Relevanz von (Inter-)kulturalität - interculture journal: Online
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Relevanz von (Inter-)kulturalität - interculture journal: Online
jahr 2012 jahrgang 11 ausgabe 19 interculture j ourna l herausgeber jürgen bolten stefanie rathje url interculture-journal.com Online-Zeitschrift für interkulturelle Studien Relevanz von (Inter-)kulturalität: Erfahrungen und Prognosen Relevance of (Inter-)culturality: Experiences and prognoses Peter James Witchalls Is national culture still relevant? Ist das Konzept von Nationalkultur noch zeitgemäß? Hang Lin Die Lehren des Meisters: Konfuzius und die chinesisch kulturelle Identität konfuzianischer Prägung Teachings of the Master: Confucius and the Chinese Cultural Identity with Confucian Characteristics Aladin El-Mafaalani Migrations- und ungleichheitsbedingte Missverständnisse in der Schule Misunderstandings at school in the context of migration and social inequality Manfred Ertl So nah und doch so fern – Fremdheitserfahrungen deutscher Migranten in Frankreich From proximity to distance – experiences of strangeness by German immigrants in France Petra-Stefanie Vogler Intuition als Metafähigkeit Interkulturellen Managements – zum Selbstverständnis Interkultureller Manager Intuition as meta skill in Intercultural Management – on the self-conception of Intercultural Managers herausgeber jürgen bolten (jena) stefanie rathje (berlin) wissenschaftlicher beirat rüdiger ahrens (würzburg) manfred bayer (danzig) klaus p. hansen (passau) jürgen henze (berlin) bernd müller-jacquier (bayreuth) alois moosmüller (münchen) alexander thomas (regensburg) chefredaktion und web-realisierung mario schulz editing diana krieg kontakt fachgebiet interkulturelle wirtschaftskommunikation (iwk) universität jena ernst-abbe-platz 8 07743 jena [email protected] issn 1610-7217 url www.interculture-journal.com unterstützt von // supported by i n ha l t content Vorwort der Herausgeber Editorial 7 Stefanie Rathje, Jürgen Bolten Vorwort der Herausgeber Editorial Artikel Articles 11 Peter James Witchalls Is national culture still relevant? Ist das Konzept von Nationalkultur noch zeitgemäß? 21 Hang Lin Die Lehren des Meisters: Konfuzius und die chinesisch kulturelle Identität konfuzianischer Prägung Teachings of the Master: Confucius and the Chinese Cultural Identity with Confucian Characteristics 33 Aladin El-Mafaalani Migrations- und ungleichheitsbedingte Missverständnisse in der Schule Misunderstandings at school in the context of migration and social inequality 43 Manfred Ertl So nah und doch so fern – Fremdheitserfahrungen deutscher Migranten in Frankreich From proximity to distance – experiences of strangeness by German immigrants in France 67 Petra-Stefanie Vogler Intuition als Metafähigkeit Interkulturellen Managements – zum Selbstverständnis Interkultureller Manager Intuition as meta skill in Intercultural Management – on the self-conception of Intercultural Managers i n ha l t Rezensionen Reviews content 93 Olga Sacharowa 97 Linda Schwarzl Braunwarth, Esther (2011): „Interkulturelle Kooperation in Deutschland am Beispiel der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit“ Kong, Jieting (2012): „Survival Kit für Chinesen in Deutschland“ 101 Alexandra Stang 105 Stefan Strohschneider 111 Sara Dirnagl Schumann, Adelheid (2012): „Interkulturelle Kommunikation in der Hochschule. Zur Integration internationaler Studierender und Förderung Interkultureller Kompetenz“ Genkova, Petia (2012): „Kulturvergleichende Psychologie: Ein Forschungsleitfaden“ Sezgin, Hilal (Hg.) (2011): „Deutschland erfindet sich neu“ und Stemmler, Susanne (Hg.) (2011):„Multikultur 2.0“ 6 interculture j ourna l 11/19 ( 2 0 1 2 ) Vorwort der Herausgeber Editorial Stefanie Rathje Professorin für Unternehmensführung und Kommunikation, Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin (HTW) Jürgen Bolten Professor für Interkulturelle Wirtschaftskommunikation an der Friedrich-Schiller-Universität Jena Vorwort der Herausgeber Die aktuelle Ausgabe von interculture j ourna l beschäftigt sich mit der Frage nach der Relevanz von interkulturellen Fragestellungen in der heutigen Gesellschaft. Die Autoren dieser Ausgabe beschreiben hierzu vielfältige Erfahrungen und geben zugleich Prognosen zur zukünftigen Bedeutung des Konzepts von Kulturalität bzw. Interkulturalität. Die Frage nach der Relevanz von Kulturalität zwingt auch heute noch unweigerlich dazu, in diesem Zusammenhang über die Rolle von Nationalkulturen nachzudenken. Diesem Thema widmet sich der erste Artikel: Peter Witchalls untersucht in seinem einleitenden Beitrag „Is national culture still relevant?“, ob die Kategorisierung Nationalkultur bei der Interaktionsanalyse von Mitgliedern verschiedener Nationalstaaten noch zeitgemäß ist. Hierzu analysiert er verschiedene soziale Systeme und Institutionen, die zur Aufrechterhaltung eines Konzepts von Nationalkultur beitragen können. Hang Lin beschreibt in seinem Artikel „Die Lehren des Meisters: Konfuzius und die chinesisch kulturelle Identität konfuzianischer Prägung“ die Bedeutung des Konfuzianismus für das Verständnis Chinas vor dem Hintergrund kontinuierlicher westlicher Einflüsse. Manfred Ertl untersucht in seinem Beitrag „So nah und doch so fern – Fremdheitserfahrungen deutscher Migranten in Frankreich“ die Berichte deutscher Auswanderer in Frankreich. Er geht dabei im Besonderen der Frage nach, welche Rolle eine Herkunfskultur für die eigene persönliche Entwicklung in der „Fremde“ spielt. Anhand eines Fallbeispiels aus dem deutschen Schulbereich analyisert Aladin El-Mafaalani in seinem Beitrag Migrations- und ungleichbedingte Missverständnisse im deutschen Schulsystem. Er geht dabei auf verschiedene Erziehungslogiken ein und untersucht deren Wirkung auf die Schüler. Petra Vogler geht im letzten Beitrag „Intuition als Metafähigkeit Interkulturellen Managements – zum Selbstverständnis Interkultureller Manager“ der Frage nach der Relevanz von Interkulturalität im Managementbereich nach. Sie beschreibt die Interkulturelle Mangementkompetenz als strategische Handlungskompetenz in internationalen Unternehmenssituationen. Dabei legt sie einen besonderen Schwerpunkt auf das Konzept der Intuition als Metafähigkeit. Ergänzt wird die aktuelle Ausgabe durch eine Reihe von Rezensionen aktueller Bücher mit interkulturellem Themenfokus. 7 Olga Sacharowa rezensiert das Buch von Esther Braunwarth „Interkulturelle Kooperation in Deutschland am Beispiel der Gesellschaften für christlichjüdische Zusammenarbeit“. Linda Schwarzl setzt sich mit dem Buch „Survival Kit für Chinesen in Deutschland. 中国人旅德生存手册“ von Jieting Kong auseinander. Alexandra Stang widmet sich dem Buch „Interkulturelle Kommunikation in der Hochschule. Zur Integration internationaler Studierender und Förderung Interkultureller Kompetenz“ von Adelheid Schumann, Stefan Strohschneider setzt sich mit dem Band „Kulturvergleichende Psychologie: Ein Forschungsleitfaden“ von Petia Genkova auseinander und Sara Dirnagl betrachtet die beiden Veröffentlichungen „Deutschland erfindet sich neu“, herausgegeben von Hilal Sezgin, und „Multikultur 2.0“ von Susanne Stemmler. Die Herausgeber bedanken sich an dieser Stelle bei allen Autorinnen und Autoren und freuen sich auf zahlreiche weitere Beiträge für zukünftige Ausgaben des interculture j ourna l . Stefanie Rathje (Berlin) und Jürgen Bolten (Jena) im Dezember 2012 8 interculture j ourna l 11/19 ( 2 0 1 2 ) Editorial The current issue of interculture journal tackles the tricky question of relevance of intercultural topics for society. Our authors gather multifacted experiences and lay out prospects concerning the future meaning of concepts of culturality and interculturality. Dealing with the question of significance of culturality today inevitably evokes rethinking the role of national cultures - the first article‘s central topic: In “Is national culture still relevant?“, Peter Witchalls investigates whether national culture as a category is still adequate in the interaction analysis of members stemming from different countries and examines different social systems and institutions that might maintain the notion of concept of national culture. In his article “Teaching of the Master: Confucius and the Chinese Cultural Identity with Confucian Characteristics“, Hang Lin describes the importance of confucianism for understanding China‘s development while taking into account continuous Western influences. The paper “From proximity to distance - experiences of strangeness by German immigrants in France“ by Manfred Ertl analyzes reports of German emigrants in France to find out how important the notion of one‘s birth culture proves to be for one‘s personal development abroad. This issus is accompanied by a number of reviews of current publications with an intercultural focus. Olga Sacharowa presents her view on the book “Interkulturelle Kooperation in Deutschland am Beispiel der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit“ by Esther Braunwarth. Linda Schwarzl reviews the publication “Survival Kit für Chinesen in Deutschland. 中国人旅德生存手册“ by Jieting Kong. Alexandra Stang provides a writeup of the book “Interkulturelle Kommunikation in der Hochschule. Zur Integration internationaler Studierender und Förderung Interkultureller Kompetenz“ by Adelheid Schumann. Stefan Strohschneider reviews the book “Kulturvergleichende Psychologie: Ein Forschungsleitfaden“ by Petia Genkova and Sara Dirnagl takes a close look at the two publications “Deutschland erfindet sich neu“ edited by Hilal Sezgin and “Multikultur 2.0“ by Susanne Stemmler. The editors would like to thank all authors for their contributions to this issue and strongly encourage new authors to submit their manuscripts for future publication in interculture j o urna l . Stefanie Rathje (Berlin) and Jürgen Bolten (Jena), December 2012 Based on a case study from the German school system, Aladin El-Mafaalani examines in his article typical misunderstandings stemming from migration or other discriminatory scenarios. He takes a look at differing education concepts and analyzes their influence on the students. Petra Vogler‘s contribution explores the question of relevance of interculturality in the are of management. Describing intercultural managerial competence as a strategic action competence in international settings, she puts a focus on the idea of intuition as a relevant meta-skill. 9 10 interculture j ourna l 11/19 ( 2 0 1 2 ) Is national culture still relevant? Ist das Konzept von Nationalkultur noch zeitgemäß? Peter James Witchalls Abstract (English) Dr., Dozent für Wirtschaftsenglisch und Interkulturelle Kommunikation an der Universität Hamburg With constant claims that we now live in a borderless world, where nation states are no longer relevant against the backdrop of convenient travel, the activities of multinational corporations and networking possibilities such as facebook and co., this article asks whether using the category of national culture in order to analyse interaction between members of differing nation states still makes sense. In order to do this, the article looks at some of the social systems and institutions behind the maintenance of culture and argues that although national culture is becoming somewhat less important as a method of categorising culture and is one of many, there are still some basic reasons why the culture maintained by nation states may be more stable than many would have us believe. Keywords: Nation, culture, globalization, network, intercultural Abstract (Deutsch) Seit langem wird behauptet, dass nationale Grenzen bedeutungslos geworden sind angesichts der zunehmenden Reisemöglichkeiten, der Aktivitäten von multinationalen Unternehmen und der neuen Vernetzungsmöglichkeiten, die Facebook und Co. bieten. Dieser Artikel geht der Frage nach, ob die Kategorisierung Nationalkultur bei der Interaktionsanalyse von Mitgliedern verschiedener Nationalstaaten noch zeitgemäß ist. Um die Frage zu beantworten werden verschiedene soziale Systeme und Institutionen betrachtet, die zur Aufrechterhaltung einer Kultur beitragen. Obwohl Nationalstaaten immer mehr an Bedeutung verloren haben, argumentiert dieser Artikel, dass es immer noch einige grundlegende Gründe gibt, die dafür sprechen, dass die Idee von Kulturen als Nationen resistenter sein wird als viele vermuten. Stichworte: Nation, Kultur, Globalisierung, Netzwerk, interkulturell 11 1. Introduction Continuing globalisation and new ways of interacting such as online social networking mean that people today face an ever more diverse choice of affiliation and cultural membership. Social and professional networking platforms such as Facebook and Xing, actively encourage the assignment of their users to specific, standardised and multiple groups. We might therefore express our affiliation to any number of sub-cultures, ranging from a loose alignment with our liking a particular object, place, person or activity to strong affiliations with the involvement of, for example, political activities that might define much of an individual’s life. In fact, it is now often asserted that many individuals possess “multiple identities“ (e. g. Welsch 2009). With this, the subject of intercultural communication is facing a new challenge: Rather than the traditional idea that members of one national culture communicate with members of a foreign culture in the sense of hermetic, geographical, cultural units, intercultural communication in a globalised world is said to involve the crossing over and merging of many aspects of culture, thus creating a „transcultural“ world (Welsch 2009). We are therefore faced with the question: How can we define and categorise the cultures that make up people’s lives? To answer this we must of course address the nature of culture and in particular the importance of the concept of national culture, which is so commonly considered to be synonymous with culture. So, for example, if a Chinese acquaintance is invited to a dinner party, how much of this invitee’s behaviour at that party can be attributed to the fact that he or she is Chinese, and how much to other factors, such as affiliations to a whole host of sub-cultures that could be professional, regional, gender-specific, generational, interest-group related or even a culture that simply relates to family, friends or the individual him / herself2. In all cases we are talking here about patterns of thoughts and / or behaviours that are caused wholly or partly by membership of a particular group of people. And this is where intercultural communication 12 becomes complex: Even membership of a culture cannot be viewed in a binary fashion. We do not share behaviour and thought patterns with any one culture completely, but are partial members of many3. So where does this leave us with regard to the traditional view of culture in which individuals belong to one or a small number of cultures, often geographic in nature? The following paper will attempt to give some answers to this question. 2. Concepts of Culture The primary question to be addressed here relates to the nature of culture itself. Ever since the study of culture has considered the low form of culture (i. e. everyday or subjective culture) as opposed to culture pertaining to classical disciplines and the arts4, scholars from a range of disciplines have been trying to achieve a consensus regarding a common definition of culture. Most textbooks point out the vast number of varying definitions that have been suggested, before attempting to put forward an amalgamation of common aspects from these definitions. The problem here seems to be the differing standpoints of the researchers who propose these definitions. Thus, while psychologists might emphasise culture as an “orientation system“ for the individual (e. g. Thomas 2003), semioticians are more likely to talk about culture as a “system of signs” (e. g. Posner 1991) and sociologists frequently envisage culture as a “social system” (e. g. Luhmann 1984). It is apparent then, that the definition of culture depends on the viewpoint and the objective of one’s research, whether this relates to the functioning of society (macro-perspective), the success of an individual (micro-perspective), the communication process itself (processual perspective), or other viewpoints and objectives. These viewpoints and objectives are represented by the traditional academic disciplines, which have mostly developed into university departments (with the exception of intercultural communication5). Thus, this distinct division of research into well-defined6 subject areas certainly interculture j ourna l 11/19 ( 2 0 1 2 ) Recent attempts to understand and define culture seem to have recognized both of these postulates. With reference to the latter, an increasing number of institutes and university departments have been created in the recognition that one discipline alone cannot attempt to deal with the vast and complex concept of culture. Modern science’s tendency to break down complex notions into ever smaller units for ever more detailed linear analysis (at least in the Western developed world) does not always help us to understand the subject. This, indeed, would be analogous to the obviously nonsensical study of the precise properties of each neuron in the brain in order to try to comprehend how the brain functions as a whole. Thus, the study of culture is moving from the linear analysis of component parts, to a viewpoint which is more contextdependent (synchronic and diachronic), more system or network-oriented and more processual in nature (e. g. Rathje 2006, Bolten 2011). Seen in this way, the analysis of culture becomes a more holistic but also complex venture7. Such a viewpoint may thus require the imaginative ability of researchers as much as analytical ability8. Indeed, new analogies of culture are being developed, such as the comparison of culture with the cohesion that exists in the surface tension of water (Hansen 2009:6). input will activate patterns across the network of one’s culturally determined schemata. Two individuals belonging to the same cultural group will therefore exhibit similar patterns of schemata (both structurally and qualitatively) when subjected to the same external stimulus. Assuming we could represent the schemata that they share, the result would be a complex, interconnecting web such as that represented in exh. 1. If we wish to view this network, we will firstly need to acquire accurate data. Whether techniques such as issuing as distributing questionnaires can reflect these inner patterns of the mind and their related interconnections is highly questionable. Secondly, depending on the way we view and categorise culture, we will ask different questions and thus only be able to see fragmented parts of the whole. So, in the diagram below, if we categorise culture according to national entities, and assuming that we have a verifiable data set, we will see, say, only the red nodes in the network. This will, however, never represent the complexity of all the red nodes, let alone the added complexity of say, the green nodes, which is what we would see if we took a look at culture from a different angle (again, assuming that we could gain accurate data, a complex issue itself ). The number of ways of viewing culture is of course, endless itself (only three viewpoints are represented on the diagram through red, green and yellow). Through such a conceptualisation, we gain an insight into why culture is so hard to define and difficult to categorise. (See: Exh. 1) I would like to offer an analogy of my own: If culture is systematic, processual, context-dependent and caught in a continuous loop of information, then it seems that culture can be seen as a set of patterns of associations, ideas and attributions (schemata) that are activated in a group of individuals when subjected to the same contextual surroundings and stimuli. This appears quite similar to the maps of areas of the brain that are stimulated when subjected to particular contexts, as we now know from experiments in the laboratory (Spitzer 1999:95). Thus, a similar Despite the difficulties involved in making the concepta contained in the cultural network visible, the conception of culture as it is shown in the diagram nevertheless allows for the multiple identities that we observe in the modern digitalised world, and also gives clues as to how a single individual can successfully function within very diverse cultural spheres, such as the civil servant who is also a rock musician or the teenager who identifies with skinhead culture, but can also function quite successfully at grandma’s coffee and cake afternoons. According to the context, hinders a common consensus of definition regarding the concept of culture. It is, however, also the complexity of the concept itself that prevents us from describing it fully. 13 the corresponding set of patterns of schemata will be activated. It is important to remember here that each person is a partial member of many cultures and thus in reality will take “patterns” from one cultural network and integrate them with patterns from networks of other cultures. Our conception of culture has therefore changed from a static, object-oriented, homogenous and clearly delineated view of culture to one which acknowledges the dynamic, interconnected, systematic and multiple-layered nature of cultures, whose complexity can only be approached through analogies with systems found in nature or in the human mind. 3. Does national culture still matter? Given this new situation, one might then ask whether one’s geographic location still matters in terms of cultural affiliation. Indeed, it has been suggested that national culture is no longer relevant (e. g. Linck 2003). There are, however, some important reasons why national culture still matters: A culture is influenced to a great extent by the agent or institution that disseminates information within that culture as well as the attitudes and influences on that agent (Münch 1990). Since the beginning of the modern age, the dissemination of information has been carried out mainly by academics, (“Wissenschaftler”), the Church and the State in various combinations. In the latter part of the 20th century and in the 21st century, this function has, to a large degree, been assumed by the mass media. Niklas Luhmann takes an extreme view when he states: “Whatever we know about our society, or indeed about the world in which we live, we know through the mass media [...]” (Luhmann 2000:1). One might then contend that due to the now truly global reach of media organizations, that this global media culture would create a global communication culture. However, if we look more 14 Exh. 1: Different ways of viewing the schemata of culture. Source: Authors own illustration. closely at Luhmann’s three categories of mass media, i. e. news, entertainment and advertising (Luhmann, 2000), we observe in every one of these areas that it is still predominantly national media that a nation consumes. It is still, for instance, the Tagesschau that the vast majority of Germans watch when they wish to be informed about the world, rather than CNN or BBC World, and it is consistently the (less expensivelyproduced) local programmes that achieve the highest viewing figures (cf. Breidenbach / Zukrigl 1998:67).9 Page impression statistics relating to the most popular websites in Germany (i. e. the websites at which people spend most time), show that German sites such as StudiVZ, T-online and Bild.de rank highest.10 Many would contest here that online media has a far greater cross-border reach. However, even here, a recent study by Pankaj Ghemawat estimated that only around 16% of the online community’s friends on facebook were located beyond their national border.11 Even in advertising, it is seldom that an advertisement is completely standardized (Moser 2007:124).12 interculture j ourna l 11/19 ( 2 0 1 2 ) Thus, despite widespread claims that we are living in a borderless world, nations, to the large part, continue to consume national media. This national media is crucial in maintaining continuity, enabling reproduction of existing ideas and sustaining the cultural memory (cf. Assmann 1988) of the population. Despite the slow erosion of national legislation through adaptation to EU directives and possible influence from international bodies (e. g. the United Nations), the coordination of social interaction is still regulated mostly through national legislative measures. This legislature has exerted and still exerts a considerable influence on the store of cultural knowledge, governing what is considered plausible, sense-making and normal (Bolten 2007:59). For all these reasons, national culture is still relevant. In fact, one could say that national culture will remain crucial until such a time as the average citizen forms his / her view of the world through the consumption of foreign media13 and until such a time as legislation becomes truly international. 4. The resilience of cultures There are also three further factors that suggest that regional / national cultures might be more resistant to transculturality than commonly thought: ■■ Although it is difficult to deny that the industrialised world14 displays a large degree of interconnectivity, it is important to examine the characteristics of this interconnectedness. Of Luhmann’s main social systems (legal, political, scientific, religious and economic; Luhmann 1984), it is predominantly the economic and to some extent the scientific systems which display a real degree of interconnectedness. Religious, legal, political and social systems remain comparatively isolated, and it is these systems that coordinate and maintain social and cultural systems. Of course, every system influences every other system. However, the point here is that there are large parts of social coordination which do not display the connectedness that is claimed to be ubiquitous in the developed world. ■■ The key factor behind a culture’s resistance to becoming completely transglobal, however, is the autopoietic15 nature of social systems themselves: Social systems not only provide the store of knowledge to which a society / culture refers, but they also provide a way to interpret new information. Therefore, a social system, when encountering foreign information, does not understand a new piece of information in the light of its original context, but gives it meaning, according to its own system of interpretation, thus referencing itself. One could say that while a social system is structurally open (i. e. it clearly has contact with other systems and cannot be regarded as a container), it is functionally closed (i. e. the mechanism for interpretation does not come from the outside, but from within the cultural system itself ). This is the reason why, for example, many aspects of U.S. culture can be integrated into German culture without too many problems. However, the meaning attached to these items is always adjusted to fit with the German cultural system. A BMW, for example, conveys a different set of meanings and associations in the U.S. than it does in Germany. In order to understand foreign information, members of a culture must reference its own patterns of interpretation and it is predominantly the national media that performs this task for the individual. 5. Conclusion In conclusion, we should be careful not to overstate claims regarding the interconnectedness brought about by globalization and the digitalization of communications, since: ■■ Many areas of the world have yet to experience the globalization process; 15 ■■ The extent of cross-border communication is consistently overestimated (Ghemawat 2011:27); ■■ Many aspects of globalization have been brought about only by one social system, namely the economic system; ■■ Most citizens continue to consume national media; ■■ Cultures, held together mostly by language and national media, cannot be replaced, overwritten or transglobalised through contact with other cultures since they function in an autopoietic way, i. e. they reference themselves when looking for interpretation of new information. Therefore, although identities are certainly becoming diversified, national culture is still an important way (although one of many) to categorise a certain density of similar schematic patterns in a group of individuals when faced with a particular context. So what would the similarities be in the network of schemata in the minds of members of the same national culture? Many associations would be similar, and the value judgments regarding these associations would – although not necessarily similar – nevertheless be mostly taken from a pool of possible interpretations that are present within that culture (through media and reproduction of ideas). Indeed, it is the fact that value judgments are taken mostly from a pool of generally recognized ideas that makes this network recognizable. Thus, much of the network would have a recognizable character, although many of the details would be different. If we were to zoom out to view this network from afar, it would appear almost identical. However, viewing it close up, it would look very different indeed.16 In summary, just as claiming that cultures are hermetically sealed and geographically-based containers is clearly not an appropriate conception of culture in today’s globalized world, it is also incorrect to claim that national cultures are now meaningless and that the devel- 16 oped world is currently a transcultural entity without borders, for a whole host of reasons stated above. The recognition of the misleading nature of these two opposing extremities will allow us to examine more thoroughly the complexities of cultural networks in the light of the new, networked modernity. Despite the vast complexity of cultural networks, we can nevertheless examine a small section of the network by specifying cultural variables, which might be national cultures but might also be other collectives such as regional, generational, professional etc. Again using the analogy with biology, in a biological system, a particular outcome is rarely caused by one single triggering factor, but by a combination of interdependent factors. Thus, we need to examine the causal relationship between membership (or part membership) of cultural collectives and particular patterns of thought and behaviour. We can do this by examining a number of cultural variables in particular contexts, thereby avoiding mono-causal explanations and doing justice to the complexities of cultural systems. For example, in individual contexts, one might examine negotiations between an American and German businessperson in the banking sector. Further differentiation might consider the regional, gender, educational or generational differences between these parties. In this way we have a range of cultural factors that might influence communication between these two people. The extent of patterns of thought and action shared by both parties can be estimated, which in turn will indicate the amount of negotiation with regard to basic assumptions and communication procedure (meta-communication) that will be required. These types of analyses will always be a small part of the overall picture, but they will be relevant for particular contexts and will provide insights for future interaction between people with similar sets of cultural belonging in similar contexts and will thus be useful and insightful. Finally, we will never be able to predict behaviour precisely, since not only do interculture j ourna l 11/19 ( 2 0 1 2 ) we need to examine the inputs and outputs of a particular system, but we must also consider the dynamic nature of such a complex system. In complex systems input does not necessarily equal output, even if we have a good grasp of what the inputs are, and this is why despite the fact that we know, for example, that a particular person is Christian, lives in a city, has Chinese citizenship, is male, drinks coffee and likes to play golf, we still cannot predict his behaviour at a dinner party perfectly. IVW e.V. (2009). Online-Nutzungsdaten Juli 2009. URL: http://www.ivwon line.de/ausweisung2/suchen2.php [Retrieved: 19. Novembre 2012]. 6. References Luhmann, N. (2000): The Reality of the Mass Media. Stanford: Stanford University. Assmann, J. (1988): Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. In: Assmann, J. / Hölscher T. (Eds.): Kultur und Gedächtnis. 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There are, however, now a few (and increasing) number of university departments in this area, e. g. the department of intercultural business communication at the Friedrich-Schiller University of Jena. 6. Each subject area attempts to define itself with unique specialized language. However, if unreflected upon, this language forces the scholar to view the subject from a particular angle that necessarily prevents a view of the entire complexity of culture. 7. Cultural dimensions such as those from Hofstede or Trompenaars are of little use here, which should be apparent after viewing Exh. 1. 14. It is worth noting here that the majority of the world’s population i. e. those belonging to underdeveloped countries is conveniently ignored in discussions regarding our borderless world. Indeed, while some talk of the existence of a second modernity in which nations no longer matter, there remain many areas of the world that have not even achieved the establishment of a stable nation state. 15. Autopoietic systems originally refer to biological systems such as cells. In reference to social systems it has the meaning of a self-referencing system whereby a system (or culture) references itself to give meaning to external stimuli. 16. This is an idea presented in Bolten (2011), which explains why we simultaneously recognise the overall character of cultures, but at the same time reject detailed categorisation of cultures. 8. Albert Einstein, when attempting to conceptualise the workings of the world, wrote: “Imagination is more important than knowledge. For knowledge is limited, whereas imagination embraces the entire world, stimulating progress, giving birth to evolution. It is, strictly speaking, a real factor in scientific research” (Einstein 1931: 97). 9. A recent example of the regional nature of the entertainment industry is the entry into the German market of Rupert Murdoch’s satellite television company Sky, which, despite its global structure, adapts its programmes almost exclusively for German viewers. 10. In fact, according to the IVW (Informationsgemeinschaft zur Feststellung der Verbreitung von Werbeträgern e.V.), there was only one non-German website in the top ten most popular sites in July 2009 (IVW 2009). 11. Cf. www.ted.com/talks/pankaj_ghemawat_actually_the_world_isn_t_flat.html . 12. One of the largest advertising agencies, J.Walter Thompson, estimated that Europewide standardised advertising would only account for around 5% of total advertising volume in the coming years (Breidenbach / Zukrigl 1998:46). 13. Although the very fact that the media might be construed as foreign will prevent this from being the main source of information that coordinates one’s view of the world. 18 interculture j ourna l 11/19 ( 2 0 1 2 ) 19 20 interculture j ourna l 11/19 ( 2 0 1 2 ) Die Lehren des Meisters: Konfuzius und die chinesisch kulturelle Identität konfuzianischer Prägung Teachings of the Master: Confucius and the Chinese Cultural Identity with Confucian Characteristics Hang Lin Abstract (Deutsch) M.A., Doktorand am Institut für Kulturwissenschaften Ost- und Südasiens - Sinologie, Dozent für interkulturelle Kommunikation beim Projekt „Globale Systeme und Interkulturelle Kompetenz“ (GSiK) an der Universität Würzburg Während des letzten Jahrhunderts erlebt China massive soziale und kulturelle Änderungen, die sich vorwiegend durch schnelle Übernahme westlicher Normen und deren Ideen kennzeichnen. Zur gleichen Zeit ist Chinas historisches und kulturelles Erbe aber nie geschnitten worden und das chinesische Volk und die heutige chinesische Gesellschaft sind immer noch erheblich durch die Geschichte und seine traditionell kulturelle Identität geprägt, insbesondere durch Konfuzius und seine Lehren. Aber wer ist eigentlich Konfuzius und was sind seine Lehren? Wie sind sie mit der chinesischen kulturellen Identität in Verbindung gebracht? Die vorliegende Arbeit setzt sich ein Konfuzius und seine wichtigsten Ideen zu analysieren. Sie versucht dann den Kern der konfuzianischen Werte und ihre Bedeutung für die Entwicklung der Geschichte Chinas zu skizzieren. Auf der Basis dieser Untersuchung werden Einblicke gegeben um zu zeigen, dass Konfuzius und seine Lehren nicht untergegangen sind, sondern sie sind immer noch relevant. Eine angemessene Bewertung dieser Werte kann wesentlich dazu beitragen ein tieferes Verständnis über die zeitgenössische chinesische Gesellschaft und die chinesisch kulturelle Identität zu gewinnen. Stichworte: Konfuzius, Konfuzianismus, China, kulturelle Identität Abstract (English) China has experienced massive social and cultural transformation during the last century, an era marked with rapid adoption of Western norms and ideas. In the mean time, Chinese cultural heritages have never been totally cut and the Chinese people and the Chinese society today are still considerably shaped by China’s unique past and its traditional cultural identity, especially by Confucius and his teachings. But who is Confucius? What are his teachings? How are they related to the Chinese cultural identity? This paper endeavors to analyze Confucius, the founder of the Confucianism, and his main advocations, trying to outline the essence of confucian values and their significance for the history of China. On the base of this examination, considerations will be given to demonstrate that Confucius and his teachings did not perished but are still relevant in modern China. An insight into the ideas of Confucius and a proper comprehension of these values can help to better understand Chinese contemporary society and Chinese cultural identity. Keywords: Confucius, Confucianism, China, cultural identity 21 1. Einleitung Im 21. Jahrhundert wurde weltweit wohl kein anderes Land in einer derartigen Breite und Tiefe diskutiert wie China. Vielfach wird prognostiziert, dass China in den nächsten zehn Jahren die USA als Supermacht überholen, ablösen und dadurch international zum einflussreichsten Global Player aufsteigen wird (Mastel 1997:14, Lo 2007:13, Steinfeld 2010:71). Das Wirtschaftswachstum ist auf die Öffnung des chinesischen Marktes in den späten 1970er Jahren zurückzuführen. Durch diese Öffnung sah sich China in den letzten drei Jahrzehnten vielen Reformen gegenüber gestellt, wodurch das Land grundlegende Veränderungen erlebte, sowohl aus wirtschaftlicher, politischer als auch gesellschaftlicher Perspektive. Durch Chinas Öffnung und Reform hat sich auch das marktwirtschaftliche und gesellschaftliche Gedankengut der westlichen Welt sehr schnell in China verbreitet, wobei das Land der Mitte immer noch stark von der traditionellen chinesischen Denkweise und seinen eigenen geisteswissenschaftlichen Ideen geprägt bleibt, allem voran vom Konfuzianismus (Lin 2011:437ff.). Aus diesem Kontext ergeben sich eine Reihe von Fragen: Was ist das chinesische bzw. konfuzianische Denksystem? Welche Beiträge hat Konfuzianismus zur Gestaltung der Geschichte Chinas geleistet? War China konfuzianisch und ist es immer noch? Wenn ja, inwieweit ist die chinesische Gesellschaft und die kulturelle Identität Chinas von den Lehren des Konfuzius geprägt? Diese Fragen zu beantworten ist schwer, wenn nicht unmöglich. Leider ist es jedoch so, dass nur sehr selten in der entsprechenden Literatur Angaben dazu gemacht werden, was denn das spezifisch konfuzianische an China nun genau ist und vor allem, wie sich bestimmte als konfuzianisch bezeichnete Verhaltensweisen tatsächlich an die chinesische Tradition anbinden lassen. Um den Spezifika des Konfuzianismus zu erörtern und die Lehren des Meisters zu erfassen ist ein Blick in die Vergangenheit unumgänglich. Als 22 eine der meist verbreiteten Lehren der Welt prägt der Konfuzianismus die chinesische Geisteswelt bis heute. Sein Wirkungskreis umfasst insbesondere die ostasiatische Welt und erstreckt sich somit auf ungefähr ein Drittel der Menschheit. 