass nemo-tenetur dem Beschuldigten nicht nur den Schutz vor Zwang, sondern einen allgemeineren Schutz seiner Entscheidungsfreiheit gewährleisten soll. Der materielle Grund für diese Annahme bleibt jedoch im Dunklen.17 Das heißt allerdings nicht, dass der Standpunkt des 3. Senats falsch wäre. Vielmehr lässt sich die bei ihm offen gebliebene Begründungslücke durchaus schließen. Dazu ist kurz auf die offene Vernehmung einzugehen, in der die Strafverfolgungsorgane als solche erkennbar dem Beschuldigten gegenüber treten. Was bedeutet hier Selbstbelastungsfreiheit? Nun, offenbar zunächst, dass der Beschuldigte selbst frei entscheiden können soll, welche Informationen er den Ermittlungsbehörden aktiv preisgibt – und welche nicht. Kurz gesagt geht es also um den Schutz seiner kommunikativen Autonomie.18 Gefährdungen dieser kommunikativen Autonomie können sich jedoch nicht nur durch die Androhung oder Durchführung von Zwangsmaßnahmen, sondern auch schon durch die Anwendung kriminalistischer Verhörtechniken ergeben. Diese zielen schließlich unter anderem darauf ab, den Beschuldigten durch geschicktes Fragen und Nachhaken gegebenenfalls so in die Ecke zu drängen, dass er keinen Sinn mehr darin sieht, den Tatvorwurf noch zu bestreiten oder die Kommunikation abzubrechen, sondern ihm vielmehr das Eingeständnis selbstbelastender Tatsachen die einzig sinnvoll verbleibende Option zu sein scheint. Damit seine kommunikative Autonomie gewahrt bleibt, muss der Beschuldigte deshalb die Möglichkeit haben, zuvor zu entscheiden, ob er sich auf ein solches Gespräch überhaupt einlässt. Er muss dazu auch „nein“ sagen können. Genau diese Entscheidungsfreiheit wird dem Beschuldigten indes genommen, wenn der Verdeckte Ermittler ihn über seine wahre Identität täuscht und dann unter Ausnutzung 17 Der EGMR führt als Begründung an, durch den Einsatz einer verdeckt operierenden Person werde hier die Aussagefreiheit des Beschuldigten effektiv unterlaufen; vgl. EGMR StV 2003, 257 (259). Jedoch setzt auch dieses Umgehungsargument implizit das zu Begründende bereits voraus, denn ein Unterlaufen des Schweigerechts liegt nur dann vor, wenn dieses die Freiheit des Beschuldigten nicht lediglich vor Zwang, sondern auch vor Täuschung schützen soll; so zutreffend Jäger (Fn. 1), S. 165; Weßlau, ZStW 110 (1998), 10 (11). 18 Vgl. dazu auch Pawlik, GA 1998, 385. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 165 Armin Engländer _____________________________________________________________________________________ seiner Vertrauensstellung einer vernehmungsgleichen Befragung unterzieht. Mit der entsprechenden Fragetechnik in Verbindung mit der erworbenen Vertrauensposition vermag der Verdeckte Ermittler den Beschuldigten hier grundsätzlich genauso effektiv in die Enge zu treiben wie eine Verhörperson in einer offenen Vernehmung. Anders als bei einem offiziellen Verhör weiß der Beschuldigte allerdings nicht, was auf ihn zukommt, und ist deshalb auch nicht in der Lage, sich der Einwirkung des Fragenden durch Berufung auf sein Schweigerecht rechtzeitig zu entziehen. Hat ihn der Verdeckte Ermittler mit seinen Fragen hingegen bereits gezielt in die Ecke gedrängt, wird es aus Sicht des so Befragten für einen einfachen Rückzug aus dieser Kommunikation häufig schon zu spät sein. Wenn aber einerseits das nemo-tenetur-Prinzip um der kommunikativen Autonomie des Beschuldigten willen auch die Freiheit schützt, sich einem mittels