Rembrandts Gemälde „Die Heimkehr des verlorenen Sohnes“ (1668

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Rembrandts Gemälde „Die Heimkehr des verlorenen Sohnes“ (1668
Rembrandts Gemälde „Die Heimkehr des verlorenen Sohnes“ (1668/69) –
eine Herausforderung für die Deutung
Harald Schweizer & Oskar Dangl*
1. Ausgangslage des Beitrags
Das im Titel genannte Bild aus dem Spätwerk Rembrandts „Die Heimkehr des verlorenen
Sohnes“ (1668/69) war während der Sommerakademie in Blaubeuren vom 26.-31. Juli 2014
(http://www.sommerakademie-blaubeuren.de/Archiv.html) Gegenstand einer analytischen
Betrachtung. Die dort gemachten Beobachtungen sind der Anlass für diesen Beitrag. Wie in
der exegetischen Vorgangsweise bei Texten üblich (vgl. z.B. Schweizer 1986, 40-42), sollte
auch bei einer Bildinterpretation die Beschreibung die Grundlage der Deutung darstellen dadurch vergewissert man sich dessen, was interpretiert werden soll, schafft zugleich die
Grundlage einer Verständigung mit anderen, die nun nämlich überprüfen können, ob via
Wahrnehmung die gleichen Ausgangsbedingungen für die Deutung gelten. Die zweistufige
Vorgangsweise ist in der wissenschaftlichen Kunstgeschichte indes nicht Gang und Gäbe - es
gibt aber herausragende einzelne Vertreter einer vorangestellten sorgfältigen
Bildbeschreibung, man denke an Max Imdahl und dessen präzise Analyse der ottonischen
Buchmalereien. In der populären Literatur ist die Zweiteilung - Analyse, Interpretation ansatzweise anzutreffen:
Eine Bildbeschreibung geht der Interpretation voraus, allerdings ohne dass sich die
Interpretation auf die Beschreibung bezieht und beruft - man fragt sich dann allerdings, wozu
der Aufwand zuvor gedient hatte. Die Interpretation verfährt in Hinsicht auf die besonders
strittigen Elemente des Bildes daher - wenig überraschend - dogmatisch-apodiktisch: „Der
Mann an der rechten Bildseite ist der älteste Sohn. Der Sitzende ist ein Verwalter, der die
Sünder und Zöllner der biblischen Geschichte vertritt“
(http://www.schulklausuren.de/kunst/rembrandt-der-verlorene-sohn).
Ähnlich prekär, was das Verhältnis von Beobachtung und Deutung anlangt, ist die Lage im
einschlägigen wikipedia-Artikel zu diesem Bild (vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Die_R
%C3%BCckkehr_des_verlorenen_Sohnes_%28Rembrandt%29 - Version vom Januar 2015):
Der Beitrag beginnt mit einer kurzen „Bildbeschreibung“: „Das Sujet des Gemäldes ist dem
Gleichnis vom verlorenen Sohn im Lukas-Evangelium entnommen. Es erzählt von dem
leichtsinnigen Sohn, der sein Vaterhaus verlassen und ein sündhaftes Leben geführt hat, und
nun nach schweren Prüfungen nach Hause wiederkehrt. Zurückhaltend, aber eindringlich
berichtet Rembrandt über das innere Erleben von Vater und Sohn. Der Jüngling kniet vor dem
Vater, seine Kleidung erinnert daran, dass der zurückgelegte Weg lang und schwer war. Seine
Figur, die dem Betrachter den Rücken zuwendet, lässt seinen verwirrten seelischen Zustand
ahnen. Der blinde Alte neigt sich zu dem Sohn herab und berührt mit einer zärtlichen
Bewegung seine Schulter. Gesicht und Hände des Vaters drücken Liebe, Güte und Verzeihen
aus. Er ließ dem Sohn seinen Ring des Hausherrn schenken und die festliche Tafel decken“.
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Einleitend wird zunächst also der Anlass des Bildes, sein Sujet, geschildert, noch nicht
das Bild selbst, etwa seine Malweise und Strukturierung.
In die einsetzende kurze Objektbeschreibung („Der Jüngling kniet vor dem Vater,
seine Kleidung erinnert daran, dass der zurückgelegte Weg lang und schwer war“),
werden bereits Wertungen eingebaut und Psychologisierungen vollzogen, die nicht
schlüssig sind („Seine Figur, die dem Betrachter den Rücken zuwendet, lässt seinen
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verwirrten seelischen Zustand ahnen“). All das sind inhaltliche Schilderungen der
Szene, jedoch keine Analyse von Malweise und Bildkomposition.
Manche Gesten werden nachvollziehbar gedeutet: „Gesicht und Hände des Vaters
drücken Liebe, Güte und Verzeihen aus“. Fraglich bleibt allerdings, woran man
erkennen kann, dass der Alte blind ist? Von einem Ring oder einer festlichen Tafel ist
im Bild Rembrandts nichts zu erkennen. Das dürfte aus der Interpretation des
Gleichnisses im Lukasevangelium (15,11-32) importiert worden sein. Was überprüfbar
zu sehen ist, interessiert anscheinend nicht.
Das gilt auch für weitere Ausführungen zum „Hintergrund“: „Die tragische Figur
dieses Gleichnisses ist die Figur des Bruders. Er fühlt sich vom Vater ungerecht
behandelt“. Das kann man allenfalls dem Text des biblischen Gleichnisses, aber nicht
dem Bild Rembrandts und seiner Malweise entnehmen.
So werden auch theologische bzw. ethische Unterscheidungen, die sich angeblich im
biblischen Gleichnis finden, auf das Gemälde Rembrandts bzw. die Intention des
Künstlers übertragen: „Die Frage der Gerechtigkeit steht in diesem Gleichnis im
Zentrum. Rembrandt macht deutlich, dass die irdische Gerechtigkeit sich von der
göttlichen unterscheidet." Aus dem Bild selbst wird diese ethische bzw. theologische
Unterscheidung nicht deutlich - wie auch sollte eine solche abstrakte Problematik
malerisch umgesetzt werden?