2. Konfuzius und seine Gespräche Woher kommt eigentlich das Wort Konfuzianismus? Das Wort geht zurück auf Konfuzius, also der Name, den die jesuitischen Missionare des endenden sechzehnten Jahrhunderts dem chinesischen Meister Kong gegeben haben, der in alten chinesischen Quellen zumeist als Kongzi, eben Meister Kong, bezeichnet wird (Rule 1986:15ff.). Kongfuzi (Lehrmeister Kong), der dann zu Konfuzius latinisiert wurde, ist jedoch im chinesischen eine verhältnismäßig spätere Wortbildung, die in den wirklich alten Texten nicht vorkommt. Hierbei ist allerdings anzumerken, dass der Konfuzianismus jedoch keine von Konfuzius gegründete Lehre ist, da dieser selbst sich stets auf ältere Weisheiten berufen hatte.1 Dennoch entwickelte sich im Laufe der Jahrhunderte nach Konfuzius eine beträchtliche Anhängerschaft, die sich seiner Lehren bediente und teilweise erweiterte oder neu interpretierte. Besonders erwähnenswert sind in diesem Zusammenhang die Konfuzianer Menzius (370 v.Chr.-290 v.Chr.), Xunzi (312 v.Chr.-230 v.Chr.), Dong Zhongshu (179 v.Chr.-104 v.Chr.) sowie die Philosophie des Neo-Konfuzianismus. Trotz solcher Entwicklung bleibt Konfuzianismus immer überwiegend von Konfuzius geprägt, deshalb wird sich die Arbeit hier hauptsächlich auf die Lehre des Konfuzius, dem Gründer der konfuzianischen Schule, konzentrieren. Geboren wurde Konfuzius 551 v. Chr. in der Stadt Qufu, wo er 479 v. Chr. auch starb.2 Er stammte aus einer eher unbedeutenden Adelsfamilie aus dem Staate Lu, der heutigen Provinz Shandong. Konfuzius war der erste chinesische Denker, der es fertig brachte, andere Personen in seiner Umgebung derart zu inspirieren, dass durch seine interculture j ourna l 11/19 ( 2 0 1 2 ) Lehren eine eigene Schule, der Konfuzianismus, entstand. Überlieferungen zufolge soll Konfuzius in seiner gesamten Lebenszeit ca. 3000 Schüler unterrichtet haben (Grube 1910:57f., Yao 2000:53ff.). Es muss erwähnt werden, dass er einen großen Teil seines Lebens durchs Land wanderte und so Schüler von unterschiedlichen Provinzen und Städten aufnehmen konnte, die oft auch nur kurze Zeit bei ihm blieben (Biallas 1981:29ff.). Seine Wandertätigkeit ist jedoch vor allem darauf zurückzuführen, dass er sein ganzes Leben hindurch nach einem Fürsten gesucht hat, der gewillt war, Konfuzius Lehren in die Tat umzusetzen. Zwar genoss er mit der Zeit einen hohen Ruf als weiser Lehrmeister, dennoch vermochte niemand seine Predigten tatsächlich anzuwenden. Erst im zweiten Jahrhundert vor Christus, also mindestens 300 Jahre nach dem Tod von Konfuzius, wurde das Hauptwerk, durch das wir von seinem Denken wissen, zusammengefügt: die Gespräche des Konfuzius (Lunyü). Konfuzius selbst hat der Nachwelt keine schriftlichen Aufzeichnungen hinterlassen, dennoch sind die Gespräche eine Sammlung von Sprüchen, die der Meister in allen möglichen Lebenslagen und zu höchst unterschiedlichen Themenkreisen von sich gegeben haben soll.3 Das Lunyü wurde im 2. Jahrhundert n. Chr. von Zheng Xuan (127-200 n.Chr.) zusammengestellt, der sich verschiedener Texte und Spruchsammlungen aus unterschiedlichen Jahrhunderten bediente. Obwohl über Konfuzius Leben und Gedanken sehr viel niedergeschrieben wurde, gibt es genügend Spielraum für Interpretationen, da seine Lehren sehr allgemein gehalten waren (Makeham 2003). 3. Lehren des Konfuzius Von der abendländischen Philosophie unterscheiden sich die Lehren des Konfuzius ihrer Methode nach grundlegend. Im Gegensatz zu den meisten westlichen Philosophieströmungen findet sich im Konfuzianismus keine logisch ableitbare Struktur und es wird auch kein metaphysisches System konstruiert. Theoriebildungen, wie sie sich in der abendländischen Philosophie seit den Vor-Sokratikern finden, spielen im Konfuzianismus keine Rolle. Konfuzius lehrte eine Ethik, die auf verschiedene Situationen im alltäglichen Leben anwendbar und nicht in logische Formeln darstellbar ist (Liu 1998:16ff.). Deswegen gibt es im Konfuzianismus, sowie in der gesamten chinesischen Geisteswelt, weder einen Satz der Identität noch einen Satz des ausgeschlossenen Widerspruchs. Auffällig ist vor allem der Umstand, dass Konfuzius selbst keine revolutionären und neuen Gedanken in die Welt setzte, sondern „lediglich alte Weisheiten in gesammelter Form verkündete“ (Bauer 2001:53). So soll er einmal über sich selbst gesagt haben: „Ich bin keiner, der mit Weisheit geboren wurde, sondern ich liebe bloß das Altertum und bemühe mich ernstlich, ihm nach zu streben.“ (Legge 1960:201) Das philosophische Interesse des Konfuzius gilt den menschlichen und sozialen Beziehungen. In der Wiederbelebung der antiken Sitten und der von der Sitte getragenen Staatsverfassung sieht er die Rettung aus dem staatlichen und sittlichen Verfall seiner damaligen Zeit (Yao 2000:171ff.). Im Zentrum seiner Lehren steht stets das richtige Verhalten eines Einzelnen gegenüber anderen Individuen und der Gesellschaft, mit dem Ziel allgemeines Wohl und Glück aufkommen zu lassen. Seine Philosophie ist sehr praxisbezogen und darauf ausgelegt zu handeln und nicht bloß in Gedanken zu versinken (Soothill 1923:31ff., Bauer 2001:58). Ablehnend stand Konfuzius insbesondere dem Sinnieren über das Jenseits, Geister und alles Übernatürliche gegenüber. Er mahnte die Menschen erst Erkenntnis im Diesseits zu erstreben bevor sie sich über das Jenseits Gedanken machten. Wir haben von Konfuzius selbst keine Angaben über ein System seiner Lehren, doch der Text der Große Lehre dürfte immerhin später die Gedanken, die ihn bei dem Unterricht leiteten, in einfacher und richtiger Weise gruppiert haben. Die Lehren des Konfuzius ruhen auf vier Säulen, nämlich Menschlichkeit (ren), Sittlichkeit (de), Rechtschaffenheit / Gerechtigkeit (yi), und Riten (li). 23 3.1. Menschlichkeit 3.2. Sittlichkeit Mit dem Ausdruck Menschlichkeit ist der konfuzianische Zentralbegriff angesprochen, unter den sich alle anderen konfuzianischen Tugenden und Ideale einordnen lassen. Die chinesische Bezeichnung dafür ist ren und wird häufig auch mit Menschlichkeit, Güte oder Menschenliebe wiedergegeben (Bauer 2001:56ff., Yao 2000:253ff.). Auf die Frage, ob es einen einzigen Satz gäbe, mit dem sich der Inhalt von Menschlichkeit ausdrücken lasse, gibt Konfuzius die klare Antwort: Wie zuvor erwähnt, sah Konfuzius in seiner Zeit einen Verfall der Sitten und hat daher deren Wiederherstellung besonderen Nachdruck verliehen. Sittliches Verhalten betrachtete er auch als enge Verknüpfung zur moralischen Einstellung. Daher schloss für ihn die Sittlichkeit unmoralische Verhaltensweisen aus. Nach Konfuzius Meinung kann man nur mit mühsamer Kultivierung die Tugend besitzen, aber ein Mensch mit Tugend wird niemals allein sein. So sprach er: „Was man sich selbst nicht wünscht, fügt auch anderen Menschen nicht zu.“ (Legge 1960:301) Bedeutend war für Konfuzius dabei stets, dass diese Menschlichkeit von Herzen kommt und aufrichtig gemeint ist, während falsche Freundlichkeit und Oberflächlichkeit zu verabscheuen sind. Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit waren für Meister Kong auch in Freundschaften unumgänglich. Wenn man bei einem Freund einen Mangel wahrnimmt, so ist man verpflichtet ihm diesen mitzuteilen. Ändert dieser aber sein Verhalten nicht oder ignoriert den Hinweis, dann möge man nicht pedantisch wirken und ihn nochmals ermahnen, sondern es dem Freund selbst überlassen, sich zu bessern. Daneben forderte Konfuzius auch allgemein dazu auf die Verhaltensweisen anderer zu beobachten, um selbst daraus zu lernen: „Wenn wir einen Würdigen sehen, so denken wir daran, ihm gleich zu werden. Wenn wir einen Unwürdigen sehen, so prüfen wir uns selbst in unserem Innern.“ (Legge 1960:170) Genauso wie es wichtig ist den eigenen Charakter zu stärken, wünscht ein Mensch, der ren hat, auch den Charakter anderer zu fördern. Das Prinzip der Menschlichkeit ist sehr stark mit dem Begriff der Hilfsbereitschaft verbunden. Wer selbst nach Weisheit und Erkenntnis strebt, soll auch andere dazu motivieren – einerseits indem man sie unterrichtet, andererseits indem man es ihnen vorlebt (Liu 1998:19ff.). 24 „Tugend wird nicht allein sein, [wer sie besitzt], wird Genossen haben.“ (Legge 1960:172) Sittlichkeit stand zu Konfuzius Zeit in engem Zusammenhang mit Sitten und Riten. Zeremonien angemessen abhalten, ein ordnungsgemäßes Verhalten an den Tag legen und sich in seiner hierarchischen Ebene korrekt einzugliedern bedeutete für Konfuzius sittlich zu handeln. Die Tugend zu verinnerlichen und nach ihr zu leben sah er als Ziel für die Menschen. Der Typus des sittlichen Menschen ist der „Edle“, ein Begriff, der sowohl ethisch als auch soziologisch zu verstehen ist. Ihm gegenüber steht der „Gemeine“, ebenfalls wiederum seiner moralischen Minderwertigkeit und seiner sozial niederen Stellung nach zu verstehen: „Der Edle stellt Anforderungen an sich selbst, der Gemeine stellt Anforderungen an die anderen Menschen.“ (Legge 1960:300) „Der Edle denkt an Tugend, der Gemeine aber an Komfort.“ (Legge 1960:277) Es muss jedoch erwähnt werden, dass Sittlichkeit für Konfuzius nicht nur bei der inneren Überzeugung der Menschen eine wichtige Rolle spielte, sondern auch in der Regierung und Herrschaft. Konfuzius glaubte, dass all die großen Herrscher in den alten Zeiten tugendhafte Menschen gewesen sein sollen und deshalb sang er Lobreden zu diesen Herrschern für ihre Tugend.4 Um ein Volk gut regieren zu können muss der Herrscher einerseits sein Volk lieben, was durch Tugend ermöglicht wird interculture j ourna l 11/19 ( 2 0 1 2 ) und andererseits sein Volk kennen, was durch Weisheit bewerkstelligt wird. Nur dann kann ein Regent die Ämter mit den richtigen Personen besetzen. Hierarchie spielte für Meister Kong eine grundlegende Rolle, denn sie war für ihn gleichbedeutend mit Ordnung – und nur in einem Staat, in dem Ordnung herrscht, kann es Glück und Frieden geben. 3.3. Rechtschaffenheit / Gerechtigkeit Eine andere Säule ist das yi, das oft als Gerechtigkeit oder Rechtschaffenheit übersetzt wird. Gerechtigkeit als Prinzip einer ausgleichenden Ordnung in einer Gesellschaft ist nicht eine konfuzianische Erfindung, sie findet sich in allen Kulturen und ist historisch sehr weit zurückzuverfolgen. Natürlich wurde im konfuzianischen Kontext dieser Begriff verwendet, der heute meist nur ungenau und zu eng mit gerecht übersetzt wird. Das yi ist stark von der konfuzianischen Ethik geprägt und ist eine Tugend, die sehr stark in die Sphären der Sittlichkeit hineinspielt. Das fordert eine Haltung, die man vor sich selbst rechtfertigen kann. Besonders bedeutend ist in diesem Zusammenhang eine Objektivität in das eigene Handeln zu bringen und sich nicht von Vorlieben oder Abneigungen leiten zu lassen. So sprach der Meister: „Der Edle hat für nichts auf der Welt eine unbedingte Voreingenommenheit oder eine unbedingten Abneigung. Das Rechte allein ist es, auf dessen Seite er steht.“ (Legge 1960:168) Der Edle hat also den Sinn für rechtes Tun verinnerlicht und folgt diesem intuitiv. So wird Gerechtigkeit vor allem als personale Gerechtigkeit und als Eigenschaft und Tugend eines Menschen verstanden, die zur Aufrechterhaltung der vorgegebenen Ordnung beitragen sollte. Im Konfuzianismus bezieht sich das yi auch auf Staat und Gesellschaft. Nach Konfuzius soll die Leitung eines Volkes nicht durch Gesetze und Strafen erfolgen, denn daraus ergibt sich unter den Menschen bloß ein ständiges Versuchen, die Regeln zu umgehen. Gute Führung bedeutet aber durch gute Taten und richtiges Handeln, die gerecht und rechtschaffend sind, zu wirken (Nosco 2008:31ff.). Auch in Bezug auf gewinnbezogenes Wirtschaften stellte Konfuzius das moralische Handeln als das wichtigste dar. Für ihn unterscheiden sich der Edle und der Gemeine dadurch, dass „der Edle sich nach der Gerechtigkeit richtet, der Gemeine aber am Gewinn“ (Legge 1960: 170). Alles was gegen die Gerechtigkeit ist, soll auch nicht weitergeführt werden. Deshalb sind Reichtum und Ehren, die durch Ungerechtigkeit erworben werden, für Konfuzius wie schwebende Wolken (Legge 1960: 200ff.). Aber heißt das dann, dass Konfuzius sich absolut gegen alles Gewinnbezogenes richtete und alles ablehnte was damit zu tun haben könnte? Zu Beantwortung dieser Frage sagte der Meister: „Nicht nur auf die kleinen Gewinne achten. […] Die Konzentration auf kleine Gewinne verhindert die Bewältigung der größeren Angelegenheiten.“ (Legge 1960:270) 3.4. Riten Eine weitere Eigenschaft, die die Lehren des Konfuzius auszeichnet, stellen die Riten dar. Hier haben wir wieder das Problem der Übersetzungsungenauigkeit. Das chinesische Zeichen ist li und in der westlichen Welt versteht man unter Riten oft einen religiösen Brauch. Der Begriff der konfuzianischen Riten ist im Gegensatz dazu sehr viel weiter gefasst und bezeichnet die abstrakte Idee der Gesamtheit aller Umgangsund Verhaltensformen, die einen guten Menschen und eine intakte gesellschaftliche Ordnung ausmachen. In diesem Sinne ist auch das li eng verbunden mit einem anderen Begriff des Konfuzius, nämlich der Menschlichkeit. Anders als das nach innen gewandte ren wurde das li als nach außen gerichtete Praxis verstanden, auf deren Grundlage man in der Gesellschaft richtig handelt. So erklärt Konfuzius was die authentische Menschlichkeit ist: „sich selber zu unterwerfen und zu den Riten zu zurückkehren“ (Legge 1960: 200ff.). Die 25 Wichtigkeit der Riten lässt sich durch die Worte des Konfuzius klar verdeutlichen: „Nicht auf das schauen, was nicht den Riten entspricht. Nicht darauf hören, was nicht den Riten entspricht. Nicht davon reden, was nicht den Riten entspricht. Nicht das tun, was nicht den Riten entspricht.“ (Legge 1960:250) Für Konfuzius umfassen die Riten die Normen des richtigen sozialen Verhaltens und deshalb sollen aufrichtige Menschen sich angemessen nach den richtigen Riten richten. Die Befolgung der Riten bedeutete – durchgängig mit Nachdruck auf dem Gemeinschaftsgedanken – die Verinnerlichung von Handlungen, wodurch der Betroffene einerseits in den Genuss des tröstlichen Gefühls der Tradition gelangte, andererseits aber auch seinen Schatz an Eindrücken und Erfahrung bereichern konnte. Es ist auf dieser Grundlage zu erwähnen, dass Konfuzius auch die besondere Rolle und die Wichtigkeit der Musik nachdrücklich betonte. Die Musik, die aus unterschiedlichen Tönen und Klängen besteht, so Konfuzius, empfängt man nicht als störenden Lärm sondern als harmonische Melodie, denn die unterschiedlichen Töne wurden nach gewissen Regeln in eine bestimmte Reihenfolge zusammengestellt. So stellt die Musik ein perfektes Beispiel für die ideale Gesellschaft dar: die Mitglieder der Gesellschaft, die wie die Töne auch von Natur aus voneinander abweichen, sollen auch in eine richtige Ordnung gebracht werden. So trat Konfuzius für eine vornehme Gesellschaft ein, in der man sich immer bewusst bleibt, welche Personen höher oder niedriger gestellt sind als man selbst. Er war davon überzeugt, dass die höchste soziale Ordnung zu erreichen sei, wenn man in der Gesellschaft auch seinen Rang genau kenne. Die Riten gaben, so glaubt Konfuzius, klare Anleitungen, welches Verhalten vom individuellen Menschen erwartet wurde und zwar abhängig von seiner Rolle und seinem Rang in der Gesellschaft. Die optimale hierarchische soziale Struktur von Konfuzius lässt sich 26 in seinem berühmten Spruch exemplifizieren: „Der Herrscher ist Herrscher und der Untertan ist Untertan. Der Vater ist Vater und der Sohn ist Sohn.“5 (Legge 1960:256) 4. Konfuzius Lehren als ideologische Säulen des chinesischen Kaiserreiches Konfuzius hatte leider nicht viel Glück bei der Umsetzung seiner Ideen in die Praxis. Vermutlich kurz nach der Kompilation der Lunyü schrieb Sima Qian (ca. 145 v.Chr.-ca. 90 v.Chr.), der Vater der chinesischen Geschichtsschreibung, die erste aber auch authentischste Biographie des Meisters. In dieser Biographie wird Konfuzius im Grunde als ein Verlierer beschrieben, den keiner so recht brauchen konnte und der sich dem Appellieren an moralischer Kultivierung, der Überlieferung der Tradition und Wiederherstellung der Gesellschaftsordnung nur deswegen widmete, weil er trotz unermüdlichen Umreisens an den Fürstenhöfen des Reiches niemanden fand, der ihn anstellen und seine Ideen umsetzten wollte (Sima 1997:1947, Yang / Yang 1974:27ff.). Aus der Zeit der Han um 81 vor Christus ist die Aussage eines Großwürdenträgers überliefert, der sagte: „Konfuzius war in der Lage eckig zu sein, aber nicht rund“ (Gale 1931:70). Damit ist gemeint, dass Konfuzius fixe Prinzipien hatte, sich aber nicht anpasste und deshalb nicht weit kam. Nach chinesischer Vorstellung war das kein Kompliment. Dennoch wurde Konfuzius um das Jahr vor Christus zum unbestrittenen Meister. Die Bedeutung des Konfuzius besteht für chinesische Literaten seit der Frühen Han-Dynastie (202 v. Chr. - 9 n. Chr.) in der ersten Linie darin, dass er dieses politisch-moralische System entworfen hatte, in dem bestimmte Unterordnungs- und Hierarchieverhältnisse gelten und nicht angetastet werden sollen (Kramers 1986:754). Genau aus dieser Zeit stammten die Ursprünge der ersten Säule von Konfuzius Lehren, das berühmte Beamtenprüfungswesen (Kejü-Prüfungen). Unter den Han wur- interculture j ourna l 11/19 ( 2 0 1 2 ) de schon um 140 vor Christus erstmals der Zugang zur chinesischen Bürokratie durch einigermaßen verbindliche Kriterien geregelt: Die Kenntnis einer kanonischen Schrift sowie ihrer Auslegungstradition wurde als Voraussetzung für die Aufnahme in den Beamtendienst gesetzt (Yao 2000:84). Aber damals musste die Ausbildung nicht unbedingt mit den Lehren des Konfuzius, so wie sie in dessen Gespräche niedergelegt sind, zu tun haben. Erst im 7. Jahrhundert nach Christus wurde das Prüfungssystem wesentlich ausgebaut und im 10. Jahrhundert wurde es zu der dominierenden Rekrutierungsmethode der Staatsverwaltung. Es wurden alle drei Jahre stattfindende Palastprüfungen eingeführt, für die man sich mit zuvor abgelegten Präfektursprüfungen qualifizieren konnte. Die besten Absolventen wurden auf eine kaiserliche Liste gesetzt und ihre Namen überall im Reich bekannt gemacht. Auf diese Absolventen warteten strahlende Karrieren. In den sieben Jahrhunderten zwischen dem 13. Jahrhundert und dem Sturz des Kaiserreiches Anfang des 20. Jahrhunderts wurden ausschließlich nur die konfuzianischen kanonischen Schriften als Schulbuchtexte und Referenzen für die Prüfungen genehmigt. Dieses stark von Konfuzianismus geprägte Prüfungswesen ist das Mittel gewesen, mithilfe dessen die Kenntnis der kanonischen Schriften in immer tiefere und breitere Bevölkerungsschichten verbreitet werden konnte. Eng mit diesem Phänomen verbunden ist die zweite Säule, nämlich der staatlich angeordnete Kult die volkstümliche Verehrung für Konfuzius. Bereits kurz nach dem Beginn des 2. Jahrhunderts vor Christus wurde ein kaiserliches Opfer dargebracht und somit begann eine lange Tradition, innerhalb derer sich im Laufe der Jahrhunderte ein Staatskult für Konfuzius ausprägte. Im Jahr 37 nach Christus belehnte der damalige Herrscher der Han-Dynastie einen Nachfahren des Konfuzius als Markgraf und ließ ihn dem Meister in seinem Namen Opfer bringen (Biallas 1981:55ff.). In den folgenden Jahrhunderten wurden dem Meister nach und nach immer höher posthume Titel verliehen und Konfuziustempel in der Hauptstadt und landesweit errichtet. Ab dem 14. bzw. 15. Jahrhundert lässt sich diese Gegebenheit erstmals physisch wahrnehmen. In Anlehnung an buddhistische Vorbilder wurden Heiligengeschichten des Konfuzius, z. B. Bildergeschichten, in denen das Leben des Konfuzius illustriert und verherrlicht wurde, gedruckt und im Volk verbreitet (Yao 2000:207f.). Im 18. Jahrhundert wurde der Geburtstag des Konfuzius (28. September, 551 v.Chr.) ermittelt und zum Nationalfeiertag erklärt, an dem im Konfuziustempel der Hauptstadt und seinen in allen Provinzen des Reiches existierenden Repliken große Zeremonien und Verehrung geübt wurden. Damit sind Konfuzius und seine Lehren nicht nur in der Elite als verbreitete politische Heilslehren gesehen, sondern auch sehr stark in die Nähe der Religionen des Buddhismus und des Daoismus gerückt. Auf Befehl des Kaisers Yongzheng (r. 1722-1735) wurde ein weitläufiger Kommentar verfasst und unter dem Namen des Kaisers veröffentlicht, aus dem am ersten und fünfzehnten jeden Monats in allen Städten des Reiches ein Kapitel den versammelten Beamten und Volk vorgelesen wurde (Biallas 1981:62). Somit wurde der Kaiser selbst Verbeiter des Konfuzianismus und Erzieher des Volkes nach konfuzianischen Grundsätzen. 5. Konfuzianismus in der Feuerprobe der modernen Welt: Überleben und Wiederbelebung Als schließlich in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts die politische und wirtschaftliche Schwäche Chinas bei den Angriffen Europas und Japans offen zu Tage trat, waren die äußeren Stützen des Konfuzianismus vollends brüchig geworden und sein Sturz wenigstens in den extremsten Ausbildungen besiegelt: die alten Schulen und Prüfungssysteme in dem der Kaiser, seine Beamten und auch das ganze chinesische Volk fungierten und ebenso der Staatskult mussten abgeschafft werden. Mit dem Sturz der letzten Dynastie im 27 Jahr 1911 sanken auch Konfuzius und seine Lehren von ihren Höhen herab. Am Ende des 19. Jahrhunderts begannen einige chinesische Reformer wie Yan Fu (1854-1921) und Zhang Taiyan (1869-1936) kritisch über die Probleme Chinas nach zu denken. Als sie sahen wie kläglich das eigentlich als Reich der Mitte angesehene China versagte, einigen verhältnismäßig kleineren europäischen Armeen Widerstand zu leisten, wiesen sie darauf hin, dass der wahre Grund für die eigene Schwäche Chinas darin liege, dass die konfuzianischen Lehren Spekulationen vorangetrieben haben, die den naturwissenschaftlichen Wissen und dem alltäglichen Leben wenig förderlich waren. Der Konfuzianismus sei an allem Schuld und er sei ein Hindernis, welches einer Modernisierung nach westlichem Vorbild im Wege stünde (Levenson 1958:109, Lin 2011:438). „Zerschlagen den Konfuzius-Laden“ wurde zum Werbeslogan der liberalen Revolutionäre in der Bewegung des Vierten Mai (1919). Die kaiserlichen Beamtenprüfungen wurden zum Beginn des 20. Jahrhunderts aufgehoben und zu einem modernen, westlichen System modernisiert. Zur selben Zeit wurde auch der staatliche Kult des Konfuzius aufgegeben. Anstelle einer Ausbildung in kanonischen konfuzianischen Schriften standen nun Naturwissenschaften und Fremdsprachen auf dem Lehrplan. Auch die Konfuziustempel, in denen volkstümliche Verehrung des Konfuzius für Jahrhunderte geübt wurde, wurden im Laufe des 20. Jahrhunderts aufgegeben und in Museen oder Speicher umgewandelt. Als die Kommunisten am Ende des Bürgerkrieges 1949 an die Macht kamen, standen sie vor der Aufgabe, sich Gedanken zu machen, wie sie sich zum konfuzianischen Erbe Chinas stellen sollten. Doch als die Kulturrevolution im Jahr 1966 ausbrach, wurde die Antwort ganz klar: Die veralteten und feudalen Lehren des Konfuzius sollten durch Marxismus-Leninismus ersetzt werden. In einer bizarren Kampagne wurde zu Beginn der 1970er Jahren der in Ungnade fallende, designierte Nachfolger von Mao, Lin Biao (1907-1971), 28 der unter nach wie vor ungeklärten Umständen auf einem heimlichen Flug in Richtung Sowjetunion abgestürzt und umgekommen war, mit Konfuzius gleichgesetzt (Wu 1983:26ff., Chin 2009:11). So wurde Konfuzius nicht nur an der Schwäche Chinas vor den westlichen Mächten schuldig, sondern er wurde auch als Antirevolutionär gegen den Kommunismus angesehen. In Folge dessen wurden Konfuzius-Statuen zerstört und Konfuzius-Comics, die den Bildergeschichten des 15. Jahrhunderts trotz ihrer Verzerrung in erstaunlicher Weise ähneln, erschienen. Nur, dass in ihnen der Meister nun als Sklavenhalter präsentiert und seine Philosophie als klassengebunden verunglimpft wurden. Dies ist natürlich nur eine Seite der Geschichte. Die Nabelschnur zwischen der konfuzianischen Tradition und dem modernem China, als auch moderne Ostasien, kann nicht leicht durchtrennt werden. Verschiedene Elemente des konfuzianischen Erbes, in welcher Form auch immer, sind in der Gegenwart immer noch erhalten, die entweder in nationalistischen und kommunistischen Lehren und Grundsätzen zu entdecken sind oder implizit in der zugrunde liegenden gesamten Struktur der chinesischen Gesellschaft ausgeblendet sind (Levenson 1958:126ff.,135). Der Zusammenhang zwischen Sun Yat-sens „Drei Prinzipien des Volkes“ (sanmin zhuyi) und der konfuzianischen Version des Grand-Einheit-Gesellschaft ist so stark, dass es kaum bestritten ist, dass die Erstere zu einem gewissen Grad eine Folge des Letzteren ist. Die Kommunisten, auf der anderen Seite, waren so tief von der konfuzianischen Moral inspiriert, dass David Nivison sogar argumentiert, dass sich die chinesische kommunistische Ethik und der Konfuzianismus schon von Anfang an nicht voneinander unterschieden werden konnten (Nivison 1972). Die letzten drei Jahrzehnte stellten eine Phase der Rehabilitation des Konfuzius dar: Im Jahr 1984 wurde in seiner Heimat Qufu, vor einer großen Zahl geladener ausländischen Gäste, eine neue Konfuziusstatue aufgestellt, die als Nachfolger für die während der Kultur- interculture j ourna l 11/19 ( 2 0 1 2 ) revolution zerstörte alte Statue dienen sollte. Im Jahr 1985 wurde ein nationales Institut für Konfuziusforschung in Peking gegründet und seitdem treffen sich da in regelmäßigen Abständen Wissenschaftler, die aus verschiedenen Anlässen über das Konfuzianische Erbe diskutieren. Die achtziger Jahre sind gleichzeitig die Zeit, in der sich die wirtschaftlichen Erfolge der Tigerstaaten (Hong Kong, Taiwan, Korea, Singapur) und China, die über einen ausgeprägt konfuzianischen Hintergrund verfügen, immer auffälliger manifestieren und auch zunehmend die Aufmerksamkeit der Welt auf sich zieht. So haben einige Forscher begonnen, den Konfuzianismus als einen der Gründe für diesen Erfolg auszumachen.6 Die Kombination von konfuzianischen Werten und modernen Qualitäten schafft in China einen neuen Titel für die Führungskräfte in der Wirtschaft: Die Unternehmer werden als „konfuzianische Unternehmer“ (rushang) ausgezeichnet, dafür, dass sie in dem Wirtschaftsleben konfuzianische Werte wie Menschlichkeit, Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit zeigen (Lin 2011:439). Das einst abgeschaffte konfuzianische Bildungssystem ist wieder auf dem Vormarsch: Nach einer Pause von fast einem Jahrhundert werden in China die Beamtenprüfungen in einer neuen Form wieder aufgenommen, als Mittel für die Rekrutierung der Staatsbeamten (Yao 2000:276ff.). Selbstverständlich sind alle diese Institutionen nun vielmehr von den westlichen bzw. universellen Ideen geprägt, aber die Wiederbelebung von Konfuzius und seine Lehren sind eindeutig spürbar. 6. Fazit und Ausblick So wie das Christentum die westliche Kultur und Ethik beeinflusst hat und heute immer noch beeinflusst, so wirken die Lehre des Meisters Kong im ostasiatischen Kulturraum seit mehr als 2000 Jahren. Ein ganz anderes China und ein ganz anderes Volk bringt uns Konfuzius und seine Schule. Es ist wahr, dass niemand sich näher mit China befassen kann ohne Konfuzius, dem größten Mann Chinas und dem berühmtesten Chinesen der Welt, seine besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden. Aber der Begriff Konfuzianismus wird heute zumeist in stark ausgeleierter Form verwendet. Oft machen sich Anhänger der konfuzianischen These nicht mal die Mühe, die jeweilige Qualität in konfuzianischen Texten tatsächlich zu verordnen und vor allem nicht sich Gedanken zu machen, ob nicht äquivalente Ideen ganz genauso in christlichen oder muslimischen Texten zu finden wären.7 So fasst es beispielsweise Tu Wei-Ming, Professor für die Kultur Chinas an der Harvard University und einer der wichtigsten Apologeten des modernen Konfuzianismus, folgendermaßen zusammen: „Bei ihrer Sondierung der geistigen Orientierungsgrundlagen, die den Industrienationen Ostasiens gemeinsam sind, haben Historiker, Philosophen und Religionswissenschaftler eine Anzahl erstaunlich allgemeingültiger Grundhaltungen festgestellt. Hierzu zählt das Konzept des Selbst als Zentrum aller Beziehungen, ein Gefühl für Vertrauensgemeinschaften ähnlich der Familie, die Bedeutung eingefahrener Rituale im Alltagsleben, das Primat der Erziehung bei der Charakterbildung, die Bedeutung exemplarischer Führerpersönlichkeiten in der Politik, die Abneigung gegen Zivilprozesse sowie die Betonung des Konsensus und der Selbstkultivierung. Das Wertsystem, das diesen Punkten offensichtlich noch am ehesten entspricht, ist allgemein unter dem Namen ‘konfuzianische Ethik’ bekannt.“ (Tu 1990:43) Von einer ganz anderen Seite als von der Wertediskussion aus sollten Bedenken kommen, ob nicht in den Lehren des Konfuzius mehr Kräfte stecken, als sich westliche Beobachter jahrhundertelang vorstellen konnten: Der volkstümliche Glaube an die spirituelle Kraft Konfuzius und seine Einflüsse auf die heutige Gesellschaft ist nicht gebrochen. Die Führung in Peking scheint gegen diese Umtriebe nichts zu haben, denn ihre Förderung verspricht Legitimation, da chinesische, traditionelle Kultur ein wesentliches Element ist, das an die Stelle marxistisch-leninistischer Ideologie treten kann. So lässt es sich nicht schwer verstehen, warum Chinas Staatspräsident Hu Jintao 2004 das Schlagwort 29 „harmonische Gesellschaft“, das direkt auf Konfuzius Appell an einer vorbildlichen Gesellschaft der Menschheit zurückzuführen ist, als Zukunftsversion der chinesischen Gesellschaft ausgerufen hat. Ein völliger Verzicht Chinas auf Sozialismus bzw. Kommunismus gilt äußerst unwahrscheinlich, aber es ist unbestritten, dass die Lehren von Konfuzius in dem politischen Leben und den Modernisierungsprozess Chinas immer mehr an Gewicht gewinnen werden. Der umfangreiche Einfluss der Lehren des Konfuzius bleibt im heutigen China immer inhärent und so wird die chinesische Gesellschaft und die kulturelle Identität der Chinesen auch in der Zukunft weiter von dem alten Meister geprägt. 7. Literatur Bauer, W. (2001): Geschichte der chinesischen Philosophie. München: C. H. Beck. Biallas, F. X. (1981): Konfuzius und sein Kult. New York / London: Garland Publishing. Brooks, E. B. / Brooks A. T. (1998): The Original Analects. Sayings of Confucius and His Successors. New York: Columbia University Press. Chin, A. (2009): Confucius. A Life of Thought and Politics. New Haven: Yale University Press. Gale, E. M. (1931): Discourse on Salt and Iron. A Debate on State Control of Commerce and Industry in Ancient China. Leiden: Brill. Grube, W. (1910): Religion und Kultus der Chinesen. Leipzig: Verlag von Rudolf Haupt. Kramers, R. P. (1986): The Development of the Confucian Schools. In: Twichett, D. / Loewe, M. 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Für eine ausführliche Debatte über die persönlichen Daten des Konfuzius, siehe Franz Xaver Biallas, Konfuzius und sein Kult. New York und London: Garland Publishing 1981, S. 117; E. Bruce Brooks und A. Taeko Brooks, The Original Analects. Sayings of Confucius and His Successors. New York: Columbia University Press 1998, S. 263-264. 3. Neuere Forschungen bestätigen einen Verdacht, der schon von traditionellen Gelehrten geäußert worden ist, nämlich dass nur ein größeres Kernstück von ca. 50-75% des Lunyü tatsächlich auf die Zeit von Konfuzius zurückgehen kann, während der zweite Teil, Kapitel 11 bis 20, erst in den kommenden Jahrhunderten hinzugewachsen ist. Vgl. Brooks und Brooks, The Original Analects, S. 201-203. 4. Für eine englische Übersetzung der Reden von Konfuzius in Lunyü, siehe James Legge, The Chinese Classics, Bd. 1, S. 213215. 5. Für diesen Satz aus dem Lunyü gibt es allerdings andere Übersetzungsmöglichkeiten, die auf unterschiedlichen Interpreta- 31 32 interculture j ourna l 11/19 ( 2 0 1 2 ) Migrations- und ungleichheitsbedingte Missverständnisse in der Schule Misunderstandings at school in the context of migration and social inequality Aladin El-Mafaalani Abstract (Deutsch) Dr. rer. soc., Fakultät für Sozialwissenschaft, Ruhr-Universität Bochum sowie Projektleiter am ISF RUHR in Dortmund Kulturelle Vielfalt und soziale Ungleichheit stellen zentrale Herausforderungen im Erziehungs- und Bildungssystem dar. Ausgehend von einem Fallbeispiel für misslungene Kommunikation in der Grundschule werden latent wirksame Normalitätsannahmen expliziert. Dabei wird aus mehreren Perspektiven ein Gespräch zwischen einer Lehrerin und einem türkeistämmigen Jungen unter Betrachtung der Erziehungsvorstellungen der Eltern vergleichend interpretiert. Dieser Fall zeigt kontrastreich auf, welche dissonanten Erziehungslogiken auf ein Kind implizit einwirken können. Stichworte: Erziehungsziele, Kommunikation, Migration, soziale Ungleichheit, Fallanalyse Abstract (English) Cultural diversity and social inequality are central challenges in the education system. Latent effective stereotypes are explicated by an example of failed communication in the primary school. A conversation between a teacher and a Turkish boy is interpreted from several perspectives considering the parents ideas of education. This case shows rich in contrast which dissonant ideas of education influence a child implicitly. Keywords: educational objectives, communication, migration, social inequality, case study 1. Einleitung Dem deutschen Bildungswesen wurde mehrfach attestiert, sozial ungleiche Startchancen nur unzureichend auszugleichen. Soziale Herkunft, Migrationshintergrund und Geschlecht stellen dabei die zentralen Merkmale dar, die die Bildungschancen von Lernenden auf teilweise beträchtliche Weise beeinflus- sen. War vor einigen Jahrzehnten noch die Arbeitertochter der bildungspolitische Problemfall, so werden heute Jungen, insbesondere Migrantensöhne, strukturell benachteiligt (Geißler 2008). In diesem Zusammenhang werden der schulischen Alltagspraxis u. a. auch starre Normalitätsvorstellungen und stereotypen Erwartungshaltungen attestiert (Gomolla / Radtke 2002, 33 Dravenau / Groh-Samberg 2008). Im Folgenden werden solche Normalitätsannahmen und Erwartungshaltungen exemplarisch anhand eines Falls in der Grundschule dargestellt und analysiert. Dabei handelt es sich um ein misslungenes Gespräch zwischen einer Lehrerin und einem türkeistämmigen Schüler. Die Auswahl dieses Falls zur exemplarischen und zugleich markanten Skizzierung zentraler Problemstellungen begründet sich in folgenden Aspekten: Zum einen spielt die Phase der Selektion zu Beginn der Grundschule noch keine große Rolle, zum anderen zeigt dieser Fall Problemstellungen auf, die nicht unmittelbar mit dem Unterricht zusammenhängen und bereits sehr früh wirksam sind. Schließlich repräsentiert der Junge aus einer türkeistämmigen Arbeiterfamilie, der in einem stark segregierten Stadtteil aufwächst, eine im deutschen Bildungssystem besonders benachteiligte Gruppe. Entscheidend erscheint dabei auch, in welch subtilen Zusammenhängen Normalitätserwartungen latent wirksam sind. Die Situation, die im Folgenden dargestellt und analysiert wird, wurde von einer Grundschullehrerin in einem Interview erzählt. Daraufhin wurde die erzählte Situation durch Schauspieler nachgestellt und mehreren türkischstämmigen Vätern vorgespielt, um anschließend bei der Interpretation der Situation die verschiedenen Perspektiven von Lehrkraft, Eltern und Kind berücksichtigen zu können. Vor diesem Hintergrund wird abschließend vom Fall abstrahiert, um aus der Analyse misslungener Kommunikation Anknüpfungspunkte für eine migrations- und ungleichheitssensible pädagogische Praxis zu diskutieren. 1. Falldarstellung Ömer ist ein in Deutschland geborenes 7-jähriges Grundschulkind türkischer Herkunft und wächst in einem stark segregierten Stadtteil im Ruhrgebiet auf. Sein Vater gehört zur zweiten Generation der ehemaligen Gastarbeiter, seine Mutter hat ihre Kindheit in der Türkei verbracht. Beide Elternteile haben kaum Erfahrungen mit dem deutschen Schul- 34 system. Der Vater war selbst in einer so genannten Ausländerklassen untergebracht, hat entsprechend einen großen Teil seiner Schulzeit in rein türkischen Lerngruppen verbracht und beendete seine Schulzeit ohne Schulabschluss; die Mutter hat die Schulzeit vollständig in der Türkei erlebt. Ömer kann sich auf Türkisch und auf Deutsch verständigen, hat allerdings – nach Aussage der Lehrkraft – in Bezug auf die Sprachkompetenz im Vergleich zu seinen Mitschülern und Mitschülerinnen Rückstände.1 Die nun folgende Situation ereignet sich, nachdem Ömer auf dem Schulgelände rot gefärbtes Wasser in einen Ballon füllt und dieser dann in der Turnhalle platzt. Auf dem Boden und an mehreren Kleidungstücken seiner Mitschüler sind rote Flecken. Da die Klassenlehrerin nicht gesehen hat, was passiert war, fragt sie in die Klasse, wer das gewesen sei. Erst nachdem sie mehrfach und nachdrücklich fragt, zeigt ein Mitschüler auf Ömer. Da die Lehrkraft an Ömers Gesichtsausdruck erkennt, dass ihm klar zu sein scheint, dass sein Handeln nicht in Ordnung war, lässt sie ihn zunächst gemeinsam mit einigen Mitschülern die Flecken säubern, um kurze Zeit später unter vier Augen mit Ömer zu sprechen. Die folgende Situationsbeschreibung wird von der Lehrerin auf die Bitte hin, die Situation und den Dialog so genau wie möglich zu beschreiben, formuliert: L: „Ich habe mich so hingesetzt und Ömer hat ungefähr in der Entfernung vor mir gestanden. Er guckte schon etwas traurig. Ich habe ihn gefragt, wie ich das immer mache: ‚Ömer, erzähl mal, was ist passiert?‘. Ganz ruhig ne. Und er hat nichts gesagt. Er guckt auf den Boden und antwortet nicht. Dann wollte ich wissen woher er die Farbe hat. Ich meine, das ist nicht in Ordnung so, zwei Schüler haben Flecken gehabt auf den Anziehsachen. Und er antwortete immer noch nicht. Der hat halt so genervt gewirkt. Und dann bin ich schon, schon etwas ich sag mal sauer geworden. Ich meine das bringt so ja nichts.“ I: „Was haben Sie dann gesagt? Wie ging’s weiter?“ L: „Ja, dass er mich anschauen soll und mit mir reden soll. Dann hat er mich interculture j ourna l 11/19 ( 2 0 1 2 ) glaub ich kurz angeguckt, ganz kurz und dann hat wieder auf den Boden geguckt. So mit schräg gesenktem Kopf. So als ob er das jetzt ertragen muss, als ob er wartet, dass es endlich fertig ist. Irgendwann war meine Geduld am Ende. Ich mein, das war‘n anstrengender Tag und so kommt man nicht weiter, wenn er nicht redet.