Verhörtechniken geführten Gespräch zu verweigern, und andererseits der Beschuldigte aufgrund der Heimlichkeit der Ermittlungsmaßnahme diese Freiheit nicht wirksam ausüben kann, dann muss es dem Verdeckten Ermittler verwehrt bleiben, den Beschuldigten einer vernehmungsgleichen Befragung zu unterziehen. Der nemo-tenetur-Grundsatz hindert damit zwar nicht ein einfaches Nachfragen nach dem Motto „mir kannst Du’s doch sagen“; eine solche Neugierde stellt ein alltägliches Phänomen dar, auf das der Tatverdächtige mit den üblichen kommunikativen Mitteln – also etwa den Worten „das geht Dich nichts an“ – zu reagieren vermag.19 Sehr wohl schließt das nemo-tenetur-Prinzip aber das systematische Verhören des Beschuldigten durch einen Verdeckten Ermittler aus, da hier die alltäglichen Kommunikationsroutinen nicht mehr greifen. 6. Auf der Grundlage dieser Begründung lässt sich auch eine weitere Frage beantworten. Der 3. Senat wie auch zuvor der EGMR haben explizit nur die Fallkonstellation entschieden, in der ein Beschuldigter gegenüber den Strafverfolgungsorganen seine Aussagefreiheit bereits geltend gemacht hat. Offen bleibt in den jeweiligen Urteilen hingegen, ob das Verbot einer vernehmungsgleichen Befragung auch dann bestehen soll, wenn der Beschuldigte sich den Ermittlungsbehörden gegenüber noch nicht auf sein Schweigerecht berufen hat. Nach den hier dargelegten Gründen für die Geltung des nemo-tenetur-Prinzips spielt dieser Unterschied keine Rolle. Für die heimlichkeitsbedingte Beeinträchtigung der Entscheidungsfreiheit, sich auf ein mit Verhörmethoden geführtes Gespräch einzulassen, ist es ohne Belang, ob der Beschuldigte den Ermittlungsbehörden schon signalisiert hat, von seinem Schweigerecht Gebrauch zu machen, oder nicht. Die Gefährdung seiner kommunikativen Autonomie bleibt dieselbe. Das Verbot vernehmungsgleicher Befragungen gilt deshalb auch dann, wenn der Beschuldigte sich bislang noch nicht auf seine Aussagefreiheit berufen hat.20 7. Keine Verletzung von nemo-tenetur soll, wie schon dargelegt, nach der differenzierenden Lösung des 3. Senats hingegen in den Fällen vorliegen, in denen der Beschuldigte 19 Insoweit zutreffend Ellbogen, Kriminalistik 2006, 547. Ebenso im Ergebnis Esser, JR 2004, 106; Gaede, StV 2003, 260; Roxin, NStZ 1997, 20. 20 vom Verdeckten Ermittler keiner vernehmungsgleichen Befragung unterzogen wird, sondern diesem die selbstbelastenden Informationen von sich aus preisgibt.21 Eine tragfähige Begründung dafür bleibt der 3. Senat allerdings wiederum schuldig. Soweit er anführt, die Täuschung berühre hier den nemo-tenetur-Grundsatz nicht in relevanter Weise, weil das Vorgehen von den gesetzlichen Vorschriften über den Einsatz des Verdeckten Ermittlers gedeckt sei, verkennt er, dass eine einfachgesetzliche strafprozessuale Vorschrift selbstverständlich nicht die Reichweite des auf Verfassungsebene angesiedelten nemo-tenetur-Prinzips22 bestimmen kann.23 Gleichwohl ist der Lösung des 3. Senats aber im Ergebnis zuzustimmen. Anders als im Falle der vernehmungsgleichen Befragung ist die kommunikative Autonomie des Beschuldigten hier nämlich nicht verletzt. Jener beschließt selbst, sich auf ein Gespräch einzulassen, dessen Verlauf er gleichberechtigt mitbestimmt. Die Verantwortung für die Konsequenzen, die sich aus seiner Entscheidung ergeben, liegt daher bei ihm. Entlässt jemand aus freien Stücken eine Information in die Öffentlichkeit, trägt er auch das Risiko, dass