Der Autor bzw. die Autorin des wikipedia-Artikels trägt die eigene Ansicht dogmatisch
in die Bildinterpretation ein. Die Erläuterungen zum „Hintergrund“ des Kunstwerks
enden mit einem kurzen Hinweis auf Stil und Aufbau des Werkes: „Seine
schwungvolle zeichnerische Art und der warme Ton der Farben dienen dem inneren
Aufbau des Werkes“. - Das ist Ausdruck von Schwärmen, statt von Analyse.
Detaillierte Beobachtungen und Beschreibungen des Objekts Bild, die als Grundlage der
Deutung bzw. der Erläuterung der möglichen/wahrscheinlichen Wirkung des Werkes dienen
könnten, fehlen.
Zusammenfassend muss angesichts einer solchen „Bildbeschreibung“ festgestellt werden,
dass damit das künstlerische Objekt zu einem bloßen Anlass degradiert wird für die
dogmatische Übertragung von Meinungen und Interpretationen fremder Herkunft, stammten
sie aus einem biblischen Bezugstext („Hintergrund“) oder aus der Gedankenwelt des Autors
des Beitrags selbst. Bezweifelt werden muss, dass mit einem derartigen Konglomerat noch die
Intention Rembrandts getroffen werden kann. Oder es wird naiv unterstellt, was der Text
bietet, müsse eins-zu-eins auch für das Bild gelten.
Blickt man in die wissenschaftliche Fachliteratur, gilt auch dort, dass Beobachtung und
Beschreibung nicht als Grundlage der Deutung und Erschließung der Wirkung des Bildes
dienen. Die Diskussion konzentriert sich auf die schwierige Identifikation der im Bild
dargestellten Figuren. Einigkeit herrscht, auch auf Basis des eindeutigen Bildtitels, über die
beiden Figuren links, die ein Paar bilden: Die knieende, mit zerrissenen Kleidern dargestellte
Person gilt als der heimgekehrte Sohn, der vom alten Vater gnädig in Empfang genommen
wird. In Bezug auf die beiden Gestalten rechts im Bild herrscht hingegen Rätselraten. Allein
für den stehenden Bärtigen mit Stock, ebenfalls in einen roten Mantel gehüllt, werden die
unterschiedlichsten Vorschläge diskutiert: Es könnte sich um einen Gutsverwalter handeln
oder auch um den älteren Bruder des heimgekehrten Sohnes. - Beide Figuren werden auch als
Diener gesehen, die Kleider, Schmuck und Ring heranbrächten (vgl. Busch 1970, 180). Diese
Versuche der Identifikation berufen sich nicht auf Beobachtungen und Beschreibungen zum
Bild selbst, sondern können höchstens als Übertragung aus dem biblischen Text (oder aus
anderen externen Quellen) herangezogen werden.
So wird anstelle von kontrollierbaren Beobachtungen und Beschreibungen auch versucht, eine
Lösung des Deutungsproblems zu finden, indem man auf eine Vorlage für dieses Bild von
einem anderen Künstler zu einem völlig anderen Thema zurückgreift (vgl. Busch 1970,
180f.). Die Lösung lautet dann: Der Bärtige mit dem Stock rechts im Bild „verkörpert eine
weitere Vaterfigur“ (Busch 1970, 181). Verwiesen werde damit auf eine zweite
Bedeutungsebene, „in der der Bärtige die Vaterstelle beim Verlorenen Sohn vertritt und auf
die überirdische Aufnahme des Verlorenen Sohnes in die Gnade des Vaters schaut“ (Busch
1970, 182).
Überblickt man sowohl die populäre wie die wissenschaftliche Literatur, zeichnet sich
folgende methodische Ausrichtung samt ihrer Mängel ab:
Anstatt auf Beobachtung und Beschreibung als Grundlage von Deutung und
Explikation der Wirkung des Kunstwerkes zu setzen, werden meist Übertragungen aus
dem biblischen Text, aus anderen Kunstwerken oder aus der eigenen Meinung als
Grundlage der Deutung herangezogen. Die mit den Bemühungen um eine
Identifizierung der im Bild auftretenden Figuren verbundenen Aporien dürften genau
darin ihre Ursache haben, dass man vergeblich versucht, die im biblischen Text
genannten Personen auch im Bild wiederzufinden. Bild und Text müssen aber
keineswegs sich unmittelbar entsprechen.
Identifizierungsbemühungen - wer im Bild stellt welche Figur dar (die man z.B. aus dem
zugrundeliegenden Text kennt, - bisweilen aber auch nicht)? - mögen als ein Element der
deutenden Auseinandersetzung mit dem Kunstwerk vertretbar sein, zeigen aber primär an,
dass sich der Betrachter noch nicht auf das Bild in seiner Gesamtheit eingelassen hat. Er
zerlegt das Bild in seine Bestandteile und bezieht die Kohärenz aus dem zugrundeliegenden
Text. Stattdessen geht es darum, alle dargestellten Figuren in ihrem Zueinander im Bild zu
charakterisieren. Die beiden Medien - Text, Bild - mögen vom Anlass her aufeinander bezogen
sein. Aber als Medien sind sie verschieden, haben nicht nur ihre Eigengesetzlichkeiten und
Chancen; sondern der malende Künstler ist nicht nur ein mechanisch operierender Übertrager
der biblischen Vorlage in das andere Medium, vielmehr ein eigenständig und kreativ
deutendes und gestaltendes Subjekt. Er muss es sich erlauben, in seinem Medium, somit in
seiner Sprache, das Textverständnis auszudrücken, wie er es für richtig hält.
Zudem sollte kunstwissenschaftlich nicht mit einem naiven Textverständnis gearbeitet werden:
Ein solches läge vor, wenn die 'Abbildfunktion' im Vordergrund stünde - ein Text stellt eine
Szenerie dar. Stattdessen kann man viele neutestamentliche Gleichnisse als Kunstwerke im
Kleinen betrachten: Im Wortsinn skizzieren sie eine Szenerie. Durch Anschaulichkeit,
Auslassungen, Pointen, Dialogführungen usw. evozieren sie im Hintergrund eine übertragene
Bedeutung - durchaus nicht immer eindeutig, sondern die Gemüter über lange Zeit
beschäftigend, ein geistiges Ringen auslösend.