“ I: „Was haben Sie dann getan?“ L: „Ich habe gesagt: ‚Entweder du redest jetzt mit mir oder ich muss mit deinen Eltern reden‘. Ich meine, ich war halt sauer. Das war ja alles eigentlich nicht so schlimm. Aber er guckte immer noch gelangweilt, dachte ich zumindest. Aber irgendwie ist es schlecht gelaufen.“ I: „Und wie ist es weitergegangen?“ L: „Er hat angefangen zu weinen und gesagt, dass er das nicht wollte, dass der Ballon platzt. Er wollte nur spielen. Er hat richtig geweint. Ich musste ihn erstmal beruhigen. So wollte ich das ja nicht. Das ist ganz verkehrt gelaufen. […] Naja, dann haben wir abgemacht, dass so etwas nicht wieder passieren darf. […] Aber gestern hat es schon wieder Probleme gegeben.“ 2. Mehrperspektivische Fallanalyse An dieser unscheinbaren Situation lassen sich Irritationen bzw. Missverständnisse in pädagogischen Kontexten exemplarisch aufzeigen. Im Folgenden wird die Situation aus den Perspektiven der Lehrerin, der Eltern und indirekt auch des Kindes rekonstruiert, um über diesen Umweg unterschiedliche Motivlagen und Denkmuster offen zu legen 2.1. Die Perspektive der Lehrkraft Die Lehrerin hat das Gespräch gesucht, sie hat dies nicht vor der gesamten Klasse getan, sie hat sich hingesetzt, sich dem Kind zugewandt, das Gespräch ruhig begonnen und eine offene Frage gestellt. Dies stellt für den pädagogischen Alltag ein durchaus nachvollziehbares Verhalten dar. Dennoch war der Verlauf des Gesprächs kaum zufriedenstellend, insbesondere auch deshalb, weil sich das Fehlverhalten kurze Zeit später wiederholte. Aus der Perspektive der Lehrkraft war das Verhalten von Ömer irritierend, denn ansonsten sei er ein sehr lebhafter und selbstbewusster Junge. Daher kann sie sein Verhalten nicht klar einordnen: War es ein Ausdruck von Desinteresse oder von Respektlosigkeit, dass er sie nicht angeschaut und ihr nicht geantwortet hat? Nimmt er sie u. U. als weibliche Autoritätsperson nicht ernst oder hat sie sich inadäquat verhalten? Durch diese Unsicherheit wird sie im Laufe des Gesprächs ungeduldig, immer entschiedener und zuletzt weiß sie sich nicht anders zu helfen, als dem Jungen mit der Autorität der Eltern zu drohen. Weil sie nicht beabsichtigte, Ömer zum Weinen zu bringen, tröstet sie ihn anschließend. Mit dem unbestimmbaren Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben bzw. den Jungen nicht richtig eingeschätzt zu haben, fährt sie nach Hause. Sie denkt darüber nach, ein Gespräch mit Ömers Eltern zu führen, um einen besseren Einblick in die familiäre Situation zu bekommen und mögliche Probleme zu klären. Die Unbestimmtheit der Situation veranlasst sie also, zunächst ein Problem in der Familie zu vermuten. 2.2. Die Perspektive der Eltern Elf türkeistämmigen Vätern aus dem Arbeitermilieu wurde die Videoaufzeichnung, in der die Situation von Schauspielern nachgestellt wird, gezeigt, um herauszufinden, wie sie die Situation interpretieren. Um mögliche (Selbst-) Ethnisierungen zu vermeiden und Erziehungsverhalten und -muster zu fokussieren, wurde ein deutschstämmiges Kind für die Aufzeichnung gewählt. Im Folgenden wird die Reaktion eines türkeistämmigen Vaters exemplarisch dargestellt. Der Vater schaut sich das Video interessiert und ruhig an. Mehrmals nickt er und bestätigt damit die Angemessenheit des pädagogischen Handelns. Erst am Ende schüttelt er mit dem Kopf. I: „Was haben Sie da gesehen?“ V: „Das ist nicht richtig. So ist da kein Wunder, dass unsere Jungen Probleme in der Schule haben. Wir sagen unseren Jungen: ‚Sei respektvoll zu den Lehrern’. Egal ob Mann oder Frau, das is egal. 35 Aber dort, ich weiß nicht, die dort kennen Respekt nicht […]. Er soll nicht weinen und sie soll ihn nicht trösten auch noch. Was soll das? […] Warum gibt es keine Bestrafung?“ Zunächst fällt das Wir-Die-Denken auf. Was erst im Laufe des Gesprächs klar wird: Der Vater meint mit „Wir“ nicht seine Familie oder Eltern im Allgemeinen, sondern türkeistämmige Eltern im Speziellen. Obwohl das Kind in der nachgespielten Szene weder sprachliche noch optische Merkmale aufweist, die auf einen türkischen Jungen hindeuten, wird vom Vater die Situation unmittelbar in den eigenen Kontext übertragen. Er scheint sich häufiger mit anderen Eltern über diese Thematik unterhalten zu haben und nimmt hier ein allgemeines Problem wahr. Wie hätte sich der Vater verhalten? Der Vater empfindet das Fehlverhalten des Jungen ausdrücklich als inakzeptabel – in der Sache selbst gibt es also zunächst keine unterschiedliche Problemwahrnehmung. Jedoch unterscheidet sich das erzieherische Vorgehen des Vaters fundamental von jenem der Pädagogin. Er würde den Jungen verbal und mit entschiedenem Ton zurechtweisen. Dabei wäre jede Antwort des Jungen als Aufmüpfigkeit zu interpretieren und würde entschieden bestraft. Der Vater möchte gar nicht wissen, wie dieses Fehlverhalten zustande kam und warum der Junge etwas Verbotenes tut. Selbst dann, wenn der Vater Fragen stellt, erwartet er häufig keine Antwort.2 Aus seiner Perspektive handeln Kinder häufig unüberlegt, was unterbunden und je nach Schweregrad geahndet werden müsse. Dabei ist es ihm wichtig, dass der Junge nicht weint, also nicht emotional reagiert, sondern die Autorität der erziehenden Person uneingeschränkt anerkennt und sich unterordnet. Ebenso missfällt dem Vater, dass die Lehrerin die Eltern als Drohkulisse instrumentalisiert, obwohl der Junge die Autorität der Lehrerin gar nicht anzweifle. Diese Unsicherheit der Pädagogin wird vom Vater als Inkompetenz gedeutet. Genauso verhält es sich mit einer eventuellen Einladung der Eltern durch die Lehrkraft: 36 V: „Warum sollen wir kommen? Sie kann nicht so mit dem Kind so umgehen. Das ist keine Erziehung. Das Problem hat sie gemacht. Jungen machen immer so ein Quatsch. Sie muss klarkommen damit. Warum schicke ich Kinder in Schule, wenn dann auch dort die Erziehung ich machen muss?“ Während der Vater also das Fehlverhalten des Jungen genauso missbilligt, wie dies auch die Pädagogin tat, scheint ein fundamentaler Unterschied darin zu liegen, wie das Fehlverhalten erklärt wird und entsprechend auch wie damit umgegangen wird. In der wissenschaftlichen Literatur ist dieser Erziehungsstil türkeistämmiger bzw. muslimischer Familien häufig beschrieben worden. Beispielsweise bei AlamdarNiemann (1992), Merkens (1997) und Toprak (2002). Aus diesen drei Studien lässt sich erkennen, dass sich zum einen ganz unterschiedliche Erziehungsstile in türkeistämmigen Familien feststellen lassen, aber zum anderen auch, dass es einen Typus gibt, der dem Erziehungsstil des Vaters entspricht: Die Bezeichnungen religiös-autoritär (AlamdarNiemann), autoritär (Merkens) und konservativ-spartanisch (Toprak) benennen das Erziehungsverhalten auf analoge Weise und unterscheiden sich lediglich im Hinblick auf die Bedeutung der Religion für die Erziehung.3 In diesen drei Typisierungen wird davon ausgegangen, dass sich die Eltern, die eine autoritäre bzw. konservative Erziehung verfolgen, besonders dann erzürnen, wenn das Kind widerspricht. Das Abweichen von elterlichen Anordnungen wird nicht geduldet. Gegenüber Forderungen des Kindes bleiben die Eltern grundsätzlich hart. Entsprechend handelt es sich hier um ein spezifisches Menschenbild. Demnach ist ein Kind noch nicht zur Einsicht fähig. Ein Fehlverhalten wird scharf angemahnt und nicht ergründet. Erst ein aufmüpfiges Verhalten, das bereits durch ein Antworten während der Zurechtweisung als solches identifiziert werden kann, führt zu einer harten Bestrafung. Respekt, Gehorsam und Loyalität sind in diesen interculture j ourna l 11/19 ( 2 0 1 2 ) Familien zentrale Werte. Die Bestrafung von Kindern dient den Eltern also zum einen zur Verhaltenskorrektur, zum anderen aber auch zur (Wieder-)Herstellung der Loyalität den Eltern und Erwachsenen gegenüber. Aus dieser Perspektive wird deutlich, dass für den Vater nicht der Beginn des Gesprächs zwischen Lehrerin und Kind (also das Schweigen und der gesenkte Blick), sondern erst das Ende ein Problem darstellt. Aus seiner Sichtweise ist das Handeln der Pädagogin nicht zielführend. Durch den Verlauf des Gesprächs fühlt sich der Vater darin weiter bestärkt. Aus den Aussagen des Vaters kann ferner auf eine weitere typische Denkweise geschlossen werden: Türkeistämmige Eltern treten häufig die Bildungs- und Erziehungsverantwortung vollständig an die Schule ab. Das liegt u. a. an dem großen Handlungsspielraum des Lehrers in Bezug auf die Disziplinierung der Schüler in muslimischen Gesellschaften. Schulen im Orient übernehmen die Erziehungsverantwortung für die Kinder während der Schulzeit praktisch vollständig (vgl. Leenen u. a. 1990). D. h., dass auftretende Probleme innerhalb der Schule gelöst werden, ohne dass die Eltern zu Rate gezogen werden. Die Funktion der Schule wird offenbar nicht angemessen eingeschätzt, was als plausible Erklärung dafür gilt, dass türkeistämmige Kinder trotz hoher Bildungsaspirationen der Eltern im Bildungssystem relativ schlechte Ergebnisse erzielen (vgl. hierzu auch Bittlingmayer / Bauer 2007). Vor diesem Hintergrund lässt sich nachvollziehen, dass der Vater die Einladung zu einem Gespräch bezüglich der Erziehung des Kindes als pädagogische Inkompetenz deutet. 2.3. Die Perspektive des Kindes Was der Pädagogin in der Situation also nicht klar wurde: Ömer verhält sich ihr gegenüber anscheinend nach den Regeln der innerfamiliären Kommunikation in konservativen Familien. Das Verhalten, das seine Lehrerin als Desinteresse oder gar Respektlosigkeit deutet, scheint vielmehr ein Ausdruck von Demut und Gehorsam zu sein. Sein Verhalten hat den Charakter einer ansozialisierten inneren Norm: Während einer Zurechtweisung scheint er Hemmungen zu haben, einer Autoritätsperson in die Augen zu schauen und ihre Fragen zu erwidern. Ein Angucken auf Augenhöhe kann dann später auch unter Jugendlichen als Provokation – als Anmache – interpretiert werden (Tertilt 1996).4 Direkter Blick- bzw. Augenkontakt ist in orientalischen Kulturen traditionell nur zwischen Statusgleichen üblich (Broszinsky-Schwabe 2011). Er schweigt – ein Verhalten, das er gelernt hat. Jedoch wird sein respektvolles, einer gelernten Regel folgendes Verhalten nicht als solches (an-)erkannt. Im Laufe des Gesprächs zeigt sich: Ömer ist irritiert. Das Verhalten der Pädagogin weicht deutlich von jenem seiner Eltern ab. Zudem ist die Situation für ihn kaum durchsichtig: Zu häufig wechselt die Lehrkraft den Gesprächsmodus (erst offen und freundlich, dann ernst und bedrohlich, zuletzt dann wieder einfühlsam und aufmunternd). Ein solches situatives erzieherisches Handeln wird in konservativen Familien kaum praktiziert. Ömer fehlt in solchen Situationen Orientierung und Berechenbarkeit. Die großen Distanzen, die zwischen einer Orientierung an Einsicht und Selbstständigkeit in der Schule und der Orientierung an Autorität und Loyalität in der Familie bestehen, können dauerhaft zu Stress führen. Er erlebt verschiedene Regelwerke und Anerkennungsmodi in Schule und Familie, ohne dass ihm dies klar zu werden scheint.5 3. Mögliche Folgen Bei dauerhaften Irritationen zwischen widersprüchlichen Anerkennungsmodi ist es aus der Perspektive von Kindern durchaus problematisch, beiden Erwartungsstrukturen bzw. Erziehungslogiken gerecht zu werden (vgl. Grundmann et al. 2008). Problematisch wird es dann, wenn Anerkennung in der Schule ausbleibt und damit das Wertesystem der Schule tendenziell weniger attraktiv wird. Dies gilt für sozial benachteiligte Jungen mit türkischem Migrationshintergrund in besonderem Maße. Denn 37 in konservativen türkischen Familien dürfen Jungen toben und aggressives Verhalten ausleben, ohne permanent auf Missgunst zu stoßen (vgl. PflugerSchindlbeck 1989).6 Zudem sind sie mit den Regeln der Eltern, des näheren häuslichen Umfelds und der ethnischen Community besser vertraut als mit den impliziten Regeln in pädagogischen Institutionen. Die Werte, die in der Schule gelebt werden, können für die Kinder aus konservativen Migrantenfamilien zu einer enormen Herausforderung werden. Die individualisierte Lebensführung, auf die die Schule vorbereiten soll, basiert auf individueller Anerkennung als moderne Form der Integration. Bleiben diese Erfahrungen aus, besteht die Gefahr des Rückzugs in das Herkunftsmilieu bzw. die ethnische Community. „Desintegration zeigt sich deshalb gerade in einem Anerkennungsvakuum […]. Bleibt Anerkennung aus, kann leicht eine Entwicklung eintreten, die traditionelle Form der Integration durch Bindung wiederzubeleben“ (Heitmeyer et al. 1998:59; Hervorhebung nicht im Original). Da Ömer bereits Leistungsdefizite, insbesondere im sprachlichen Bereich, attestiert werden, besteht durch solche irritierenden Zustände, die keine Antizipierbarkeit sozialer Situationen ermöglichen, durchaus das Risiko für Schuldistanzierung. Als Risikofaktoren für Schulmüdigkeit und Schuldistanzierung zählen u. a. Dissonanzen zwischen schulischer und außerschulischer Lebenswelt und ambivalente Haltungen der Eltern gegenüber der Schule (vgl. u. a. Thimm 2000). Die Häufung schulischer Kontexte, in denen die Antizipation von Erwartungen und von Folgen des eigenen Handelns nicht gelingt und entsprechend Anerkennung und Erfolg ausbleiben, begünstigt eine Haltung, in der die schulischen Logiken als etwas Fremdes wahrgenommen werden. Wenn sich dann im Laufe der Jugendphase zusätzlich die Haltung etabliert, dass die Lebenspraktiken und Denkmuster der Eltern nicht zeitgemäß sind, setzt eine aktive Suche nach (neuer) Zugehörigkeit ein (Bohnsack / Nohl 2001). Diese 38 Suchbewegungen jenseits schulischer und familiärer Einflussnahme können insbesondere in segregierten städtischen Räumen zu verheerenden Folgen führen. 4. Fazit Zunächst muss auf die Besonderheiten des Samples hingewiesen werden: Alle befragten Väter weisen ein niedriges Bildungsniveau auf und leben in einem stark benachteiligten Stadtteil. Dabei weisen lediglich fünf der insgesamt elf Befragten ein konservatives Erziehungsverständnis nach dem hier beschriebenen Muster auf. Auf dieser Grundlage können keine quantitativen Aussagen getroffen werden und schon gar keine Generalisierung auf der Grundlage von Repräsentativität. Es geht also nicht darum, Aussagen über objektive Verhältnisse zu machen, sondern vielmehr darum, bekannte und belegte Problemstellungen aus der Erlebensperspektive der Akteure exemplarisch aufzuzeigen, insbesondere die Deutungen einer Situation aus den Perspektiven verschiedener Akteure. Bezogen auf den konkreten Fall kann man sich fragen, wie die beteiligten Personen reagieren, wenn sich Ömer wieder ungeschickt anstellt. Wie wird Ömer auf die dauerhaften Irritationen zweier Erziehungslogiken reagieren, die nebeneinander stehen und sich teilweise widersprechen? Wie wird die Lehrerin mit einer erneuten Frustration umgehen? Und welche Haltung gegenüber der Schule und der Lehrkraft entwickeln die Eltern, wenn sie erneut zu Rate gezogen werden bzw. wenn sie das Gefühl haben, das Fehlverhalten würde auf innerfamiliäre Probleme zurückgeführt? Um Widersprüche und Irritationen – wie sie hier beschrieben wurden – zu vermeiden müssten sie zunächst als solche erkannt und transparent bearbeitet werden. Hierfür erscheinen drei Aspekte zentral: (1) Diversität und Ungleichheit müssen in der Aus- und Weiterbildung der Lehrkräfte sowie der sozialpädagogischen Fachkräfte eine größere Rolle spielen; damit geht (2) einher, dass (u. U. sehr vorausset- interculture j ourna l 11/19 ( 2 0 1 2 ) zungsreiche) Normalitätsannahmen auf den Ebenen der Organisation und der Interaktion erkannt und reflektiert werden; daraus lässt sich (3) ableiten, dass interdisziplinäre (Erziehungs-)Konzepte (u. a. in Bezug auf den Unterricht, die Schulsozialarbeit und das Ganztagsprogramm) notwendig sind. Unter dem Stichwort Migrationssensibilität ließen sich die drei Punkte auf einen Nenner bringen. Insgesamt kann es also keineswegs darum gehen, sich der familiären Erziehung anzunähern, sondern – ganz im Gegenteil – die Kinder dazu zu befähigen, die schulischen Herausforderungen zu bewältigen, indem der Anteil dessen, was implizit vorausgesetzt wird, so klein wie möglich gehalten wird. Das bezieht sich nicht allein auf die Entwicklung von Sprachkompetenz, sondern auch auf erzieherische Fragen im Allgemeinen. Die Eltern in solche Konzepte mit einzubeziehen, kann durchaus gewinnbringend sein. Von den Eltern zu erwarten, sich zu ändern, erscheint hingegen kaum erfolgversprechend. Sie können sich nur sehr schwer von ihren Werten und Traditionen distanzieren. Im Gegenteil: Häufig geben sie den schulischen Verhältnissen die Schuld für das Scheitern der eigenen Kinder. Dadurch werden die eigenen Denkmuster und Erziehungsziele u. U. verstärkt, was für folgende Generationen das Spannungsverhältnis zwischen Familie und Schule weiter konserviert (El-Mafaalani / Toprak 2011). Kinder aus benachteiligten Migrantenfamilien erleben zwei unterschiedliche Identitäten, zwei verschiedene kulturelle Codes, also im wörtlichen und metaphorischen Sinne zwei Sprachen, bei denen sich die Heranwachsenden als Sprecher und Übersetzer zugleich üben müssen. Diese zu vollziehenden komplexen Syntheseleistungen zwischen herkunftsbezogenen und aufnahmelandbezogenen Erwartungen werden um schichtspezifische Problemstellungen verstärkt. Die Art, in der Kinder eine Möglichkeit erhalten bzw. erkennen, Anerkennung in Schule und Beruf zu erfahren, bestimmt entscheidend mit, inwieweit sie die traditionellen Denk- und Handlungsmuster aufrechterhalten, verstärken oder den deutschen Verhältnissen angleichen. 5. Literatur Alamdar-Niemann, M. (1992): Türkische Jugendliche im Eingliederungsprozess. 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Inwieweit dies auch auf die Türkischkenntnisse zutrifft, konnte nicht nachvollzogen werden. 2. Beispielsweise: Was soll das? Bist du verrückt? Willst du mich provozieren? Hierbei handelt es sich um rhetorische Fragen, auf die nicht geantwortet werden darf. 3. Für den vorliegenden Sachverhalt ist die Bedeutung der Religion irrelevant. Insgesamt wird das Verhältnis von traditioneller und religiöser Erziehung kontrovers diskutiert. 4. Der häufig parodierte Spruch „Was guckst du?!“ lässt sich hieraus herleiten. 5. Genau diesen Zusammenhang konstatieren auch Bohnsack und Nohl (2001). Allerdings vermuten die Autoren, dass diese Dissonanzen zwischen der „inneren Sphäre“ (Familie) und der „äußeren Sphäre“ (Mehrheitsgesellschaft) erst in der Adoleszenz zu einem Problem werden. Hier kann jedoch durchaus vermutet werden, dass diese bereits vorher (zumindest implizit) wirksam sind. 6. Die geschlechtsspezifische Erziehung spielt in konservativen türkeistämmigen Familien eine herausragende Rolle: Während Jungen zu körperbetontem, aktivem Verhalten motiviert werden, wird von Mädchen Schamhaftigkeit und Zurückhaltung erwartet. Dadurch können dann auch unterschiedliche Problemstellungen in der Schule auftreten. Durch die Distanz zwischen den traditionellen Männlichkeitsbildern und den in der Schule erwarteten Verhaltensweisen werden Jungen vor besondere Herausforderungen gestellt. interculture j ourna l 11/19 ( 2 0 1 2 ) 41 42 interculture j ourna l 11/19 ( 2 0 1 2 ) So nah und doch so fern – Fremdheitserfahrungen deutscher Migranten in Frankreich From proximity to distance – experiences of strangeness by German immigrants in France Manfred Ertl Abstract (Deutsch) Soziologe und Deutschlehrer (agrégation), tätig als Forscher und in einem französischen Gymnasium Ziel dieses Artikels ist es zu verstehen, wie deutsche Auswanderer der 80er und 90er Jahre in Frankreich die kulturelle und gesellschaftliche Distanz erlebt haben, welche Fremdheitserfahrungen sie gemacht haben und wie sie damit umgegangen sind, um ihren Platz in der französischen Gesellschaft zu finden und sich an die Kultur (im Sinne von Sitten, Gebräuchen, Werten usw.) und die Gesellschaft zu gewöhnen. Wir analysieren die Lebensweise der Deutschen in Frankreich vornehmlich aus einer inneren, subjektiven Perspektive, aus ihrer Wahrnehmung der Fremdheit. Wir vernachlässigen bewusst klassifizierende Ansätze der Integration. Jedoch interessieren wir uns dafür, wie sich der Migrant von seiner neuen Umgebung wahrgenommen fühlt. Wichtige Ergebnisse der Studie sind: Die Ursprungskultur prägt durch ihre Sozialisierung auf Lebenszeit und man bleibt immer irgendwie fremd in der zweiten Kultur. Man muss der Herkunftskultur einen angemessenen Platz im Leben einräumen, um die Fremdheitserfahrungen besser ertragen zu können. Dafür gilt es eine Vielzahl von Anpassungsleistungen zu bewerkstelligen, um eine Ursprungskultur im Ausland (miter-)leben zu können, ohne sich darin einzuschließen. Schließlich kommt es bei vielen Migranten zu einer Persönlichkeitsstärkung durch die Auswanderung. Stichworte: Kultur, Fremder, Ausländer, Migrant, Auswanderung Abstract (English) The aim of this article is to understand how the German expatriates of the 80‘s and 90‘s in France experienced the cultural and social distance of the two countries, what kind of experiences as foreigners they had and how they have managed to find their status in the French society and to get used to the local culture (highlighting conventions, manners, values etc.) and society. We will analyze the lifestyles of Germans in France in the first place from a subjective viewpoint, from their perception as strangers. Classifying typologies of integration will be put aside on purpose. However we are interested in migrant’s perception of their new environment. The important outcomes of the study are: Through socialization the culture of origin influences the individuals all their lives and causes some perpetual strangeness in a second culture. People have to find an appropriate status for their culture of origin so that they better bear experiences of strangeness. 43 Therefore a lot of adaptations are necessary in order to live also one’s culture of origin in a foreign country, without getting locked in with it. Finally a lot of migrants benefit from a stronger personality thanks to their expatriation. Keywords: Culture, stranger, foreigner, migrant, expatriation 1. Nähe und Distanz zwischen zwei Ländern aus der Sicht von Migranten Frankreich und Deutschland teilen eine lange gemeinsame Geschichte, reich an Annäherungen, aber auch an Konflikten. Angesichts eines derartig vielschichtigen Erbes lässt sich verstehen, warum nach 1945 die deutsch-französische Freundschaft zur Pflichtinstitution wurde, um die Beziehungen zu befrieden. Wir wissen auch, dass die deutschfranzösischen Jugendbegegnungen eine zentrale Säule dieser Freundschaft sind und sich so erste Kontakte aufbauen. Wir wissen allerdings weniger über die Beziehungen zwischen den benachbarten Bürgern, abgesehen von Imagestudien und Fremdsprachenstatistiken. Die Reaktionsweisen auf eine fremde Umgebung wurden bislang vornehmlich als Ergebnis der kulturellen bzw. sozialen Distanz zwischen Migranten und einer Gastgesellschaft beschrieben. Fremdheit als zentrale Erfahrung des Migrationsprozesses in allen seinen Stadien scheint meines Wissens noch weniger erforscht, vor allem im innereuropäischen Kontext. Vornehmlich (sozial-) psychologische Studien beschäftigten sich bislang in einem internationalen Kontext mit Fremdheitsgefühlen wie Heimweh, Depressionen und Identitätsstörungen abhängig von der kulturellen Distanz zwischen Herkunfts- und Gastgesellschaft, der sozialen Integration und der Persönlichkeit (Ward / Kennedy 1993:131, Santé mentale au Québec 1993). Ich versuche die Natur dieser Fremdheitserfahrungen und den Umgang mit ihnen ausgehend von klassischen soziologischen Schriften zum Thema und eigenen Interviews zu eruieren. Dieser Artikel will verstehen, wie die Deutschen in Frankreich die kulturelle und gesellschaftliche Distanz erlebt haben, welche Fremdheitserfahrungen 44 sie gemacht haben und wie sie damit umgegangen sind, um ihren Platz in der französischen Gesellschaft zu finden und sich an die Kultur (im Sinne von Sitten, Gebräuchen, Werten usw.) und die Gesellschaft zu gewöhnen. Nicht zuletzt wird ein neues Verhältnis zwischen Herkunfts- und Gastkultur und der soziale Status in Herkunfts- und Gastgesellschaft thematisiert. Wir explorieren diese Forschungsfrage aus der Sicht von deutschen Immigranten in Frankreich, geboren nach 1945. Unsere empirische Studie basiert auf 20 lebensgeschichtlichen Interviews (Erhebungszeitraum 2011-2012) mit diesen Emigranten der 80er und 90er Jahre, die also mindestens 20 Jahre in Deutschland und mehr als zehn in Frankreich verbracht haben. Die Interviews bestehen aus zwei Teilen, einem narrativen Teil der Lebensgeschichte von etwa ein bis zwei Stunden und einem Teil mit offenen Nachfragen von etwa gleicher Länge, falls diese nicht schon ausreichend beantwortet wurden. Viele der Befragten hatten Französisch in der Schule und haben Familienurlaube in Frankreich verbracht oder an Schülerbzw. Studentenaufenthalten teilgenommen. Fast alle haben das Abitur und sogar ein Universitätsstudium als Bildungshintergrund. Der Partner ist in der Regel französischer oder zumindest nichtdeutscher Herkunft (siehe auch Alaminos 2006). Weitere methodische Details zur Empirie betreffen die Kriterien, nach denen die Interviewpartner ausgewählt wurden. Alle Interviewpartner haben eine vollständige Sozialisation in Deutschland mit mindestens ersten Studienbzw. Berufserfahrungen. Sie müssen mindestens zehn Jahre durchgehend in Frankreich gelebt und auch gearbeitet haben. Es wurde natürlich, soweit das im Rahmen einer qualitativen Befragung möglich ist, auch auf eine gewisse interculture j ourna l 11/19 ( 2 0 1 2 ) Repräsentativität der Geschlechterverteilung, der Altersstruktur, der Wohnorte, der Ausbildung bzw. der Berufe geachtet. Trotzdem ist die Stichprobe großstadtlastig, beinhaltet viele Lehrer bzw. Kulturvermittler und vorwiegend längere Ausbildungswege. Die Interviews wurden durch Mitschrift, digitale Aufnahme und teilweise schriftliche Nachbefragungen erfasst. Die Auswertung bestand aus thematischen Zusammenfassungen der Interviews je nach Forschungsproblematik, aber auch teilweise aus wörtlichen Transkriptionen der Aufnahmen. Die Zitate aus den Interviews sind eher kategorischer und thematischer Natur, weil die Befragten nur sehr indirekt auf Fremdheitsgefühle zu sprechen kamen, vielleicht um ihr neues Selbstverständnis nicht zu gefährden. Zudem hätte eine Kontextualisierung von zu vielen Zitaten auch den Rahmen eines Artikels gesprengt. Die theoretische Auswertungsmethode bezieht sich im Wesentlichen auf Analysen von Philippe D’Iribarne (2011:453ff.). „It is more important to analyze the categories that structure the discourse (’outer form’) than what the interviewees are seeking to get across (’the content’) […] shared framework of meaning…a certain vision of what constitutes the proper way of living together” (D’Iribarne 2011:460). Wichtige Anregungen kamen auch aus der „Methodenfibel für qualitative Interviews” von Jean-Claude Kaufmann (2008). Ein letztes Problem liegt naturgemäß in der Repräsentativität der Ergebnisse und Interpretationen der qualitativen Interviews. Man kann sich natürlich darüber streiten inwieweit der Forscher als Interviewer, der das Schicksal der Befragten selbst teilt, einen Einfluss auf deren Aussagen ausübte. Andererseits erleichtert dieselbe kulturelle Herkunft bestimmte Interpretationsfragen. Beide Phänomene tauchten übrigens unter umgekehrten Vorzeichen bei der Befragung französischer Einwanderer in Deutschland auf. Es hat sich dabei gezeigt, dass eine tiefe Vertrautheit mit der Kultur der Befragten, diese zu tieferen Erzählungen ihrer Lebensgeschichte inspiriert. Umgekehrt bestand in den französischen Interviews in Deutschland manchmal die Gefahr in ein berufliches Curriculum vitae wie mit einem Arbeitsgeben abzugleiten. Wir haben bewusst ausgeklammert: deutsche Studenten, Rentner und andere Nichterwerbstätige, ja sogar Entsandte, um uns auf die Herausforderung einer vollständigen Integration zu konzentrieren. 2. Begriffe des Fremden und von Fremdheitserfahrungen 2.1. Der Begriff der Fremdheit Konfrontiert mit einer fremden Kultur1 oder Gesellschaft2 taucht die Fremdheitserfahrung auf, wenn jemand regelmäßig in einem unbekannten Kontext, in unbekannten Situationen, mit ihm unbekannten Personen handeln muss bzw. Schwierigkeiten hat, die Konsequenz seiner Handlungen zu antizipieren. Im Gegensatz zur Entfremdung setzt die Fremdheitserfahrung voraus, dass diese Unsicherheitsfaktoren nicht gemeinsam auftreten. Im Gegensatz zum touristischen Tapetenwechsel oder der Geschäftsreise ist dieses Fremdheitsgefühl jedoch von Dauer, ohne dass der Akteur ihm entgehen könnte und ohne dass seine Herkunftskultur ihm dabei irgendwie behilflich sein könnte, z. B. durch Rückzug in die Gesellschaft von Landsleuten. Hahn unterscheidet Andersheit, eine mental wahrgenommene Fremdheit der Alterität von Fremdheit in der Interaktion, wenn die Art des Umgangs mit den Mitmenschen divergiert (Hahn 1994:142). Die Interviewten berichten fast ausschließlich über Fremdheit (Gewohnheiten, Umgangsweisen etc.) oder reduzieren diese auf Andersheit (Werte, Denkweisen etc.). Die Unterscheidung zwischen sozialer und mentaler Anpassung ist den Befragten offensichtlich nur sehr diffus bewusst. 45 In einer soziologischen Herangehensweise – wie in meiner Definition – kann Fremdheit nicht total sein. Jedes Gesellschaftsmitglied kann Fremdheitsgefühle sowie Vertrautheit erleben, nicht nur die Immigranten. Jedoch kann nur der Ausländer, ohne primäre Sozialisation im Gastland zum Fremden werden. Ich beziehe mich hier auf den Typus des „Fremden“, analysiert von Park (1928:881ff.), Schütz (1972:53ff.) und Simmel (1995:202ff.). 2.2. Fremdheit und Lebensgeschichte Man kann jedem Auswanderer aus persönlichen Motiven entgegenhalten, dass er ja freiwillig zum Fremden geworden ist. Wenn er mit seiner Situation nicht zufrieden ist, kann er jederzeit nach Hause zurückkehren. Tatsächlich liegen die Dinge im Einzelfall jedoch etwas komplizierter. Der wichtigste Grund, sein Land freiwillig zu verlassen, ist selten Fernweh, Abenteuerlust, Erlebnishunger von jungen Leuten oder eine Karrierechance bzw. eine berufliche Entsendung. Ja, selbst die große Liebe ist selten der tiefere Grund. Der wesentliche Antrieb findet sich in der Beziehung zu seiner sozialen Umgebung (und / oder seiner Kultur) und seiner Person, geformt von dieser Umgebung. Nach Akhtar ist es diese persönliche Beziehung zu seiner Kultur und seiner Ursprungsumgebung, die alle Beziehungen zu anderen Kulturen und sozialen Kontexten bestimmt. Wenn dieses Verhältnis nicht befriedigend ist, sind zwei Reaktionsweisen des Individuums vorstellbar, die Akhtar von Freud übernimmt (Akhtar 2007:178)3: Entweder sucht sich das Individuum eine neue Umgebung, die besser zu seinen Bedürfnissen passt. In diesem Fall korrigiert die Auswanderung eine Nichtanpassung an das Ursprungsmilieu. Freud spricht von einer alloplastischen Anpassung. Oder das Individuum fühlt das Bedürfnis, seine Persönlichkeit zu ändern und hofft, dies in einer neuen Umgebung zu erreichen. Dann dient die Auswanderung der Persönlichkeitsentwicklung bzw. -veränderung dank eines neuen Mi- 46 lieus. Freud bezeichnet diese Anpassung als autoplastisch. Wir diskutieren hier nicht, wie die beiden Motive in aller Regel verflochten sind. Die Interviews zeigen, dass sich viele in ihrer Ursprungsumgebung unwohl und isoliert fühlten, egal, ob es sich um ihre Familie, ihren Wohnort oder Deutschland im Allgemeinen handelte. Fast alle Befragten waren bereits früh in ihrer Jugend eher Einzelgänger. Diese Befragten versuchten vermehrt mit ihrer Auswanderung zu sich selbst zu finden. In einigen Fällen wollten sie ihre Persönlichkeit weiterentwickeln, um unabhängiger, mutiger, unternehmenslustiger, erwachsener etc. zu werden. Die ursprüngliche Sozialisation scheint eine Art Blockade gegenüber ihrer Umgebung aufgebaut zu haben, die sie als Neuling in Frankreich abzuschütteln hofften. „Ich litt in Deutschland immer unter einer gewissen Isolierung, dieser Abgeschlossenheit, mit Gardinen überall, an der Endgültigkeit und Festgefügtheit von allem.” (Interviewpartner A) 2.3. Formen der Fremdheit und Aufbau dieses Artikels Wir analysieren die Lebensweise von Deutschen in Frankreich vornehmlich aus einer inneren, subjektiven Perspektive, aus ihrer Wahrnehmung der Fremdheit. Wir vernachlässigen bewusst klassifizierende Ansätze der Integration (Berry 1990:201ff.)4, basierend auf Beobachtung und spezifischen sozialen Konstellationen ihrer Umgebung. Jedoch interessieren wir uns dafür, wie sich der Migrant von seiner neuen Umgebung wahrgenommen fühlt. Viele Autoren migrations- bzw. fremdheitstheoretischer Forschungen sprechen von Phasen der Migration und damit verbundenen Fremdheitserfahrungen. Breckner unterscheidet insbesondere: „[…] - die Phase des ‚Ankommens‘ in einer neuen Gesellschaft mit entsprechenden Erfahrungen bei der ‚Aufnahme‘; interculture j ourna l 11/19 ( 2 0 1 2 ) - Prozesse des ‚Etablierens‘ und Herstellung von Teilhabe an verschiedensten Funktionssystemen, charakterisiert: What a hell is going on here? (Geertz 1973) - Phasen der Neustrukturierung ortsgebundener Bezüge zum Herkunftszusammenhang (z. B. durch deren ‚Verpflanzung‘ in den Aufenthaltskontext mit Hilfe symbolischer Gegenstände, dem Nachzug signifikanter Personen oder durch Heimfahrten) und schließlich 3. Fremdheitserfahrungen deutscher Immigranten in Frankreich - Phasen der (Re-)perspektivierung der Migration im Hinblick auf eine Rückkehr auf einen dauerhaften Verbleib im Aufenthaltskontext oder ein Weiterziehen“ (Breckner 2005: 404). Ohne in jeder Biographie genau diese Abfolge für alle Lebensbereiche rekonstruieren zu können, ergibt sich doch eine Tendenz, dass den Migranten in der Anfangsphase der Bruch mit gewohnten Lebens- und Handlungsbezügen zumindest öfters sehr seltsam vorkam (die anderen Bürokratie-, Hierarchie-, Höflichkeitsformen werden z. B. erwähnt), Nach einigen Jahren hat man sich beruflich, familiär und auch gesellschaftlich in der Gastgesellschaft neu positioniert und in gewisser Weise gelernt, mit den Formen der Fremdheit im Alltag umzugehen. Schließlich in einer dritten Phase – die wiederum zu unterschiedlichen Zeitpunkten und auch diskontinuierlich für verschiedene Lebensbereiche auftreten kann – geht es um die Einbettung von Fremdheit ins persönliche Selbstverständnis und ein neues Gleichgewicht zwischen verschiedenen Kulturbezügen. Diese drei Erfahrungen sind für uns die Ausgangspunkte, die Wahrnehmung und das Aushalten von Fremdheitsgefühlen deutscher Immigranten in Frankreich näher zu untersuchen: 1. Die Entdeckung der Fremdheit, 2. Das Zulassen der Fremdheit, 3. Die Akzeptanz der Fremdheit. In der Folge werden wir sehen, dass der Fremde in den meisten Fällen eine alltägliche, strukturelle Fremdheit erfährt, die sich zeitweilig in radikale Fremdheit wandeln kann und uns sprachlos macht und jede Reaktion blockiert (Waldenfels 1997:35).5 Dem Ethnologen Geertz wird ein Ausruf zugeschrieben, der solche Situationen folgendermaßen 3.1. Die Entdeckung der Fremdheit 3.1.1. Welchen Status hat die Ursprungssozialisation für das Leben in einem neuen Land? „Heimat ist Sicherheit, sage ich. In der Heimat beherrschen wir souverän die Dialektik von Kennen-Erkennen, von Trauen-Vertrauen” (Améry 1980:82). Vor dem Hintergrund der Biographien der Befragten geraten unterschiedliche Fremdheitsaspekte in den Fokus. Die prinzipielle Problematik ist jedoch, inwieweit kulturelle bzw. soziale Andersartigkeit innerhalb Europas noch wahrgenommen und als störend empfunden wird. Dieser Frage soll eingangs nachgegangen werden, anhand andauernder Differenz wegen mangelnder intuitiver Vertrautheit mit der Gastgesellschaft und deren Vergangenheit, und schließlich einer biographischen Fremdheit an allen Lebensorten. Im Gegensatz zur Entfremdung – eine extreme Form der Fremdheit – als Enteignung des Subjekts, gehören Fremdheitserfahrung zur Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft. Aber im Gegensatz zum Fremden, kann der Einheimische frei seine Dosis von kulturellem Abenteuer, Fernweh, Multikulturalität etc. wählen. Soziale Marginalität von Einheimischen fällt, im Gegensatz zu der von Fremden, nicht aus dem Rahmen der sozial und kulturell bekannten und tolerierten gesellschaftlichen Vielfalt. Das Fremdheitsgefühl ist nicht nur ein Übergangsphänomen, das man willentlich wie das Fernweh kanalisieren könnte. Es zeigt sich als stabile Erfahrung, wenn man regelmäßig und über einen Zeitraum von mehreren Jahren an Grenzen des Verstehens der Funktions- 47 weise einer anderen Gesellschaft, Kultur oder der Akzeptanz von Differenz stößt. In der Gegenwart sind die meisten Bürger des Okzidents und vor allem in den großen Metropolen permanent einer mehr oder weniger homöopathischen Dosis von Fremdheit ausgesetzt, ob es der Diversität der Lebensstile oder der Herkunft der Mitbürger geschuldet ist. Die Offenheit gegenüber solcher Fremdheit gehört zur Komplexität einer modernen Persönlichkeit. Indessen ändert sich die Lage, wenn man beschließt, sich dauerhaft in einem anderen Land niederzulassen, das nicht die gleiche Kultur und die gleichen Vergesellschaftungsweisen wie die Herkunftsgesellschaft aufweist. „Paris war für mich zuerst einmal ein Schock: die langen Arbeitszeiten, die altmodische technische Ausstattung meines Arbeitsplatzes, die Hierarchie, die Bürokratie und die vielen Menschen… Aber, da ich auf der Suche nach einem offeneren und lebenslustigeren Ort war als die deutsche Provinz, fand ich den einfacheren französischen Lebensstil, die großen vorhanglosen Fenster, die Wohnungen ohne Schrankwände und die provisorischen Entscheidungen auch sehr anziehend.“ (Interviewpartner A) Im Falle des totalen Eintauchens in die neue Kultur ist es sehr destabilisierend, dass der Großteil der alten Referenzsysteme im neuen Kontext nicht mehr funktioniert. In seiner Schrift über den Fremden räumt Schütz (Schütz 1972:56) den Einheimischen das Privileg der Bekanntheit des kulturellen Wissens ein. Es handelt sich dabei um ein Wissen, das bis auf Widerruf evident und intuitiv, aber auch approximativ ist, während der Fremde, in seinem Idealbild, dem Immigranten, sich mit der Vertrautheit der ortsüblichen Gepflogenheiten zufrieden geben muss. Hierbei geht es um ein Wissen für enge Beziehungen, für gegenseitiges Vertrauen, das aber explizit und rational ist. Reduziert auf sein Vertrautheitswissen, kann der Fremde nicht unbewusst reagieren, sondern nur nach genauem Abwägen der Tatsachen des fremden kulturellen Kontextes. Das Bekanntheitswissen erlaubt Spontaneität, Natürlichkeit, stillschweigendes 48 Einverständnis, trotzdem dieses Wissen stets undurchschaubar, widersprüchlich und inkohärent bleibt. Viele weibliche Befragte erzählen von ihrer natürlichen Vertrautheit mit deutschen Freundinnen, die mit ihren französischen Freundinnen nicht möglich sei, teils aus deren Desinteresse an persönlichen und intimen Themen, teils aus fehlender Komplizenschaft mit ihnen. „An der Uni, da hatte keiner mit keinem etwas… es gab einfach kein soziales Leben […] dass der soziale Kontakt mit den Franzosen so unglaublich schwer ist, dass es so unglaublich lange dauert bis man von einem Franzosen mal nach Hause eingeladen wird.” (Interviewpartner B) „Mit meiner deutschen Freundin habe ich mehr Intimität, kann ich mich mit Sprache amüsieren. Habe es satt ständig anders zu sein, trotz Integration.” (Interviewpartner C) Die Gastkultur verstärkt dieses Gefühl der Ausgeschlossenheit, denn ohne genauere Kenntnis über die kulturellen Hintergründe der Einwanderer interessiert sie sich relativ wenig für dessen Vergangenheit. Dieser Umstand ist schon derartig von den Befragten internalisiert, dass sie, trotz anderslautender Fragestellung, spontan ihre Lebensgeschichte mit ihrer Ankunft in Frankreich beginnen. Doch die Fremdheitserfahrung beginnt oft schon vor der Auswanderung und diese ist oft nur die Lösung eines langjährigen Konfliktes mit der Umgebung. Eine andere Befragte, aufgewachsen an der französischen Grenze und im deutsch-französischen Gymnasium, hat erst mit 40 die von ihren Eltern übernommene Formel aufgegeben: „[…] eine Reise ins Reich machen.