von dieser Information ein nicht-wunschgemäßer Gebrauch gemacht wird. Unstreitig kann sich deshalb ein Beschuldigter nicht auf den Schutz seiner kommunikativen Autonomie berufen, wenn er einer Privatperson, die er irrtümlich als vertrauenswürdig einschätzt, selbstbelastende Tatsachen mitteilt, und jene Person später über ebendiese Mitteilung als Zeuge aussagt. Dem entspricht strukturell aber die Situation, in der der Beschuldigte aufgrund einer persönlichen Fehleinschätzung die ihn belastende Information freiwillig dem Verdeckten Ermittler preisgibt. Irrtümer über Eigenschaften des Gesprächspartners wie dessen Vertrauenswürdigkeit fallen in den Verantwortungsbereich des Sprechenden. 8. Mit dieser differenzierenden Lösung kann auch der am häufigsten vorgebrachte Einwand gegen ein nicht rein zwangsbezogenes nemo-tenetur-Verständnis entkräftet werden. Er besagt, eine erweiterte Deutung des nemo-tenetur-Grundsatzes führe praktisch zu einer generellen Unzulässigkeit verdeckter Ermittlungen und damit zu einem Leerlaufen der §§ 110a ff. StPO.24 Abgesehen davon, dass sich, wie schon ausgeführt, aus dem Bestehen bestimmter einfachgesetzlicher Regelungen, keine Grenzen verfassungsrechtlicher Prinzipien ableiten lassen, bleiben nach der hier befürworteten Auffassung sehr wohl ausreichende Ermittlungsmöglichkeiten für Verdeckte Ermittler.25 So können sie ohne weiteres im Umfeld des Beschuldigten tätig werden, Zeugen verdeckt befragen, Objekte in Augenschein nehmen und ggf. zur Beweisführung sichern etc. Es ist ihnen auch durchaus gestattet, mit dem Beschuldigten Kontakt aufzunehmen und sich sein Ver21 So auch Fezer, NStZ 1996, 290; Renzikowski, JZ 1997, 717; a.A. wohl Bernsmann, StV 1997, 118. 22 Zur genauen verfassungsrechtlichen Verortung von nemotenetur vgl. Bosch (Fn. 2), S. 27 ff.; Böse, GA 2002, 98; Rogall (Fn. 1), Vor § 133 Rn. 132. 23 Zutreffend Fezer, NStZ 1996, 290; Jäger (Fn. 1), S. 173. 24 So etwa Ellbogen, Kriminalistik 2006, 547; Verrel (Fn. 2), S. 162 ff. 25 Vgl. dazu auch Eidam (Fn. 2), S. 106 ff. _____________________________________________________________________________________ ZIS 3/2008 166 Das nemo-tenetur-Prinzip als Schranke verdeckter Ermittlungen _____________________________________________________________________________________ trauen mit dem Ziel zu erwerben, er möge ihnen von sich aus selbstbelastende Informationen preisgeben. Sie dürfen ihn im Rahmen ihrer verdeckten Operation lediglich keiner vernehmungsgleichen Befragung unterziehen. Zugegebenermaßen stellt das eine Einschränkung heimlicher Vorgehensweisen dar, unterbindet verdeckte Ermittlungen jedoch keineswegs generell. 9. Zieht man ein Fazit, bringt die Entscheidung des 3. Senats in der Diskussion über die Reichweite von nemo tenetur einen erfreulichen Fortschritt. Das zu enge Verständnis aus dem Hörfallen-Beschluss des Großen Senats wird faktisch aufgegeben. Zutreffend bejaht der 3. Senat einen Verstoß gegen den nemo-tenetur-Grundsatz, wenn ein Verdeckter Ermittler den Beschuldigten beharrlich zu einer Aussage drängt und ihm in einer vernehmungsähnlichen Befragung Äußerungen zum Tatgeschehen entlockt. Allerdings muss das nicht nur dann gelten, wenn der Beschuldigte gegenüber den Strafverfolgungsbehörden von seinem Schweigerecht bereits Gebrauch gemacht hat, sondern auch dann, wenn er sich noch nicht auf die Aussagefreiheit berufen hat. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 167