Aus genauer Bildanalyse erst resultiert, wie der Künstler - (1) - dieses Zueinander der
Einzelakteure gesehen haben will. Dafür ist es unerheblich, ob mir als Betrachter in jedem
Einzelfall ein Abgleich mit externem Wissen möglich ist, ich also sagen kann: diese gemalte
Figur stellt X dar, jene jedoch Y. Allein wichtig bleibt: Durch welche malerischen Mittel
gestaltet der Künstler das Zueinander der Figuren. - Viel wichtiger - (2) - ist: Der Künstler
gibt über sein Bild sein momentanes Gesamtverständnis der biblischen Vorlage kund. Darin
bekommen auch die Akteure ihren Platz. Primär wichtig aber ist, dass das, was soeben
übertragene Bedeutung genannt worden war, durch das Bild insgesamt angeboten wird - ein
Verständnis, das den Erkenntnisstand des Malers wiedergibt. Ein Jahr später - das ist häufig so
bei Gleichnissen - hätte er die Akzente womöglich anders gesetzt (aber vielleicht die
identifizierbaren Akteure beibehalten).
Angesichts der beobachteten methodischen Mängel und ihrer hermeneutischen Folgen in der
Literatur soll nun der Versuch unternommen werden, zunächst eine genaue Beschreibung des
Bildes selbst zu erstellen. Leser des Aufsatzes = Bildbetrachter können (Reproduktion z.B. bei
wikipedia) vor einer ausgeführten Interpretation prüfen, ob sie mit eigenen Augen die
gleichen Bildstrukturen erkennen wie die Autoren des Aufsatzes. Für dessen
Überzeugungskraft ist es unabdingbar, dass weitgehender Konsens bei der Wahrnehmung des
Bildes festgestellt werden kann (Verfeinerungen sind immer möglich). Erst dann besteht die
Chance, auch bei der Interpretation, also beim zweiten Schritt, zu einer Verständigung zu
kommen.
2. Beobachtungen und Beschreibung
Im Bild sind sechs Personen in unterschiedlicher Intensität dargestellt. Hervorgehoben werden
die beiden Figuren im linken Vordergrund des Bildes: Ein alter Mann schließt einen jüngeren,
in zerschlissene Kleidung gehüllten Mann in seine Arme. Die globale Abgrenzung und damit
Hervorhebung des Paares innerhalb des Bildes wird durch künstlerische Mittel erzielt, die die
Gesamtkomposition prägen. Von der Verteilung der Lichtintensität her betrachtet, bekommt
die Frau links hinten am wenigsten Licht ab. Sie tritt also in den dunklen Hintergrund des
Bildes, ohne deshalb unsichtbar zu werden - immerhin ist sie Bestandteil des Bildes. Für die
Gesamtstruktur erfüllt die Frau links hinten eine wichtige Funktion: Von ihr aus verläuft über
die Person im Zentrum bis hin zur rechts sitzenden Figur mit schwarzem Barett eine
absteigende, leicht gekrümmte Linie. Diese die drei Personen im Hintergrund verbindende
Linie verlängert sich über die auf den Knauf seines Stockes gelegten Hände des rechts
stehenden Mannes im roten Mantel, ohne ihn selbst einzuschließen. Er ragt in seiner starr
aufrechten Haltung weit nach oben hinaus. Sein Stock führt aber die Linie abwärts in
Richtung Boden weiter. Durch die Linie werden nicht nur die Figuren miteinander verbunden,
die dem Paar im linken Vordergrund betrachtend gegenüberstehen. Sie fungiert vor allem als
Raumteiler, der eine Zweiteilung des Bildes bewirkt und so das Paar im linken Vordergrund
noch mehr hervortreten lässt. Es handelt sich eindeutig um die Hauptszene des gesamten
Bildes - man muss dies vom biblischen Text her nicht schon wissen, sondern die künstlerische
Gestaltung sorgt autonom für die beschriebene Gewichtung.
Weitere Beobachtungen unterstreichen den Sonderstatus der beiden Personen:
 Sie sind die einzigen im Bild, die durch gegenseitige Berührung angezeigt ein Paar
bilden.
 Die anderen Vier werden als Einzelfiguren dargestellt, die alle auf das Paar im linken
Vordergrund blicken. Die Blickrichtung der anderen Personen hebt also das Paar links
vorne im Bild auch noch einmal als eigene Gruppe hervor.
 Das wird durch die räumliche Gestaltung des Bildes unterstrichen: Die beiden
Personen im linken Vordergrund sind auf einer Art Sockel postiert, der über zwei nicht
besonders hohe Stufen erreichbar ist. Die Stufen sind vor allem rechts des Paares
deutlich sichtbar. Dadurch wird das Paar räumlich klar vom Rest des Bildes und den in
Betrachtung des Paares verharrenden anderen Personen abgegrenzt.
 Schließlich erzielt die Verteilung des Lichts dieselbe Wirkung: Das Paar links vorne ist
zur Gänze in helles Licht getaucht und hebt sich damit vor dem dunkler wirkenden
Hintergrund des restlichen Bildes ab, in dem die anderen Personen angesiedelt sind,
selbst wieder in unterschiedlich intensives Licht getaucht.
Angesichts des Bildtitels „Die Heimkehr des verlorenen Sohnes“ drängt sich auf, in dem Paar,
dem mit künstlerischen Mitteln ein Sonderstatus in der Gesamtkomposition zuerkannt wird,
den Vater und seinen heimgekehrten jüngeren Sohn zu erkennen.
Konzentriert man sich auf die Hauptszene des Bildes, fällt auf, dass die Figur des jüngeren
Sohnes besonders hervorgehoben ist, seiner ausdrücklichen Erwähnung im Titel des Bildes
entsprechend. Die Kleidung wird auffällig - im Kontrast zu der aller anderen - sorgsam
gemalt. Auch wenn sie armselig ist, so tritt die Kleidung detailliert vor Augen - bis dazu, dass
ein Schuh abgefallen ist. Der heimgekehrte Sohn ist zur Gänze in warmes Licht getaucht.
Durch die dunklere Tönung hebt sich der an der rechten Hüfte getragene Gegenstand deutlich
ab. Es dürfte sich um eine Waffe handeln, ein Kurzschwert in der Scheide oder ein Messer im
Schaft. - Gemessen an der genauen Darstellung des heimgekehrten Sohnes bleibt die äußere
Erscheinung aller anderen, auch des Vaters, undeutlich, verwaschen. Am ehesten 'Profil' - und
sei es bei der Struktur der Kleidung - weist der jüngere Sohn auf. Im Bild sind dessen Füße
am weitesten "unten". Sie sind stark betont - bei allen anderen verschwimmen sie oder sind
nicht zu sehen - meinen wohl 'Bodenhaftung', erdverbunden, gesättigt durch Erfahrungen.