“ (Interviewpartner B) Ein anderer relativ introvertierter Befragter findet seine ehemaligen Landsleute furchtbar indiskret, ja sogar zudringlich, wogegen man sich permanent zu wehren und zu rechtfertigen hat. „Ich landete wohl in Frankreich, weil ich das Kleinbürgerliche in Deutschland nicht mehr ertrug, ihre Rechthaberei und interculture j ourna l 11/19 ( 2 0 1 2 ) ihre Besserwisserei gehen mir selbst heute schon nach wenigen Tagen in Deutschland auf die Nerven.“ (Interviewpartner E) Nach den Interviews generiert sich das Fremdheitsgefühl zwischen einander nahen Kulturen zunächst weitgehend unbewusst und manifestiert sich eher durch Übertragung oder Sublimation als direkt. Entweder wird die Herkunftskultur als fürderhin unbrauchbar verdrängt (Übertragung), manchmal wird sogar die Muttersprache aufgegeben und nicht einmal mehr mit den Kindern in dieser gesprochen. Oder man wird Vermittler und verkauft seine Herkunftskultur oder seine Sprache, um seine Existenz im fremden Kontext zu rechtfertigen (Sublimation). Für ein stabiles Selbstverständnis ist es kaum erträglich, sich oft fremd und fehl am Platz gegenüber den wichtigsten Werten der Gastkultur zu fühlen. Andauernd von seiner Umgebung gespiegelte Fremdheit erweist sich als verunsichernd und wird daher sozial und psychisch von den Migranten bekämpft. Zumal, die uneinholbare Abgeschnittenheit von einer gemeinsamen Vergangenheit, definitive Grenzen der Bekanntheit aufzeigt. Die Herkunftskultur war entweder schon immer etwas suspekt oder wird es im Laufe der Jahre, weil die Migranten ihr altes Deutschland nicht mehr wiedererkennen. 3.1.2. Wie reagiert der Immigrant auf den Zwang einer neuen Sozialisierung im Gastland? Die Reaktionen auf den Verlust der Referenzsysteme wird in der Literatur durch Somatisierung bzw. psychisches Leid beschrieben (Ward / Kennedy 1993:131; Santé mentale au Québec 1993). Uns interessiert jedoch hier wie diese Spannung, charakteristisch für die Anfangszeit der Migration, eine Neuorientierung der Migranten auslöst. Die Mehrzahl der Interviewten berichtete von einer Animosität bzw. eine Schwierigkeit mit der deutschen Kultur bzw. Gesellschaft. Fast alle vermieden, zumindest in ihrer Anfangszeit in Frankreich, jeglichen Kontakt mit Landsleuten. Einmal nach Frankreich emigriert, ist fast keine der befragten Personen für einen längeren Zeitraum nach Deutschland zurückgekehrt und die Besuche bei der Familie und Freunden wurden rarer im Laufe der Jahre. Fast alle versuchten ihre kulturellen Praktiken, gebunden an die Herkunftskultur bzw. die primäre Sozialisation, durch solche der Gastkultur zu ersetzen. Um nicht sofort als Deutscher erkannt zu werden, haben einige (vor allem Frauen) fast ihren deutschen Akzent verloren, andere hält man für Belgier oder Schweizer. Rar sind diejenigen, die es nicht eilig haben, ihr Französisch zu perfektionieren. „Meine erste Fremdheitserfahrung machte ich mit fünf Jahren, als die Familie von der Großstadt in ein süddeutsches Dorf umzog, dessen Dialekt ich nicht sprach und auch nicht verstand. Die anderen Kinder hänselten mich immer, weil ich das “r” nicht zu rollen vermochte.” (Interviewpartner D) Nach diesen Angaben der Befragten schien das Schicksal der Herkunftskultur besiegelt zu sein. Nach einigen Jahren allerdings werden fast alle von ihrer verdrängten Kultur, Familie, Herkunftsregion etc. eingeholt und auch von den gesellschaftlichen Integrationsproblemen, die sie schon in Deutschland hatten. Einigen ist es gelungen, der Gastkultur den Vorrang einzuräumen, trotzdem auch sie von Zeit zu Zeit durch einige Wiedergänger gestört werden. Andere haben das Glück, als beruflicher Vermittler oder Deutschlehrer regelmäßig mit der Heimatkultur in Kontakt zu bleiben. Viele entwickeln den Ehrgeiz, zumindest ihren Kindern ihre Herkunftskultur zu vermitteln. Die Fremdheitsgefühle, ausgelöst von dieser Rückkehr zu den Ursprüngen, werden erduldet durch eine gewisse Reserviertheit in der Gastgesellschaft, durch die Relativierung jeglicher kultureller Bezüge und durch Bevorzugung der einen bzw. der anderen Kultur, je nach dem, was passender ist. Die Befragten geben an, den französischen Kommunikationsstil zu akzeptieren, kritisieren ihn aber auch als zu indirekt oder ineffizient bei Arbeitsbesprechungen. Dennoch verrichtet man 49 seine Arbeit auf seine Art, manchmal sogar mit dem expliziten Einverständnis des Vorgesetzten und zum Leidwesen der eifersüchtigen Kollegen. Viele navigieren zwischen den zwei kulturellen Welten und erlauben sich ausnahmsweise auch mal nach französischer Manier ein kleines Kavaliersdelikt. Der Kontakt mit dem Heimatland ist nicht sehr intensiv, ist jedoch von einschneidenden biographischen Erlebnissen und starken Emotionen geprägt. Einige wurden von ihrer Familie vernachlässigt, andere sind nach dem Tod eines geliebten Familienmitglieds ausgewandert, wiederum andere waren überbehütete Kinder oder standen unter dem geistigen Kuratel ihrer Eltern oder wollten einfach ihrem provinziellen Schicksal entrinnen. „In meiner Kindheit und Jugend war alles wichtig was “anders” war. Ich habe keine Heimat, weil ich nie den lokalen Dialekt sprach und nicht mehr dort lebe. Zu Deutschland ist die Beziehung noch komplizierter, weil meine Eltern die Länder jenseits der Saar immer als “das Reich” betitelten. Ich war als Jugendliche eigentlich fast immer mit viel älteren Leuten zusammen und diskutierte mit ihnen über Politik und unser Engagement. Hatte fast keine Freunde, nur diejenigen meines Freundes.” (Interviewpartner B) Dennoch hat die Mehrheit der Immigranten der deutschen Kultur einen Platz eingeräumt, vor allem nach der Geburt ihrer Kinder. Für sie bleibt die deutsche Kultur zumindest in ihren Herzen und Gefühlen dominant (siehe hierzu auch Bekanntheitswissen) selbst wenn die französische Kultur im Alltag dominiert. Der natürliche Reflex ist deutsch und die deutschen Immigranten präsentieren sich auch ohne Scheu als in Frankreich lebende Deutsche. Trotzdem wird die französische Kultur nicht vernachlässigt. Im Gegenteil, diejenigen, die sich mit ihren Ursprüngen ausgesöhnt haben, sind auch offener und toleranter gegenüber bestimmten französischen Eigenheiten. „Die Kunst hat mein Leben gerettet. Meine Liebe zu Frankreich war Liebe auf den ersten Blick. Ich habe mich Hals über Kopf in Frankreich verliebt [‚coup de foudre‘ im Original], weil es für mich das Land der Raffiniertheit, der Sensualität 50 und der Ästhetik ist. Ich werde überall auf der Welt auch auf Französisch angesprochen, vielleicht, weil es meinem Wesen entspricht, mit dem Herzen zu urteilen und auf Empathie zu bauen.” (Interviewpartner E) Viele Frauen und einige professionelle Vermittler haben von Anfang an eine interkulturelle Haltung eingenommen. Sie kommunizieren im geeigneten Moment ihre Wertedifferenz oder praktizieren eine altruistische Einstellung als Gast, der der lokalen Kultur mit Bodenrecht (Recht der zuerst Dagewesenen) einen gewissen Respekt schuldet. Ihre deutsche Kultur ist oft auf den familiären Bereich begrenzt oder drückt sich als harmlose Folklore aus, die auch von Franzosen goutiert wird. Eine rein deutsche Reaktionsweise ist langfristig nicht möglich und der französische kulturelle Rahmen erfordert lange Zeit bewusste Entscheidungen der Anpassung von Fall zu Fall (Vertrautheitswissen). Der Immigrant muss sich stets entscheiden zwischen einer Reaktion aus seiner Herkunftskultur (Denken wie üblich, Bekanntheitswissen) und einer Anpassung an einen neuen Rahmen mit seinen Ungewissheiten und seinem unzureichenden Wissen darüber. Die Herkunftskultur erweist sich als schwer überwindbar und bedarf einer neuen Positionierung im Leben der Entwurzelten. 3.1.3. Welche Beziehungen gibt es zwischen Fremdheit und Kultur? „Das echte Heimweh war nicht Selbstmitleid, sondern Selbstzerstörung. Es bestand in der stückweisen Demontierung unserer Vergangenheit, was nicht abgehen konnte ohne Selbstverachtung und Haß gegen das eigene Ich.“ (Améry 1980:88) Die spezifisch deutsche Kombination aus einer beschämenden nationalen Vergangenheit und einer intensiven Pflege lokaler und traditioneller Gewohnheiten wirft die Frage auf, ob es vielleicht eine spezifisch deutsche Form der Fremdheit und des Heimatverlustes gibt. Die Arbeitshypothese dabei ist, dass bei vielen Deutschen die kindliche Heimat nicht ausreichend in allgemei- interculture j ourna l 11/19 ( 2 0 1 2 ) ner Kultur aufgeht und so eine Nostalgie zu kindlichen Welten überlebt. „Auch der Umgangston mir den Kollegen, dass man irgendwie nichts direkt ansprechen darf, sondern erst so über Formeln sich den anderen annähert […] Ganz komisch, dass man an die nicht rankommt… entweder kenne ich Deutsche oder Ausländer hier, […] Kann mich nicht daran gewöhnen, dass es absolut keinen Platz für Kinder und Jugendliche gibt… keine Jugendkultur (keine Jugendliteratur, keine Filme, keine Orte, keine Sendungen) […] eigentlich nur so Bewahrungsanstalten.” (Interviewpartner B) Im Verständnis der Fremdheit der anderen Kultur gibt es auch ein semantisches Problem. Die deutsche Sprache unterscheidet mehr verschiedene Nuancen der Fremdheit als das Französische, weil es Wörter verschiedener Wurzeln benutzt. In aufsteigender Reihenfolge der Unbekanntheit kennt man „den Ausländer“ (frz. l’étranger), „den Fremden“ (frz. l‘étranger), die „Seltsamkeit, Sonderbarkeit, Absonderlichkeit“ (frz. l’étrangeté, bizarrerie, quelque chose d’abscond). Diese Abstufung der Fremdheit erinnert an die Typologie von Waldenfels, die in der „radikalen Fremdheit“ kulminiert (Waldenfels 1997). Die soziale Form6 der totalen Fremdheit kann aber nicht gedacht werden, ohne den Begriff der totalen Vertrautheit, den die deutsche Sprache als Heimat (Geburtsland) bezeichnet und der über den Begriff des Vaterlands (frz. patrie, terre natale) hinausgeht. Den Begriff Vertrautheit differenziert die deutsche Sprache auch mehr als das Französische (frz. familier). Vor dem Hintergrund der lebenslangen Entfremdung von der maximalen Vertrautheit der MutterKind Symbiose in den Begegnungen mit dem Vater, den anderen Familienmitgliedern, der Gesellschaft etc. sagt man im Deutschen auch von einem Baby, es fremdelt, was in Frankreich eher ignoriert wird. In der Kindheit später, spricht man in Deutschland von der Gewöhnung an unvertraute Umgebungen. Auch darüber geht das französische Schulsystem ab der Vorschule (3-4 Jahre) weitgehend hinweg. Schütz liefert uns eine nicht erschöpfende Aufzählung von sentimentalen Erinnerungen an Heimat (1972:95): „[…] das Haus des Vaters und die Muttersprache, die Familie, den geliebten Menschen, die Freunde, […] eine geliebte Landschaft, die Lieder, die mich meine Mutter lehrte – auf besondere Weise zubereitetes Essen, vertraute Dinge des täglichen Gebrauches, Volksweise und persönliche Gewohnheiten – kurz, ein besonderer aus kleinen aber wichtigen Elementen bestehender Lebensstil.” Diese Aufzählung zeigt, dass das Heimatgefühl auch auf einen neuen Ort übertragbar ist, wenn man ihn mit allen Sinnen aufnimmt, wie es in der Kindheit geschah. „Auch nach über 20 Jahren im Ausland halte ich Verbindung mit Deutschland über mein morgendliches Jogging, die kalte Dusche danach, Bier trinken, aber vor allem über meine Kinder, denen ich alte deutsche Filme, Kinderbücher, Musik usw. nahebringe.” (Interviewpartner D) „Ich habe immer selbst nach 45 jähriger Emigration eine Wohnung in meiner Studienstadt beibehalten, wo ich bis heute meine besten Freunde habe.” (Interviewpartner F) Die Frage, die sich natürlicherweise an dieser Stelle für die Deutschen stellt, ist: wie ertragen wir all das, was unserer Kindheit und damit unserem Heimatbegriff fremd ist? Die Antwort von Detlev Claussen ist so banal wie überraschend: Weil wir Kultur haben!“ (Claussen 2008:299). In der Unmittelbarkeit von Heimat (das Familienhaus, die Straße, das Viertel, der Ort, …) bin ich identisch mit der Welt meiner Bedürfnisse und Lebensumstände. Vom Zeitpunkt an, zu dem ich dem Anderen (dem Fremden) begegne und Interessen entwickle, die ich meiner mittelbaren Umgebung entgegensetze, brauche ich Kultur mit seinen Kodes und Regeln, um die Realität einzuschätzen und entwickle die Fähigkeit selbst Kultur zu haben. Die totale Vertrautheit, also Heimat, ist der Kindheit vorbehalten. Alles, was danach kommt, ist mehr oder weniger von der Erfahrung der Fremdheit durchzogen und durch Kultur rationalisiert. 51 Dieses gemeinsame kulturelle Erbe entlehnen die Individuen ihrer sozialen Umgebung, aber sie erzeugen sie auch in ihren Interaktionen. Wenn es sich um eine relativ vertraute Umgebung handelt, perfektionieren die Individuen die lokale Kultur durch eine „subjektive Kultur“ (Triandis 1994:2) und man spricht dann von einem Lebensstil, einer Familienkultur, einer Freundeskultur oder einer Unternehmenskultur etc. Aber welchen Platz nimmt die deutsche (National-) Kultur in dieser persönlichen Aneignung von Kultur ein? Wir können aufgrund unserer rein qualitativen Empirie kein abschließendes Urteil über unsere Arbeitshypothese abgeben. Eine fast durchgehend nostalgische Beziehung vieler Interviewter zu Deutschland, seinen Kulturprodukten und seinen sozialen Gepflogenheiten (typisch deutsche Reaktionsweisen sind selbst nach 20 Jahren Frankreich ohne Zusammensein mit anderen Deutschen noch voll intakt) ist ein starkes Indiz dafür, dass die kindliche Heimat bei vielen Deutschen nach wie vor neutralere nationale Referenzen ersetzt. 3.2. Das Zulassen der Fremdheit 3.2.1. Welchen Platz räumen die Immigranten ihrer Herkunftskultur bzw. -gesellschaft ein? „Man muss Heimat haben, um sie nicht nötig zu haben, […] Um dieser oder jener zu sein, benötigen wir das Einverständnis der Gesellschaft“ (Améry 1980:81,101). Der Verlust der Herkunftskultur bzw. -gesellschaft bewirkt meist alltägliche und strukturelle Fremdheit. Da in Frankreich die Herkunft am Akzent sehr schnell wahrgenommen wird, kann diese auch nicht so leicht verborgen werden. Hinzu kommt, dass soziale Zuschreibungen mit dem Verlassen Deutschlands fast gänzlich wegfallen und eine neue Reputation zu erarbeiten ist. Inwieweit die deutsche Herkunft dazu herangezogen wird, steht in diesem Abschnitt zur Klärung. Es geht also zunächst um die Formen der Abkehr 52 von der Herkunftskultur, dann über die Fremdheitserfahrung zur Wiederentdeckung seiner Ursprünge und schließlich um Fremdheit ausgelöst durch den Schutz der Individualität, die in der Herkunftskultur entwickelt wurde. Der Fremde ist im Gastland zunächst eine Anomalität, denn die Deutschen leben normalerweise in Deutschland und die Franzosen in Frankreich. Und viele Nichtauswanderer fragen: Wenn man sich mit seiner Heimat im Einklang befindet, warum sollte man sie verlassen? Deshalb ist der Auswanderer in erster Linie ein Entwurzelter, der sich mit folgender Alternative konfrontiert sieht: sich als Ausländer (Deutscher) Anerkennung zu verdienen oder als angepasster Neuankömmling (Wahlfranzose) akzeptiert zu werden. Eine der ersten Fragen an den Migranten bei neuen sozialen Kontakten ist auch regelmäßig: Und wieso sind Sie zu uns nach Frankreich gekommen? Die Geschmacksauswanderer oder Wahlemigranten mögen das Ausland und unsere Befragten insbesondere Frankreich. Und für viele bleibt die Abkehr von ihrer Heimat lange Zeit unbewusst (verdrängt) oder wird geläutert (sublimiert) durch übertriebene Anstrengungen, den Erwartungen des Gastlandes zu entsprechen. Bei den gut ausgebildeten, freiwilligen, nordeuropäischen Einwanderern werden alltägliche und strukturelle Fremdheitsgefühl in einem Maße verinnerlicht, dass die ursprüngliche kulturelle Distanz zwischen ihren beiden Kulturen unproblematisch wird (Berry 1990, vgl. hierzu Separation und Multikulturalität). Im Gegensatz zu südeuropäischen bzw. außereuropäischen Migranten lebt diese Art Einwanderer kaum unter Landsleuten und ihr totales Eintauchen in die Gastkultur erfordert im Gegenzug den Aufbau einer sehr persönlichen Beziehung zu ihrer Herkunftskultur (Multikulturalität). Die Interviews ergaben eine Tendenz die kulturellen Unterschiede zwischen den beiden Ländern zu relativieren oder zu minimieren. Andere wählten ein Leben am Rande der Gesellschaft mit einem etwas einzelgängerischen Beruf, wie z. B. (Hochschul-)Lehrer oder interculture j ourna l 11/19 ( 2 0 1 2 ) Kulturvermittler. Bei vielen gab es eine späte Rückkehr zur Ursprungskultur mit der Geburt der Kinder, nach einer wichtigen Lebenserfahrung oder einer Psychotherapie. Oft ist die Ursprungskultur von ihren Orten abgekoppelt und irgendwie immaterialisiert, und wird in Form von Literatur, Musik, Kultur, Essen, geselligen Treffen gelebt. Und das Deutschsein wird ausschließlich im Privatleben bzw. einer Nische des öffentlichen Lebens praktiziert. Aber es gibt auch diejenigen die ihr Deutschsein offen einfordern und sich dafür einsetzen als solche anerkannt zu werden. Sie können das oft dank ihrer beruflichen Position und / oder ihrer starken Persönlichkeit. „1968 während meiner Assistenzjahre in Frankreich war ich als Student vom Zentralismus und der Allgegenwärtigkeit des politischen Lebens fasziniert. Paris war für mich ein positiver Schock, dieses Leben auf den Straßen, diese Hingabe an die Gastronomie, diese Atmosphäre in den Brasserien… Ich muss zugeben, dass ich eher französischen Charakters bin, denn ich bin nicht distanziert, zurückhaltend, sondern spontan, herzlich und diskret, was mich vom deutschen Maulhelden unterscheidet.” (Interviewpartner F) Also bleibt die Frage der Dosierung der Anpassung völlig offen, was immer man auch macht, um sie eine zeitlang zu umgehen. Man wird oft schnell von seinen Ursprüngen eingeholt, wenn man die Anpassung als Versteckspiel mit seinem eigenen Deutschsein betreibt. Denn die Fremdheitserfahrung im Gastland ist auch ein Indikator für seine eigene Fremdheit. Nach Waldenfels (1997:44) geht die Fremdheitserfahrung über die Situation der Migration hinaus, denn sie konfrontiert uns wie die erste Sozialisation mit der Wahrnehmung unserer Person durch andere. Diese Erfahrung wird noch verstärkt durch die Fremdheit der Charakterzüge des Immigranten für den Einheimischen, der sie vor dem Hintergrund einer anderen Mentalität interpretiert. Einige Migranten erkennen sich in der Wahrnehmung durch ihre neuen Landsleute nicht wieder. Andere wundern sich über die Wahrnehmung einiger deutscher Eigenschaften wie lautes Sprechen, insistieren, Festhalten an bestimmten Überzeugungen (als psychoRigidität qualifiziert), Übersensibilität oder zu große Direktheit. Vielen fehlt nach einigen Jahren auch ein intuitiver Zugang zu Kulturprodukten (wie Filme, Literatur, Theater oder auch humoristischen Sendungen im Fernsehen), zu Freunden (Austausch über gemeinsame Interessen oder auch sehr persönliche Themen statt Smalltalk über die neuesten kulturellen Ereignisse). „Ich fühle mich in Frankreich manchmal verlassen: man redet über nichts persönliches, wenn ich versuche mit anderen meine Werte zu verteidigen, bleibt es bei Wertebekundungen, aber niemand ist bereit sich in Schwierigkeiten zu bringen, um sie zu verteidigen. Zum Beispiel wurde ich schon mehrmals als geizig hingestellt, als ich versuchte eine gemeinsame Kasse während eines Urlaubs unter Freundinnen gerecht zu organisieren.” (Interviewpartner G) Aber die Spiegelung der deutschen Sozialisierung in der Fremdheit dient auch dem Schutz der Individualität des deutschen Einwanderers wie z. B. ein inzwischen reflektierter Umgang mit Autorität, wie die Erhaltung eines deutschen Erziehungsstils oder wie Prinzipien, an denen man festhält (z. B. die Pünktlichkeit). „Der Rückzug in die Fremdheit als einer Ersatzheimat” (Baumann 1995:106) ist ein Weg der kulturellen Selbstanpassung, die den Fremden aber als Bedrohung für die Werte der Einheimischen entlarvt. Sein Drang nach Universalität ist seine letzte Hoffnung, seine eigene Außenseiterrolle zu überwinden: „Der Fremde stellt eine einzigartige, hilflos, ambivalente Mischung aus universalistem Programm und relativistischer Praxis dar.“ (Baumann 1995:111) Die Konfrontation mit einer fremden Kultur fördert die Persönlichkeitsentwicklung durch den Umgang mit (kultureller) Mehrdeutigkeit. Mit Ambivalenz meint man in der Psychologie das gleichzeitige Vorhandensein gegensätzlicher Gefühle. Baumann versteht darunter eher die Zwiespältig- 53 keit und Zufälligkeit unserer Existenz in der modernen Gesellschaft und besonders diejenige des Fremden. Sie zu vernichten, so Baumann weiter, führe nur in den Totalitarismus wie den Nationalsozialismus und erzeuge nur neue Ambivalenz. Wir übernehmen den Begriff der Ambivalenz von Baumann, um eine Konsequenz der Fremdheitserfahrung aufzuzeigen: „ein Fremder zu sein, bedeutet, fähig zu sein, ständige Ambivalenz zu leben, ein Ersatzleben der Verstellung“ (Baumann 1995:45). Die Verhaltensanforderungen in einer neuen Kultur sind komplex, in der es dem Neuling nicht immer gelingt, aus seiner Sicht eindeutige Reaktionen zu zeigen und so kommt es ihm entgegen, wenn seine Umgebung auch mit Zwiespältigkeit und Zufälligkeit aufwartet. Viele Befragte bezeugen, dank ihrer Auswanderung, reifer geworden zu sein, wenn das Reiferwerdenwollen nicht sogar der Hauptgrund ihres Weggangs war. Einige haben die auf die Gastkultur projizierten persönlichen Probleme gelöst, andere wurden endlich erwachsen, wieder andere haben sich von einem einengenden familiären System befreit bzw. sind autonomer geworden. Alle haben an Persönlichkeit gewonnen. „Im Ausland habe ich mich endlich selbst gefunden“ (Interviewpartner D) – eine große Opposition der Umgebung erfordert die Mobilisierung der inneren Kräfte, um sich zu schützen und verstärkt die Motivation die Suche nach dem Selbst zu betreiben. Wie andere Untersuchungen schon herausfanden, dass die biographische Relevanz der Migrationserfahrung wesentlich von der Einbettung, Ausprägung und Handhabung der damit verbundenen Fremdheitserfahrungen bestimmt wird (Breckner 2005:416), wurden auch meine Befragten vielfach durch Fremdheitserfahrungen auf die eigene Sozialisation zurückverwiesen. Entweder wird das Deutschsein als permanente Rechtfertigung für die eigene Andersartigkeit vor sich her getragen, oder aber im öffentlichen Leben suspendiert und dafür privat umso intensiver gelebt. In einigen Bereichen dient die deutsche Identität auch der Legitimie- 54 rung verweigerter Anpassung an die Gastkultur. Es steht zu befürchten, dass dieses Durcheinander von Referenzen, je nach Situation, Bezugspersonen, ja selbst nach Stimmungen nicht nur für die Deutschen problematisch ist. Diese unbefriedigenden Kompromisse erfordern langfristig stabilere Lösungen. 3.2.2. Wie kann die Ursprungskultur in eine neue Umgebung integriert werden? „Ich bin versucht zu sagen, dass wir umso mehr davon [Heimat] benötigen, je weniger wir mit uns nehmen. Denn es gibt sehr wohl eine Art mobiles Zuhause oder zumindest ein Ersatz von Zuhause.“ (Améry 1980:78) Um seine Außenseiterrolle zu überwinden, suchen die Migranten ihren sozialen Status abzusichern und nach einer für sie befriedigenden sozialen Integration. Welchen Einfluss hat dabei die Gastgesellschaft? Welche Alternativen bieten sich ihnen? Park (1928) schlägt mehrere Weisen der Integration vor: „Akkulturation, Assimilation oder Amalgamation“. Indessen, wenn keine dieser Methoden greift, verinnerlicht der Immigrant den Konflikt und wird zum „marginal man“ (siehe hierzu Berry Jahr, der Marginale, die Segregation / Separation). Für Park braucht die tatsächliche Assimilation zwei bis drei Generationen: „In these immigrants autobiographies the conflict of cultures, as it takes place in the mind of the immigrant, is just the conflict of ‘the divided self ’, the old self and the new. And frequently there is no satisfying issue of this conflict, which often terminates in a profound disillusionment.” (Park 1928:355) Die Migranten meiner Interviews konstatieren die Grenzen dessen, was ihre neue Heimat ihnen zu geben bereit ist und geben sich damit zufrieden – sei es in Form von materiellen und / oder ideellen Vorzügen – solange berufliche oder familiäre Ansprüche vorgehen. Bei Rentenantritt sollen die Lebensorte neu und anders gewichtet werden. Für Stonequist geht es bei Integrationsbiographien auch um soziale Konflikte, interculture j ourna l 11/19 ( 2 0 1 2 ) um Herrschaftsbeziehungen und die Verweigerung der Integration und nicht nur um kulturelle oder ethnische Konflikte. „So the marginal man as conceived in this study is one who is poised in psychological uncertainty between two (or more) social worlds; reflecting in his soul the discords and harmonies, repulsions and attractions of these worlds, one of which is often ‘dominant’ over the other; in which membership is implicitly if not explicitly based upon birth or ancestry (race or nationality); and where exclusion removes the individual from a system of group relations.” (Stonequist 1937:8) Der Unsicherheit über die Zugehörigkeit begegnen die deutschen Migranten in Frankreich durch eine tadellose Anpassung, sei es durch berufliches Engagement, durch eine starke familiäre und patrimoniale Integration, um sich gegen die Gefahren der Unklarheit ihres Status zu wappnen. Oder sie adoptieren ein kosmopolitisches Image oder die Kunst, sich in einer bescheidenen materiellen Existenz Tag für Tag in einer prekären beruflichen Situation durchzuschlagen. Um diesen Konflikt zu lösen, schlägt Stonequist (1937), in der Folge von Park, folgende Typologie vor: 1.) „passing“ praktiziert derjenige, der die Gastkultur annimmt bis zu einem Punkt an dem er die Ursprungskultur negiert und als formales Mitglied der Gastgesellschaft lebt („als ob Mitglied“); 2a.) Im Falle des Scheiterns dieser Strategie verstärkt sich die Identifizierung mit der Herkunftskultur bis zur aktiven Werbung für sie oder 2b.) es entwickelt sich eine negative oder ambivalente Haltung gegenüber der Gastkultur; 3.) „intermediate role“ ist ein Typus der von Anfang an versucht, die beiden Kulturen miteinander zu vermitteln. In den Interviews konnten wir eine späte Rückkehr zur Herkunftskultur feststellen, wenn der Integrationsprozess zu stagnieren beginnt, scheinbar rückläufig ist oder man gar echte Niederlagen erlebt hat (Scheidung, Entlassung, Konflikte mit Kollegen etc.), die persönliches (psychisches) Leid auslösen. Eine Interviewte ist stolz darauf, endlich die Kraft gefunden zu haben, ihr Geburtsland Deutschland zu verlassen und in die Heimat des Vaters zurückzukehren. Ihr Vater, der sie verlassen hat, war französischer Soldat. Heute, nach einigen Jahren in Frankreich, erlebt sie eine Art Desillusion; denn es ist ihr schier unmöglich, hierzulande Freunde zu finden oder ein soziales Netzwerk aufzubauen. Es gelingt ihr nicht besser ihre eigenen Schwächen in Frankreich zu überwinden als in Deutschland und sie entwickelt eine ambivalente Haltung gegenüber ihrer Auswanderung und ihrem Gastland (Interviewpartner H). Ein anderer hat sich für eine intermediäre Position entschieden, um (zuerst aus beruflichen Gründen) besser zu kommunizieren (Interviewpartner I). Allerdings leben viele relativ zurückgezogen und ohne jedes gesellschaftliche Engagement in Frankreich. Man muss sich fragen, welche Rückwirkungen das auf ihre Person hat. „Auf Anhieb fällt mir überhaupt nichts Positives über Frankreich ein: eine durchhierarchisierte, autoritäre Gesellschaft mit unglaublich konservativer Denkungsart. […] Dieses unglaublich altmodischhierarchische: Monsieur le Principal, diese Umgangsformen […] Autoritätsdenken, der Egoismus gehen mir erst in letzter Zeit auf den Wecker […] Dieser Alltag, die Umgebung, die ich am Anfang positiv empfunden habe, empfinde ich heute als negativ, wie z. B. die Gleichgültigkeit, Mangel an Gemeinschaftsdenken, Autoritätsgläubigkeit, Mangel an Offenheit. […] Dieses unheimlich egoistische Verhalten, wenn man Schlange steht und es muss immer einer kommen der sich vordrängelt.” (Interviewpartner B) Das Bedürfnis nach Heimat bestimmt auch in einer Rückwendung die eigene Kultur in der Gastgesellschaft bekannter zu machen und mit ihr zu arbeiten. Tatsächlich sehnen sich diejenigen der Befragten weniger nach Deutschland, die beruflich regelmäßig mit ihrer Heimat in Kontakt stehen oder einfach öfter Frankreich verlassen und mit Deutschen oder anderen Ausländern zu tun haben. Die Navigation zwischen verschiedenen Kulturen kann teilweise den Verlust 55 räumlicher Bezüge (gewohntes Stadtbild, Wohnung / Haus, Landschaft etc.) der Herkunftskultur kompensieren. Allerdings spielen auch relativ kontingente Erfahrungen mit der Offenheit der Gastgesellschaft eine nicht unerhebliche Rolle in diesem Prozess. 3.2.3. Gibt es eine lebenslange Fremdheit? „Die Heimat ist das Kindheits- und Jugendland. Wer sie verloren hat, bleibt ein Verlorener, und habe er es auch gelernt, in der Fremde nicht mehr wie betrunken umherzutaumeln, sondern mit einiger Furchtlosigkeit den Fuß auf den Boden zu setzen.“ (Améry 1980:84) Vom kindlichen Ursprung des Heimatgefühls war schon die Rede. Aber wie findet sich nun der erwachsene Migrant in seiner Fremdheit zurecht und wie lebt er mit ihr, wenn sie anhält? Letztendlich müssen wir feststellen, dass die Herkunftskultur das dominierende Erbe im Leben ist. Allerdings braucht sie einen adäquaten Platz in der Gastkultur. Simmel betont ein gemeinsames Erbe, das einen generellen Charakter gegenüber der menschlichen Gemeinschaft darstellt, jedoch einen spezifischen Charakter gegenüber anderen Gesellschaften und er fügt hinzu: “Das Bewusstsein, nur das überhaupt Allgemeine gemein zu haben, (bringt) doch gerade das, was nicht gemeinsam ist, zu besonderer Betonung”. Das kann ganz abstrakt die ‚fremde Herkunft‘ sein, weshalb die Fremden „nicht als Individuen, sondern als die Fremden eines bestimmten Typus überhaupt empfunden“ werden (Simmel 1908:512). Vieles von dem, was einem kulturellen Kollektiv spezifisch ist und demgegenüber man sich zu positionieren hat, wenn man als ein integraler Bestandteil akzeptiert werden will, entzieht sich dem Fremden. Dem Fremden fehlt die organische Beziehung zu den Einheimischen, weil er in diesem Land oft keine originären familiären Beziehungen hat, keine nationalen Erinnerungen teilt (z. B. Fernsehansprachen von de Gaulle, Mai 68 in Paris, Attentate auf Giscard, Coluche live, Barbara im Konzert etc.). Kurz, seine kulturelle und lebensstilisti- 56 sche Sozialisierung ist eine völlig andere und steht einer engen Vertrautheit im Wege. Die Fremdheitsgefühle erinnern an den Erwerb von Identifikationsmechanismen mit fremden Objekten. Sie beziehen sich auf etwas, was die Mitglieder einer Kultur miteinander teilen. Was „nach innen zwar allgemein, nach außen aber spezifisch und unvergleichlich ist” (Simmel 1908:689). „Man erinnert mich oft an meinen deutschen Tonfall oder meine zu direkte Ausdrucksweise, deren ich mich nicht entledigen kann. Man stuft mich sofort als sehr methodisch, verlässlich, aber auch rigide ein… halt wie eine Deutsche. Eines Tages hat man mir sogar den Job eines Hotelmanagers per Telefon angeboten, nur weil ich Deutsche bin.“ (Interviewpartner C) Der deutsche Immigrant muss mit einem von Klischees geprägten Bild zu leben lernen. Simmel (1908) erinnert uns daran, dass der Fremde nicht als Person wahrgenommen wird, sondern eher als ein „Typus des Fremden“. Ohne eine gemeinsame Heimat mit seiner Umgebung muss der Fremde irgendwie Interaktionen mit seiner Herkunftsgruppe und deren Imaginäres in seinem tiefsten Inneren erzeugen oder sich vorstellen (Breckner 2006:96f.): „Das Selbst ist mit der unmöglichen Aufgabe betraut, die verlorene Integrität der Welt wieder zu erneuern: oder, bescheidener, mit der Aufgabe, die Erzeugung von Selbstidentität am Leben zu erhalten; eigenständig das zu tun, womit einst die einheimische Gemeinschaft betraut war. Tatsächlich muss eine solche ‚einheimische Gemeinschaft’ als der Bezugsrahmen für Selbstidentität im Innern des Selbst konstruiert werde. Und nur innerhalb der Imaginationsarbeit des Selbst hat eine solche Gemeinschaft ihre notwendig prekäre Existenz.“ (Baumann 1995:125) Viele der Befragten berichten von ihren Erfahrungen, die Heimat exportiert zu haben, arbeiten an der Herstellung eines neuen deutschen Heimatbildes für die Familie. Diese Anstrengungen verweisen auf die Notwendigkeit, einen neuen Platz in seinem Leben für seine Wurzeln zu finden. interculture j ourna l 11/19 ( 2 0 1 2 ) Denn das Resultat einer nationalen Sozialisation bleibt nach einer vollständigen Kindheit und Schullaufbahn in Deutschland allgegenwärtig. Wir haben den Befragten auch die Frage nach den Bezügen des Nationalstolzes gestellt: Sie geben oft ihren Stolz auf demokratische Errungenschaften an, zitieren einen wahrhaftigen Rechtsstaat mit einer unabhängigen Justiz (wegen der deutschen Geschichte), die Offenheit gegenüber Fremden und dem Ausland, den wirtschaftliche Erfolg dank seiner Arbeit und nicht nur seiner natürlicher Ressourcen, eine gewisse Verantwortlichkeit seiner Bürger, die sich ein kritisches Bewusstsein bewahrt hätten. Diese kollektiven Erfolge finden auch ihre Entsprechung im Privatleben, wie die lockere Atmosphäre, die man dort mit Nachbarn, Kollegen, Freunden hat und dadurch ein intensives soziales Leben mit vielen Begegnungen und Festen genießt. Schließlich wird auch noch die Seriosität und das Vertrauen in seinen Mitbürger zitiert, wie auch die Toleranz gegenüber dem Bekleidungsstil. Wenn wenigstens einige Elemente des kollektiven Imaginären der Herkunftskultur gut in die persönliche Identität integriert sind, spricht die Psychologie von einer gelungenen Individuation und einer stabilen Identität7. So sind die Individuen in der Lage die Trennung zwischen ihren Werten und Überzeugungen und denjenigen ihrer Umgebung zu ertragen. Die Wege, seine Herkunftskultur in der Gastgesellschaft für alle Beteiligten angemessen zu leben, sind äußerst vielfältig und können hier nur angeschnitten werden. In den Interviews wird nicht immer klar, welche Rolle die Gastgesellschaft für die Präsenz der deutschen Kultur spielt und müsste vertieft erforscht werden. Zusammenfassend kann man sagen, dass das Fremdheitsgefühl in unseren Interviews notgedrungen zugestanden werden muss, obwohl es nicht gern erinnert wird und viele Interviewte auch nach vielen Jahren einige Grundwerte der Gastgesellschaft als befremdend erleben (siehe hierzu auch 3.1.3., 3.2.2.). 3.3. Die Fremdheit akzeptieren 3.3.1. Wie gehen die Immigranten mit ihren Grenzen der Integration und dem Heimatverlust um? Wie richtet sich der deutsche Migrant nun in seiner etwas exponierten Stellung in der französischen Gesellschaft ein? Was sind die Gegenmittel gegen Fremdheitserfahrungen? Wie entwickelt sich die Fremdheit sich selbst gegenüber? Und wie erlebt er die Ambivalenz seiner Zugehörigkeit zur Gastgesellschaft (bzw. die Reminiszenzen seiner Zugehörigkeit zu Deutschland)? Nach den Lebensgeschichten erweist sich der berufliche Erfolg als wichtigste Stütze der Integration. Sie ist aber auch der Persönlichkeitsstärke und / oder dem Ehrgeiz sich zu integrieren und zu reüssieren geschuldet. Andere, etwas zögerlicher und weniger abgehärtet durch die eigene Biographie suchen immer noch nach einem adäquaten Platz in der französischen Gesellschaft. Strategien, sich der fremden Kultur und Gesellschaft gegenüber zu öffnen, erweisen sich als unumgänglich, um den in der Ursprungssozialisierung erlernten Rollen noch diejenige des typischen Ausländers und / oder des (Über-) Angepassten hinzuzufügen. “Die Andersartigkeit Frankreichs habe ich eher als eine Herausforderung und Bereicherung erlebt…. Es zu schaffen, sich anzupassen ist ein außergewöhnlicher Erfolg in einer Welt von Kasten, Klans, Klischees und Stereotypen.” (Interviewpartner J) Nach unseren Analysen kann das Fremdheitsgefühl durch folgende Elemente gelindert werden: die Stärke und Festigkeit der persönlichen Identität, das Selbstvertrauen, den Gleichmut gegenüber der Herkunftsgesellschaft und / oder -kultur, den Grad der beruflichen und sozialen Integration im Gastland, die Anerkennung und Wertschätzung durch die Gastgesellschaft, das soziale Netz im Gastland, die Kenntnis des Wohnorts des Gastlandes und seiner Kultur. Seltsamerweise wird der meist einheimische Partner nur selten erwähnt, selbst wenn er sich bei Nach- 57 fragen als wichtige Hilfe am Anfang des Einlebens erwies. Selbstverständlich beeindruckt diese Liste, aber für fast alle Befragten finden sich in ihr gleich mehrere Schwachstellen. Deshalb ist das Fremdheitsgefühl allgegenwärtig, selbst bei denjenigen, die scheinbar mit ihrer Integration zufrieden sind. Der Einheimische oder selbst der französische Partner oder manchmal auch ein enger französischer Freund(in) sind da keine große Hilfe, denn ohne das Gefühl des Verlustes kultureller Sicherheiten schon erlebt zu haben, ist die Fremdheitserfahrung schwer nachvollziehbar. Selbst den Auswanderern bleibt sie lange kaschiert und manifestiert sich lediglich als ein etwas schräges Leben, als ein Zuviel an Originalität und durch das Gefühl, von gewissen Kreisen, Situationen und Freundschaften ausgeschlossen zu sein. Und der Fremde trägt aktiv dazu bei, dass seine Andersartigkeit nicht wahrgenommen wird; denn seine Integration beruht vor allem darauf, sich so weit wie möglich der Normalität des neuen Kontextes anzunähern. Außerdem wird die Fremdheit gerne versteckt, weil sie dazu verpflichten würde, die Fremdheit sich selbst gegenüber anzuerkennen. (Sartre zitiert nach Baumann 1995:112)8. „Wenn ich eine andere werde, dann erinnert mich das weniger an den Verlust meiner selbst.” (Interviewpartner D) „Das Genie ist überall isoliert, egal wo es sich befindet.” (Interviewpartner B) „In Frankreich habe ich noch nie jemanden kennengelernt, der sich wirklich für Deutschland interessierte.” (Interviewpartner A) Dennoch haben viele Befragte die große Offenheit vieler französischer Kontexte (Arbeit, Freunde, Schwiegerfamilie, Lebensort, Vereinsleben, Nachbarschaft etc.) gegenüber der Integration von Ausländern hervorgehoben. Einige haben behauptet, dass sie so einen Empfang in Deutschland nicht für selbstverständlich hielten. Simmel formuliert diese Erfahrung, sich respektiert und notwendig zu fühlen, auf die folgende Weise: „Mit all seiner unorganischen Angefügtheit ist der 58 Fremde doch ein organisches Glied der Gruppe, deren einheitliches Leben die besondere Bedingtheit dieses Elementes einschließt.” (Simmel 1908:512) Also bleibt die Frage nach dem den deutschen Ausländern in Frankreich reservierten Platz offen. Unsere Befragten haben dazu ebenfalls nur einige Rezepte anzubieten: „Um hierzulande zu gefallen, muss man den landesüblichen Tugenden Genüge tun, sich nützlich machen, ja manchmal sogar unumgänglich werden durch sein unablässiges Engagement, man sollte die Küche, die Kultur und das gute Leben in Frankreich loben; und vor allem muss man es um jeden Preis vermeiden, die Wirtschaft oder die Politik, ja Frankreich ganz allgemein zu beurteilen ; dieses Recht ist den Einheimischen vorbehalten…“ (Interviewpartner F) Trotz aller Anstrengungen, werden auch Grenzerfahrungen der Anpassung gemacht, in den Interviews aber nur selten angesprochen: Die soziale (oder symbolische) Position des langjährigen Immigranten ist oft nicht klar. Und so sieht man sich mal als Franzose deutscher Abstammung; mal als deutscher Kosmopolit; oder als Deutsch-Franzose; in Ermangelung familiärer Wurzeln oder von Kinderfreundschaften in Frankreich, fühlt man sich nicht wirklich als Kind dieses Landes. „Ich kenne Frankreich nicht wirklich.” (Interviewpartner A) Baumann (1995:103, 111) beschreibt diese Gefühl in folgenden paradoxalen Begriffen : „der Ausschluss in die Objektivität“ (ein Standpunkt von dem aus Insider überprüft werden können) und „die Wurzellosigkeit der Universalität“ (nur Juden, Zigeuner und Kosmopoliten zeugen noch von dieser äußeren Grenze des Nationalismus) sind für die Unmöglichkeit, das Wissen über die Gesellschaft der Einheimischen zu internalisieren, verantwortlich. „[…] es [ist] nicht die Unfähigkeit, einheimisches Wissen zu erwerben, die den Außenseiter als Fremden konstituiert, sondern die inkongruente existentielle Konstitution des Fremden, insofern er weder ‚innen‘ noch ‚außen’, weder ‚Freund’ noch ‚Feind’, weder eingeschlossen noch interculture j ourna l 11/19 ( 2 0 1 2 ) ausgeschlossen ist, die das einheimische Wissen unassimilierbar macht.“ (Baumann 1995:101) Wie gesehen gibt es keine Patentrezepte, die Fremdheit ein für alle Mal zu überwinden, allenfalls Strategien, mit ihr ad hoc im Alltag zurechtzukommen. Als ein Ausweg zeichnet sich das Eingeständnis „ewiger Fremdheit“ ab. Nichtsdestoweniger kennen langjährige Migranten fast alle Untiefen der Gastgesellschaft und vermögen im Alltag alle gefährlichen Klippen zu umschiffen. Tun sie das dennoch nicht, so steht dahinter eine sehr persönliche Entscheidung. 3.3.2. Was bedeutet die Ambivalenz der Position des Fremden? Nach einer genaueren Beschreibung der Natur der Ambivalenz des Fremden, diskutieren wir zwei Wege mit ihr umzugehen: die Überanpassung und die Zurückhaltung in einer freiwilligen Teilmarginalisierung. Die Ambivalenz des Fremden resultiert aus seiner Form der Fremdheit, die noch radikaler ist als die des gesellschaftlich marginalen Einheimischen. Sie zielt auf das spezifische des Selbstverständnisses ausländischer Individuen. Da es schwer fällt im Kontext einer fremden Kultur oder Gesellschaft ein eindeutiges Kriterium für Normalität zu bestimmen, muss man dieses Maß entweder wieder in seiner eigenen Welt oder der Welt der anderen suchen. „Ich war schon immer relativ introvertiert und musste mich um andere kümmern. In Frankreich ist diese Isolation erträglicher als in Deutschland, weil alles offener ist, der Lebensstil einfacher ist und Entscheidungen provisorisch sind.” (Interviewpartner A) Die Normalität wird heute eher vom persönlichen Charakter, der Persönlichkeit und der Mitgliedschaft in einer (Sub-)Kultur bestimmt als von der Gesellschaft; das Individuum hat heute die Autonomie in seinem Privatleben, seine ihm gefälligen Werte zu wählen und diese werden bis zu einem gewissen Grad auch in der Öffentlichkeit toleriert. Dennoch gibt es gute Gründe, die dafür sprechen, dass das moderne Indi- viduum bezüglich bestimmter Paradigmen in jeder Kultur Stellung beziehen muss. Diese Paradigmen bestimmen auch seine eigene Normalität, je nach seinen Präferenzen: wie z. B. seinen sozialen Status durch seinen Bekleidungsstil oder seine Wohnungseinrichtungen ausdrücken, überspielen oder verstecken etc., seine Geselligkeit in Abhängigkeit von seinem sozialen Status pflegen oder eben nicht etc. (Rathje 2006:12f.). „Selbst nach über 40 Jahren Frankreich sind meine besten Freunde immer noch in Deutschland und werden es auch bleiben. Selbst wenn ich sie selten sehe, stellt sich eine intime Vertrautheit in kürzester Zeit ein, die für mich unmöglich in Frankreich ist. Meine französischen Bekannten sind entweder zu derb, ja machistisch oder zu verklemmt; wie dem auch sei, auf jeden Fall sind die Franzosen, die ich kenne weniger offen als die Deutschen, wenn es darum geht über persönliche Dinge zu reden und das ist schade.“ (Interviewpartner F) Noch deutlicher kritisiert eine andere Befragte ein nationales Paradigma: „Man kann über alles diskutieren hier, aber sobald es an die ‚Grande Nation‘ geht, dann gehen die Klappen runter.“ (Interviewpartner B) Baumann warnt uns. Wenn wir die kulturelle und soziale Differenz nicht ernstnehmen, so setzen wir uns um so mehr der Ambivalenz aus. Wir gehen sozusagen naiv mit der Andersartigkeit der Vertreter der Gastkultur um und ignorieren unsere eigene Andersartigkeit, was zu interkulturellen Missverständnissen führen kann. Die Konflikte um und die Marginalisierung von Ausländern bleiben ohnehin bestehen. Denn die Bekämpfung der Ambivalenz durch mehr Transparenz und mehr Regeln führt nur zu neuen Unschärfen. Diese Entwicklung der modernen Gesellschaft ist besonders delikat für die deutsche Kultur, die sehr an expliziten Regeln hängt und an eine antizipierende Organisation gewöhnt ist. Einige deutsche Immigranten haben selbst nach einer langen Zeit als Auswanderer noch Probleme die in Frankreich übliche Dosis von Improvisation und Approximation in der Arbeitswelt zu 59 akzeptieren, eine gemessene und tolerante Haltung einzunehmen, gegenüber vielen Regelabweichungen, denen man in Frankreich tagtäglich begegnet. isoliert, nicht genügend (sozial) anerkannt, was sich vielfach in Selbstkritik, Perfektionismus, ja selbst Erfolgsstreben äußert. Die Überanpassung (siehe hierzu Berry Jahr, Assimilation, mit Aufgabe der Herkunftskultur), ist auch nicht das Allheilmittel gegen die Grundsituation des Fremden. Übertriebene Integration führt zu „perversen Effekten“ (Baumann 1995:99ff ). Der erzwungene Eintritt in eine fremde Kultur wendet oft den guten Willen des Immigranten gegen sich selbst. Seine Assimilationsbemühungen trennen ihn mehr von den Einheimischen, enthüllen mehr seine Fremdheit und bestätigen mehr sein Gefühl der Inkohärenz als dass er sich in die Gruppe einfügt. Im Übrigen wird die Überanpassung von den Einheimischen wie ein Geständnis seiner Schuld für seine Freiheit (von lokalen Normen und Werten) und Objektivität (durch Relativierung letzterer) (Baumann 1995:111) interpretiert, während sich die Einheimischen in ihren Sicherheit gebenden lokalen Kodes eingeschlossen, abgewertet fühlen. „Auch während der 10 Jahre in Italien, bevor ich nach Frankreich kam, lebte ich nur auf Italienisch und unter Italienern. Dennoch bin ich da von den nationalstolzen Einheimischen nicht als Ihresgleichen, eben als Italienerin angesehen worden.” (Interviewpartner D) Einige der Befragten berichten, dass sie wegen ihres übertriebenen Willens, sich der Gastkultur anzunähern bzw. sie zu imitieren, schon einmal zurechtgewiesen und an die guten alten deutschen Tugenden (Stereotypen) erinnert wurden. Das gefiel diesen Migranten überhaupt nicht. Denn, wenn auch der Gebrauch von Klischees für fremde Kulturen zugelassen ist, so wird das gleiche Prozedere, angewendet auf die eigene Kultur, doch in aller Regel zurückgewiesen. Deshalb bleiben einige Interviewte in sicherer Distanz zur französischen Gesellschaft und gestehen offen ihre Anpassungsgrenzen ein, ohne sich in die lokalen Affären einzumischen und vor allem ohne sie zu kommentieren. Indessen geben fast alle zu, gewissen Ausschlusserscheinungen ausgesetzt zu sein, die sie gemäß ihrer Persönlichkeit und im besten Fall durch eine stoische Haltung zu akzeptieren scheinen. Aber die meiste Zeit fühlen sie sich trotzdem 60 Also bleibt dem Fremden im Ausland nur seine fremde Haltung, angezeigt durch seine Zurückhaltung, sein vorgegebenes Erstaunen und sein Mitgefühl. Für das Selbstvertrauen braucht es ein Minimum an Selbstanpassung, um die Gastgeber nicht dauernd vor den Kopf zu stoßen. Die Übernahme des Urteils der Einheimischen zu seiner unauflöslichen Fremdheit und die Unfähigkeit die Welt aus der Sicht der Einheimischen zu sehen, bestätigen ebenfalls den schlimmsten gegen ihn von Einheimischen gehegte Verdacht: seine Zurückweisung der lokalen Werte und der Anspruch auf ein Gefühl der Überlegenheit (wegen seiner Unabhängigkeit von den lokalen Denkweisen). Goffman fasst diesen Gedanken in eine sehr treffende Metapher: „Statt sich auf seine Krücke zu stützen, beginnt er [der Migrant] damit Golf zu spielen“ (Baumann 1995:111). „Nach zwei mehr als zehnjährigen Aufenthalten im Ausland fühle ich mich überall fremd, weil ich selbst überall anders bin und ambivalente Gefühle hege, wo ich auch bin. Am wohlsten fühle ich mich unter Ausländern, Kosmopoliten, die ganz verschiedene persönliche Geschichten tolerieren. Wenn man einmal diese kosmopolitische Identität adoptiert hat, dann dominiert wieder der persönliche Charakter und die Zwänge der Lokalkulturen erscheinen fast lächerlich, eher wie amüsante Folklore.” (Interviewpartner D) Das Selbstbild des Fremden, geprägt von der Relativität des herrschenden Wertekanons und angelehnt an eine universalistische Perspektive, bedroht die Einheimischen, weil es sie an die Schwächen und Mängel ihrer Werte erinnert und sie an den der Moderne innewohnenden Relativismus mahnt. Die Aufgabe des Bezugs zu den eigenen interculture j ourna l 11/19 ( 2 0 1 2 ) Wurzeln wiederum ist fatal für den Immigranten wie es Franz Kafka beschreibt (Baumann 1995:117). Bei Kafka hat der Fremde kein Recht auf ein Selbstbild, eine eigene Identität. Er leitet den Sinn seiner Wahrnehmungen ausschließlich aus den Reaktionen der Einheimischen ab, er vergisst völlig seine Fähigkeit, aus seinem eigenen Erbe ein vernünftiges Projekt abzuleiten. Das bedeutet, seine persönliche Autonomie aufzugeben. Als Fazit vieler Autoren, die sich mit der Frage der Fremdheit beschäftigt haben und als eigens ausgewertete Biographien deutscher Auswanderer scheint die Ambivalenz die wichtigste Existenzbedingung des Fremden zu sein: sei es wegen seines Unwissens über die Geschichte kollektiver Gefühle, seines Status, der die Einheimischen an gewisse Objektivitäten erinnert, die ihnen in der lokalen Sicht aus dem Blick geraten, sei es wegen seines Status der gleichzeitigen Integriertheit und Ausgeschlossenheit gegenüber dem evidenten kollektiven Wissen oder seiner Funktion als Freund und Feind (Konkurrent). All das schränkt die Emanzipation des Fremden als Individuum ein und verdammt ihn zu einem bestimmten Typus des Fremden. Die Befragten leiden unter diesen Klischees, mit denen man sie gleichsetzt. Deshalb stellt die Fremdheitserfahrung auch die Herkunftsidentität in Frage, denn sie hinterfragt die erlernten Sicherheiten und bringt die Kriterien für Normalität durcheinander9. Zusammenfassend ergibt sich: Zumindest am Anfang stört das Fremdheitsgefühl die Emigranten selbst relativ wenig, denn sie haben ja alle ihre Integrationsprobleme und die (Re-) Konstruktion ihrer Identität mit dem Akt des Verlassens ihres Landes (Elternfunktion) gelöst. Sei es in der Hoffnung, eine ihren Bedürfnissen angemessenere Umgebung zu finden (alloplastisch), sei es die Gelegenheit seine Persönlichkeit zu entwickeln oder einfach erwachsener zu werden (autoplastisch). Diese Hoffnung auf unmittelbare Reifung dank der Auswanderung ist eine der großen Entdeckungen aus den Interviews. Und das vorprogrammierte Scheitern (zumindest in der Anfangsphase) ist nach einer Phase des Umherirrens die Hauptmotivation an sich selbst zu arbeiten, um die Frage der Ambivalenz seiner Existenz als Fremder, aber auch als Person, etwas zu klären. Dies ist für viele ein Lebensprojekt, oft belohnt durch das Erreichen einer klareren, stabileren und ausgeglicheneren Identität. Das Fremdheitsgefühl verwandelt sich im besten Falle relativ häufig in diplomatische Ambivalenz gegenüber kulturell befremdenden Situationen, manchmal in selbstlose Bereitstellung seiner Hilfe als Kompensation von nicht überspielbarer Fremdheit und schließlich, noch seltener, zur Übernahme von lokalen Werten und Normen in das eigene Selbstverständnis des Fremden. Grundsätzliche Fremdheit gegenüber der Gastkultur bleibt jedoch jederzeit abrufbar und bedrohlich im Hintergrund. Am Ende gilt es die verbleibende Ambivalenz zu ertragen, indem eine passende Positionierung zu Herkunfts- und Gastkultur gefunden wird. 3.3.3. Was heißt es, die Ambivalenz zu ertragen? Akhtar schlägt eine Lesart des Integrationsprozesses in vier Dimensionen vor, die jeweils die Fähigkeit ermessen, Ambivalenz zu ertragen. (Akhtar 2007:95ff.). Es geht dabei darum, für jede Dimension eine intermediäre Position zu finden zwischen der unbedingten Identifikation mit der neuen Umgebung und deren Zurückweisung wegen der Suche nach den schlecht integrierten (kulturellen) Wurzeln. Man muss also lernen, Ambivalenz in den verschiedensten Lebenssituationen zu ertragen. Die erste Dimension betrifft die Triebe und Affekte, in der man von der Entgegensetzung zwischen Liebe und Hass zur Ambivalenz finden muss und dies auch angesichts der neuen Kultur (Objekt). Es handelt sich hier um die psychische Kompetenz zur Trennung zwischen Selbstbild (Subjekt) und Repräsentation der Umwelt (Objekt). Im Falle einer schwachen Trennung zwischen Subjekt und Objekt droht in Situationen mangelhafter Anpassung und daraus resultierender Nichtanerkennung die Gefahr 61 der Regression. Diese Regression zeigt sich in einer aggressiven Abwertung der Gastkultur und der Idealisierung der Herkunftskultur (oder umgekehrt). Vor allem am Anfang ihrer Migration berichten mehrere Befragte von Phasen, während derer sie ihre Ursprungskultur völlig zurückwiesen, um schließlich später während anderer Phasen diese zu idealisieren (siehe hierzu die vorstehenden Zitate von Interviewpartner E und B). Die zweite Dimension definiert den persönlichen und psychischen Bereich, der die optimale Distanz zur umgebenden Gesellschaft (Objekt) bestimmt, um zu vermeiden, dass diese zu stark internalisiert oder exteriorisiert wird. Eine zu geringe Distanz zum Objekt (Beziehung zur Mutter) provoziert symbiotische Bedürfnisse, die sich ebenfalls negativ auf die richtige Distanz zur neuen Kultur auswirken. Wir erinnern an nicht überwundene kindliche Heimatnostalgien wie unter 3.2.1 besprochen. Mögliche Konsequenzen sind erneut ein ethnozentrischer Rückzug auf den Objektentzug (Fusion mit der Herkunftskultur) oder eine kontra-phobische Assimilation (Zurückweisung der Herkunftskultur) bei Idealisierung der neuen Kultur. Bezüglich der Distanz zu beiden Kulturen erzählen die Interviewten von ihrem Zögern, ihre persönliche Identität zu verteidigen, da sie oft zum Zeitpunkt der Migration noch wenig entwickelt schien. Am Anfang ihrer Integration haben sie zu sehr oder zu wenig ihre Werte gegenüber der neuen Umgebung behauptet. Einige haben indessen eingeräumt, dass das Erlernen die richtige Distanz zu finden, unabhängig von Frankreich, eine Angelegenheit der persönlichen Reifung war. „Mit fortschreitendem Alter wird das Kindheitspaket vergrößert, verdichtet, um die Leere zu füllen, in 20 Jahren bin ich nur 2-3 Mal zu meiner Großtante gefahren, von der Familie kommt nicht viel […] Alle sind ambivalent, die Franzosen auch, manches ist gut, manches nervig […] Als Persönlichkeit bin ich selbständiger, älter geworden, habe neue Erfahrungen im Leben gemacht, wie z. B. verschiedene Arbeitsklimata, wenn auch nur mit Aver- 62 sion, bin mehr ich selber geworden, dank Frankreich gereift.” (Interviewpartner C) Die dritte Dimension steht vor der Herausforderung, den unvollkommenen Charakter der Erfahrungen am neuen Lebensort anzuerkennen und weder in die Nostalgie eines verlorenen Paradieses abzuschweifen, noch sich auf die allein heilbringende Zukunft in der verlorenen Heimat zu kaprizieren. Hier geht es darum, seine Triebe und Bedürfnisse an der Realität auszurichten und von Projektionen aus der Vergangenheit oder in die Zukunft zu befreien. Der Verlust der Errungenschaften der primären Sozialisierung remobilisiert beim Migranten symbiotische Bindungen. Die Gefahr bei dieser Erfahrung ist es, die Vergangenheit bzw. eine mögliche Zukunft in der Herkunftsgesellschaft zu idealisieren. Dieser Aspekt wird relativ wenig angesprochen. Einige ältere Befragte (> 55 Jahre) beginnen jedoch sich Gedanken darüber zu machen, wie sie mehr Zeit in ihrer ehemaligen Heimat zubringen können und dass ihre intimsten Bindungen (mit Ausnahme ihrer französischen) Familie doch mehr in Deutschland als in Frankreich liegen (z. B. Verwandte, Kinder- und Jugendfreundschaften(siehe hierzu die vorstehenden Zitate von Interviewpartner F zu deutschen Freundschaftsbeziehungen und B zu zunehmender Intoleranz gegenüber unzivilisierten Franzosen). Schließlich besteht die letzte Integrationsdimension darin, eine neue Zugehörigkeit bzw. Aufteilung zu generieren, mit denen der Migrant vom meine und deine zu unserer Kultur, Gesellschaft, Gemeinschaft etc. in Frankreich findet. Es gilt dabei, seinen primären Narzissmus zu überwinden, zugunsten der Sorge um den Nächsten. Fehlende Erfahrungen mit den Symbolen der französischen Kultur, sprachliche Hürden und ein unangepasstes Über-Ich, verhindern die Entwicklung einer toleranten Haltung und favorisieren die Regression auf einen primären Narzissmus. Niemand unter den Befragten hat eine primäre Rivalität zwischen den beiden interculture j ourna l 11/19 ( 2 0 1 2 ) Kulturen zum Ausdruck gebracht. Wenn es jedoch darum geht, ihre Beziehung(en) zu den beiden Kulturen miteinander zu vergleichen, greifen sie auch auf Stereotypen zurück wie z. B. die Pünktlichkeit, die Organisation, die Effizienz, den Laissez-faire, die Gastlichkeit oder die reichhaltige Küche / Gastronomie. Dies ist vielleicht ein Indiz dafür, dass ihre moralische Wahrnehmung noch nicht bereit ist, die beiden Kulturen miteinander zu vermischen. Mehrere Deutsche, die in Frankreich ihr eigenes Unternehmen oder Karriere aufgebaut haben, haben keinerlei Probleme von ihrem Arbeits- oder Wohnort in der wir-Form zu sprechen. Dagegen sprechen sie von der französischen Politik, dem Staat und den Werten häufiger in der sie-Form. „Hier bin ich längst nicht mit allem einverstanden wie zum Beispiel mit den französischen Wohnsilos oder den französischen Gesetzen, die Fehlentwicklungen bestärken und sage auch, was ich denke; denn französische Politiker sind heute alle korrupt.” (Interviewpartner K) Wenn die Immigranten (noch) nicht die oben erwähnten Anpassungen entwickelt haben, bleibt ihr Selbstbild vage und mühsam. Man spürt, dass ihre Ursprungsidentität noch keinen angemessenen Platz in der Gastgesellschaft gefunden hat. Ihre Herkunft wird nicht anerkannt. Sie haben noch keinen, oder sind gerade dabei, einen Heimatersatz aufzubauen, sei es in der Arbeit durch die Vermittlung von Kenntnissen über Deutschland, sei es als pädagogische Projekte, die für Deutschland werben, sei es durch deutsche Aktivitäten (Stammtische, Feste, Deutschunterricht für die Kinder etc.) im Rahmen deutsch-französischer Familien oder einfach durch direkten Austausch mit deutschen und französischen Freunden. Aber nur wenige der Migranten haben sich in der Gastgesellschaft soweit engagiert, dass sie ehrenamtlich Dienste übernähmen oder man von aktiven Rolle in der französischen Politik sprechen könnte. Diejenigen, die es gemacht haben (als Bürgermeister, als Mitbegründer von deutsch-französischen Häusern, als Stadträtinnen) können es sich erlauben, offen als Deutsche in Frankreich aufzutreten und werden als solche respektiert, weil sie sich für Frankreich (-Deutschland) eingesetzt haben. Die Mehrheit begnügt sich damit, ausgeglichene gegenseitige Beziehungen in ihren beruflichen und privaten Netzwerken zwischen den beiden Ländern zu unterhalten. Ihr Status in Frankreich scheint dem Etikett in Frankreich lebende(r) Deutsche(r) zu entsprechen, da ihnen die deutsche Staatsangehörigkeit ausreicht. Die französische wurde nur beantragt, sofern eine Doppelstaatsangehörigkeit möglich war. 4. Fazit: Vom Einzelgänger zum Kosmopoliten? Die Erfahrung der Fremdheit ist eine Herausforderung für viele Migranten, ob sie bewusst oder unbewusst erlebt wird. Die Anerkennung der Herkunftskultur sowie ihr Platz in der neuen Umgebung erweist sich oft als strategisch wichtig dafür, die etwas marginale Position in der Gastgesellschaft zu akzeptieren, seine Identität und sein Selbstwertgefühl zu stabilisieren. Aber viele der befragten deutschen Migranten sind an Marginalität gewöhnt und haben häufig die Persönlichkeitsstärke, um mit viel Gegnerschaft zurechtzukommen. Die Mehrheit der Befragten ist seit langem Einzelgänger. Fast alle lebten irgendwie am Rande der deutschen Gesellschaft. Sie sind auch relativ autonom, was ihre Familie anbelangt. Viele haben das Elternhaus bei der ersten Gelegenheit verlassen. Deshalb haben sie sich eher den Herausforderungen ihrer Unabhängigkeit gestellt, auch den damit verbundenen Leiden und Anstrengungen, um ihre Ziele zu realisieren. Schließlich verdankt sich ihr Wechsel nach Frankreich nicht allein einer günstigen (beruflichen, persönlichen oder materiellen) Gelegenheit, sondern wird von einem sehr persönlichen, oftmals anfänglich unbewussten Projekt motiviert: ■■ Alloplastische Anpassung: in Ermangelung von befriedigenden sozialen bzw. familiären Beziehungen in Deutschland, zogen diese Aus- 63 wanderer eine durch ihre Formerfordernisse stärker strukturierende Gesellschaft vor, die auch toleranter gegenüber Außenseitern ist und selbst viel Marginalität erzeugt. Autoplastische Anpassung: die Perspektive den Leidensdruck von diskreten Einzelgängern oder Geschmacksindividualisten in einer Gesellschaft aufzuheben, wo solche Lebensstile normal sind, ermutigte einige dieser Auswanderer, ihre Persönlichkeit weiterzuentwickeln. Die erlebte Fremdheit erinnerte sie schnell an ihre Integrationsprobleme, die sie mit der Auswanderung zu lösen hofften. Sie wiederholten sie, jedoch in anderer Gestalt in der neuen Kultur und in Abwesenheit der alten Primärgruppen, welche beide zu ihrer Überwindung beitragen. Man könnte die wichtigsten Ergebnisse dieses Artikels der drei Hauptkapitel folgendermaßen zusammenfassen: Die Ursprungskultur prägt durch ihre Sozialisierung auf Lebenszeit und man bleibt immer irgendwie fremd in der zweiten Kultur. Man muss der Herkunftskultur einen angemessenen Platz im Leben geben, um die Fremdheitserfahrungen besser ertragen zu können. Es gilt eine Vielzahl von Anpassungsmaßnahmen zu bewerkstelligen, um eine Ursprungskultur im Ausland (mit-)leben zu können, ohne sich darin einzuschließen. Wenn der Migrant diese drei Aspekte des Lebens im Ausland ernst nimmt, so reift auch vielfach seine Persönlichkeit. Diese drei Herausforderungen entsprechen auch etwa den verschiedenen Phasen der Integration im Gastland und der Entwicklung einer neuen (bikulturellen) Identität. Dabei ist es selbstverständlich, dass Ungleichzeitigkeiten der Anpassung in verschiedenen Lebensbereichen auftreten. So ist man imstande Fremdheit (Andersheit) besser zu ertragen, die Dämonen seiner Kindheit zu überwinden und sich von den alten nationalen mentalen Landkarten zu befreien, verglichen mit denjenigen, die im Heimatland geblieben sind. Schließlich stellt sich die Frage, ob solche Biographien für einen kosmopolitischen Geist sensibilisieren oder ihn zumindest vorbereiten. Persönlich bleiben wir 64 skeptisch gegenüber einer kosmopolitischen kulturellen Position, was aber die Legitimität dieser Frage nicht verneint. Aber für uns handelt es sich hier eher um eine philosophische als soziologische Frage. 5. Literatur Amery, J. (1980): Jenseits von Schuld und Sühne, Bewältigungsversuche eines Überwältigten. Stuttgart: Klett Cotta. Akhtar, S. (2007): Immigration und Identität. Gieβen: Psychosozial Verlag. Alaminos, A. (2006): Pioneur - Pioneers of Europe’s Integration “from Below”: Mobility and the Emergence of European Identity among National and Foreign Citizens in the EU. URL: http://www.obets.ua.es/pioneur/ [Zugriff am 28.11.2012]. Baumann, Z. (1995): Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit. Frankfurt/M: Fischer. Berry, J. W. (1990): Psychology of Acculturation. Lincoln (NE): University of Nebraska. Breckner, R. (2005): Migrationserfahrung – Fremdheit – Biografie. Wiesbaden: VS Verlag. Claussen, D. (2008): Wieviel Heimat braucht der Mensch. 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A Comparison of Secondary Students Overseas and at Home. International Journal of Psychology 28 (2), S. 129-147. Endnoten 1. Dieser Studie unterliegt ein weiter Begriff von Kultur, der die Qualitäten verschiedener Kollektive umfasst, der die Alltagskultur berücksichtigt und Unterschiede in Sitten und Werten von sozialen Gruppen betont. 4. Berry entwickelte ein 4 Felder-Schema, das Annahme bzw. Zurückweisung der Gastkultur und der Herkunftskultur einander gegenüberstellt. Daraus entstehen 4 Integrationsstrategien: Bi- bzw. Multikulturalität, Assimilation, Segregation / Separation, Marginalisierung. 5. Waldenfels unterscheidet verschiedene Grade erlebter Fremdheit oder des Fremdseins. Die Fremdheitserfahrung kann qualifiziert werden als: - alltäglich, die begrenzt wird durch alles, was wir als vertraute Erfahrungen bezeichnen können (Schütz (1972) nennt sie: „Denken wie üblich“) wie zum Beispiel die Fremdheit von Nachbarn, Straßenpassanten oder Schalterbeamten, mit denen man sich verständigen kann. - strukturell, die Begegnungen außerhalb beherrschter Ordnungen betrifft (wie zum Beispiel eine Fremdsprache, soziale Riten, Sitten, Moralen eines anderen Landes, fremde Lebenswelten, der sich verändernde Zeitgeist etc.) und tritt immer dann auf, wenn man sich in eine neue soziale Ordnung begibt (aber auch in neue Milieus). - radikal, die auf Erfahrungen verweisen, die uns mit Ereignissen außerhalb jeglicher Ordnung konfrontieren und nicht nur eine bestimmte Interpretation, sondern die Interpretation im Allgemeinen in Frage stellen. Hier handelt es sich um eine Verständnislosigkeit, die den eigenen Sinnhorizont übersteigen, aber keine totale oder absolute Fremdheit wie die Entfremdung darstellt). 6. Die sozialen Formen organisieren für Simmel (1908) soziale Inhalte wie z. B. die Sozialisierung oder die Vergesellschaftung. Um ihre Funktionsweise besser zu verstehen und ihre Reichweite zu erfassen, untersucht er sie gerne in Form von Gegensatzpaaren. 7. Identität als psychologisches Konzept geht davon aus, dass sich ein Mensch mit etwas identifiziert, also ein äußeres Merkmal einer bestehenden Gruppenidentität als eigenes Wesensmerkmal annimmt. 8. Baumann Z. op cit; „L’étranger, c’est l’homme en face du monde […] L’étranger, c’est aussi l’homme parmi les hommes… C’est enfin moi-même par rapport à moi-même.” 9. Die nationale Repräsentationen der Welt zu denen jedes darin sozialisierte Wesen Stellung zu beziehen hat. 2. Die Gesellschaft eines Landes unterscheidet sich von seiner Kultur durch eine spezifische Organisation des öffentlichen Lebens mit seinen Institutionen, seinen sozialen Beziehungen und dem Status seiner Institutionen. 3. Siehe auch Wikipedia: Alloplastic adaptation (URL: http://en.wikipedia.org/wiki/Alloplastic_adaptation). 65 66 interculture j ourna l 11/19 ( 2 0 1 2 ) Intuition als Metafähigkeit Interkulturellen Managements – zum Selbstverständnis Interkultureller Manager Intuition as meta skill in Intercultural Management – on the self-conception of Intercultural Managers Petra-Stefanie Vogler Abstract (Deutsch) Dr., Interkulturelle Managerin und Erziehungsphilosophin; tätig als Unternehmensberaterin und Dozentin Management in Organisationen und Unternehmen ist heute in besonderem Maße „Management interkultureller Komplexität“ (Mahadevan 2008a). Interkulturelle Managementkompetenz bewegt sich ergo in und zwischen den fünf Dimensionen Haben von Erfahrung, Sensibilität, Fertigkeit, Wissen und Metafähigkeit Intuition in interkulturellen Handlungskontexten, und präsentiert sich somit als strategische Handlungskompetenz in internationalen Unternehmenssituationen. Stichworte: Interkulturelles Management, Interkulturelle Kommunikation, Intuition, Sensibilität, Virtuelle Kooperation Abstract (English) Nowadays management in organisations and companies has become first and foremost a „management of intercultural complexity“ (Mahadevan 2008a). Intercultural management competence subsequently moves in and between the five dimensions having of experience, sensitivity, skill, knowledge and meta skill intuition in intercultural action contexts and therefore presents itself as strategic competence in international organisational settings. Keywords: intercultural management, intercultural communication, intuition, sensitivity, virtual cooperation 1. Einführung Management in Organisationen und Unternehmen ist heute in besonderem Maße „Management interkultureller Komplexität“ (Mahadevan 2008a) und insofern Interkulturelles Management. Der Grad der Einbindung und demzufolge der Wirkung Interkulturellen Managements richtet sich nach der jeweiligen Organisations- bzw. Unternehmenskultur2, deren Definitions- versuche vielfältig und häufig widersprüchlich sind (vgl. Rathje 2004:60ff ). Daher lassen sich die unterschiedlichen Bedeutungen, welche Organisationsbzw. Unternehmenskultur anhaften, in zwei zentrale Sichtweisen unterteilen. So geht man zum einen davon aus, Organisationen seien Kulturen, „deren Gewohnheiten man genau wie Stämme, Nationen oder andere Gruppen beschreiben“ (Smircich 1983:347 zitiert nach Rathje 2009a:2) könne, zum 67 anderen nimmt man an”Organisationen hätten eine bestimmte Kultur, die veränderbar bzw. gestaltbar sei“ (Smircich 1983:339 zitiert nach Rathje 2009a:2). Unternehmenskultur sei daher „immer auch interkulturelle Unternehmenskultur. Im Rahmen internationaler oder interethnischer Zusammenhänge, in denen eine der Organisation übergeordnete ‚pankollektive Verklammerung‘ (Hansen 2009) der Mitarbeiter, z. B. im Rahmen einer gemeinsamen Sprache, Religionszugehörigkeit oder Staatsangehörigkeit fehlt, hat sich der Sprachgebrauch von interkultureller Personalund Organisationsentwicklung oder auch interkultureller Unternehmenskultur etabliert“ (Rathje 2009a:3). Man kann behaupten, dass das Berufsfeld des Interkulturellen Managements als wichtiges Gestaltungsinstrument von Unternehmenskultur, Personal- und Organisationsentwicklung heute ähnlich en vogue und heterogen ist wie das unmittelbar damit verbundene Themenfeld der „Interkulturellen Kompetenz“ (Bolten 2007:21). Ebenso wie im Fall der Interkulturellen Kompetenzdiskussionen3 (vgl. Benseler u. a. 2003, Bolten 2006, Deardorff 2006, Rathje 2006, 2010), ist der fachliche Diskurs hier von Heterogenität, Multidisziplinarität und Konfrontation geprägt (Bolten 2011, Koch 2010, Rothlauf 2009, Scherm / Süß 2001, Fuchs / Apfelthaler 2008, Mahadevan 2008), so dass von keinem einheitlichen Konzept interkulturellen Managements gesprochen werden kann. Diese bestehende Unschärfe und Uneinheitlichkeit des fachlichen Diskurses wird zum einen sichtbar am „Fehlen klarer Begriffsbildungen“ (Koch 2008: 3), zum anderen an der unterschiedlichen Art und Weise der Anwendung von Modellen, Theorien, Methoden und Konzepten interkulturellen Managements in der Praxis. Sicherlich ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Anerkennung des Berufsfeldes des Interkulturellen Managements unternehmens- und organisationsspezifisch stark variiert und demzufolge auch dessen Etablierung und Wirkungskraft im Rahmen der Personal- und Organisationsentwicklung selbst äußerst divers ist. Welche Modelle, Mechanismen und 68 Strategien letztlich zur Beschreibung, Feststellung, Behebung und Nutzung interkulturell bedingter Einflüsse und Aspekte in verschiedenen Kontexten herangezogen werden, steht wiederum in direkter Verbindung mit der Frage nach dem zugrunde liegenden Verständnis der Begriffe Kultur und Interkultur. Die interkulturelle Managementdebatte sowie deren Relation zur Kulturbegriffsverständnisdiskussion soll jedoch in diesem Beitrag nur ansatzweise andiskutiert werden. Ausgehend von einem lebensweltlichen Kulturbegriff kann auch hier darauf verwiesen werden, dass „alle Organisationsmitglieder neben ihrer Unternehmenszugehörigkeit auch gleichzeitig Teil weiterer Gruppen oder Kollektive sind, aus denen sich ihrerseits Kulturen speisen (z. B. Akademiker, Kölner, Frauen, Bayern, Fussball-Fans, Franzosen, Hobby-Musiker), immer dafür, dass unterschiedliche Kulturen in die Unternehmenswirklichkeit hineingetragen werden. Diese Multikollektivität (Hansen 2000:196f.) der Individuen macht aus Unternehmenskulturen dann immer auch gleichzeitig Interkulturen, weil ‚präkollektive‘ (Hansen 2009), also dem Organisationszusammenhang vorgelagerte, kulturelle Erfahrungen, die Zusammenarbeit beeinflussen“ (Rathje 2009b:3). Interkulturelle Managementkompetenz bezieht sich demzufolge auf die Felder Erfahrung, Sensibilisierung, Fertigkeit, Wissen und Metafähigkeit in interkulturellen Handlungskontexten. Das Konzept einer kontextualisierten Form Interkulturellen Managements befasst sich also mit der Umsetzung von interkulturellen Denk- und Handlungsweisen in den Arbeitsalltag von Unternehmen.4 Folglich basiert dieses auf einer Art Zwischenspiel von einem einerseits auf Differenz und Kohärenz, andererseits auf Similarität und Kohäsion basierendem Prinzip von Kultur. Dieses Prinzip der Similarität, der (Fremd)-Ähnlichkeit sowie der Selbstähnlichkeit, welches in Philosophie sowie Sozial- und Naturwissenschaften dazu verwendet wird, um grundsätzlich wiederkehrende, in sich selbst verschachtelte Strukturen zu bezeichnen, kann für das Themenfeld des Interkulturellen Managements interculture j ourna l 11/19 ( 2 0 1 2 ) durchaus einen wichtigen gedanklichen Beitrag leisten. Wittgenstein spricht beispielsweise in seinen Philosophischen Untersuchungen (1953) von Familienähnlichkeit und verweist hier auf Eigenschaften von Begriffen, die mit einer in ein bestimmtes System einordnende Klassifikation nicht hinreichend erfasst werden können, da Begriffe unscharfe Grenzen haben können. Als Beispiele nennt Wittgenstein den Begriff der Sprache, den des Spiegels und den des Sprachspiels. Ihm zufolge gibt es keine allgemeinen Merkmale, die für alle Sprachen, Spiele und Sprachspiele gelten, obgleich es einige Spiele mit gemeinsamen Merkmalen (Brettspiele, Kartenspiele, Ballspiele usw.) gäbe, die aber wiederum mit anderen keine Gemeinsamkeiten aufwiesen, jedoch über Familienähnlichkeiten miteinander verwandt seien, also in diesem Sinne eine Familie bildeten. In den Philosophischen Untersuchungen sprach Wittgenstein bildhaft davon, dass bei bestimmten Begriffen einzelne Fälle wie Fasern eines Fadens ineinandergriffen (vgl. Wittgenstein 2001). Nietzsche beschreibt die Familien-Ähnlichkeit auf andere Weise: „Die wunderliche Familien-Ähnlichkeit alles indischen, griechischen, deutschen Philosophirens erklärt sich einfach genug. Gerade, wo Sprach-Verwandtschaft vorliegt, ist es gar nicht zu vermeiden, dass, Dank der gemeinsamen Philosophie der Grammatik – ich meine Dank der unbewussten Herrschaft und Führung durch gleiche grammatische Funktionen – von vornherein Alles für eine gleichartige Entwicklung und Reihenfolge der philosophischen Systeme vorbereitet liegt: ebenso wie zu gewissen andern Möglichkeiten der Welt-Ausdeutung der Weg wie abgesperrt erscheint” (Nietzsche 1886:28f ). Die Idee der Similarität wird bislang höchst selten für die Beschreibung eines dem interkulturellen Management zugrunde liegenden Kulturmodells verwendet und nur am Rande berücksichtigt, da das Prinzip der Kohäsion hingegen geläufiger ist. Dieses verweist auf ein Kulturmodell, welches sowohl der Forderung nach Differenz- als auch Kohärenzorientierung Rechnung trägt. Das kohäsionsorientierte Modell von Hansen geht beispielsweise davon aus, dass Kulturen ganz allgemein innerhalb menschlicher Kollektive bestehen. Zahlreiche Ebenen von Kultur, die sich überlagern und widersprechen können, werden hier zugelassen. In allen komplexeren Kollektiven herrscht „nicht nur Vielfalt, sondern Diversität, Heterogenität, Divergenzen und Widersprüche“ (Hansen 2000:182). Die Leistung dieses Modells liegt in einer plausiblen Erklärung des Zusammenhalts von Kulturen, ihrer Kohäsion, nicht aus Kohärenz, sondern aus der Bekanntheit von Differenzen. Auf der Ebene der Wirtschaftsunternehmen ist bekannt, dass der Zusammenhalt von Unternehmenskulturen nicht notwendigerweise an Homogenität geknüpft ist, sondern eher an Normalitätserzeugung über Bekanntmachung von Differenzen. Rathje knüpft an Hansens Differenzierung an und entwickelt auf deren Basis Matrixmodelle zum Kulturbegriffsverständnis. Auf Organisationsebene wäre die Kreation einer „pankollektiven Klammer“ (Hansen 2009) sicherlich eine der grundsätzlichen Aufgaben eines Interkulturellen Managers. 2. Interkulturelle Managementkompetenz Die dem Bereich des Interkulturellen Managements inhärente Komplexität stellt große Anforderungen an die Agierenden. Die einleitend beschriebenen Begriffsfelder und Prinzipien umreißen dementsprechend ein Arbeitsfeld, welches in sich äußerst heterogen und divers ist und sich daher auf besondere Kompetenzen bezieht, welche sich gemäß des Gesamtsystems verschiedenen Dimensionen zuordnen lassen. Daher kann die Komplexität interkultureller Managementkompetenz anhand der folgenden fünf Dimensionen Haben von I. Erfahrung, II. Sensibilität, III. Fertigkeit, IV. Wissen und V. Metafähigkeit in interkulturellen Handlungskontexten näher beschrieben werden. Der Schwerpunkt der Diskussion liegt im Anschluss auf Punkt V. Metafähigkeit Intuition. 