Das lässt vermuten, dass im Sinne Rembrandts es der jüngere Sohn ist, der mit seinen
hervorstechenden Attributen, die ihn von den anderen unterscheiden, erst Bewegung in die
Szenerie bringt. 'Erfolg' hat er aktuell nur beim Vater. Körpersprachlich kommt zum
Ausdruck, dass der nicht nur gafft (wie die vier anderen), und dass er die harte Senkrechte
verlassen konnte, im Gegensatz zum reglos starr dastehenden Mann am Stock und zum
verschlossen sitzenden Mann mit schwarzem Barett rechts im Bild. Anstelle eines statischen
Verständnisses bringt der Maler eine Veränderung zum Ausdruck - der bislang allerdings nur
der Vater zu folgen bereit und in der Lage war. Doppelt wird die neue Dynamik malerisch
umgesetzt:
 Vater und jüngerer Sohn sind einander zugewandt - wogegen die anderen 4 Figuren
isoliert und aus der Distanz gaffen. Nur hier entsteht im Bild eine Gruppe im
Gegensatz zur Ansammlung von Einzelnen.
 Auch gestisch dominiert nicht die harte Senkrechte, sondern die gekrümmte Linie
(z.B. der Rücken des Vaters), damit Weichheit, Anpassungsfähigkeit ausdrückend.
Die zuvor schon registrierte gekrümmte Linie mit anschließender Stock-Senkrechten lädt ein,
sie - über das Bild hinaus - weiterzuverfolgen. Ob gedanklich zum Kreis vervollständigt oder
nicht, jedenfalls entwickelt diese, den Bildraum unterteilende Linie eine Dynamik, noch mehr
einzubeziehen, als vom Maler im Bild dargestellt. Der Bildbetrachter soll sich also
einbezogen fühlen. Man kann darin einen Appellcharakter erkennen: Das Verhältnis, wie es an
Vater und jüngerem Sohn erkannt werden kann, soll Nachahmer finden. - Dagegen schließt
alles, was rechts bzw. oberhalb der Linie liegt, unterstützt durch die Senkrechte des Stockes,
die gesamte 'aufrechte' Haltung der rechten, am Stock stehenden Figur, nichts weiter ein, ist
sich selbst genug, wirkt hart, statisch, monolithisch, unerbittlich.
Auf dieser gekrümmten Linie sind drei Figuren platziert, die - malerisch - doppelt
charakterisiert sind:
 Die Dreierreihe gewinnt zunehmend an Konkretion und Plastizität. Die Frau im
Hintergrund ist allenfalls zu erahnen, wogegen der sitzende Mann mit schwarzem
Barett ausgearbeitete Gesichtszüge, Schnurrbart und im Oberkörperbereich
strukturierte Kleidung erkennen lässt.
 Zudem trägt er als Einziger die farblich hervorstechende Kopfbedeckung: ein
schwarzes Barett. Der kontrastierende Farbakzent nahe der Bildmitte ist eigens zu
beachten, denn im Gesamtbild handelt es sich um die einzige derartige schwarze
Fläche.
Die Klimax jedenfalls, die die Figur dadurch selbst betont, bewirkt außer der Hervorhebung
zugleich eine doppelt unterstrichene Abgrenzung: Farblich, in unmittelbarer Nähe, wird
dadurch der am Stock stehende Mann im roten Umhang ins Abseits gestellt. Und da die
sitzende Figur sowohl auf jener Linie platziert ist, wie auch zur Hauptszene blickt, wird mit
dem schwarzen Barett ein Schlusspunkt jener Linie gesetzt: Sie führt nicht weiter, um dann
womöglich auch den stehenden Mann rechts zu erfassen, sondern sie wird 'abgeleitet' durch
dessen Stock, in die Senkrechte: Der stehende Mann bleibt ausgeschlossen bzw. dessen
Abwehrhaltung wird damit unterstrichen. Die Relation von (2:1) : 1 bei den Figuren
außerhalb der Hauptszene wird auch dadurch etabliert. Von den Vieren, die auf die Szene
schauen, dürften die ersten drei positiv interessiert sein, vielleicht sind sie auch noch
unentschlossen, aber immerhin innerlich erreichbar - bei ihnen kann der Appell
möglicherweise fruchten. Dagegen wirkt der stehende Mann rechts blockiert (Senkrechte,
mehrfach) - und wurde durch die Bildanlage vom Maler ja auch ausgeschlossen. Er erscheint
verhärtet, bei ihm wird nichts fruchten. Zwar ist sein Gesicht auch in mildes, relativ helles
Licht getaucht, das sich allerdings nicht mit der Lichtintensität messen kann, die auf der
Hauptszene ruht. Das vergleichbar betonte Gesicht des am Stock stehenden Mannes rechts
kann in punkto Helligkeit mit der Vater-Sohn-Szene nicht konkurrieren.
Aufgrund ihrer pointierten Positionierung verdient die stehende Figur rechts besondere
Aufmerksamkeit. Zu achten ist vor allem auf das Verhältnis zur Person des Vaters. Vergleicht
man die beiden Personen, fallen folgende Ähnlichkeiten auf:
 Der stehende Mann rechts trägt so wie der alte Vater, der den knieenden Sohn
begrüßend in seine Arme schließt, einen langen roten Mantel.
 Form und Farbe des Gewandes, das der bärtige Mann unter dem roten Mantel trägt,
ähneln dem Gewand, das der alte Vater unter seinem roten Mantel trägt.
 Obwohl die Gesichter der beiden um 90 Grad gedreht gezeigt werden, kann man
sehen, dass sie sich ähneln. Die Physiognomie der beiden Gesichter, insbesondere die
Form der Nase, zeigt starke Ähnlichkeiten. Beide Personen sind einander „aus dem
Gesicht geschnitten“. Dem Künstler ist es wichtig, das Gesicht der rechten Figur zu
betonen, weil er es auch in helles, warmes Licht taucht, sodass die Physiognomie gut
erkennbar und mit der des Vaters vergleichbar wird.
 Die Form des Bartes ist dieselbe. Seine Farbe hat sich ins Graue verschoben, was die
Altersdifferenz berücksichtigt.