69 2.1. Dimensionen I und II – Erfahrung und Sensibilität I. Erfahrung Angelehnt an Kochs Aufteilung (vgl. Koch 2008:12) in diverse Arbeitskontexte, soll der Bereich der Erfahrung im nationalen, internationalen sowie berufsgruppenspezifischen Arbeitskontext (Berufsfeld Management) untersucht werden. Diese kontextuale Differenzierung ist insofern ausschlaggebend, als dass ein interkultureller Manager sich in diesen interdependenten Kontexten des Erfahrungsbereichs interkulturellen Managements bewegt und von daher in der Lage sein muss sich kontextadäquat zu bewegen. II. Sensibel sein für 70 interkulturelle Prozesse Internationaler Arbeitskontext I. Erfahrung haben Nationaler Arbeitskontext Interkulturelle Management Kompetenz I. Erfahrung haben Management Kontext interkulturelle Aspekte von Führung II. Sensibel sein für Abb. 1: Dimensionen I und II – Erfahrung und Sensibilität. Quelle: Autorin, eigene Darstellung. II. Sensibilität Der zweite große Bereich interkultureller Managementkompetenz bezieht sich auf den Besitz von Sensibilität für interkulturelle Besonderheiten von Managementbereichen, Besonderheiten interkultureller Prozesse sowie interkulturelle Aspekte von Führung. Zu den erwähnten Managementbereichen zählen beispielsweise Qualitätsmanagement, Sozialmanagement, Zeitmanagement und Personalmanagement. Exemplarisch sollen im Anschluss einige möglicherweise auftretende interkulturelle Besonderheiten in den Bereichen Qualitätsmanagement und Zeitmanagement erläutert werden. Qualitätsmanagement befasst sich mit der Qualität in einem Projekt, also mit dessen Durchführung und der Qualität des daraus resultierenden Produktes5. Bei Organisationen und Einrichtungen, die Anspruch auf interkulturelle Qualifizierung erheben, geht es hierbei vor allem um die Frage nach der Anerkennung kultureller Differenz und der Verankerung der Bedeutung interkultureller Besonderheiten. Ein so verstandenes interkulturelles Qualitätsmanagement dient oftmals als Grundlage für die Erarbeitung interkultureller Qualitätsstandards. Zu den Qualitätsmanagement-Bestandteilen zählen u. a. der Entwurf eines Leitbildes für die jeweilige Einrichtung, die Entwicklung von Zielen, die Entwicklung von Evaluationsverfahren oder auch die Verfassung eines Organisations-Management- II. Sensibel sein für I. Erfahrung haben interkulturelle Besonderheiten von Management-Bereichen Handbuchs. Zudem geht es um die Verbesserung der Teamkooperation, also z. B. mittels der Formulierung von interkulturellen Standards der Teamarbeit oder auch der Managementtätigkeit. Zeitmanagement beschäftigt sich mit der Kunst der optimalen Zeitnutzung. Eine weitere Komponente im Projektmanagement die von entscheidender Bedeutung ist. Alle Probleme hinsichtlich zeitlicher Abläufe lassen sich hiermit situationsbedingt optimal lösen. Die wichtigsten Ansatzpunkte sind die optimale Zeitplanung, Setzen von Prioritäten und Eliminierung von zeitintensiven weniger relevanten Aufgaben. Durch effektive Aufgabenabarbeitung und effiziente Planung lassen sich Probleme und Hindernisse oft frühzeitig erkennen. So würde man im internationalen Projektmanagement das Arbeiten mit Meilensteinen als eine geeignete, die interkulturelle Zusammenarbeit unterstützende, Methode betonen. Beispielsweise tendiert eine stark monochron und linear wirkende Arbeitskultur mit meist langer Planungs- und kurzer Umsetzungsphase (wie häufig in Deutschland umgesetzt) zu Detailzeitplänen, d. h. zu stark strukturierten Zeitplänen und Abläufen; eine Vorgehensweise, welche Abstimmungskulturen (wie meist in Japan) oder polychron orientierten Arbeitskulturen mit meist kurzer Planungs- und langer Umsetzungsphase interculture j ourna l 11/19 ( 2 0 1 2 ) Interkulturelle Handlungskompetenz Kompetenzbereich Allgemeine Handlungskompetenzen Individuell Belastbarkeit, Lernbereitschaft, Selbstwahrnehmung, Selbststeuerungsfähigkeit, Rollendistanz, Flexibilität, Ambiguitätstoleranz Selbststeuerungsfähigkeit in sprachlich und kontextuell fremden Umgebungen („Normalität herstellen können“) Sozial Teamfähigkeit, Konfliktfähigkeit, MetaKommunikationsfähigkeit, Toleranz, Kritikfähigkeit, Empathie etc. Konfliktfähigkeit in Kontexten unter Beweis stellen können, in denen andere Konfliktbewältigungsstrategien üblich sind als im gewohnten Kontext Fachlich Fachkenntnisse im Aufgabenbereich, Kenntnisse der fachlichen/ beruflichen Infrastruktur, Fachwissen vermitteln können, Berufserfahrung etc. Fachkenntnisse unter Berücksichtigung anderskultureller Traditionen der Bildungssozialisation vermitteln können Strategisch u.a. Organisations- und Problemlösefähigkeit, Entscheidungsfähigkeit, Wissensmanagement etc. Synergiepotentiale bei kulturell bedingt unterschiedlichen Formen der Zeitplanung erkennen und realisieren können Abb. 2: dto. plus Transferfähigkeit auf ziel-/interkulturelle Kontexte Unterschied zwischen allgemeiner und interkultureller Handlungskompetenz. Quelle: Bolten 2006. (wie meist in Indien umgesetzt) nicht entspricht. Eine einseitige Vorgabe führt im Projektmanagement zwangsläufig zu Missverständnissen und Konflikten, da die eine Seite sich über Nichteinhaltung von Terminplanungen beschwert, die andere Seite sich durch starkes Gepushtwerden angegriffen fühlt. Die Anpassung des Führungsstils zählt an dieser Stelle zu einer weiteren zentralen Projektmanagementmethode im interkulturellen Kontext. Eine Führungsperson muss sich der Arbeitskulturen der Mitarbeiter im Einzelfall bewusst sein und den Führungsstil dementsprechend verändern. Das Zeitmanagement kann also beispielsweise durch einen eher paternalistisch-autoritären oder eher partizipativ-egalitären Führungsstil verschieden beeinflusst. In vielen Fällen lassen sich Entsprechungen von Führungs- und Kommunikationsstilen aufzeigen. „Da derartige Kommunikationssysteme oder -stile lebensweltliche Interaktion insgesamt begleiten und prägen, findet man Entsprechungen im Führungsstil, Verhandlungsstil, Lernstil sowie in Merkmalen gesamtgesellschaftlicher Organisation wie etwas in politischen oder wirtschaftlichen Strukturen […}. Hierbei gilt: Je kleiner die Interaktionsgruppen oder Lebenswelten qua Kulturen sind, desto größer werden die Fits zwischen den Stilbereichen sein. (...) In diesem Sinne sind kommunikative Stile in dem bereits diskutierten Sinn von Kommunikation gleichzeitig auch als kulturelle Stile identifizierbar“ (Bolten 2007:78f.). 2.2. Dimension III – Kompetenz III. Kompetenz Interkulturelle Kompetenz6 hier, um den letzten Begriff etwas näher zu beleuchten, betont den „Unterschied zwischen allgemeiner (eigenkultureller) und interkultureller Handlungskompetenz“ (Bolten 2006:1). Gerade in integrativen Prozessmodellen kommt dieser deutlich zum Ausdruck (Abb. 1) Erfolgreiches interkulturelles Handeln beruht folglich „auf dem gelungenen ganzheitlichen Zusammenspiel von individuellem, sozialem, fachlichem und strategischem Handeln in interkulturellen Kontexten“ (Bolten 2006:3). Bolten hat hier den Versuch unternommen den affektiven, kognitiven und konativen Dimensionen des beschriebenen Strukturmodells unter die vier Kompetenzbereiche (personal, sozial, fachlich, methodisch) des Prozessmodells zu ordnen (Bolten 2007:24ff.).7 Mit in- 71 2.3. Dimensionen IV und V – Wissen und Metafähigkeit IV. Wissen: Imaginationsreflexivität (vgl. Vogler 2010) Mit der Fähigkeit zur Imagination ist der Mensch ausgestattet, mit dem 72 III. Interkerkulturelle Kompetenz III. Fähigkeit haben interkulturelle Soziale Kompetenz II. Sensibel sein für III. Interkerkulturelle Kompetenz interkulturelle Besonderheiten von Management-Bereichen I. Erfahrung haben Nationaler Arbeitskontext III. Fähigkeit haben I. Erfahrung haben Internationaler Arbeitskontext Interkulturelle Management Kompetenz interkulturelle Individuelle Kompetenz I. Erfahrung haben Management Kontext interkulturelle Aspekte von Führung III. Fähigkeit haben II. Sensibel sein für interkulturelle Fachliche Kompetenz III. Fähigkeit haben interkulturelle Strategische Kompetenz III. Interkerkulturelle Kompetenz Abb. 3: Dimension III – Kompetenz. Quelle: Autorin, eigene Darstellung. Wissen um ihre Beschaffenheit, Einflüsse und Wirkungen jedoch weniger. Ein Bewusstsein dafür, dass diese imaginative Kraft stets am Werk ist und somit unsere täglichen Handlungen, Gedanken und Meinungen (auch interkultureller Natur) begleitet und beeinflusst, bedarf daher im Zusammenhang interkultureller Kompetenzdiskussionen einer besonderen Zuwendung. Es reicht also nicht aus lediglich von imaginativer Kompetenz zu sprechen und die Komplexität des Diskurses auf die Förderung einzelner Teilfähigkeiten wie beispielsweise der Entwicklung kreativen Problemlösungsvermögens oder synergetischen Potentials zu begrenzen.8 Koehn und Rosenau (2002) definieren imaginative Kompetenz als „eine durch transnationale Erfahrungen erlangte Fähigkeit9, welche Individuen befähigt effektiv an Aktivitäten teilzunehmen, die zwei oder mehr nationale Grenzen überschreitet“ (Koehn / Rosenau 2002:114).10 An dieser Stelle erhebt sich erneut die Kritik, ob denn die transnationale Erfahrung für die hier derart definierte Fähigkeit imaginativer Kompetenz überhaupt verantwortlich sein kann oder ob es nicht vielmehr einer reflexiven und offenen Geisteshaltung zu verdanken ist, wenn inter-, trans- oder monokulturelle Erfahrung überhaupt als solche wahrgenommen und dementsprechend hiermit in Verbindung stehende Überlegungen miteinbezogen werden. interculture j ourna l 11/19 ( 2 0 1 2 ) II. Sensibel sein für interkulturelle Prozesse III. Interkerkulturelle Kompetenz terkultureller Kompetenz werden nach ihm Voraussetzungen zur erfolgreichen Bewältigung interkultureller Überschneidungssituationen bezeichnet. Handlungskompetenz kann in diesem Sinne als ein Zusammenspiel verschiedener Teilfähigkeiten, die da wären individuelles, soziales, fachliches und strategisches Handeln, verstanden werden. Interkulturelle Kompetenz kann somit nicht als eigenständiger Bereich neben den vier eben genannten Teilfähigkeiten gelten, sondern muss als eine Bezugsdimension gesehen werden, die im Sinne einer Folie den vier anderen Teilkompetenzen beruflichen Handelns unterliegt. „Interkulturelle Kompetenz schließt eigen- und fremdkulturelle Kompetenz ein. Während fremdkulturelle Kompetenz das Verstehen der Besonderheiten des jeweiligen ‚anderen‘ strategischen Vorgehens ermöglicht, besteht interkulturelle Kompetenz darin, handlungsfähige Synergien zwischen eigen- und fremdkulturellen Ansprüchen bzw. Gewohnheiten ‚aushandeln‘ und realisieren zu können. Folglich handelt es sich bei ‚interkultureller Kompetenz‘ auch nicht um einen eigenständigen, fünften Kompetenzbereich neben den vier genannten“ (Bolten 2006:1). Interkulturelle Kompetenz definiert sich damit als die „Fähigkeit, individuelle, soziale, fachliche und strategische Kompetenzen in fremdkulturellen Handlungskontexten angemessen zu realisieren“ (Bolten 2001:214). Um an das vorhergehend beschriebene kohäsive Kulturverständnis anzuknüpfen, so könnte interkulturelle Kompetenz dann beschrieben werden als „die Fähigkeit, die in interkultureller Interaktion zunächst fehlende Normalität zu stiften und damit Kohäsion zu erzeugen“ (Rathje 2006:14). Nach dieser Vorstellung führt interkulturelle Kompetenz dazu, dass aus unbekannten Differenzen bekannte werden. Insofern ist die Beschäftigung mit der eigenen Imagination in interkulturellen Situationen ebenso entscheidend wie die kritische Auseinandersetzung und Reflexion des eigenen Verhaltens zu den hier stattfindenden Imaginationsprozessen. Diese Fähigkeit der Reflexivität von Imaginationsverhalten in interkulturellen Handlungskontexten stellt eine Bezugskomponente interkultureller Kompetenz dar und begleitet daher alle Handlungen der im Boltenschen Prozessmodells genannten Dimensionen. Imaginationsreflexivität gilt als Bestandteil Interkultureller Kompetenz und somit auch als Bezugsebene für die vier Teilkompetenzfelder beruflichen Handelns. Erfolgreiches interkulturelles Handeln beruht demzufolge einerseits „auf dem gelungenen ganzheitlichen Zusammenspiel von individuellem, sozialem, fachlichem und strategischem Handeln in interkulturellen Kontexten“ (Bolten 2006:3, Hervorhebung im Original), andererseits auf der besonderen Berücksichtigung imaginationsreflexiver Prozesse. Für die Diskussion erscheint es daher relevant das Verhältnis von Imagination, Imaginationsreflexivität und interkultureller Kompetenz näher zu bestimmen (vgl. Vogler 2010).11 V. Meta-Fähigkeit: Intuition „Darin, daß der Mensch im gegenwärtigen Zustand nicht ohne Abstraktion erkennen kann, stimmt Duns Scotus mit Thomas überein, nicht jedoch darin, daß der menschliche Intellekt überhaupt die Fähigkeit dazu nicht hat. Obgleich daher die Erkennbarkeit des Gegenstandes hinsichtlich der Zuständlichkeit auf die abstrahierte Allgemeinnatur eingeschränkt ist, geht sie doch in gewisser Hinsicht, nämlich in Beziehung auf die Existenz des erkannten Gegenstandes, auch darüber hinaus. Kurz gesagt: Was etwas ist, kann der Mensch zwar nur abstraktiv erkennen, aber daß es ist, ist auch in diesem Leben intuitiv erkennbar. Für sich und in realer Abgrenzung gegen das abstraktive Erkennen erfaßt die Intuition nichts, sondern es wird lediglich anläßlich eines als etwas Erkannten auch die aus dieser Washeit herausfallende Existenz miterkannt” (Koßler 1998:555f.). Der Intuition (lat. intueri: hineinschauen, betrachten, erwägen), als Meta-Fähigkeit Interkultureller Man- agementkompetenz, wird im Rahmen dieser Arbeit besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Oftmals wird Intuition als die Fähigkeit der „geistigen Anschauung“ und „transzendenten Funktion“ (u.a. bei den Philosophen Fichte, Spinoza, Husserl) bezeichnet. Die Philosophie kennt die Schwierigkeit den „entsprechenden Modus des Nexus zwischen rein mentaler Intuition und rein physikalischer Wirklichkeit zu bestimmen“ (Thaliath 2011:2). Das Hineinschauen verweise, so Thaliath, auf einen „Erkenntniszugang, in dem das Subjekt sich unmittelbar an Gegenstände bzw. an ihre sinnliche Präsenz wendet, um sie ohne diskursives Denken wahrzunehmen“ (Thaliath 2011:2). Intuitives Erkennen sei demnach ein Prozess der „unmittelbaren, nicht-diskursiven Anschauung“, welche eben nicht „auf jener abstrahierenden Funktion des Verstandes, sondern ausschließlich auf der in die phänomenalen Gegenstände unmittelbar hineingehenden Sinnlichkeit aufbaut“ (Thaliath 2011:2). Husserls Kernkonzept der Wesensschau beschäftigt sich u. a. mit dem Zugang zur wesenhaften Struktur eines Gegenstandes. Wahrnehmung, Herleitung und Intuition werden oft als Instrumente des Wissens bezeichnet; oftmals ist die Rede von Seelen-Intuition (soul intuition12), welche als zentrale Fähigkeit für die Persönlichkeitsentwicklung gesehen wird (Nireshwalia 2003). „Discriminatory reasoning compares the known, which is felt by perception. These three methods (perception, inference, intuition) are inherent in religious methods. Intuition comes from within, whereas thoughts originate from the external world” (Nireshwalia 2003:4). Im Jahr 2010 wurde die Bedeutung von Intuition in komplexen Situationen mit besonderen Herausforderungen in den Bereichen der interkulturellen und virtuellen Kooperation im Rahmen einer eigens durchgeführten Untersuchung erörtert. Die zielführende Fragestellung lautete Welche Rolle nimmt Intuition im Bereich des Treffens strategischer Entscheidungen (SDM Strategic Decision Making) im Bereich von GSD (Global Software Development) Management ein?13 GSD Global Software Develop- 73 ment wird heutzutage u. a. als „quickly growing phenomenon“„ und als „a way of life“ (Herbstleb 2007:207) bezeichnet. „A significant finding of the study is that the use of “gut-feel” in strategic decision making in the computer industry was much greater than banking and utilities. Indeed, the acceptance by senior managers of the fact that they use “gut-feelings” in strategic decision making itself is an important finding” (Khatri / Alvin 2000:79). Globale Softwareentwicklung in Teams findet natürlich bereits an einer Vielzahl von unterschiedlichen Orten statt, so dass für diese das Arbeiten auf virtueller Ebene die Normalität darstellt. GSD Teams sind daher meist international, multikulturell und virtuell. Im Zentrum der Arbeit eines virtuellen Teams steht also das Erreichen einer gemeinsamen organisationalen Aufgabe, zum einen unter der Verwendung technologischer Medien, zum anderen über geographische, kulturelle und zeitliche Grenzen hinweg (vgl. Jarvenpaa / Knoll / Leidner 1999, Townsend / DeMarie/ Hendrickson 1998). In den vergangenen zehn Jahren wurden bereits zahlreiche Vorteile von GSD diskutiert (vgl. Ó Conchúir / Holmström / Ågerfalk / Fitzgerald 2006).14 Viele Studien verweisen auf die Notwendigkeit interkultureller Kompetenz in GSD Projekten (vgl. Karahanna 2005). Man fand heraus, dass der kulturelle Hintergrund die Art und Weise beeinflussen kann, in welcher Entwickler eine Situation interpretieren und auf sie reagieren (vgl. Ågerfalk et al. 2005). Kulturelle Faktoren können einen großen Einfluss auf das Management und den Erfolg verteilter Projekte haben (vgl. Tanner 2009, Paasivaara / Lassenius 2003, Carmel1999). Der große Stellenwert von Vertrauensaufbau und -erhalt in virtuellen Teams wird hier ebenso betont (vgl. Hernández-López / Colomo-Palacios / García-Crespo / Soto-Acosta 2010, Casey 2010, Jarvenpaa / Leidner 1999). „The fundamental problem of GSD is that many of the mechanisms that function to coordinate the work in a co-located setting are absent or disrupted in a distributed project” (Herbsleb 2007:208). 74 Natürlich gibt es weitere Herausforderungen und Schwierigkeiten, welchen sich GSD Projekte gegenüber sehen15. In der Studie konnte beobachtet werden, dass die befragten GSD-Manager und -Managerinnen eine unumstößliche eigene individuelle Gewissheit der Richtigkeit der eigenen intuitiven Entscheidung zu haben schienen. Im Gespräch mit den einzelnen Personen wurde der Eindruck gewonnen, als hätten sie selbst keinen Zweifel an der Richtigkeit der eigenen intuitiven Entscheidung. Dies änderte sich allerdings, sobald man den Kreis der Anwesenden erweiterte und man nach der Einschätzung der Bewertung durch andere fragte. Fragen lauteten hier: „Würde Ihr Team eine Entscheidung akzeptieren, welche Sie auf Basis Ihrer Intuition getroffen haben?“ bzw. „Würde Ihre Organisation eine Entscheidung akzeptieren, welche Sie auf Basis Ihrer Intuition getroffen haben?“ Die Mehrheit der Befragten tendierte hier in die entgegen gesetzte Richtung und meinte eher, dass diese Aussage nicht akzeptiert bzw. nicht anerkannt würde und von daher entweder gar nicht erst zur Sprache gebracht werde bzw. mit anderen Mitteln wie ZDF – Zahlen, Daten, Fakten untermauert werden müsse. Man könnte also sagen, dass in diesem Moment der Alleinstellung der Aussage Anerkennungsmechanismen in den Hintergrund gestellt werden. Erst im Moment der Notwendigkeit der Rechtfertigung der eigenen Gewissheit kommt es zu einer Umformulierung und Anpassung an anerkannte Strukturen der Entscheidungsfindung. Man könnte hier auch von kontextbedingten Verkleidungsstrategien sprechen. Wichtig hier ist allerdings, dass sich der einzelne des Umstandes, dass diese Strategien angewandt werden, bewusst ist und diese auch reflektiert. Das war in allen Interviews der Fall. Entgegen vieler wissenschaftlicher Konzepte und Konstrukte der Dichotomie IntuitionRationalität, hatte man den Eindruck, dass es bei den Befragten ein Empfinden von Kongruenz eigener als intuitiv bezeichneter Entscheidungen und ihrer Bedeutungen und nachhaltigen Richtigkeit bzw. Stimmigkeit gab. interculture j ourna l 11/19 ( 2 0 1 2 ) Zusammenfassend kann behauptet werden, dass der Intuition im Rahmen des Treffens strategischer Entscheidungen in GSD Management große Bedeutung zugesprochen wurde. „Rational-analytic methods can seldom be used exclusively; by its very nature, prediction deals with the unknown, and we can calculate or measure only what is known […] At the very least, a forecaster has to use intuition in gathering and interpreting data and in deciding which unusual future events might influence the outcome. Hence in virtually every (decision) there is always some intuitive component” (Goldberg 1990:73). Der Zusammenhang von intuitiver Synthese16 und Performanz in high velocity environments soll im Hinblick auf die Teamarbeit im Rahmen von GSD betont werden. Hinsichtlich des Treffens von Entscheidungen hängen Intuition und Geschwindigkeit unmittelbar zusammen. „It is the smooth automatic performance of learned behaviour sequences and often can short circuit a step-wise decision-making thus allowing an individual to know almost instantly what the best course of action is. It compresses years of experience and learning into split seconds” (Isenberg, 1984). Viele Studien verweisen darauf, dass ein Experte gelernt hat irrelevante Informationsteile zu ignorieren und sich auf die kritischen zu konzentrieren (vgl. Prietula und Simon, 1989; Kirschenbaum, 1992; Harung, 1993). In ihrer Untersuchung der Geschwindigkeit bei Entscheidungsprozessen in unterschiedlichen „high-velocity environmental contexts” liefern Eisenhardt (1989), und Judge and Miller (1991) indirekte Evidenz, das intuitive Synthese einen positiven Effekt auf die Ausübung hat. „Intuitive synthesis is an important strategy process factor which managers often exhibit in their strategic decision making” ; „intuitive synthesis allows calling a number of related problems or issues at the same time. One byproduct is that a manager can attain economies or effort (Isenberg, 1984). An expert learns to ignore the irrelevant patterns or pieces of information and concentrate on the critical ones (Prietula / Simon 1989, Kirschenbaum 1992, Harung 1993)” (Khatri / Alvin 2000:78). Es finden sich zahlreiche Definitionen von Intuition, die sich v. a. hinsichtlich der Verwendung der Begriffe Bewusstsein, Un- und Unterbewusstsein, Intellekt und Instinkt unterscheiden. Als unterbewusster Prozess wird Intuition in der folgenden Erklärung beschrieben: „[…] most of it is a subconscious drawing from innumerable experiences that are stored. We draw from this reserve without conscious thought” (Agor 1990:158). „[...] [A]ccessing the internal reservoir of cumulative experience and expertise developed over a period of years, and distilling out of that a response or an urge to do or not to do sth. or choose from some alternatives – again without being able to understand consciously how we get the answers” (Agor 1994:38). Intuition als nichtbewusster Vorgang wird so erklärt: „[...] we were informed by a growing body of literature in psychology that has shown how a large portion of cognitive thought occurs outside of consciousness (Bargh 1996, Bargh / Chartrand 1999, Jacoby / Lindsay / Toth 1992, Kihlstrom / Barnhardt / Tataryn 1992, Reber 1992)” (Dane / Pratt 2007:50). „Some psychologists have even referred to the 1990s as the ‘decade of automaticity’ (Pizarro / Bloom 2003)” (Dane / Pratt 2007:50). In vielen Studien kann eine Art Polarisierung von Bedeutungen, die in den Begriffen intuition und deliberation inbegriffen sind, verzeichnet werden (z. B. Betsch 2004, Epstein et al. 1996). „Intuition is understood as a purely affective mode and not as a heuristic-affective mode as assumed by Epstein (1996), whereas deliberation is understood as a reflective, cognition based mode. Understanding the differences between these styles is important, as the role of affect in decision making has increasingly become a central topic in the literature (Betsch 2004: 179).” Intuition has also been defined as “affectively charged judgments that arise through rapid, nonconscious, and holistic associations. In doing so, we delineate intuition from other decisionmaking approaches (e. g. insight, rational)” (Dane / Pratt 2007:33). 75 Ein derart dualistisches Gedankensystem postuliert eine unterschiedliche Art der Entscheidungsfindung. In manchen Fällen wird den beiden Stilen ihre Fähigkeit des „logischen Denkens“ abgesprochen (Betsch 2004). Auch in der erwähnten GSD-Studie konnte die Beobachtung gemacht werden, dass man aus Angst der Zurückweisung bzw. der Abwertung als unlogisch und unrealistisch Denkender die Äußerung intuitiv zu dieser Entscheidung gekommen zu sein zurückhält und unterdrückt. Gigerenzer und Kruglanski bieten folgende Erklärung: „A popular distinction in cognitive and social psychology has been between intuitive and deliberate judgments. This juxtaposition has aligned in dual-process theories of reasoning associative, unconscious, effortless, heuristic17, and suboptimal processes (assumed to foster intuitive judgments) versus rule-based, conscious, effortful, analytic, and rational processes (assumed to characterize deliberate judgements). In contrast, we provide convergent arguments and evidence for a unified theoretical approach to both intuitive and deliberative judgments” (Gigerenzer / Kruglanski 2011:97). Beide Beurteilungsstile sind gemäß der Autoren „rule-based“ und dem dualen Ansatz qualitativ unterschiedlicher Prozesse entgegengesetzt. Sie sind von folgendem Gedanken überzeugt: „It is time to move beyond imprecise dualisms and toward specific models of the judgmental process such as models of heuristic inference rules, their building blocks, and their adaptations to task environments that humans confront” (Gigerenzer / Kruglanski 2011:106). Diesen Versuch unpräzise Dualismen zu überwinden, machte, wie bereits erwähnt, im Spätmittelalter Duns Scotus, einer der bekanntesten Vertreter der Intuitionstheorie. Er differenzierte zwischen cognitio intuitiva und cognitio abstractiva und sah diese beiden Formen der Kognition als vielmehr korrelativ denn konträr. Die erstere Erkenntnisform „ereignet sich in der Domäne der Sinnlichkeit, bevor der zu erkennende Gegenstand dem abstrahierenden Intellekt gegeben wird“ (Thaliath 2011:4). Daher sei die reale und 76 intentionale Präsenz des Gegenstands allein der Sinnlichkeit zugänglich und die intuitive Erkenntnis demnach eine „vor-prädikative (oder vor-logische) Erkenntnis des Gegenstandes, die sich bloß auf seine reale Präsenz bezieht“ (Thaliath 2011:3). Jedoch könne es, wie an einem Beispiel aus der Newtonschen Mechanik verdeutlicht werden soll, einen Unterschied zwischen den „unmittelbar-real wahrzunehmenden und nur apriorisch vorzustellenden bzw. zu visualisierenden Gegenständen und ihren mechanischen Strukturen“ (Thaliath 2011:7) geben18. „Wenn ein Astronom im Kontext der klassisch-newtonschen Mechanik die elliptische Planetenbahn und die periodische Variation der Planetengeschwindigkeit vorstellt, vermag er die Realität dieser himmelsmechanischen Phänomene nicht unmittelbar-gegenwärtig und sinnlich wahrzunehmen, er verfügt hierbei offensichtlich über seine Imagination bzw. die apriorische Visualisierung der himmelsmechanischen Formen und Strukturen. Die Präsenz der erkannten Phänomene hier ist nicht unmittelbar real, aber auch nicht irreal, sondern sie wird durch eine Intuition - und zwar durch eine vorbegriffliche Intuition - vorausgesetzt. Eine derartige außer-irdische Intuition unterscheidet sich von der sinnlich unmittelbar zugänglichen und als solche realen irdischen Intuition allerdings nicht in dem ontologischen Status der realen und imaginierten himmelsmechanischen Phänomene, sondern allein in der epistemologischen Modalität ihrer Erkenntnis” (Thaliath 2011:6f.). Der zentrale Punkt, den Thaliath in seiner Diskussion hervorhebt, ist die Erörterung der Frage, was passiert, wenn man Erkenntnisprozessen das Faktum der Sprache und der Begrifflichkeit entzieht? Er stellt zur Debatte, ob eine Erkenntnis vor-prädikativ zustande kommen könne, ob es also überhaupt möglich sei, eine „Erkenntnis ohne subjektive Prädikation“ vorzustellen? In jedem sprachlichen Urteil bildet das Prädikat das zentrale Faktum der Erkenntnis. Wenn wir urteilen, dass diese Blume rotfarbig ist und angenehm riecht, bilden die prädizierten Merkmale der Blume, nämlich die Rotfarbigkeit und der angenehme Geruch, die Wesenszüge interculture j ourna l 11/19 ( 2 0 1 2 ) der subjektiven Erkenntnis des Objekts. Ohne eine derartige Prädikation kann die Erkenntnis des Objekts nicht zustande kommen“ (Thaliath 2011:14). Die Sprache gehört also unmittelbar zum Erkenntnisprozess. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass ein Erkenntnisprozess als solcher seine Gültigkeit in dem Moment verliert, indem man ihn der Sphäre der Sprache enthebt. Diese Enthebung bzw. Abkoppelung des intuitiven Erkenntnisprozesses von der Sprache erleben wir bei Kant, welcher die intuitive Erkenntnis dem Bereich der vor-sprachlichen, vor-logischen bloßen Anschauung, einer Vorphase des Erkenntnisprozesses, zuordnet. „[...] Nur so viel scheint zur Einleitung, oder Vorerinnerung nötig zu sein, daß es zwei Stämme der menschlichen Erkenntnis gebe, die vielleicht aus einer gemeinschaftlichen, aber uns unbekannten Wurzel entspringen, nämlich Sinnlichkeit und Verstand, durch deren ersteren uns Gegenstände gegeben, durch den zweiten aber gedacht werden“ (Kant 1966:94f. zitiert nach Thaliath 2011:15). Somit kann eine Behandlung des Gegeben-werdens der Gegenstände (in der Ästhetik) einem Gedacht-werden der Gegenstände (in der Anschauung) beobachtet werden. Thaliath verweist hier auf eine Analogie von scotistischer Differenzierung zwischen intuitiver und abstraktiver Erkenntnis und kantischer Zweiteilung zwischen Ästhetik und Logik in der transzendentalen Elementarlehre. Die grundsätzliche Unterscheidung beider Ansätze verdeutlicht jedoch, warum sich die Intuition in einer Rechtfertigungssituation befindet, wenn es um Anerkennung von Begründungen und Entscheidungsmechanismen geht. „Scotus schreibt der ‚cognitio intuitiva‘ einen autonomen Erkenntnischarakter zu, und differenziert diese Erkenntnisform von der abstraktiven Erkenntnis. ‚Anschauung‘ im kantischen System erlangt eine derartige epistemologische Autonomie nicht; sie wird im Rahmen einer transzendentalen Ästhetik als eine Vorstufe der begrifflichen Erkenntnis, der sie als ein notwendiges Korrelat innewohnt, betrachtet“ (Thaliath 2011:17). „Die scotistische Vorstellung von der Abstraktion - in Bezug auf die Lehre vom ‚cognitio abtraktiva‘ – ist der kantischen Lehre der transzendentalen Synthese bzw. des Hinzfügens des apriorisch bereits vorhandenen Begriffs zu dem Gegenstand – im Rahmen einer transzendentalen Logik – prozessual entgegengesetzt“ (Thaliath 2011:17). Die cognitio intuitiva ist also bei Kant ‚Anschauung‘ und insofern nur Vorstufe begrifflicher Erkenntnis, während sie bei Scotus Autonomiestatus hat. Daher ist interessant, dass bei dem Großteil der Befragten ein sehr großes Bewusstsein für die Verbundenheit und Interkontextualität intuitiver und deliberativer Prozesse vorhanden war. Man könnte also sagen, dass die Untersuchung die scotische Erklärung bestätigt. In den Gesprächen wurde schnell deutlich, wie sehr der einzelne durch begriffliche Konzepte (wie z. B. dualistischer Natur) und Mechanismen (wie z. B. der Anerkennung, der Angst, etc.) gelenkt und beeinflusst wird. Sehr oft müsse man sich dem Begriffs- und Sprachgebrauch innerhalb einer Organisation beugen und überanpassen. Des Öfteren wurde der Wunsch geäußert sich von der zwanghaften Unterordnung unter unpräzise Dualismen zu befreien. Man kann sicherlich behaupten, dass die Freiheit der Nutzung und der offenen Verwendung des Begriffs der Intuition mit der Verantwortungs- und Machtebene ansteigt. Zudem hängt die Natürlichkeit, welcher der Verwendung des Begriffes zugrunde liegt, ab von der gesellschaftlichen Akzeptanz desselben. Die Definition von Intuition variiert und ist abhängig von dem jeweiligen historischen, kulturellen, philosophischen, etc. Kontext. Aus diesem Grund ist ein konstanter Kontextualisierungsprozess vonnöten, möchte man über Intuition sprechen19. Nach dieser umfassenden Auseinandersetzung mit dem Intuitionsbegriff sowie dessen Bedeutungsgehalt für das Feld der interkulturellen Managementkompetenz, soll im folgenden Abschnitt darauf aufbauend und anknüpfend die Person des Interkulturellen Managers erneut ins Zentrum gerückt werden. 77 3. Zur Person des Interkulturellen Managers V. Wissen haben Imaginationsreflexivitätskompetenz III. Fähigkeit haben Die Feststellung „alle Beteiligten (alle beteiligten Personen, Mitarbeiter, Vorgesetzte, Kunden, Lieferanten, Partner, politische Entscheidungsträger im Inund Ausland) sollten [...] die Vorstellungen des interkulturell agierenden Managers umsetzen, akzeptieren oder mit ihren eigenen Handlungen zur Zielerreichung beitragen. Hierfür bedarf es entsprechender Kenntnisse, Einsichten und Fähigkeiten der interkulturell kompetent handelnden Personen“ (Koch 2008:3) postuliert das Vorhandensein bestimmter Kompetenzen, welche für das erfolgreiche Agieren des Managers verantwortlich sind. D. h. er ist in erster Linie Visionär und Strategieberater einer Organisation, einer Gruppe, eines Teams, etc. Er entwirft Konzepte und entwickelt Ideen, welcher der Verbesserung der Zusammenarbeit auf verschiedenen Ebenen dienen. Insofern vereint er die Rollen Interkultureller Trainer, Mediator, Coach und Consultant in seiner Person. Felder des interkulturellen Managements sind interkulturelles Consulting, interkulturelles Training, interkulturelles Coaching und interkulturelle Mediation. Das Training orien- 78 interkulturelle Soziale Kompetenz II. Sensibel sein für VI. Meta-Fähigkeit haben Intuition III. Interkerkulturelle Kompetenz interkulturelle Besonderheiten von Management-Bereichen V. Wissen haben Imaginationsreflexivitätskompetenz III. Fähigkeit haben I. Erfahrung haben Internationaler Arbeitskontext Interkulturelle Management Kompetenz I. Erfahrung haben Nationaler Arbeitskontext interkulturelle Individuelle Kompetenz I. Erfahrung haben Management Kontext II. Sensibel sein für interkulturelle Prozesse VI. Meta-Fähigkeit haben Intuition interkulturelle Aspekte von Führung 3.1. Aufgaben und Funktionen „Alle Beteiligten (alle beteiligten Personen, Mitarbeiter, Vorgesetzte, Kunden, Lieferanten, Partner, politische Entscheidungsträger im In- und Ausland) sollten [...] die Vorstellungen des interkulturell agierenden Managers umsetzen, akzeptieren oder mit ihren eigenen Handlungen zur Zielerreichung beitragen. Hierfür bedarf es entsprechender Kenntnisse, Einsichten und Fähigkeiten der interkulturell kompetent handelnden Personen“ (Koch 2008:3). III. Interkerkulturelle Kompetenz III. Interkerkulturelle Kompetenz Der Interkulturelle Manager als ein sich in den vorab beschriebenen fünf Dimensionen Grenzgänger und sich Bewegender, vereint in sich folglich eine Vielzahl an Aufgaben und Funktionen, persönlichen Einstellungen und Haltungen sowie Formen interdisziplinärer Ausrichtung, auf die im Anschluss näher eingegangen werden soll. VI. Meta-Fähigkeit haben Intuition III. Fähigkeit haben II. Sensibel sein für interkulturelle Fachliche Kompetenz interkulturelle Strategische Kompetenz V. Wissen haben Imaginationsreflexivitätskompetenz III. Fähigkeit haben V. Wissen haben III. Interkerkulturelle Kompetenz Imaginationsreflexivitätskompetenz VI. Meta-Fähigkeit haben Intuition Abb. 4: Dimensionen IV und V – Wissen und Metafähigkeit. Quelle: Autorin, eigene Darstellung. tiert sich besonders an der Förderung individueller interkultureller Kompetenz während Coaching zusätzlich die Optimierung interkultureller Gruppenarbeit forciert. Die interkulturelle Mediation vermittelt zwischen Individuen, Gruppen, Kollektiven, etc.. Von all diesen Formen hebt sich das interkulturelle Consulting als separate Disziplin der interkulturellen Dienstleistungen ab, da es hier in erster Linie um organisationsbezogene Themen geht. Hinsichtlich interkultureller Dienstleistungen kann zusätzlich zwischen Maßnahmen offthe-job und Maßnahmen on-the-job unterschieden werden. Unter Maßnahmen on-the-job, also parallel zur Arbeit beanspruchte Dienstleistungen, werden interkulturelle Mediation und interkulturelles Coaching subsumiert. Mediation wird besonders dann eingesetzt wenn offene oder verdeckte Konflikte in multikulturellen Teams vorliegen. Coaching beinhaltet meist die Betreuung und Supervision multikultureller Teams mit dem Ziel, kulturspezifisches Handeln zu reflektieren und Synergiepotentiale als Zielvorgaben zu formulieren. Off-the-job Maßnahmen umfassen interkulturelle Trainings und Planspiele sowie interkulturelles Consulting. Die Trainings und Planspiele beinhalten interculture j ourna l 11/19 ( 2 0 1 2 ) konventionelle und sensitive Trainings sowie berufsfeldbezogene Planspiele, in denen interkulturelle on-the-job Situationen simuliert werden (vgl. Bolten 2005). So arbeitet er direkt als Gestalter im Rahmen von Organisations- und Personalentwicklung mit. 3.3. Persönliche Einstellungen und Haltungen – das ‚Selbst‘-Verständnis im Interkulturellen Diskursfeld 3.2. Formen interdisziplinärer Ausrichtung Der interkulturelle Manager als Person hat tiefe Einsicht in die Komplexität von Managementprozessen im nationalen und internationalen Kontext. Er ist im Grunde jemand mit großen imaginationsreflexiven und intuitiven Fähigkeiten, ein Mensch, der sicher seiner selbst bewusst ist, sich selbst versteht und sozusagen von einem reifen Selbst-Verständnis geleitet wird. Das Selbst-Verständnis, welches Diskussionen um Identität, Kultur, Interkultur und Interkulturellem Management zugrunde liegt, eröffnet ein weites Feld an Diskursen. Der Begriff des ‚Selbst‘ manifestiert sich aufgrund der Komplexität diverser Sicht- und Verständniswelten auf vielfältige Art und Weise. Daher ist die Öffnung des Bereiches der interkulturellen Wirtschaftskommunikation gegenüber anderen Disziplinen wie der Theologie, der Philosophie, der Mystik, etc. ebenso zu berücksichtigen wie gegenüber jenen der bereits etablierten (Psychologie, Soziologie, Linguistik, BWL, etc.). Interkulturelles Management ist in gewisser Weise ein Schnittstellenberufsfeld. Unter Verwendung des Ansatzes interkultureller Kompetenz, welcher sich auszeichnet durch die Einsicht in die Kulturabhängigkeit unseres Denkens, Fühlens, Handelns und Wollens, mit dem Ziel die produktive und humane Kraft einer Organisation durch eine Verbesserung der interkulturellen und virtuellen Kooperation, d. h. Der Zusammenarbeit, Koordination, Kommunikation und Interaktion. Hansens Ansatz, dass sich die Individualkultur jedes Menschen aus einer Vielzahl von Kollektivitätszugehörigkeiten auszeichne, insofern also per se in sich kulturell heterogen und „radikal individuell“ (Rathje 2009b:2) sei, lässt sich um die Idee der „kulturellen Verankerungen“ (Henze 2011) und „kulturellen Orientierungen“ (Flechsig 2000) erweitern und insofern auch kontrastieren und relativieren. Der interkulturelle Manager ist Metakommunikator und Verkörperung seiner Ansätze. Er ist Psychologe, Metaphysiker und Pädagoge gleichermaßen. Er ist Querdenker und Schnittstelle; seine Basis ist notwendigerweise die Interdisziplinarität, da sich seine Person aus der Vielfalt der Wissenszugänge nährt. Zusätzlich zur tiefen Einsicht in die Komplexität von Managementprozessen, übernimmt er eine Schnittstellenfunktion innerhalb der Organisation und fördert den aktiven Austausch und den Dialog. Das Öffnen von Räumen für interkulturelle Verständigung zählt ebenso zu seinen Aufgaben wie die Vernetzung von Organisation, Wissenschaft, Gesellschaft, etc. „In an important sense there are no ‚subjects‘ at all“ (Nelson 1987:31). Beispielsweise ist die Frage nach dem Verständnis des ‚Selbst‘ eng verknüpft mit der Frage nach dem Begriff der Identität. In vielen ‚westlichen‘ Gesellschaften wird der Identitätsbegriff mit dem Entwicklungsbegriff verbunden. Die Entwicklung einer ‚eigenen‘ und ‚stabilen‘ Identität steht hier am Ende einer Reihe von Entwicklungsstadien (Kindheit, Jugend, Erwachsenensein); diese können durchaus kritischer Natur sein. Bei dem Versuch des Erreichens einer stabilen Identität kann es zu Konflikten und Krisen kommen, die in extremen Situationen zu einer Identitätskrise führen können (Camilleri 1990, Erikson 1963, Maslow 1970, Rogers 1961, 1980). Laungani (2007) verweist auf die Differenzierung von physischem und ‚psychologischem Raum‘, welcher seiner Meinung nach eine besondere Rolle in der Debatte um die Identitäts- 79 definitionsfrage spielt. Diese Differenzierung des ‚psychologischen Selbst‘ von anderen ‚psychologischen Selbsten‘ konstruiert Imaginationsgrenzen und somit eine Trennung zwischen Ich und Du sowie Ich und Es, von dem Martin Buber in seinem dialogischen Prinzip spricht (vgl. Laungani 2007:61). Die Vorstellung dieser Trennung, auf welcher die Anerkennung der Person und der Individualität basiert, kann einerseits als Errungenschaft gesehen werden, andererseits aber natürlich auch als Risiko und Gefahr gefangen zu sein in sozialer Vereinsamung und individueller Isolation. So meinte Buber: „Zu allen Zeiten ist wohl geahnt worden, daß die gegenseitige Wesensbeziehung zwischen zwei Wesen eine Urchance des Seins bedeutet, und zwar eine, die dadurch in die Erscheinung trat, daß es den Menschen gibt. Und auch dies ist immer wieder geahnt, daß der Mensch eben damit, daß er in die Wesensbeziehung eingeht, als Mensch offenbar wird, ja daß er erst damit und dadurch zu der ihm vorbehaltenen gültigen Teilnahme am Sein gelangt, daß also das Du-sagen des Ich im Ursprung alles einzelnen Menschwerdens steht” (Grötzinger 1994:20). Hier wird Bubers positives Menschenbild deutlich; er geht davon aus, dass in jedem Menschen die ‚Wahrheit‘ angelegt ist als Grundlage des Dialogs. Das Doppelprinzip des Menschseins beinhalte ihm zufolge immer das Verhältnis von (Ur)Distanz und Beziehung, wobei die Phänomene im Bereich der Distanzakte vor allem universal, jene im Bereich der Beziehungsakte in erster Linie personal seien. Nur in Form der Verwirklichung sieht Buber die Möglichkeit eines neuen Verhaltens zur Welt; das WiderstandFinden, das Berühren des Wesens, das Gegenüber, spielen eine große Rolle dabei. Im Zentrum der Buberschen Philosophie steht die Reflexion des dualistischen Welt- und Menschenbildes, welches er anhand des Spannungsverhältnis bzw. Polarität des Ur-zwei erörtert. Das Ur-zwei, also das Eine – das Andere, das Wirkliche – das Mögliche, das Leben – der Tod, das Bekannte – das Fremde, etc., bezeichnet den Zustand des polar miteinander Verbundenen und doch 80 polar einander Widersetzten (vgl. Grötzinger 1994:20ff ). Wir bewegen uns ergo stets in einem Raum der Vagheit, in welchem wir auf eine gewissse Logik der Unschärfe20 zurückgreifen müssen und auf denselben auch angewiesen sind. Die Bezeichnung reicht unter anderem zurück in die griechische Antike; bereits Platon postulierte, dass zwischen den Begriffen wahr und falsch ein dritter Bereich liege, und setzte hier einen Kontrapunkt zur Aussage seines Zeitgenossen Aristoteles, welcher die Präzision der Mathematik darin begründete, dass eine Aussage nur entweder wahr oder falsch sein könne. Jeder Mensch und somit folglich auch jedes Unternehmen und jede Organisation sind in diesem Gedankenzug gewissermaßen fuzzy systems und somit auch poröse Systeme, welche durchdringen und durchdrungen werden. In der Physik, genauer in der Thermodynamik, unterscheidet man offene, geschlossene und abgeschlossene bzw. isolierte Systeme. Als abgeschlossen oder isoliert bezeichnet man ein geschlossenes System dann, wenn keine Materie und kein Stoff austreten oder diesem zugeführt werden kann. Energie hingegen kann nach wie vor das System erreichen bzw. das System auch wieder verlassen. Jedes System an sich ist folglich, wenn es um Energieaustausch geht, im Grunde porös und insofern im chiastischem Verhältnis mit der Welt existent; „eine der wesentlichsten Bedeutungen des Leibes liegt also in seiner Fähigkeit, einerseits als Teil der Welt dieselbe wahrzunehmen und auf sie zu reagieren und andererseits von ihr wahrgenommen zu werden (vgl. Danzer 2003:143). „Sichtbar und beweglich zählt mein Körper zu den Dingen, ist eines von ihnen, er ist dem Gewebe der Welt verhaftet, und sein Zusammenhalt ist der eines Dinges. Da er aber sieht und sich bewegt, hält der die Dinge in seinem Umkreis, sie bilden einen Anhang oder eine Verlängerung seiner selbst, sind seine Kruste und bilden einen Teil seiner vollen Definition, wie auch die Welt aus eben dem Stoff des Körpers gemacht ist. Diese Verkehrungen und Antinomien sind verschiedene Arten, zu sagen, daß das Sehen mitten aus den Dingenheraus geschieht, da, wo ein Sichtbares sich anschickt zu sehen, zum Sichtbaren interculture j ourna l 11/19 ( 2 0 1 2 ) für sich selbst durch das Sehen aller Dinge wird und die ursprünglichte Einheit des Empfindenden mit dem Empfundenen besteht wie die desWassers im Eiskristall” (Merleau-Ponty 1984:16f.). Unsere Wahrnehmung und unser Sehen gehen hinsichtlich unseres Leibes oftmals von diesem als einem „abgegrenzten und einheitlichem Selbst“ (Ötsch 2011:1) aus und postulieren somit eine vermeintliche Geschlossenheit des Selbstsystems. Der „Leib kann als (vorgestellte) Hülle klassifiziert werden“ (Ötsch 2011:1). Eine gedachte und vielleicht auch erwünschte Vorstellung wie jene der Undurchlässigkeit unserer Haut bzw. die Begrenzung unseres Körpers von der Außenwelt basiert auf einem weiteren Ur-zwei, dem Dualismus von Innen-Außen, welcher an sich wiederum ein Konstrukt ist. „Die Wahrnehmung von Objekten steht nach Merleau-Ponty in direktem Rückbezug auf die Eigenwahrnehmung des Leibes. Auch der Leib kann als (vorgestellte) Hülle klassifiziert werden. Die Empfindung des Leibes als abgegrenztes und einheitliches Selbst bedarf des Gewahrseins einer ‚unsichtbaren‘ Rückseite, die fast zur Gänze außerhalb des Gesichtsfeldes liegt. Sie grenzt den >InnenRaum< des Leibes vom >Außen-Raum< der Dinge ab. Durch die Hülle bekommt der Leib einen Innen-Horizont, aus dem der Außen-Horizont des Raumes entsteht. (Beide Horizonte liegen in einem gemeinsamen Feld [...]. Auch der Mensch ist ein strömendes Wesen. Seine Haut besteht aus Poren. Mit ihnen saugt er die Welt um sich auf. Nur das, was durch die Poren des Menschen passt, gelangt in sein >Inneres< und kann wahrgenommen werden. Das Auge besteht aus Feuer bzw. Licht und Wasser bzw. feuchter Luft. Die Poren der Augen nehmen das von außen einströmende Feuer oder Licht in sich auf und vermögen so Licht und Dunkel zu ‚sehen’. Beim Riechen gelangen die feinen Ausströmungen der Dinge in die Poren der Nase, was nur geschehen kann, wenn wir atmen. Die Poren der einzelnen Sinnesorgane sind verschieden. Jeder Sinn hat seine Poren, die nur bestimmte Ströme passieren lassen. Immer trifft der Strom von >außen< auf etwas Gleiches im >Inneren<. ‚Denn mit der Erde sehen wir Erde; mit Wasser und mit Luft [aether] strahlende Luft, aber mit Feuer vernichtendes Feuer; Liebe sehen wir mit Liebe und Streit mit verderblichen Streit.‘ Sehen ist eine fließende Verbindung. Zwei Menschen, die sich einander ansehen, sind im gleichen Strom verbunden: ‚Eins wird beider [Augen]Blick‘“ (Empedokles zitiert nach Ötsch 2011:1). Der große indische Philosoph A. K. Chatterjee21 beschreibt das Selbst als eng mit der Thematik der Metaphysik als einem Ausdruck von Selbst verbunden. „And metaphysics being an expression of the self, the way of looking at the activity of doing metaphysics must necessarily involve a certain self-alienation, or even self-disruption resulting in profound spiritual disquiet” (Chatterjee 1969:5). Das Betreiben von Metaphysik bedinge also eine Entfernung von sich selbst, eine Selbstdistanzierung bzw. geradezu ein Selbstzerwürfnis. „Metaphysics is subjective and mythical, and reveals the profoundest truth about one’s own being, the highest truth that there is. As Kierkegaard puts it: “If the truth happens to be only in a single subject it exists in him alone” (Chatterjee 1971:33). So betont er die Notwendigkeit einer Ontologie des Selbst, also in gewisser Weise eines Selbstseins, ohne welches das Selbst keinen Ort in dieser Welt hätte. Es ist insofern also das ontologische Selbst, welches Selbstheit herstellt. Die buddhistische Lehre vom Sein gründet auf der Anschauung, dass alles Dasein und alles Leben auf der gesetzmässigen Kooperation flüchtiger Faktoren beruht und es somit nichts auf der Welt geben kann, das unabhängig von anderem existiert und ein selbstständiges Eigensein (svabhâvatâ) aufweist. Ein beharrendes Sein hinter allem Seienden, eine ewige Substanz oder Wesenhaftigkeit wird demnach abgelehnt. Alle Existenz ist der dauernden Aufeinanderfolge von Werden und Vergehen anheimgestellt. Unbeständigkeit (anityatâ) und Wesenlosigkeit (asvabhâvatâ) sind die Merkmale aller Erscheinungen. „Without an ontology, the self has as it were, no anchor in reality, no restingplace in the world. […] Selfhood achieved only by giving an ontological slant to our perspective by constructing an internally balanced structure in which the concepts 81 fall in line with one another” (Chatterjee 1969:3). Ein interkultureller Manager hat insofern in gewisser Weise auch die Verantwortung Metaphysiker zu sein, jemand, der versucht, die Menschen und ihre Weltsichten und jeweiligen -verständnisse zu sehen. Dieses Sehen, welches im indischen Sanskrit als Philosophie, als Darsana, bezeichnet wird, bezeichnet die dem Menschen innewohnende Kraft sich selbst in der Welt und seinem Leben zu sichten und damit auch sich selbst und die anderen zu verstehen. C.G. Jung setzte sich beispielsweise mit dem Begriff des Selbst im Rahmen des Zen-Buddhismus auseinander. So schreibt er: „Wie man das Selbst immer definieren mag, so ist es etwas anderes als das Ich, und insofern eine höhere Einsicht vom Ich überleitet zum Selbst, so ist letzteres ein Umfänglicheres, welches die Erfahrung des Ich in sich schließt und dieses daher überragt. Gleichwie das Ich eine gewisse Erfahrung meiner selbst ist, so ist das Selbst eine Erfahrung meines Ich, welche aber nicht mehr in Form eines erweiterten oder höhern Ich, sondern in Form eines Nicht-Ich gelebt wird“ ( Jung in Suzuki 2003:15). Das Verständnis des Selbst hinge im Zen-Buddhismus auch unmittelbar mit der Fähigkeit zur Erlangung von Satori22 zusammen. Die Einsicht in die Natur des Selbst sei geradezu deren Voraussetzung, da diese eine „Emanzipation des Bewußtseins von einer illusionären Auffassung des Selbst sei (Geleitwort von Jung, Suzuki 2003: 15).“ Dieses Verständnis von Erleuchtung (Satori) als ein „Durchbruch eines in der Ichform beschränkten Bewußtseins in die Form des nicht-ich-haften Selbst (Geleitwort von Jung, Suzuki 2003: 16)“ findet sich ebenso wieder in der Mystik des Meister Eckhart, welcher mit seinen Worten ein ähnliches Erlebnis der Ablösung des Ich durch das Selbst beschreibt: „<<Als ich aus Gott heraustrat, da sprachen alle Dinge: Es gibt einen Gott! Nun kann mich das nicht selig machen, denn hierbei fasse ich mich als Kreatur. Aber in dem Durchbruch, da ich ledig stehn will im Willen Gottes, und ledig 82 auch von diesem Gotteswillen, und aller seiner Werke, und Gottes selber - da bin ich mehr als alle Kreatur, da bin ich weder Gott noch Kreatur: ich, was ich war und was ich bleiben werde, jetzt und immerdar! Da erhalte ich einen Ruck, daß er mich emporbringt über alle Engel. In dem Ruck werd‘ ich so reich, daß Gott mir nicht genug sein kann, nach allem, was er als Gott ist, nach allen seinen göttlichen Werken: denn ich empfahl in diesem Durchbruch, was ich und Gott gemeinsam sind. Da bin ich, was ich war, da nehme ich weder ab noch zu, denn ich bin da ein Unbewegliches, welches alle Dinge bewegt. Hier findet Gott keine Stätte mehr im Menschen, denn hier hat der Mensch durch seine Armut wieder errungen, was er ewiglich gewesen ist und immer bleiben wird” (Meister Eckhart 1912:176 zitiert nach Jung in Suzuki 2003:176). 4. Schlussbetrachtung Interkulturelle Managementkompetenz bewegt sich ergo in und zwischen den fünf Dimensionen Haben von Erfahrung, Sensibilität, Fertigkeit, Wissen und Metafähigkeit in interkulturellen Handlungskontexten, und präsentiert sich somit als strategische Handlungskompetenz in internationalen Unternehmenskontexten. Der Interkulturelle Manager als Grenzgänger strategischer Unternehmens- und Personalentwicklung vereint in sich folglich eine Vielzahl an Aufgaben und Funktionen, persönlichen Einstellungen und Haltungen sowie Formen interdisziplinärer Ausrichtung, welche wiederum den Prinzipien der Dezentralisierung, der Reperspektivierung, der Transkulturalisierung und der Dialogisierung entsprechen. Dezentralisierung insofern, als sich der interkulturelle Manager stets der Möglichkeit und Gefahr der Dominanz monokulturalistischer Ansätze, welche seine Arbeit direkt oder indirekt beeinflussen, bewusst sein sollte. Die Erkenntnis der Notwendigkeit der Dezentralisierung von Konzepten und Terminologien geht folglich damit einher. Eine Reperspektivierung der Position, der Inhalte und der Anwendung interkulturellen Managements hängt mit der Aberkennung limitierender hermeneutischer Positionen zusammen, welche sich interculture j ourna l 11/19 ( 2 0 1 2 ) gegen eine Anzahl unterschiedlicher Auffassungen und Stimmen diesbezüglich wenden und im Gegensatz dazu ein einzig valides Modell in den Vordergrund stellen. Durch die Suche nach einer Diskussionsebene jenseits kulturell konditionierter Einstellungen, bildet eine Transkulturalisierung der Debatte um interkulturelle Managementkompetenz eine weitere Möglichkeit Räume für interdiskursive Rationalität zu öffnen und zu gestalten. Zuletzt bietet die Dialogisierung des Diskurses die Möglichkeit alternative Antworten zu entwickeln und zuzulassen. Dies gelingt u. a. durch eine stärkere Einbindung der Methode der kulturellen oder historischen Kontextualisierung (z. B. die Hinterfragung heutiger Kooperationsstrukturen vor dem Hintergrund von Kolonialgeschichte). 5. 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(Hrsg.): Diversity Management und Interkulturalität. München: Mering, S. 3-26. Endnoten 1. Der Managementbegriff kann etymologisch von dem lateinischen Begriff manum agere (mit der Hand leiten, lenken) abgeleitet werden. 2. Die Begriffe Unternehmenskultur und Organisationskultur sollen in diesem Beitrag synonym verwendet werden. 3. Es hat „sich bislang kein Modell als unisono akzeptiertes durchsetzen können“ (Bolten 2006 zitiert nach Rathje 2006:2). Wie bereits erwähnt erscheint die Auseinandersetzung mit der Entwicklung und gegenwärtigem Verständnis des Begriffs der Interkulturellen Kompetenz eine große Rolle. Im Jahr 1962 wurde das Konzept der Interkulturellen Kompetenz von dem Sozialpsychologen Gardner eingeführt. Er propagierte das Bild eines universalen Kommunikators, Individuen, die eine bestimmte interkulturelle Kommunikationskompetenz 87 besitzen. Charakteristika einer interkulturell kompetenten Person nach Gardner waren u. a. Integrität, Stabilität, Extrovertiertheit, eine an universellen Werten orientierte Sozialisation, telepathisches und intuitives Wissen (Gardner 1962:248). Im Anschluss gab es vor allem in den Disziplinen der Sozialpsychologie, der Anthropologie, der Kulturwissenschaft, der Erziehungswissenschaft, der Philosophie, der Linguistik und der Wirtschaftswissenschaft, eine große Anzahl weiterer Forschungen, Studien und Analysen, die den Versuch unternommen hatten, das mit dem neuen Namen ausgestattete Feld zu definieren und zu beschreiben. 4. Vor dem Hintergrund der verschiedenen Diversitätsansätze (u. a. Triandis / Berry 1980, Hofstede 1980, Trompenaars 1993, Hall 1983, Inglehart 1997, Schwartz / Bilsky 1987, Triandis / Bhawuk 1997, etc.) sowie die Similaritätsansätze (geprägt durch Begriffe wie third culture, synergistische Kultur, mentale Modelle, hybride und transkulturelle Kultur – zu nennen seien hier Graen / Hui 1996, Graen / Wakabayashi 1994, Adler 1991, Earley / Ang 2003, etc.), welche die heutige Diskussion im Bereich des Interkulturellen Managements bestimmen, ist für das Verständnis dieses Beitrags zu erwähnen, dass „im vorliegenden Zusammenhang die kulturellen Orientierungen von Individuen und nicht die (vermeintlichen) Eigenschaften von Kollektiven (Volkscharakter, Nationalcharakter) den Ausgangspunkt der Überlegungen bilden“ (Flechsig 2000:1). Grundlegend wird hier von Flechsig zum einen der Gedanke vertreten, dass sich der Ansatz des interkulturellen Dialogs auf die Veränderung und Entwicklung der kulturellen Orientierungen von Individuen bezieht, welche sich natürlich auch auf Kollektive auswirken können, was aber nicht der Fall sein muss, zum anderen: „[...] wird damit die immer noch weit verbreitete Auffassung, daß die kulturellen Orientierungen von Menschen aus ihrer Zugehörigkeit zu nur einem kulturell homogenen Kollektiv abgeleitet werden können [...] Sie können sich gleichzeitig auch einer Generationskultur, einer Organisationskultur, einer Weltanschauung, einer Religionsgemeinschaft oder einer Profession zugehörig fühlen [...] Dies aber bedeutet, daß in konkreten Situationen internationaler Zusammenarbeit nicht nur Interessen und Aufträge von Organisationen aufeinandertreffen, sondern immer auch – oder gar in erster Linie – Personen als komplexe kulturelle Persönlichkeiten“ (Flechsig 2000:1). 88 5. Das wäre zum einen das QFD, Quality Function Deployment, das sich mit kundenorientierter Produktplanung (im Produktionsprozess) beschäftigt, zum anderen die FMEA Failure Mode and Effect Analysis, eine Methode zur Aufdeckung von Schwachstellen (z. B. Prozessfähigkeit). 6. Bolten (2005) unterscheidet bei der Beschreibung interkultureller Kompetenz sogenannte Listen-, Struktur- und Prozessmodelle, die sich in den vergangenen vierzig Jahren herausgebildet haben. Hervorzuheben seien an dieser Stelle die Strukturdimensionen interkultureller Kompetenz, welche sich in affektive, kognitive und verhaltensbezogene untergliedern lassen: Affektive Dimension – Interkulturelle Sensibilität: bezieht sich auf die Entwicklung des Bewusstseins für die kulturelle Bedingtheit von – fremdem und eigenem – menschlichen Verhalten und die Schärfung der Wahrnehmung für kulturelle Differenzen, aber zugleich für Gemeinsamkeiten, aus denen sich Möglichkeiten wechselseitigen Lernens und produktiver Kooperation ergeben. Kognitive Dimension – Interkulturelles Wissen: bezieht sich auf praktisches und theoretisches Wissen; zum Beispiel auf Kenntnisse über Land und Leute, Informationsquellen und Referenzen, auf kultur- und kommunikationstheoretische Kenntnisse, auf Einstellungen und Bewertungen, und auf Wissen, das für selbsttätiges Weiterlernen benötigt wird. Verhaltensbezogene Dimension – Interkulturelle Fähigkeit: beschreibt Fähigkeiten, Verhalten und Können. Wie andere Kompetenzen auch, so lassen sich interkulturelle Kompetenzen gliedern in: Sachkompetenzen (z. B. Alltagskompetenzen oder kulturstrategische Kompetenzen), Sozialkompetenzen (z. B. interkulturelle Teamfähigkeit, Empathie, kommunikative Kompetenz, Expressivität, etc.) sowie Selbstkompetenzen (z. B. kulturelle Selbstreflexion und Selbstregulierung in interkulturellen Kontexten). 7. So erläutert Bolten exemplarisch: „Unter Bezugnahme auf die Grafik von Müller / Gelbrich wären z. B. ‚Offenheit‘, ‚Flexibilität‘ oder ‚kulturelles Bewusstsein‘ Merkmale der Selbstkompetenz, während ‚Einfühlungsvermögen‘ und ‚Kommunikationsfähigkeit‘ der sozialen Kompetenz zugeordnet werden müssten“ (Bolten 2007:25). 8. „Ability to foresee the synergistic potential of diverse cultural perspectives in problem solving, ability to envision viable mutually acceptable alternatives, ability to tap into diverse cultural sources for inspiration” (Koehn / Rosenau 2002:114). interculture j ourna l 11/19 ( 2 0 1 2 ) 9. Weitere genannte Kompetenzen: Analytische Kompetenz, Emotionale Kompetenz, Verhaltensbezogene Kompetenz (Koehn / Rosenau 2002:114). 10. Im Original: „Imaginative competence is acquired through transnational experience that enable individuals to participate effectively in activities that cut across two or more national boundaries” (Koehn / Rosenau 2002:114). 11. Die vier interdependenten Prinzipien sind Relationalität, Korrespondenz, Komplementarität und Reziprozität. 12. Guru Paramahansa Yoganandaji bezeichnet Intuition als Seelenqualität (soul quality), welche das menschliche Bewusstsein mit dem höherem Bewusstsein verbinde. Er geht davon aus, dass Intuition durch folgende Prozesse entwickelt werden könne: 1. Übung und Anwendung des Common Sense, 2. Introspektion und tägliche Analyse, 3. Konzentration und Gedankentiefe, 4. Ruhe, 5. Meditation (vgl. Nireshwalia 2003:2). 13. Die Umfrage wurde im Zeitraum Februar-August 2010 in Indien und Deutschland durchgeführt. Zu den Befragten zählten Mitarbeiter der Firmen Siemens, Bosch, Daimler und Infineon. Insgesamt wurden mit 52 Personen aus dem mittleren und höheren GSD-Management Gespräche geführt. Die Befragen gehörten folgenden Nationen an: Deutschland, Indien, Schweiz, Brasilien, Kroatien. Die ausführliche Evaluation erfolgt derzeit in Zusammenarbeit mit dem MPI Max Planck Institut für Bildungsforschung Berlin. 14. Vorteilhaft sind technologische Verbesserungen, reduzierte Entwicklungskosten (vgl. Carmel / Agarwal 2001, Damian et al. 2003) und Zeitersparnis durch das ‚followthesun’ Software Development (vgl. Herbsleb / Grinter 1999, Carmel 1999). Zu den besonderen Vorzügen zählen zudem das GSD Wissensmanagement (vgl. Dingsøyr / Rolland Jaccheri 2004), die Zeitzonen Effektivität (vgl. Ebert / de Neve, 2001) sowie der Zugang zu einem gut-ausgebildeten Entwicklerpool (vgl. Damian et al. 2003). 15. Da GSD verschiedene Stakeholder unterschiedlicher Kulturen (nationaler, regionaler, organisationaler, altersgruppenspezifischer, etc. Art) hat, welche an unterschiedlichen Standorten sitzen und andere Zeitfenster kennen, verwenden sie oftmals unterschiedliche Informations- und Kommunikationstechnologien für die Zusammenarbeit. Diese Aspekte bergen ein Risiko für den Erfolg von Projekten, da sie signifikante Herausforderungen hinsichtlich der Teamkommunikation, -koordination und -kontrolle mit sich bringen (vgl. Ågerfalk et al. 2005). Die Verwendung asynchroner Kommunikationsmedien kann unter Umständen zu Missverständnissen und Fehlinterpretationen führen (vgl. Damian / Zowghi 2002). Geographische Distanz kann zudem zu einer Verringerung informeller Kommunikation und somit zu einer Behinderung der Entwicklung persönlicher Beziehungen, Teamgeist und Teamgefühl führen (vgl. Herbsleb / Grinter 1999). Hinsichtlich der Bedeutung von Raumnähe und geographischer Distanz für das Team gibt es sehr unterschiedliche Sichtweisen. Distanz in virtuellen Teams kann sehr unterschiedlich erlebt werden; daher unterteilt man in subjektive und kognitiv-affektiv bewertete Distanz sowie in objektive und sachlich beschriebene Distanz (vgl. Wilson / Boyer O’Leary / Metiu / Jett 2005). Ein weiterer Punkt, dem es im Kontext von Wissensteilungsprozessen in virtuellen Teams Beachtung zu schenken gilt, ist jeder der Differenzierung von explizitem und schweigendem Wissen (explicit and tacit knowledge) (vgl. Subramaniam / Venkatraman 2001). Die Notwendigkeit, dass eine effektivere GSD Kooperation auf eine Verbesserung von Tools der Zusammenarbeit und Bewusstseinsschaffung angewiesen ist, wird vielfach betont (vgl. Cataldo et al 2006, Martinez / Carlos Jarillo 1989). 16. Intuitive Synthese bezeichnet die Fähigkeit sich auf in der Vergangenheit Erfahrenes und Erlerntes zu beziehen und dieses Wissen auf die Lösung eines Problems in der Gegenwart anzuwenden. 17. Heuristik (griech. „Εὑρίσκω“ heurísko ‚ich finde‘) bezieht sich auf erfahrungsbasierte Techniken des Lernens, des Problemlösens und des Entdeckens. 18. „Diese epistemologische Differenz in ihrer Erkennbarkeit“ sei nach Thaliath jedoch eine rein formale, keine substantielle“ (Thaliath 2011:7). 19. Im indischen philosophischen System des Advaita Vedanta wird beispielsweise zwischen materiellem Wissen (apara vidya) und spirituellem Wissen (para vidya) unterschieden, wobei der erstere dem Bereich der Wissenschaft, der letztere jenem der Religion zuzuordnen ist. Schlussfolgernd kann behauptet werden, dass deliberative Entscheidungsfindung apara vidya, während intuitive Entscheidungsfindung para vidya zuzuordnen ist. 89 20. Diese Logik der Unschärfe lässt sich auch auf den Ausdruck kulturelle Fuzzyness beziehen. 21. Chatterjee ist ein Vertreter der monistischen Philosophie des Yogacara Buddhismus, welcher im Ergebnis der tat twam asi – Lehre der Upanishaden nahe kommt. Von den Upanishaden sagte Arthur Schopenhauer, dass sie „der Trost meines Lebens gewesen“ seien und „der meines Sterbens sein“ würden (vgl. Schopenhauer 1977). 22. Satori bezeichnet im Zen einen Weg der ‚Erleuchtung’. Jung schreibt in seinem Geleitwort: „Von der Erleuchtung (Satori) sagt Kaiten Nukariya, welcher selber Professor am So-To-Shu Buddhist College in Tokyo ist (vgl. sein Buch: The Religion of the Samurai 1913:133f.): „Wenn wir uns vom Mißverständnis des Selbst befreit haben, so müssen wir unsere innerste, reine und göttliche Weisheit aufwecken. Diese nennen die Zen-Meister den Buddhageist (Mind of Buddha) oder Bodhi (das Wissen, durch das man Erleuchtung erfährt) oder Prajna (höchste Weisheit). Sie ist das göttliche Licht, der innere Himmel, der Schlüssel zu allen Schätzen des Gemütes, der Mittelpunkt von Denken und Bewußtsein, die Quelle von Einfluß und Macht, der Sitz der Güte, der Gerechtigkeit, des Mitfühlens, des Maßes aller Dinge. Wenn dieses innerste Wissen völlig erwacht ist, so sind wir imstande zu verstehen, daß jeder von uns identisch ist, im Geiste, im Wesen und in der Natur, mit dem universalen Leben oder Buddha, daß jeder mit Buddha lebt von Angesicht zu Angesicht, daß jeder die überquellende Gnade des Geheiligten (Buddha) empfängt, daß Er unsere moralischen Kräfte erweckt, daßEr uns das geistige Auge öffnet, daß Er unser neues Vermögen entwickelt, daß Er uns Sendung gibt, und daß das Leben kein Meer von Geburt, Krankheit, Alter und Tod, auch nicht ein Tal der Tränen ist, sondern vielmehr Buddhas heiliger Tempel, das <<Reine Land>> (Sukhavati, das Land der Seligkeit), wo wir die Wonne des Nirvana genießen können. Dann wir unser Geist völlig verwandelt. Wir sind nicht mehr gestört von Zorn und Haß, nicht mehr verwundet von Neid und Ehrgeiz, nicht mehr gekränkt von Sorge und Kummer und nicht mehr überwältigt von Traurigkeit und Verzweiflung“ ( Jung in Suzuki 2003:10f.). 90 interculture j ourna l 11/19 ( 2 0 1 2 ) 91 92 interculture j ourna l 11/19 ( 2 0 1 2 ) Rezension Review Esther Braunwarth „Interkulturelle Kooperation in Deutschland am Beispiel der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit“ Olga Sacharowa Doktor in Kulturgeschichte, Moskauer Städtische Pädagogische Universität, Sprachlehrerin und Multiplikatorin des GoetheInstitus Moskau Eine Forschung, die im Titel den Begriff interkulturelle Kooperation inklusive hat, kann – mit Berücksichtigung von zahlreichen wissenschaftlichen Arbeiten zu diesem Thema – damit rechnen auf Interesse zu stoßen, wenn sie nicht als einzelfachlich gedacht war und im Ergebnis eine Mehrschichtigkeit bietet, was dem aktuellen Trend entsprechen würde. Die vorliegende Publikation versucht dem Trend in komplexeren Forschungen nachzugehen und die Kombination von Begriffen jüdisch – christlich – interkulturell soll für interdisziplinäres Herangehen sorgen. Die Autorin stellt sich die Hauptfrage, ob „Menschen verschiedener Religionen, auch missionierender Religionen, überhaupt kooperieren können, ohne dass kulturelle Konkurrenz entsteht“ (Braunwarth 2011:13) – und betritt damit unermessliche Weiten voller Vorurteile, gegenseitiger Unakzeptanz und Skepsis, obwohl das Streben nach der Liebe zu dem Nächsten in diesem Fall fast wortwörtlich ein Ariadnefaden sein kann. Allein der Versuch sich in diesem Bereich sachlich zu vertiefen und die bestehende Skepsis analytisch zu verarbeiten ist schon lobenswert. Umso lobenswerter ist es, wenn man entdeckt, dass der Band sehr umfassende und detailreiche Informationen zur Entwicklungsgeschichte und dem aktuellen Stand im Bereich christlichjüdische Kooperation bietet. Er lässt sich thematisch in vier größere Bereiche gliedern, nämlich: I. Die Entstehungsgeschichte derchristlich-jüdischen Gesellschaften (GcjZ) und deren Koordinierungsrat (DKR) in Deutschland inklusive genauer Darstellung von einzelnen Gesellschaften wie die in München, in Stuttgart und in Freiburg. II. Analyse von Funktionen und Tätigkeitsbereichen von GcjZ und DKR III. Beschreibung von konkreten Tätigkeiten der GcjZ und DKR IV. Stellungnahme zu den Veränderungen im christlich-jüdischen Dialog und der gewonnenen Erfahrungen für interkulturelles Zusammenleben. Anschließend folgen ein Ausblick in die möglichen Entwicklungen der analysierten Kooperation und eine kurze Zusammenfassung von Ergebnissen der durchgeführten Forschung. Im Anhang sind Transkriptionen von einigen Interviews der Autorin mit führenden 93 Personen der analysierten Kooperation, sowie deren Biografien zu finden. Die Forschung knüpft zwar an wesentliche Publikationen in dem gewählten Forschungsgebiet an, aber ein klarerer Hinweis darauf, von welcher konkreten Definition des Begriffs interkulturell die Autorin ausgeht und wie sich die erforschte Art der Kooperation in den allgemeinen kulturellen Kontext einbetten lässt, wäre wünschenswert. Besonders wichtig erscheint uns in diesem Zusammenhang die Auseinandersetzung mit solchen Kategorien wie Identitätsbildung und interkulturelle Bewältigungsstrategien wie z.B. bei Leggewie/ Zifonun( Leggewie, C. / Zifonun, D. 2010: 19-23). Wie immer schon, aber bei so einer Themenformulierung besonders, spielt die Abgrenzung von Aufgaben bzw. Themenbereichen und Zeitabschnitten eine nicht zu unterschätzende Rolle. Die Autorin versucht das durch die Angabe eines konkreten Zeitraumes und durch die Konkretisierung der schon oben erwähnten Grundfrage zu erreichen. So formuliert sie folgende Aufgaben: I. Wie intensiv ist der Austausch unter christlichen und jüdischen Mitgliedern? II. Was unterscheidet die Gesellschaften von anderen Gruppen, so dass eine Einheit in der Verschiedenheit möglich wird? III. Was bedeutet das für andere interkulturelle Initiativen? IV. Welche Regeln und welche Basis entwickelte die christlich-jüdische Zusammenarbeit, die bis heute gelten? Kann man auch das Recht auf Abweichung zur Regel machen? V. Wie lassen sich die Anforderungen der Moderne (Intergruppenkontakte, Flexibilität, rationales Handeln) mit traditionellen religiösen und kulturellen Eigenheiten auf harmonische Weise vereinbaren? (Braunwarth 2011:12f.). 94 An diese konkreten Fragestellungen werden zum Abschluss die Schlussfolgerungen geknüpft. Was die zeitliche Abgrenzung betrifft, so erscheint die angekündigte Zeitspanne der Analyse ab 1948 unter dem Blickwinkel historische Periodisierung zwar logisch, kann aber kaum eingehalten werden wegen der zu nahen Zusammenhängen mit der NS-Zeit. Die angeführten Beschreibungen und Erinnerungen der NS-Opfer sowie Überlegungen der Autorin und ihre oft emotionalen Einschätzungen dieser Zeit, aus der die Wurzeln von vielen Problemen des christlich-jüdischen Dialogs zu ersehen sind, kann man einerseits als logische Brücke in so einer Forschung anerkennen. Andererseits liegen in dieser Zeit nicht nur die Ursachen der Unakzeptanz sondern auch die Anfänge der christlichjüdischen Kooperation wie das mit dem GcjZ Freiburg der Fall war (Braunwarth 2011:7,67,236). Die Ereignisse aus dieser Zeit werden in der Publikation auch als bedeutende für die Gründung von GcjZs bezeichnet. Außerdem kann man wegen der zu komplexen und komplizierten Problematik die großen Bereiche Antisemitismus und Holocaust wie wohl das Thema Vergangenheitsbewältigung wahrscheinlich kaum so ad hoc allein mit einer Zeitschranke abgrenzen. Eine ausführlichere Begründung und Hinführung zu dem konkreten Forschungsbereich, die die erforschte Kooperation in die historischen, kulturellen und religiösen Zusammenhänge einreihen würden, wären nicht fehl am Platze. Hingewiesen sei hier auf die Forschungen, in denen auch positive Annäherungen thematisiert werden, z. B.: Madievski 2006. Dieser Mangel wird durch gute Strukturiertheit und Ausarbeitung des ersten und zweiten Themenbereichs ausgeglichen. Eine ausführliche Darstellung der Entstehungsgeschichte von einzelnen Gesellschaften sowie Zusammenfassung von Zielen ergänzt die Analyse der Rolle von einzelnen Persönlichkeiten, politischen Gemeinschaften und amerikanischen Vorbildgesellschaften wie zum Beispiel Council of Christians and Jews. Sorgfältig gesammelte Informationen und Analysen decken die Wissenslücke interculture j ourna l 11/19 ( 2 0 1 2 ) ab und leisten somit einen wesentlichen Beitrag nicht nur zu der deutschen als auch zu der internationalen Geschichte. ■■ Identifizierten sich die Juden aus der ehemaligen Sowjetunion überhaupt mit dem jüdischen Glauben? ■■ Wie viele von ihnen waren Christen oder sogar Atheisten? ■■ Wie war das Verhalten von denen, die sich als Vertreter des jüdischen Glaubens rein formell gemeldet hatten? Aus demselben Grund erscheint die Charakteristik dieser neuen Etappe nicht so sehr überzeugend im Unterschied zu dem ganzen Themenbereich. Braunwarth, Esther (2011): Interkulturelle Kooperation in Deutschland am Beispiel der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit. München: Herbert Utz Verlag GmbH. 312 Seiten. Preis: 49,00 EUR. ISBN 978-3-8316-4087-4. Fazitziehend lässt sich sagen, dass die Publikation im Großen und Ganzen eine gute Grundlage für Diskussionen und Reflexionen bietet und den aktuellen Stand der Forschung widerspiegelt. Literatur Madievski, S. (2006): The Other Germans. Rescuers` Resistance in the Third Reich. Moskau: Dom evreiskoi knigi. Leggewie, C. / Zifonun, D. (2010): Was heißt Interkulturalität? Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 1(2010), S.11-32. 95 96 interculture j ourna l 11/19 ( 2 0 1 2 ) Rezension Review Jieting Kong „Survival Kit für Chinesen in Deutschland. 中国人旅德生存手册“ Linda Schwarzl Doktorandin der Linguistik und wissenschaftliche Hilfskraft des Austauschprojekts der Tsinghua Universität, Peking, mit der Universität Duisburg-Essen Muss ein Ratgeber für ChinesInnen in Deutschland einen teils englischen Titel haben? Vermutlich ja, denn Überlebensausrüstung oder Ratgeber klingt umständlich und altmodisch. Und das ist das „Survival Kit für Chinesen in Deutschland. 中国人旅德生存手册“ mit Sicherheit nicht. Amüsant und bunt bebildert, versucht Jieting Kong, eine aus Shanghai stammende Chinesin, eine erste Hilfestellung für ChinesInnen zu bieten, die – mit oder ohne deutsche Sprachkenntnisse – auf Herausforderungen und kulturelle Unterschiede treffen, wenn sie zum ersten Mal in Deutschland sind. Das Buch soll als Unterstützung dienen, um den Kulturschock aufzufangen. Da Jieting Kongs deutsche Heimat Hamburg ist, gibt es speziell für die Hansestadt Tipps zu Märkten, Fahrplänen für Bus und Bahn etc. Positiv hervorzuheben ist die durchgängige Zweisprachigkeit von Deutsch und Chinesisch (chinesische Zeichen, kein Pinyin). Selbst wenn ChinesInnen über ausreichende Deutschkenntnisse verfügen, können sie z. B. bei Bezeichnungen für Lebensmittel noch große Schwierigkeiten haben. Nicht nur sprachlich, sondern auch inhaltlich ist die Orientierung an der Zielgruppe eingehalten worden. Diese Tatsache sollten sich interessierte deutsche LeserInnen vor Augen führen und über – aus deutscher Perspektive möglicherweise zum Teil vorhandene – Auffälligkeiten hinwegsehen, beziehungsweise das Survival Kit vor diesem Hintergrund beurteilen. Auf den ersten Blick erscheint das Buch unterhaltsam und ansprechend. „Nemo“, der Hauptakteur, ein Junge, mit grünem T-Shirt und großem Mund, der eher an einen Europäer als einen Asiaten erinnert, führt uns durch den Alltag und hilft bei Problemen, auf die man als Neuling in Deutschland stößt. Er und die anderen Charaktere sind als Comicfiguren gestaltet und treten durch ihre ausgefallene, teilweise verrückte, Zeichenart hervor. Der „Cast“ (Kong 2012:12f.) besteht u. a. aus „Dr. Men“, der als Professor mit hellgelbem Gesicht und großer Brille den Intelligenten repräsentiert, „Sarah“, einer Afroamerikanerin mit tiefem Dekolletee, „Christian“, einem Südeuropäer mit gelocktem, dunklem Haar und Oberlippenbart, der als Toilettenreinigungskraft und Taxifahrer arbeitet, „Leo“, einem Asiaten, und zwei korpulenten Deutschen: „dem Säufer“, ungepflegt und mit nacktem Oberkörper, Bierbauch, Zahnlücken, Vollbart, Bierglas und Hakenhand sowie „Michael“, der als „typischer Deutscher“ mit großem Schnäuzer und Plauze leicht bayrisch aussieht (Personenbezeichnungen sind Zitate). Auffällig ist eine starke Stereotypenbildung, die aber im Rahmen eines solchen 97 Buches wahrscheinlich schwer zu vermeiden ist. Für ChinesInnen, die noch nicht in Deutschland waren und nicht in Kontakt mit Deutschen stehen, ist die Darstellung des Lebens in Deutschland anhand von Stereotypen vermutlich gewünscht, um kurz und bündig zu informieren und nicht mit Details zu langweilen. Wirkt die Gestaltung des Buches aus deutscher Sicht eher kindlich, mag es für ChinesInnen aber durchaus ansprechend sein. Der Grund dafür liegt wohl beim Herausgeber: In Zusammenarbeit mit dem Buske Verlag bemühte sich eine Werbeagentur um das Design. Die DFI Agency Communication Design gestaltete das Survival Kit „kess und locker“ (DFI Agency), wobei das „Infodesign […] im Vordergrund [steht]. Schnelles begreifen [sic!] durch einfachere Bebilderung des Sachverhaltes ohne das lesen [sic!] langer Texte ist das Konzept dieses Buches.