 Die Form der Hände stimmt überein, soweit man das am Bild erkennen kann, weil die
Figur rechts ihre Hände gefaltet auf den Stock stützt, sodass sie nicht so klar erkennbar
sind wie die Hände des Vaters.
Insgesamt gesehen weist also die rechte Figur große Ähnlichkeiten mit dem Vater links im
Bild auf, auch wenn Unterschiede bleiben oder manche Details nicht beobachtbar sind. So
sieht man etwa die Schuhe des Vaters nicht, weil sie vom knieenden Sohn perspektivisch
verdeckt werden. Der Vater trägt keine Kopfbedeckung wie der stehende Bärtige rechts. Auch
fehlt ihm ein Stock - schließlich nimmt er den verloren geglaubten Sohn in seine Arme.
Die Ähnlichkeiten lassen auf ein verwandtschaftliches Verhältnis schließen. Während der
Vater aber seine Haltung geändert hat und den heimgekehrten Sohn mit offenen Armen
begrüßt, hält der ältere Bruder an seiner ablehnenden, starren Haltung fest. Das könnte
bildnerisch heißen, dass der ältere nicht nur eine Einzelfigur repräsentiert, sondern - wegen
der Ähnlichkeiten - eine zweite, inzwischen überwundene Facette in der seelischen Struktur
des Vaters. Wegen dieser hatte der jüngere Sohn Reißaus genommen - und dadurch eine
Veränderung des Vaters ausgelöst, bildnerisch festgehalten links im Vordergrund.
3. Diskussion
"Innerfamiliärer Kampf unter Brüdern - um Vorrang, um Gunst von Seiten des Vaters -,
Entzweiung, Ratlosigkeit der Eltern, Ablösung 'unter Kosten', bei Rückkehr des 'Verlorenen'
eine grundsätzliche Veränderung der Beziehung aller zueinander anstelle einer bloßen
Wiederherstellung der früheren Verhältnisse" - dieses Konflikt- und Verhaltensmodell ist
sicher so alt wie die Menschheit selbst.
Innerbiblisch gibt es dafür u.a. einen berühmten Vorläufertext, die Josefsgeschichte (Gen 3750), Vgl. http://www-ct.informatik.uni-tuebingen.de/daten/jguebers.pdf - nur mit dem
Unterschied, dass dort (in der freigelegten Originalversion) den entscheidenden Fehler Vater
Israel begangen hatte (Bevorzugung des damals noch jüngsten Sohnes Josef), wodurch erst der
Zorn der älteren angefacht und durch diese Josef letztlich gemobbt wurde - nach Ägypten
verkauft. Entsprechend variiert kommt es dann zur Versöhnung. - Aber in Grundzügen kann
man das gleiche Konflikt- und Verhaltensmodell wiedererkennen.
Verhältnis Text - Bild: Es passt zu diesem Allgemeinwissen, zur immer wieder
durchzustehenden Erfahrung, wenn Rembrandt weit ausholt: Die beobachtete gekrümmte
Linie bezieht via gedanklicher Verlängerung auch die Bildbetrachter ein. Und wie zu
vermuten ist (s.u.): Rembrandt selbst - "Mann mit dem Barett" - gesellt sich dazu. Auch
malerisch wird damit gesagt: Was das Gleichnis anspricht, ist eine allgemeine Erfahrung.
Manche sind dann jeweils direkt betroffen, andere können sich auf das Gaffen beschränken
bzw. vgl. rechte Figur - obwohl eigentlich einbezogen in den Prozess - halten sich krampfhaft
fern. Der Künstler unterstreicht mit seinen Mitteln - malerisch und durch Bildkomposition -,
was wir aus der eigenen Lebenserfahrung kennen, eben jenes Konflikt- und Verhaltensmodell.
Das ist dann schon eine erste Ausdeutung des Gleichnisses. Der Text - typisch für jene
Gattung - hatte das zu Erzählende sprachlich auf Distanz gehalten, hatte so getan, als sei
irgendwo und irgendwann einmal in einer Familie ein derartiger Zwist vorgekommen.
Unbestimmt hinsichtlich Zeit / Ort / Identifizierung der Personen. Der erste literarische
Eindruck: Die Episode ist so abgelegen, fern von meiner Lebenswirklichkeit, dass ich als
Leser sie nicht zu beachten brauche. Literarisch aber liegt darin ein Kniff, ein Wink: Auch
textlich ist damit der Weg bereitet, nicht nach einem lokalisierbaren, längst vergangenen
Einzelereignis zu suchen, sondern das Erzählte zu verallgemeinern. Anhand nur scheinbar
individueller Akteure werden diese als Elemente eines abstrakten Modells benutzt und
benötigt. Als identifizierbare Einzelfiguren interessieren sie nicht. Damit entfällt für
Leser/Hörer die Möglichkeit, das Wahrgenommene wegzuschieben, von sich fernzuhalten. Sie
müssen damit rechnen, sich in diesem Handlungsmuster selbst wiederzuentdecken - in
welcher Rolle, die vom Handlungsmuster angeboten wird, auch immer.
Dem Maler ist zuzugestehen, dass er diesen Effekt der Gattung "Gleichnis" adäquat ins Bild
übertragen hat. Er stellt nicht nur eine Einzelszene dar, sondern integriert zugleich
Anweisungen, die ausgreifen, die - auch außerhalb des Bildes - weitere Figuren einbeziehen.
Von dem, was zu schildern ist, sind auch sie betroffen.
Eine andere Beobachtung: Im Gleichnis tragen die Hauptfiguren keine Eigennamen, sondern
werden mit Beziehungsbegriffen erwähnt: Vater, Sohn, Bruder - je schließt die Bedeutung eine
spezifische Beziehung zweier Akteure ein: Vater ist man nur durch genealogische und
emotionale Beziehung zu einem Anderen etc. - Über Attribute und die Schilderung des
Verhaltens der Akteure erhalten diese Figuren zwar ein eigenes Profil. Sie werden dadurch
aber nicht identifizierbar wie durch einen unverwechselbaren, zugleich isolierenden
Eigennamen. Somit liegt auch in den genannten Familienrollen anstelle von
Individuenbezeichnungen ein sprachliches Mittel, das Gesagte zu verallgemeinern, auf das
Typische, das immer der Fall sein kann, zu verweisen.
Der Maler greift auch diesen Aspekt auf:
 Die Beziehung zwischen Vater und jüngerem Sohn kommt gestisch-körpersprachlich
am dichtesten zum Ausdruck.
 Vater und älterer Sohn sind durch ähnliche Physiognomie und gleichen Umhang als
zusammengehörig gezeichnet.
 Zwischen älterem und jüngerem Bruder trennt im Bild die räumliche Distanz und
zusätzlich der senkrechte Stock (in etwa auf gleicher Höhe mit dem jüngeren Bruder):
Gestischer Kontakt oder Dialog sind unter diesen Bedingungen unmöglich. Das ist
auch eine Art Beziehung, wenn auch eine explizit negative. Es wäre falsch, nur von
einer Nicht-Beziehung zu sprechen.
Wieder ist es so, dass ein semantisches Konzept, nämlich "Beziehung", in beiden
Ausdrucksformen angesprochen ist. Die Vorwürfe, die der ältere Sohn im Gleichnistext dem
Vater macht, bringen beides zum Ausdruck: Zum Vater besteht durchaus noch eine
Gesprächsbeziehung. Das Verhältnis zum jüngeren Bruder ist jedoch weiterhin zerstört und
voller Neid und Bitterkeit. - Diesen Stand hält das Bild fest. Den Schlussimpuls des Vaters an
den älteren Sohn, er sei ja nicht zu kurz gekommen, ihm habe alles bislang zur Verfügung
gestanden, bleibt im Text ohne Reaktion. Es ist den Lesern/Hörern überlassen, Vermutungen
anzustellen, ob der Hinweis des Vaters möglicherweise gefruchtet hat. Das Bild kann den
Gedankenanstoß des Textes nicht auch noch einfangen - es sei denn, man sehe in der doppelt
betonten Senkrechten (Stock und Körperhaltung) bereits eine Antwort: Der ältere Sohn war
nicht zu überzeugen. Die rigide Zeichnung des Älteren lässt gar die Frage entstehen, ob es
nun an ihm ist, das Haus zu verlassen und in die Ferne zu ziehen?!
Umgekehrt kann das Bild etwas ausdrücken, das man so im Text nicht findet, was aber der bei
Texten üblichen Differenz von ‚wörtlicher‘ und ‚gemeinter‘ oder ‚metaphorischer‘ Bedeutung
entspricht: Die rechts im Bild stehende Figur stellt auf einer ersten, ‚wörtlichen‘ Ebene den
älteren Bruder dar. Diese Figur zeigt in ihrer Darstellung gleichzeitig Übereinstimmungen mit
dem Vater - Physiognomie, roter Mantel. Das bedeutet: wie der Vater so der Sohn. Diese
Person kann auf einer zweiten, ‚metaphorischen‘ Ebene einen Aspekt des Vaters
repräsentieren, sich also prinzipiell auch so verhalten wie der Vater, wofür das Gleichnis auch
wirbt. Dass es sich in „einer zweiten Bedeutungsschicht“ um „eine weitere Vaterfigur“
handeln könnte, ist in der kunsthistorischen Forschungsliteratur als Deutung anzutreffen (vgl.
Busch 1970, 181f.), allerdings dort mit Verweis auf die Dimension der Transzendenz.
Auch wenn es allzu salopp klingen mag: "Transzendenz" in dieser Absolutheit, dann gern
theologisch verstanden, wird im Bild nicht sichtbar. In diesem Verständnis kann und muss man
darauf verzichten. Jedoch als beschreibbare Relation, Brücke, zwischen zwei dargestellten
Figuren, ist sie akzeptabel. Man sollte bei solch hochabstrakten Begriffen darauf achten,
keine Missverständnisse zu provozieren.
Sitzender mit Barett: Er ist näher an der Hauptszene positioniert, blickt ebenfalls auf sie, und
wegen des Sitzens wirkt die Figur weniger entschlossen, eher nachdenklich. Die Nähe zum
älteren Bruder ist aber betont. Die Figur - ob nun Rembrandt selbst darstellend oder nicht zeigt keine Anzeichen des Sich-Mitfreuens - wozu der Vater im Text auffordert. So weit ist der
Sitzende innerlich noch nicht. Er repräsentiert eher Fassungslosigkeit angesichts des Erlebten,
etwa die erstaunte Folgerung: So wie der Vater kann man also auch reagieren! Bislang schien
der nun Sitzende emotional auf Seiten des älteren Bruders zu stehen. Verkörpert durch diese
Figur nah am Bildzentrum und hinter der Hauptopposition im Vordergrund ist damit das
Wissen integriert, welche Alternative, welche Ungeheuerlichkeit der Gleichnistext propagiert.
Bevor man zu Freude/Fest bereit ist, muss erst einmal verarbeitet werden, was es im Vorfeld
an Verletzungen und Enttäuschungen gegeben hatte - aber nicht nur bei der Restfamilie! Der
jüngere Sohn war zwischenzeitlich immerhin bei den Schweinen gelandet, hätte gerne mit
ihnen das Futter geteilt - eine unter Schmerzen erkaufte Umkehr! Jüngerer Sohn und
Sitzender können sich zwar nicht in die Augen schauen, aber beide sind nahezu auf gleicher
Augenhöhe. Das könnte heißen, dass der Sitzende viel besser verstehen kann als etwa der
ältere Sohn, was diese offene Aufnahme durch den Vater für den Jüngeren bedeutet.
Etwa mit solchen Strukturbeobachtungen sind die in der Literatur so beliebten Fragen nach
der Identifikation der Hauptpersonen weit überstiegen. Solche Fragen sind überflüssig einerseits sind die Hauptrollen vom biblischen Text her verteilt, andererseits hängt von einer
gelungenen Identifizierung der weiteren Akteure nichts ab. Das Zueinander der Akteure ist auf
jeden Fall beschreibbar. Erst damit gewinnt man den Blick für die Bildaussage im Gesamten.
Atomisierende Identifikationsbemühungen bleiben weit davor stecken.