“ (DFI Agency). Die Zeichnungen stammen – laut Angabe von DFI Agency – von der Autorin Jieting Kong selbst. Das Ziel der DFI Agency ist eine schnelle und leichte Vermittlung der dargebotenen Informationen. Die farbigen Illustrationen im Buch erinnern an Mangas, könnten sich aber, allem Humor zum Trotz, bei einigen (konservativen) Deutschen negativ bemerkbar machen. Vor allem die Erklärungen und Bebilderungen der religiösen Bräuche fallen hier stark auf. In der Rubrik Feiertage werden staatliche und kirchliche Fest- und Feiertage kurz beschrieben. Die Darstellung eines gekreuzigten Jesus Christus im Comicstil als Symbol für Karfreitag bietet Angriffsfläche für Kritik. Da auch einige ChinesInnen christlich sind, könnte eine solche Gestaltungsart nicht nur für Deutsche ein Problem darstellen. Aufgeteilt ist das Survival Kit in die Kapitel Leben, Essen & Trinken, Transport, Wohnen und Gesundheit. In den einzelnen Kapiteln werden Probleme behandelt, die vor und nach der Einreise auftreten können. Das erste Kapitel (Leben) beschäftigt sich auf insgesamt 73 Seiten beispielsweise mit dem Visumsantrag, 98 der Einrichtung eines Bankkontos in Deutschland, Bewerbungen und Vorstellungsgesprächen, Kleidung, Festen, Bräuchen und alltäglichen Verhaltensweisen. Teilweise kommt es bereits hier zu verwirrenden Bezeichnungen: Hinter „Herren- oder Männertag“ (Kong 2012:51) verbirgt sich wohl der Vatertag. Auf abweichende Benennungen, z. B der Festtage in Deutschland, sollte im Hinblick auf Deutschlernende als Zielgruppe verzichtet werden. Sinnvoll wäre vor allem in diesem Kapitel der Verweis auf Internetquellen, da sich die Bestimmungen zur Beantragung eines Visums beispielsweise ändern und die Informationen im Buch somit nicht mehr aktuell sein können. Hinweise auf die offizielle Homepage der Deutschen Botschaft könnten hier z. B. Aktualität gewährleisten. Bedenkt man die Rubrik Visumsbeschaffung genauer, stellt sich außerdem die Frage nach der Relevanz. Für ChinesInnen, die sich in Deutschland befinden, könnte dies weniger von Belang sein, da diese erste Hürde bereits im Heimatland genommen wurde. Das Kapitel Essen & Trinken (Kong 2012:88ff.) stellt die liebsten Speisen und Getränke der Deutschen vor, wirft einen Blick auf lokale Spezialitäten und saisonale Speisen. Die Zusammenstellung von verschiedenen Kaffeegetränken und Cocktails wird erläutert – wobei hier sicher auch manche Deutsche noch etwas lernen können. Besonders amüsant ist u. a. die Erklärung, wie eine Bierflasche mit Hilfe eines Feuerzeugs zu öffnen ist (ebd.:94f.). Hier kommt „der Säufer“ wieder zum Einsatz: In Unterhose hüpfend freut er sich über das korrekt eingeschenkte Weizen (ebd.:95). Ob es nötig ist, auf vier Seiten (ebd.:114ff.) unterschiedliche Weinarten mit dazu passenden Speisen darzustellen – und es nicht einfach bei der Unterscheidung zwischen Weiß-, Rotwein oder Rosé zu belassen – darüber lässt sich streiten. Hilfreicher wäre meiner Einschätzung nach eine Erklärung der Aufschriften lieblich, halbtrocken, trocken auf den Weinetiketten im Supermarkt. Weiteren Anlass zu Kritik bietet die Darstellung der Dim Sum (Kong interculture j ourna l 11/19 ( 2 0 1 2 ) 2012:122f.). Sie ist diffus und die Zuordnung von Bild und Bezeichnung nicht immer passend. Zusätzlich stellt sich die Frage, ob diese kleinen, meist gedämpften oder frittierten Gerichte, die ursprünglich aus der kantonesischen Küche Chinas stammen, in einem Ratgeber für ChinesInnen einer Erklärung bedürfen. Der Darstellung von Fast Food in Deutschland werden gleich mehrere Seiten gewidmet. Leider sucht man eine hier weit verbreitete Speise, den türkischen Döner, vergebens. Auch bei den unterschiedlichen Pizzen fehlen die typischen Speisenamen (Pizza Margherita, Pizza Hawaii etc.), die bei der Bestellung im Restaurant aufschlussreich wären. Dafür ist die Bezeichnung der verschiedenen Essbestecke sehr detailliert: Fischmesser/-gabel, Steakmesser/-gabel etc. (ebd.:144f.). An anderen Stellen im Buch wiederum mangelt es an Einzelheiten zur Benennung, wie z. B. bei der Vorstellung des deutschen Weihnachtsmarkts (ebd.:60f.). Hier wird gänzlich auf die Beschriftung der abgebildeten Leckereien verzichtet. Abschließend werden in diesem Kapitel Restaurantmanieren und der Umgang mit Trinkgeld erläutert, was dem Zweck des Buches, ChinesInnen die kulturellen Unterschiede aufzuzeigen, angemessen erscheint, da man in China in der Regel kein Trinkgeld gibt. Öffentliche Transportmittel, Preise und das Streckennetz von Hamburg, Hinweise zum Fahrradkauf etc. werden im Kapitel Transport (Kong 2012:152ff.) vorgestellt. Praktischer wäre auch hier eine knappe Anleitung zum Umgang mit der Homepage der Deutschen Bahn, dem Ticketkauf und der Fahrplanauskunft, so dass Streckenfahrpläne und Reisekosten selbst recherchiert werden können. Das vorletzte Kapitel befasst sich mit dem Thema Wohnen (Kong 2012:172ff.) und bietet Tipps zu Wohnungssuche und -besichtigung, Kostenübersichten sowie Abkürzungen in Wohnungsanzeigen. Im Anhang des Buches finden sich Mustervordrucke zur Wohnungsannonce und Kündigung. Außerdem werden Ratschläge zur Renovierung, zum Putzen, zur Mülltrennung sowie Erste Hilfe bei Verletzungen gegeben. Ausführlicher wird das Thema Gesundheit im letzten Kapitel (ebd.:216ff.) behandelt. Entspannungsübungen (ebd.:228f.) und Hausmittel (ebd.:230ff.) werden aufgezählt. Besonders interessant sind die in der Rubrik Hausmedizin aufgeführten Hilfsmittel: z. B. Cayennepfeffer bei Herz-Kreislaufbeschwerden (ebd.:230), Maiskolben bei schlechter Durchblutung, (ebd.:232), Weißkohl bei Furunkeln und Verstauchungen (ebd.:235). Diese Zusammenstellung mag wohl besonders für Deutsche eine Hilfe sein, da das Wissen über Heilpflanzen in der chinesischen Kultur weitaus größer ist. Eine Auflistung sortiert nach Beschwerden würde sich hier anbieten, fehlt aber. Auch das Thema Verhütung wird angesprochen. Kondome, Antibabypille, die Pille danach und Schwangerschaftstests werden kurz erläutert. Hinweise zur Beschaffung gibt es allerdings nicht. Beurteilt man das Survival Kit mit dem Maßstab typisch deutscher Korrektheit, werden einige Punkte auffallen, die nicht ganz richtig dargestellt sind. Besonders positiv zu bemerken sind die kreative Gestaltung und die Auseinandersetzung mit aktuellen Themen. Über formale und teilweise auch inhaltliche Fehler stolpert man zwar, diese sind aber für das Verständnis nicht immer von Belang. In allen Kapiteln werden neue Vokabeln eingeführt, die – thematisch gut geordnet – das Meistern des Alltags erleichtern (wenn auch an einigen Stellen umgangssprachlich, z. B. Postmann anstelle von Postbote (Kong 2012:37), Bekanntschaften machen anstelle von Bekanntschaften schließen (ebd.:87)). Die Verwendung von Umgangssprache muss unbedingt markiert werden, um einem fehlerhaften Gebrauch vorzubeugen. Diese Kennzeichnung fehlt leider. Als großes Manko des Ratgebers betrachte ich das Versäumnis der Autorin, ein umfassendes Verzeichnis an Internetseiten bereitzustellen, das aktuelle Hinweise zu den behandelten Themen gibt und weitere Auskunft liefert. 99 Lehrreich kann das Buch letztlich nicht nur für ChinesInnen sein, sondern auch für Deutsche, da die Informationen, die von einer Chinesin zusammengestellt wurden, aussagekräftig sind und darüber aufklären, was für Asiaten in Deutschland neu und merkwürdig erscheint. Damit ist es auch für Einheimische zur Vorbereitung geeignet, um sich mit AnhängerInnen eines anderen Kulturkreises auseinander zu setzen und deren Sichtweise auf die eigene Kultur zu betrachten. Diesem Thema widmet sich auch Polfuß (2012) im Interculture Journal Nr. 17, der mit einem Kulturassimilator für chinesische Teilnehmende mit Zielland Deutschland anhand authentischer Situationen die Hintergründe aus chinesischer und deutscher Perspektive interkulturell beleuchtet. Um die tatsächliche Brauchbarkeit des Survival Kit festzustellen, bleibt es abzuwarten, wie die Rezension einer Chinesin / eines Chinesen ausfällt, die / der sich mit Hilfe des Ratgebers mehr oder weniger erfolgreich in Deutschland zurecht gefunden hat. Trotz einiger Schwächen bewerte ich das „Survival Kit für Chinesen in Deutschland. 中国人旅德生存手册.“ abschließend als gelungen. Dem Ziel – auf unterhaltsame Art zu informieren – wird es meiner Meinung nach gerecht. Literatur DFI Agency (2011): Survival Kit für Chinesen in Deutschland. URL: http://dfiagency.de/2011/10/survival-kit-chinesenin-deutschland/ [Zugriff am 28.08. 2012]. Polfuß, J. (2012): Kritischer Kulturassimilator. Deutschland für chinesische Teilnehmende. Interculture Journal 11 (17), S. 27-46. 100 Kong, Jieting (2012): Survival Kit für Chinesen in Deutschland. 中国人旅德生 存手册. Hamburg: Helmut Buske Verlag. 253 Seiten. Preis 19,90 EUR. ISBN 978-3-87548-629-2. interculture j ourna l 11/19 ( 2 0 1 2 ) Rezension Review Adelheid Schumann „Interkulturelle Kommunikation in der Hochschule. Zur Integration internationaler Studierender und Förderung Interkultureller Kompetenz“ Alexandra Stang Projektmitarbeiterin Publikationen und Interkulturelle Bildung an der TU Kaiserslautern Die kulturelle Vielfalt der fortschreitenden Globalisierung ist im hochschulpolitischen Gesamtkontext heute überall präsent aufgrund weltweit mobiler Studierendenströme und Wissenschaftlerwanderungen (Hochschulrektorenkonferenz 2008). Diese Entwicklungen gehen nicht spurlos an den deutschen Hochschulen vorbei; sie ziehen vielmehr einen komplexen langfristig tiefgreifenden Veränderungsprozess nach sich. Der Erwerb von Fremdsprachen, fachübergreifende interkulturelle Handlungskompetenz und die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Ausbildungssystemen gewinnen daher aus dieser Perspektive zunehmend an strategischer Bedeutung. Das von der Volkswagen Stiftung geförderte empirische Forschungs- und Entwicklungsprojekt MuMiS Mehrsprachigkeit und Multikulturalität im Studium entstand zwischen 2008 und 2010 in Kooperation mit der Universität Siegen. Die Ergebnisse dieser Critical Incident Untersuchungen bilden die Grundlage für die dazugehörige Datenbank www.mumis-projekt.de/projekt/ und Argumentation der sieben Aufsätze der Autorinnen in dem vorliegenden Band. Annelie Knapp betont zu Beginn die Chancen, die sich im Rahmen von Auslandsaufenthalten durch internationale Hochschulpartnerschaften und Austauschprogramme für junge Menschen heute ergeben. Daran anschließend stellt sie die Vorarbeiten, Teilprojekte und Ziele des MuMiS-Projektes detailliert vor. Hierzu gehören Maßnahmen zur Verbesserung der Fremdsprachenkompetenz in internationalen Studiengängen (Englisch und Deutsch als Fremdsprache) genauso wie eine Sammlung studiumsspezifischer kritischer Interaktionssituationen. Differenziert wird zwischen vier Kategorien: a) Lehrveranstaltungen, b) Sprechstudenkontakt mit Dozenten, c) Kommunikation in Arbeitsgruppen d) Kommunikation unter Studierenden. Der Aufsatz von Adelheid Schumann thematisiert die Hintergründe, Zahlen und Fakten, die der interkulturellen Kompetenzentwicklung als zentrale Schlüsselqualifikation zugrunde liegen. Dazu beschäftigt sie sich im Fortgang mit verschiedenen theoretischen Konzepten interkultureller Kompetenz, die in der neueren Literatur kontrovers diskutiert werden. Des Weiteren stellt sie die Bedeutung der akademischen Kultur in den Mittelpunkt ihrer Argumentation. Zu Recht verweist sie auf die Tatsache, dass Forschung und Wissenschaft in verschiedenen Ländern und Kulturen 101 über Jahrhunderte hinweg eine unterschiedliche Entwicklung genommen haben, die bis heute auf die Bildungssozialisation, Lehr- und Lernstilgewohnheiten, Verhaltensweisen sowie Rollenerwartungen Einfluss nehmen. In ihrem zweiten Aufsatz begründet die Herausgeberin der Publikation ihre Entscheidung für die Critical IncidentMethode als Trainingsgrundlage wie folgt: „Critical Incidents bieten für interkulturelle Trainingseinheiten eine komplexe Diskussionsgrundlage: Sie lösen Reflexionen über Differenzen in Akademischen Kulturen aus und fördern die Entwicklung einer studiumsbezogenen interkulturellen Kompetenz“ (2012: 70). Im weiteren Verlauf ihrer trainingspragmatischen Argumentation greift Schumann jedoch auch die kritischen Positionen zu diesem methodischen Ansatz und dem zugrunde liegenden kohärenzorientierten Kulturverständnis auf, das die Gefahr der Übergeneralisierung und Stereotypisierung birgt, die in der neueren Fachliteratur eingehend diskutiert werden (vgl. hierzu Hansen 2009, Rathje 2010, Bolten 2011). Dabei weist die Autorin anhand von ihren Beispielen explizit darauf hin, dass „es in Trainingskonzepten für die Hochschule nicht darum gehen [kann], Komplexität zu reduzieren, sondern vielmehr darum, die verschiedenen individuellen und kollektiven Faktoren eines interkulturellen Missverständnisses in ihrer Komplexität zu begreifen“ (Schumann 2012:70). Abschließend folgt eine Anleitung zur Arbeit mit Critical Incidents im Hochschulkontext, am Beispiel der MuMiS-Datenbank, die kognitive, affektive und handlungsorientierte Dimensionen im Rahmen eines konstruktivistischen Lernverständnisses integrieren sollen. Im zweiten Teil des Buches diskutiert Eva Maria Hennig ausführlich das konkret eingesetzte Verfahren zur Erhebung, Evaluation und Didaktisierung der Critical Incidents im Rahmen dieser Forschungskooperation. Katharina Moll stellt anschließend die Einsatzformen 102 von Critical Incidents, die Bedeutung des damit verbundenen Lernziels und die Analyse der Zielgruppe in dem Mittelpunkt. Hierzu zieht sie Beispiele aus der Datenbank heran. Sonja Schöning entwickelt ein Baukastenmodell, das kontextspezifisch eingesetzt werden kann, um für kulturelle Differenzen akademischer Lehr- und Lernkulturen zu sensibilisieren. Abschließend präsentiert Adelheid Schumann Arbeitsmaterialien, Trainings- und Lösungsansätze für Schulungsleiter, die Critical Incidents im Rahmen von interkulturellen Sensibilisierungsmaßnahmen verwenden. Der Buchtitel „Interkulturelle Kommunikation in der Hochschule Zur Integration internationaler Studierender und Förderung Interkultureller Kompetenz“ macht neugierig. Werden jedoch die Erwartungen einer breiten Leserschaft diesbezüglich erfüllt? Die Antwort lautet ja und nein. Diejenigen Leser, die die Methode Critical Incident in interkulturellen Trainings bevorzugt einsetzen, erhalten Impulse und Hinweise für deren Einsatzmöglichkeiten im Hochschulkontext. Die Erwartungen jener Leser, die sich vom Titel der Publikation auch neue Ideenkonzepte erhofft haben, die Interkulturalität nicht nur thematisieren sondern durch Projektlernen und kollaborative Methoden auch generieren, werden nicht erfüllt. Positiv hervorzuheben ist das umfangreiche Bibliografie-Verzeichnis zur Interkulturellen Kommunikation in der Hochschule (2012: 241ff.), das Neuerscheinungen und interdisziplinäre Perspektiven der letzten Jahre zu diesem Thema einschließt. Dies bietet den Lesern, die sich hierzu informieren möchten, einen fundierten Überblick auf relevante Literaturquellen. Das Buch richtet sich primär an diejenigen, die mit der umfangreichen MuMiS-Datenbank im Rahmen ihrer interkulturellen Trainingsmaßnahmen arbeiten und einen Einblick in die Entstehungsgeschichte und Anwendungspraxis der Critical Incidents im internationalen Hochschulkontext erlangen möchten. Darüber hinaus bietet die vorliegende Publikation und dazugehörige Datenbank die Möglichkeit, das interculture j ourna l 11/19 ( 2 0 1 2 ) Bewusstsein für mögliche Stolpersteine in der Kommunikation zu schärfen und sich der Kulturspezifik der eigenen Forschungstraditionen sowie Lehr-/ Lernmethoden zu stellen. Trotz aller Herausforderungen, die das mehrsprachige Umfeld mit sich bringt, wäre es wünschenswert, künftig kulturelle Differenz und interkulturelle Kommunikation im Rahmen der Critical Incident-Analysen nicht per se als primäre Quelle für Missverständnisse zu betrachten. Die Heterogenität, wie sie an Hochschulen heute Alltag ist, bietet gleichermaßen die Chance für interaktiven kommunikativen Austausch und Basis für das Lernen voneinander. Dies ist wiederum Voraussetzung um Plausibilität, Normalität, Routinehandeln und Vertrauen (Bolten 2003:108) in solchen Kontexten im Sinne von „etwas gemeinschaftlich machen“ (Bolten 2000:114) überhaupt herstellen zu können. Literatur Bolten, J. (2011): Unschärfe und Mehrwertigkeit „Interkulturelle Kompetenz“ vor dem Hintergrund eines offenen Kulturbegriffs. In: Hößler, U. / Dreyer, W. (Hrsg.): Interkulturelle Kompetenz vor dem Hintergrund eines offenen Kulturbegriffs. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht Verlag. S. 55-70. Bolten, J. (2003): Kultur und kommunikativer Stil. In: Wengeler, M. / Stötzel, G. (Hrsg.): Deutsche Sprachgeschichte nach 19945. Diskurs- und kulturgeschichtliche Perspektiven: Beiträge zu einer Tagung anlässlich der Emeritierung Georg Stötzels. Hildesheim: Olms (Germanistische Linguistik, 169/170), S. 103-124. Bolten, J. (2000): Können internationale Mergers eine eigene Identität ausbilden?. In: Wierlacher, A. (Hrsg.): Kulturthema Kommunikation. Möhnesee: Résidence Verlag, S. 113-120. Hansen, K. P. (2009): Kultur, Kollektiv, Nation. Passau: Stutz Verlag. Schumann, Adelheid (2012): Interkulturelle Kommunikation in der Hochschule. Zur Integration internationaler Studierender und Förderung Interkultureller Kompetenz. Bielefeld: Transcript Verlag. 258 Seiten. Preis 29,80 EUR. ISBN 978-3-8376-1925-6. Hochschulrektorenkonferenz (2008): Die deutschen Hochschulen in der Welt und für die Welt. Internationale Strategie der Hochschulrektorenkonferenz – Grundlagen und Leitlinien URL: http://www.projekt-q. de/de/projekte_und_initiativen/5198.php [Zugriff am 12. August 2012]. Rathje, S. (2010): Training / Lehrtraining. In: Weidemann, A. / Straub, J. / Nothnagel, S.(Hrsg.): Theorien, Methoden und Praxis in der Hochschulausbildung. Bielefeld: Transcript Verlag, S. 215-240. 103 104 interculture j ourna l 11/19 ( 2 0 1 2 ) Rezension Review Petia Genkova „Kulturvergleichende Psychologie: Ein Forschungsleitfaden“ Stefan Strohschneider Prof. Dr., Fachgebiet Interkulturelle Wirtschaftskommunikation, Friedrich-Schiller-Universität Jena Die Kulturvergleichende Psychologie entstand in den 60er und 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts als Versuch, absolutistische Forschungstraditionen in der Psychologie aufzubrechen und einem naiven Positivismus entgegenzuwirken, der die Ergebnisse einer Untersuchung im heimatlichen (vor allem US-amerikanischen) Labor ganz unreflektiert als psychologisches Grundgesetz zu behandeln bereit war ( Jahoda 1990). Dementsprechend war eines der vornehmsten Ziele dieses Unternehmens das Explorieren und Testen – das Erkunden der Vielfalt menschlichen Erlebens und Verhaltens und die Prüfung der Gültigkeit vermeintlich universeller Gesetze in anderen kulturellen Kontexten. Diesem recht fröhlich vorgetragenen Angriff auf den kulturignoranten Mainstream psychologischer Forschung gelangen zunächst eine Reihe spektakulärer Erfolge, beispielsweise Marshall Segalls Nachweis, dass die Müller-LyerTäuschung – eine der heiligen Kühe der Wahrnehmungspsychologie – in Lebenswelten, in denen es keine rechten Winkel gibt, nicht nachweisbar ist (Segall / Campbell / Herskovits 1966). Das machte Schule. Es folgten, wie üblich, die Gründung einer Fachgesellschaft, einer eigenen Zeitschrift, regionaler und internationaler Kongresse usw. Trotzdem gelang es der Kulturvergleichenden Psychologie nie, so richtig ernst genommen zu werden. Das hatte und hat verschiedene Gründe. Viele Psychologen glauben, nur dann richtige Wissenschaftler zu sein, wenn sie die Phänomene, die sie interessieren, sauber messen können. Das Messen von Einstellungen, Werten oder Verhaltensweisen ist aber schon im eigenen Labor, wo man die meisten Störvariablen unter Kontrolle hat, recht schwierig. Die Schwierigkeiten potenzieren sich natürlich, wenn man mit Forschungspartnern (wie das so schön heißt) arbeitet, die noch nie ein Labor gesehen haben, die nicht wissen, wie ein Fragebogen oder ein Test funktioniert und die sich einfach weigern, bestimmte Verhaltensweisen aufzuführen, wenn ein Forscher mit Kamera danebensteht. Kulturvergleichende Psychologie gilt daher methodischen Sauberkeitsfanatikern als inhärent schmutzig. Ein zweiter Grund liegt sicherlich in der aktuellen Dominanz der neurowissenschaftlichen Perspektive auch in der Psychologie. Für jemanden, der Theorien über Aktivitätsmuster in bestimmten Regionen des Neocortex entwickelt, sind Kulturunterschiede bestenfalls Oberflächengekräusel, das man nicht wirklich ernst nehmen muss. Und aus der Perspektive der Kulturwissenschaften schließlich macht sich die Kulturvergleichende Psychologie trotz allem der Sünde der unzulässigen Vereinfachung schuldig, indem sie hochkomplexe Bedeutungsstrukturen und 105 Prozessdynamiken in billige, dekontextualisierte Variablen zu pressen versucht (außerdem versteht man die Veröffentlichungen wegen vielen multivariaten Statistik nicht)1. Schade eigentlich. Aus der Sicht der Interkulturellen Kommunikation nämlich hat die Kulturvergleichende Psychologie Vieles anzubieten, was weit über die Hofstede’schen Wertedimensionen hinausgeht. Das gilt beispielsweise für Studien über das alte, bei weitem noch nicht gelöste Problem des Verhältnisses von Sprache und Denken, das gilt für Untersuchungen zur Kulturabhängigkeit von Problemlösestilen, zur unterschiedlichen Wichtigkeit verschiedener Motive, das Empfinden und Zeigen von Gefühlen, die ganze Palette sozialen Handelns, bis hin zur Frage ob es nicht doch so etwas wie einen Nationalcharakter gibt (von dessen Existenz man ja in außerwissenschaftlichen Kreisen überzeugt ist). Theorie und Praxis der Interkulturellen Kommunikation könnten von kulturvergleichenden Befunden zu solchen und anderen Themen enorm profitieren – wenn sie denn in griffiger Form verfügbar wären. Zumindest im deutschen Sprachraum allerdings ist die Lage düster. Die äußerst verdienstvolle „Kulturvergleichende Psychologie“ von Alexander Thomas (1993) ist mittlerweile fast 20 Jahre alt und die rund 2000 Seiten der drei kulturvergleichenden Psychologie gewidmeten Bände der Enzyklopädie der Psychologie2 sind zwar deutlich jünger und ein immenser Schatz, dürften aber für Nichtpsychologen eher abschreckend wirken (im englischen Sprachraum sieht die Situation übrigens nicht sehr viel anders aus3). Umso erfreuter ist man also, wenn nun in einem renommierten Verlag ein neues Lehrbuch „Kulturvergleichende Psychologie“ erscheint, dessen Untertitel „Ein Forschungsleitfaden“ Hilfe zur Bewältigung der notorischen methodischen Probleme verspricht. Petia Genkova hat ihr Buch in sechs Hauptkapitel gegliedert, wobei das erste naturgemäß der Gegenstandsbestimmung dient. Hier findet man eine Zusammenstellung verschiedener Definitionen von Kulturvergleichender 106 Psychologie (KvP), den Versuch der Abgrenzung von KvP und Kulturpsychologie (die, nicht vergleichend, nach dem Verhältnis von Kultur und Psyche fragt), man findet eine Diskussion des Kulturbegriffs und schließlich eine bunte Sammlung von Paradigmen und Forschungsansätzen. Das sehr umfangreiche zweite Kapitel behandelt einige der methodischen Probleme kulturvergleichender Forschung. Hier findet man eine Diskussion der klassischen Gütekriterien, die Darstellung inferenzstatistischer Methoden in der kulturvergleichenden Forschung4, einige Aussagen zu Problemen der Stichprobenzusammenstellung und eine Übersicht über qualitative Verfahren. Die verbleibenden Kapitel sind dagegen eher inhaltlich orientiert. Das dritte fragt nach der Existenz universeller kultureller Muster und man liest hier z. B. (wenig überraschend) von der Struktur von Wertsystemen, aber auch (eher überraschend) über den Nationalcharakter. Das nächste Kapitel setzt sich – recht kritisch – mit der in der kulturvergleichenden Forschung dominierenden Dimension von Individualismus und Kollektivismus auseinander und dann folgt (sehr überraschend) ein Kapitel über Autoritarismus, ein Konzept, das vor 40 Jahren en vogue war, in der aktuellen Forschungslandschaft aber überhaupt keine Rolle mehr spielt. Das sehr kurze abschließende Kapitel schließlich beschäftigt sich mit der „subjektiven Kultur“. Eine Kritik des Bandes kann bereits an der Gliederung ansetzen: Von einem „Forschungsleitfaden“, wie es der Untertitel verheißt, würde man eigentlich eine strukturierte Anleitung zur Durchführung empirischer Untersuchungen erwarten. Von der Auswahl und Eingrenzung geeigneter Themen und passender Forschungsstrategien bis hin zur Interpretation empirischer Befunde – und dies alles unter Berücksichtigung der spezifischen Probleme kulturvergleichender Arbeit. Eine derartige Orientierung bietet der Band nicht, auch wenn das Methodenkapitel dem statistisch und messtheoretisch vorgebildeten Leser einige Anregungen zumindest zur Konstruktion von Messinstrumenten vermitteln wird. Ein „Lehrbuch“, interculture j ourna l 11/19 ( 2 0 1 2 ) wie es der Reihentitel verheißt, ist der Band andererseits auch nicht. Von einem Lehrbuch würde man ja neben methodischen Handreichungen vor allem einen Überblick über die wesentlichen Forschungsfelder und Befunde erwarten. Die Autorin schreibt selbst (Genkova 2012:49), dass die KvP in den Forschungsfeldern „Entwicklung, Intelligenz, Persönlichkeit, Kognition, Sprache, Emotionen, Wahrnehmung, soziales Verhalten, Motive [usw., S.S.]“ verankert wäre – nichts davon findet sich im Text. Nun wäre das vielleicht alles nicht so schlimm, wenn die Darstellung der theoretischen, konzeptionellen und methodischen Grundlagen der KvP, um die es der Autorin vor allem zu gehen scheint, gelungen wäre. Hier allerdings enttäuscht der Text, der sich durchgängig als vollkommen unstrukturierte Nebenordnung von Themen, Thesen und Inhalten erweist. Besonders schmerzlich ist dies in der einleitenden bunten Sammlung von Paradigmen und Forschungsansätzen der KvP. Das beginnt mit dem ethnografischen Ansatz und geht über Soziobiologie, die soziokulturelle Schule, den ökokulturellen Ansatz und vieles andere bis hin zu etwas, was sich integrativer Ansatz nennt. Alles dieses wird unverbunden nebeneinander gestellt, manchmal mit 10 Zeilen abgehandelt, manchmal mit drei Seiten und dürfte den Leser insgesamt ziemlich ratlos zurücklassen. Eine vergleichende Betrachtung, eine Diskussion der metatheoretischen Hintergründe der verschiedenen Positionen, ihrer Stärken und Schwächen unterbleibt. Ihre eigene Position präsentiert die Autorin dann relativ unvermittelt am Ende das Kapitels: „Der einzige Weg, diese Komplexität [von Kultur, S.S.] empirisch zu verifizieren, ist, mit sehr genauen, konkreten, operationalisierbaren Konstrukten zu arbeiten. Dann [sic!, S.S.] sind auch Vergleichbarkeit und Universalität der Ergebnisse gewährleistet“ (Genkova 2012:50). Man fragt sich schon, warum man sich durch die 50 Seiten davor durchgekämpft hat, wenn das Ergebnis ein derartig schlichter induktiver Positivismus ist, der die aktuellen Diskussionen um den Kulturbegriff und die Methoden der Kulturforschung, die in der Ethnologie, der Kulturanthropologie und nicht zuletzt der Interkulturellen Kommunikation geführt werden, auch nicht ansatzweise rezipiert5. Die mangelhafte Strukturierung des Textes zeigt sich auch in den reichlich über den Text verstreuten grau unterlegten Kästen und Zwischentexten, deren Funktion nicht klar wird. Manchmal führen diese einen völlig neuen Sachverhalt ein, manchmal erklären sie einen Begriff, manchmal fassen sie zusammen, manchmal erläutern sie eine Untersuchung oder eine Methode. So findet man rätselhafte Formulierungen wie „Individualismus / Kollektivismus sind Konstrukte auf Kulturebene, die eine Rubrik von Mustermerkmalen repräsentieren“ (Genkova 2012:146) ebenso grau unterlegt wie eine unkommentiert dargebotene Serie von Programmanweisungen für das Statistikpaket SPSS (ebd.:79). Dazu gesellen sich verschiedene inhaltliche Probleme. Beispielsweise ist die Frage nach der Zusammenstellung vergleichbarer Stichproben – anders als auf Seite 88 behauptet – eines der größten Rätsel inferenzstatistisch angelegter kulturvergleichender Forschung überhaupt. Viele empirische Untersuchungen arbeiten mit Studenten in ihren ersten Studiensemestern als Probanden. Das mag bei einem Vergleich Deutschland – Großbritannien akzeptabel sein, da in beiden Ländern ein ähnlicher Prozentsatz an jungen Menschen eines Jahrgangs die Universität besucht. Im Vergleich Deutschland – USA wird das schon schwieriger und bei einem Ländervergleich, bei dem in einem Land nur 4 Prozent (statt 40 Prozent) eines Jahrganges eine Hochschule besuchen, sinnlos. Man könnte über Strategien nachdenken, wie man mit solchen forschungspraktischen Problemen umgeht, man könnte Anleihen bei empirisch arbeitenden Nachbardisziplinen (kognitive Anthropologie, Linguistik, Volkskunde / Kulturgeschichte) machen, man könnte die relativen Erkenntnisbeiträge qualitativer und quantitativer Verfahren in diesem Zusammenhang neu interpretieren – aber man findet nichts davon in diesem 107 Buch; Genkova bleibt innerhalb ihrer sehr engen disziplinären Grenzen. Matsumoto, D. (2012): Culture and Psychology. New York: Oxford University Press. Vollends ärgerlich schließlich wird das Buch durch die bestenfalls als schlampig zu bezeichnende Lektorierung: Man findet falsch geschriebene Fachbegriffe („Substentiell“, Genkova 2012:35, „dichotomische Daten“, ebd.:77), man liest auf S. 11 oben und S. 13 unten zweimal denselben Absatz (wobei aber offenbar copy-and-paste-Fehler passiert sind), man stolpert immer wieder über sinnlose Sätze („Die adäquate Repräsentation einer Population vermutet Stratifikation“, ebd.:88) oder zumindest stilistisch grob fehlerhafte („Eine der wichtigsten Methoden, um Kulturen zu analysieren, stellt die Untersuchung zur Überprüfung der Art und Weise der wertenden oder konnotativen Meinungen der Menschen, wie Wörter gebraucht werden, dar.“ ebd.:138). Es handelt sich bei diesen Zitaten keineswegs um böswillig herausgepickte Einzelfälle, derartige Verschwurbelungen durchziehen den gesamten Text. Es ist dem Rezensenten unverständlich, warum ein als „Lehrbuch“ beworbenes Werk verlagsseitig offenbar nicht einmal ansatzweise korrigiert worden ist. Matsumoto, D. (2001): Handbook of culture and psychology. New York: Oxford University Press. Der Band „Kulturvergleichende Psychologie – ein Forschungsleitfaden“ wird wegen derartiger Mängel auch bei eingefleischten Statistikfreunden wenig Freude erzeugen, auf Studierende, Forscher und Praktiker der Interkulturellen Kommunikation wird er abschreckend wirken. Schade – Chance vertan. Literatur Berry, J. W. / Poortinga, Y. H. / Pandey, J. (1997): Handbook of Cross-Cultural Psychology. Boston: Allyn & Bacon. Genkova, P. (2012): Kulturvergleichende Psychologie: Ein Forschungsleitfaden. Wiesbaden: Springer Lehrbuch, VS Verlag für Sozialwissenschaften. Jahoda, G. (1990): Variables, systems and the problem of explanation. In: van de Vijver, F. J. R. / Hutschemaekers, G. J. M. (Hrsg.): The investigation of culture. Current issues in cultural psychology. Tilburg: Tilburg University Press, S. 115-130. 108 Segall, M. H. / Campbell, D. T. / Herskovits, M. J. (1966): The influence of culture on visual perception. Indianapolis: BobbsMerrill. Thomas, A. (1993): Kulturvergleichende Psychologie: Eine Einführung. Göttingen: Hogrefe. Trommsdorff, G. / Kornadt, H.-J. (2007):, Enzyklopädie der Psychologie, Themenbereich C, Serie VII: Kulturvergleichende Psychologie. Band 1: Theorien und Methoden der kulturvergleichenden Psychologie; Band 2: Erleben und Handeln im kulturellen Kontext; Band 3: Anwendungsfelder der kulturvergleichenden Psychologie. Göttingen: Hogrefe. van de Vijver, F. J. R. / Leung, K. (1997): Methods and data analysis for cross-cultural research. London: Sage. Endnoten 1. Wenigstens der ebenfalls oft erhobene Vorwurf, die kulturvergleichende Psychologie setze Kultur ganz unhinterfragt mit Nation gleich und müsste eigentlich ländervergleichende Psychologie heißen trifft nicht mehr ganz zu. Hier ist ein vorsichtiges Umdenken zu beobachten, demzufolge auch Untersuchungen an subnationalen Kollektiven kulturvergleichend sein können. 2. Gisela Trommsdorff und Hans-Joachim Kornadt (Hrsg.), Enzyklopädie der Psychologie, Themenbereich C, Serie VII: Kulturvergleichende Psychologie. Band 1: Theorien und Methoden der kulturvergleichenden Psychologie; Band 2: Erleben und Handeln im kulturellen Kontext; Band 3: Anwendungsfelder der kulturvergleichenden Psychologie. Göttingen: Hogrefe 2007. 3. Der einschlägige Klassiker stammt aus dem Jahre 1997 ( J.W. Berry, Y.H. Poortinga & J. Pandey (Eds). Handbook of CrossCultural Psychology. Boston: Allyn & Bacon; 3 Bände); ebenfalls weitverbreitet ist das Handbuch von David Matsumoto (Matsumoto, D. (Ed.). Handbook of culture and psychology. New York: Oxford University Press), ursprünglich 2001, in der 5. Auflage 2012 unter dem Titel „Culture and Psychology“. interculture j ourna l 11/19 ( 2 0 1 2 ) 4. In diesem Abschnitt lehnt sich die Autorin sehr eng an eine vielzitierte Arbeit von van de Vijver und Leung an (van de Vijver, F. J. R. & Leung, K. (1997). Methods and data analysis for cross-culturalre-search. London: Sage.) Genkova, Petia (2012): Kulturvergleichende Psychologie: Ein Forschungsleitfaden. Wiesbaden: Springer Lehrbuch, VS Verlag für Sozialwissenschaften. 238 Seiten. Preis 24,95 EUR. ISBN 978-3-531-18117-2. 5. Vielleicht hat das auch damit zu tun, dass das Buch vor allem auf Arbeiten basiert, die von den Vorreitern des Faches (Berry, Triandis, Segall und anderen) in den 80er und 90er Jahren des 20. Jahrhunderts publiziert wurden. Eine Durchsicht des Literaturverzeichnisses zeigt, dass es nur ganz vereinzelt Referenzen gibt, die eine 2 als erste Ziffer des Erscheinungsjahres haben. Die oben erwähnten Enzyklopädiebände scheinen der Autorin entgangen zu sein. 109 110 interculture j ourna l 11/19 ( 2 0 1 2 ) Rezension Review Hilal Sezgin „Deutschland erfindet sich neu. Manifest der Vielen“ Susanne Stemmler „Multikultur 2.0. Will-kommen im Einwanderungsland Deutschland“ Sara Dirnagl Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für interkulturelle Kommunikation und Konfliktforschung an der Universität der Bundeswehr München Im Jahr 2010 löste Thilo Sarrazin mit seinem Buch „Deutschland schafft sich ab“ eine Debatte in Deutschland aus, deren Teilnehmerinnen und Teilnehmer sich häufig in die Fangemeinde einreihten, weil endlich jemand den Mut habe, die Dinge zu benennen wie sie sind. Wie aber kann es sein, dass ein deutlich auf Rassismen beruhendes Buch derartigen Zuspruch und größte Aufregung verursacht? Wie kommt es, dass gerade dieses Werk eine Migrationsdebatte auslöst? Spiegelt es tatsächlich die Meinung einer Mehrheit und welche Alternativen gibt es in der Beschreibung von kultureller Vielfalt? Mit diesen und weiteren Fragen beschäftigen sich zwei Sammelbände, die die gängigen Diskussionen um Migration und Integration aufgreifen und aus verschiedenen Perspektiven beobachten und analysieren. Wie schon der Titel „Deutschland erfindet sich neu“ suggeriert, ist der von Hilal Sezgin herausgegebene Band dabei als Antwort auf Sarrazins Thesen und die dadurch offenbar werdende Debatte zu verstehen. Diese sei, so die Autorinnen und Autoren, einseitig polemisch und zeichne sich insbesondere durch pauschale Kategorisierungen und eine fehlende Gleichberechtigung innerhalb der Diskussion aus. Wenn in der Öffentlichkeit eine Diskussion über bestimmte Mitglieder der Gesellschaft geführt wird und dabei essentialistische Gruppen- und Fremdzuschreibungen zu einer verstärkten Abgrenzung führen, dann ist es von besonderer Bedeutung auch diejenigen zu Wort kommen zu lassen, die jene Fremdzuschreibung selbst erfahren. Das Buch setzt sich daher aus unterschiedlichsten Artikeln einer Autorenschaft zusammen, die sich als „im weitesten Sinne muslimische Intellektuelle“ (Peters 2011:9) vorstellt. Autorinnen und Autoren aus Kultur, Wissenschaft und Politik kommen zu Wort, um ihre eigene Sicht zu beschreiben. Dabei zeigen viele das Dilemma auf, in dem sie sich immer wieder befinden: die Diskrepanz zwischen einer ihnen auferlegten Fremdzuschreibung und tatsächlicher Individualität. Das Ergebnis ist eine umfangreiche Sammlung persönlicher Erfahrungen und Reflektionen der durch die genannte Debatte entstehenden oder in ihr sichtbar werdenden Probleme. Begründete Kritik äußern sie insbesondere an der diffusen Nutzung von Begrifflichkeiten und die dadurch entstehende Reduzierung von Individuen auf einzelne Merkmale. So beispielsweise die Gleichsetzung von Kultur, Religion und Ethnizität oder von Migrant und Muslim. Des Weiteren wird die Unmöglichkeit eines Vergleichs zwischen etischen, zumeist negativ 111 besetzten Beschreibungen des Islams einerseits und einer emischen Definition des Deutschseins andererseits aufgezeigt. Mittels einer mediengestützten Popularisierung von Ängsten würden Mitglieder der Gesellschaft auf diese Weise herabgesetzt und ihr produktiver Einfluss auf die Gemeinschaft missachtet. Integration erschiene so als leerer Begriff, der lediglich eine einseitige Assimilation an die Mehrheit fordert. Die Motivation zum von Susanne Stemmler herausgegebenen Buch „Multikultur 2.0. Willkommen im Einwanderungsland Deutschland“ entstand ursprünglich bei dem 2009 durchgeführten internationalen Kongress „Beyond multiculturalism? Fragen an die Einwanderungsgesellschaft“ des Hauses der Kulturen der Welt in Berlin. Die nun vorliegende zweite Auflage fügt sich zeitlich und thematisch passend in eine Zeit, in der das Thema Migration in Deutschland besonders intensiv diskutiert wird. Im Vergleich zum eben vorgestellten Werk, ist sie stärker wissenschaftlich ausgerichtet und stellt eine differenziertere Sicht auf Deutschland als Einwanderungsland und die Entwicklung und Nutzung des viel diskutierten Begriffs der Multikultur dar. Es finden sich theoretische Diskussionen neben konkreten Handlungsvorschlägen und vielen Beispielen aus Deutschland sowie im internationalen Vergleich. Die interdisziplinäre Zusammensetzung der Artikel gibt so einen Überblick über die bisherige Forschung und zeigt mögliche Anknüpfungspunkte für künftige Projekte auf. Auch hier werden die Schwierigkeiten der aktuellen Debatte analysiert und versucht, neue Konzepte des Zusammenlebens zu entwerfen. So scheint es insbesondere an einem zu statisch und essentialistisch ausgelegten Kulturbegriff sowie einer uninformierten Kategorisierung zu liegen, dass sich Debatten dauerhaft durch eine festgeschriebene Dichotomie von Wir und die Anderen auszeichnen. Der Multikulturalismus als politisches Programm nach US-amerikanischen Vorbild sei weder vollständig umgesetzt worden noch seien die entsprechenden Erfolge der heutigen Zeit angemessen. Soziale Gerechtigkeit, gleichberechtigte 112 Teilhabe und Partizipation müssten genauso in der Gesellschaft implementiert werden, wie ein grundlegendes Umdenken hinsichtlich der Diversität im eigenen Land. Ein geschlossener Blick auf Migration, der dieses Phänomen stets als regionales Phänomen verstehe, ließe kein Umdenken dabei zu. Obwohl sich die zwei vorgestellten Sammelbände thematisch stark ähneln und gemeinsame Argumentationstendenzen aufweisen, so unterscheiden sie sich doch in der Form. Während Hilal Sezgin mit ihrem Buch ein emotionsgeladenes Werk präsentiert, in dem viele Autorinnen und Autoren zu Wort kommen, die sich selbst direkt von der gegenwärtigen Situation in Deutschland betroffen fühlen, so ist „Multikultur 2.0“ mit mehr emotionalem Abstand und wissenschaftlicher Klarheit geschrieben. Das begründet sich in den jeweils verschiedenen Intentionen und findet dementsprechend seine Berechtigung. Es lässt sich jedoch fragen, ob es zielführend ist, einerseits die essentialistischen Kategorien der Debatte zu enttarnen, andererseits jedoch ein Buch zu veröffentlichen, in welchem lediglich muslimische Autorinnen und Autoren zu Wort kommen. Denn genau genommen handelt es sich dabei wieder um eine Reproduktion der kategorischen Einteilung und somit um eine implizite Unterstützung des kritisierten Machtdiskurses. Das Vorstellen neuer Forschungsansätze und Perspektiven ist in beiden Büchern relevant, scheint aber nicht das zentrale Anliegen zu sein. So soll im „Manifest der Vielen“ denjenigen ein medialer Raum gegeben werden, die nach Meinung der Autorenschaft in der öffentlichen Debatte eher marginalisiert werden. In Susanne Stemmlers Buch hingegen findet sich ein Überblick über ein weitgefasstes Forschungsfeld, das interdisziplinär und international Beachtung findet und unter anderem eine veränderte Wahrnehmung der Gegenwart anstrebt. Beide Werke können einige namhafte Autorinnen und Autoren aufweisen und geben gemeinsam aus unterschiedlichen Perspektiven einen guten Überblick über eine aktuelle interculture j ourna l 11/19 ( 2 0 1 2 ) Sezgin, Hilal (2011): Deutschland erfindet sich neu. Manifest der Vielen. Berlin: Blumenbar Verlag. 232 Seiten. Preis: 12,90 EUR. ISBN 978-3-936738-74-2. Stemmler, Susanne (2011): Multikultur 2.0. Willkommen im Einwanderungsland Deutschland. Göttingen: Wallstein Verlag. 336 Seiten. Preis: 19,90 EUR. ISBN 978-3-8353-0840-4. Debatte. Sie ermöglichen es dem Leser / der Leserin den Blick zu öffnen und können sehr gute Diskussionsimpulse für verschiedene Themen der interkulturellen Kommunikation liefern (so beispielsweise zu den Themen Selbstund Fremdbild, Migration, Identitäten, Kultur und Religion, Multikultur, Transkultur, Postkolonialismus, Medienkommunikation, Grenzen, Kulturwandel, u. v. m.). Beschäftigt man sich mit der Migrationsdebatte in Deutschland, so sollten diese beiden Bücher Beachtung finden. Literatur Peters, C. (2011): Geleitwort. In: Sezgin, H. (Hrsg): Deutschland erfindet sich neu. Manifest der Vielen. Berlin: Blumenbar Verlag, S.7-10. 113 interculture j ourna l jahr 2012 jahrgang 11 ausgabe 19 herausgeber jürgen bolten stefanie rathje url interculture-journal.com