Die Exegese begegnet Kunstwerken aller Art mit Zurückhaltung und verborgener Kritik. Mit
ausdrücklichem Verweis auf Rembrandt kann es da heißen, die darstellende Kunst „vermag
selbst dann, wenn sie dem biblischen Text nur zum Teil gerecht wird, den Blick für dessen
Tiefe zu schärfen“ (Kremer 1988, 160). - Kunstwerke sind dem biblischen Text gegenüber
eigenständig und brauchen sich daher ihm gegenüber bzw. gegenüber seinen Auslegungen
nicht zu rechtfertigen. Und derart allgemeine Feststellungen sind nie falsch, mögen eine
gewisse Ergriffenheit erzeugen, liefern aber keine Analyse, die ein aufmerksameres
Eindringen in das Bild ermöglicht bzw. das Verhältnis von Bild und Text besser erfassen
lässt.
Betrachtet man indes das aktuell interessierende Bild eingehend, kann man feststellen, dass es
dem biblischen Text nicht nur auf semantischer, sondern auch auf pragmatischer Ebene
gerecht zu werden vermag. Es zeigt nicht nur einen Inhalt, sondern vermittelt auch über seine
künstlerische Dynamik einen starken Impuls, es dem Sitzenden in der Mitte gleichzutun,
nämlich nachzudenken über die alternative Verhaltensweise, die im Gleichnisvordergrund
vom Vater berichtet wird. Nicht-harmonisierend wird zugleich präsentiert, wie die
Standardhaltung, die des älteren Bruders, aussieht. Man mag sie 'prinzipientreu', 'strengablehnend', 'rechtlich korrekt', 'beleidigt' u. ä. bezeichnen. Aber der Sitzende verarbeitet
gerade, dass es auch noch andere Werte und Verhaltensweisen gibt: 'versöhnte Gemeinschaft',
'Liebe', 'Vergebung'.
Rembrandt hat sich mit dem Thema „Der verlorene Sohn“ mehrfach auseinandergesetzt, nicht
erst in seinem Spätwerk aus 1668/69. Aus dem Jahr 1636 stammt eine Radierung mit dem
Titel „Heimkehr des verlorenen Sohnes“ (vgl. Günther 1976, 86). Bereits 1635 entstand das
Bild „Der verlorene Sohn verprasst in der Fremde sein Erbe“. Es handelt sich um ein
autobiographisches Bild, das ein Doppelporträt von Rembrandt und seiner Frau Saskia zeigt.
Sie brachte eine beträchtliche Mitgift in die Ehe ein. Verwandte seiner Frau warfen
Rembrandt in weiterer Folge vor, das Erbe seiner Frau zu verschwenden. Es kam zum
Prozess. Die Anschuldigungen konnten aber nicht bewiesen werden. Der Künstler verdiente
nämlich selbst zu dieser Zeit nach eigenen Angaben außerordentlich gut (vgl. Günther 1976,
30). Die Auseinandersetzung mit dem biblischen Motiv könnte also durch seine familiäre und
persönliche Situation induziert worden sein. In der Spätzeit, nach dem Tod seiner Frau Saskia,
verarmte der Künstler offenbar. 1657 wurde auf seinen eigenen Antrag hin seine bewegliche
Habe versteigert, im Jahr darauf sogar sein Haus. Deshalb verlor er die Lizenz für sein
Geschäft, das seine Freundin und Haushälterin sowie sein minderjähriger Sohn offiziell
weiterführten. Rembrandt war bis zu seinem Tod nur noch Angestellter in diesem Betrieb
(vgl. dazu: Günther 1976, 93).
Einige Details aus dem frühen Werk „Der verlorene Sohn verprasst in der Fremde sein Erbe“
(1635) kehren im Spätwerk von 1668/69 wieder: Der prasserische Mann wird dort (1635)
dargestellt mit schwarzem Hut, rotem Kleid, langem Schwert, Schnurrbart und langen Haaren.
Einige Aspekte sind im späten Werk (1668/69) enthalten, und zwar in der rechts sitzenden
Figur mit schwarzem Barett:
Zu seinen Attributen zählen Schnurrbart, lange Haare und schwarzer Hut. Nicht erkennbar
wegen der Perspektive ist das Schwert. Der rote Mantel bleibt dem Vater (und dem älteren
Bruder) vorbehalten. Ob man im Vergleich der beiden Bilder trotz dieser Differenzen aufgrund
der übereinstimmenden Elemente in bildtheoretischer Terminologie dennoch von einem
„interpikturalen Wiedererkennen“ (vgl. Pichler & Uhl 2014, 66) sprechen kann, muss hier
aufgrund der Konzentration auf das Bild aus 1668/69 dahingestellt bleiben. Sollte es so sein,
würde das bedeuten, dass der Künstler sich auch ins Bild bringt als Betrachter der Szene vom
Empfang des heimgekehrten Sohnes durch seinen Vater.
Unbeschadet dieser ins Gesamtwerk Rembrandts ausgreifenden Frage kann in Bezug auf die
methodische Anlage dieses Beitrags resümiert werden: Eine an saubere exegetische Methoden
(vgl.: http://www.alternativ-grammatik.de/index.php?title=Hauptseite) angelehnte Bildanalyse
kann auch im Bereich der Bilder zu plausiblen Ergebnissen auf mehreren Ebenen führen,
analog zu Textinterpretationen.
Andererseits kann man die These erläutern, dass Theologie - darin die Exegese - aus
inhärenten Gründen unfähig und unwillig ist, künstlerische Gesamtwerke - seien es Texte,
seien es Bilder - angemessen wahrzunehmen, zu analysieren und zur Geltung kommen zu
lassen.
Nachweise finden sich im o.g. link zur Josefsgeschichte reichlich - seit der Antike ist jene
Erzählung verdrängt, zugemüllt und aus Gottesdiensten verdrängt worden - und die zuständige
Exegese meinte seit 150 Jahren, zu keiner befriedigenden Lösung kommen zu können stattdessen folgte Hypothese auf Hypothese. Lesewillige bekamen aber nie einen narrativ
überzeugenden, von nachträglichen Überarbeitungen befreiten Text angeboten. In jenem
Manuskript wird gezeigt, dass sehr wohl der alte kunstvolle Text auch heute noch zu Gehör
gebracht werden kann und fasziniert.
Den Hintergrund des forschungsgeschichtlichen Desasters bilden etwa folgende Merkmale:
 Theologen haben kein Beschreibungssystem entwickelt - im Verbund mit anderen
Philologien -, mit dem kunstvolle Texte als Ganzheiten differenziert beschrieben
werden können. Analog gilt dies für Bilder.
 Von "Hermeneutik" wird zwar viel gesprochen - aber nicht so, dass auf
nachvollziehbare Weise Text- bzw. Bildanalyse profitieren könnten.
 Eine breitflächige und konsequente Unterscheidung von Wortbedeutung und
gemeinter Bedeutung unterbleibt. Favorisiert wird meist die Wortbedeutung, selbst
wenn offenkundige Schwierigkeiten bestehen ("Himmelfahrt" u. ä.). Daraus ergibt
sich eine Denkblockade, wenn nicht eine Nähe zu Fundamentalismus.
 Seit der Antike kennt man den Unterschied der Bedeutungsebenen. Mit (scheinbaren)
gedanklichen Widersprüchen kann und muss man methodisch sauber umgehen, anstatt
sie peinlich berührt zu verdrängen - auch dieses Postulat ist schon vor einem
Jahrtausend erhoben worden (z.B. von Saadia Gaon). Das reflektierte Pendeln
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zwischen beiden Ebenen sollte also zur Selbstverständlichkeit werden. Davon kann in
der Theologenausbildung (unserem Eindruck nach) bislang nicht die Rede sein.
Hauptproblem für Theologen sind im Hintergrund Dogmatik und institutionelle
Verfasstheit der Kirche. An diesen machtpolitischen und finanziellen essentials haben
Theologen festzuhalten - was immer sie an Impulsen aus anderen Quellen aufnehmen
mögen. - Hat doch sogar schon der gegenwärtige Papst Franziskus die
"Selbstreferentialität" von Kirche und Theologie moniert, anders gesagt: das ständige
Kreisen um sich selbst, ohne Erkenntnisfortschritte zu gewinnen.
"Methodenreflexion bei Textauslegung" ist von vornherein verdächtig, weil sie die
Vorherrschaft der Dogmatik bedroht. Letztere zementiert jedoch, muss die "immer
gleichbleibende Lehre" dokumentieren, Provokation und Veränderung, sprich: Leben,
kann so nicht entstehen bzw. zugelassen werden.
"Kunst" - wo immer sie zur Verherrlichung des kirchlichen Systems dient - ist
natürlich willkommen. Da "Kunst" immer und wesentlich eine Infragestellung bislang
geltender Standards ist, somit Irritation, Provokation, ist sie in dieser Hinsicht
tendenziell unerwünscht.
Die Fixierung auf einzelne Inhalte, die in das Glaubenssystem aufgenommen werden
könnten, verwehrt es, dynamisch die gedankliche, komplexe Linie eines gesamten
Textes oder Bildes zu verfolgen. "Rosinenpickerei" anstelle geduldiger und
konsistenter Wahrnehmung. (N.B. das scheint ein Problem von Glaubenssystemen zu
sein. Im Islam gab es schon die gleiche Debatte.)
"Zeichentheorie" und "(angewandte) Hermeneutik" - auch bei Bildbeschreibung
wichtig - bleiben bei Dogmatik-Fixierung zweitrangig.
"Kunst" gerät in solchem Kontext zum Ornament. Existenzielle und persönlich
folgenreiche Auseinandersetzung, womöglich mit der Konsequenz des Umbaus auf
institutioneller Ebene, bleiben ausgeschlossen. Ungefähre Wahrnehmung genügt. Der
künstlerische Impuls verpufft. Wichtig ist allein, dass das System sich erhält und
Künstler dabei nicht stören.
Rembrandt - wie viele andere Künstler - hat verstanden, welche Schätze in einigen biblischen
Texten bereitliegen. Er hat selbstständig die "Heimkehr des verlorenen Sohnes" gestaltet, für
Mitleid und Empathie geworben, gegen rigide und starre Prinzipientreue sich gewendet - und
dies in einer Zeit, in der der Dreißigjährige Krieg, ein Glaubens-, Dogmatik- und
Machterhaltungskrieg der Kirchen und Konfessionen erst knapp zuvor beendet worden war.
Rembrandts Lebenszeit lief anfangs parallel zu diesem Krieg. Die eigenständige Ausdeutung
des Gleichnisses könnte heißen: Hinter all den dogmatischen Streitpunkten gibt es eine
einfache Ebene des Menschlichen. Diese ist wichtig, alles andere unwichtig. Der
nachdenkliche Betrachter mit schwarzem Barett könnte vor diesem Hintergrund ungläubig
sagen: Vollkommen verblüffend und wie aus einer anderen Welt ist es zu erleben, dass es auch
menschenfreundliche Umgangsformen gibt! Das Gleichnis somit - auch - als Hilfe, Abstand
von den Gräueln des Krieges zu bekommen.
Literatur
BUSCH Werner (1970): Zur Deutung von Rembrandts ‚Verlorenem Sohn‘ in Leningrad; in:
Oud Holland 85, 179-182
GÜNTHER Hubertus (1976): Rembrandt, München: Schuler-Verlagsgesellschaft
KREMER Jacob (1988): Lukasevangelium (NEB 3), Würzburg: Echter Verlag
PICHLER Wolfram & UHL Ralph (2014): Bildtheorie zur Einführung, Hamburg: Junius
SCHNEIDER Gerhard (1984): Das Evangelium nach Lukas. Kapitel 11-24 (ÖTK 3/2),
Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn
SCHWEIZER Harald (1986): Biblische Texte verstehen. Arbeitsbuch zur Hermeneutik und
Methodik der Bibelinterpretation, Stuttgart: Kohlhammer
Internetquellen
Alternativ-Grammatik: http://www.alternativ-grammatik.de/index.php?title=Hauptseite
(30.12.2014)
Die Rückkehr des verlorenen Sohnes (Rembrandt): http://de.wikipedia.org/wiki/Die_R
%C3%BCckkehr_des_verlorenen_Sohnes_%28Rembrandt%29 (31.12.2014)
Rembrandt – Der Verlorene Sohn: http://www.schulklausuren.de/kunst/rembrandt-derverlorene-sohn (19.9.2014)
Sommerakademie Blaubeuren: http://www.sommerakademie-blaubeuren.de/Archiv.html
(29.12.2014)
*Für vertiefende Gespräche und Literaturempfehlungen sei herzlich gedankt dem Künstler
und Kunsthistoriker Karl Hartwig Kaltner (Salzburg).