schwere Stelle schwer? macht eine

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schwere Stelle schwer? macht eine
Werkstatt
Gerhard Mantel
Was
macht eine
schwere Stelle schwer?
Gerhard Mantel ist Professor für Cello an der Hochschule für
Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt am Main.
in großer Teil der Übezeit an einem Instrument ist der Arbeit an schweren
Stellen gewidmet. Was aber ist eigentlich
an einer schweren Stelle schwer? Bei
einer schweren Stelle überlagern viele
Parameter einander gleichzeitig. Manche
von ihnen sind bewusst wahrnehmbar,
andere nicht. Das folgende Arbeitsbeispiel erscheint auf den ersten Blick nicht
besonders kompliziert, doch sind es ge-
E
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Übestrategien zur Bewältigung
technischer Probleme
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rade die „latenten“ Komplexitäten, die
eine Stelle schwer machen können. Ich
möchte versuchen, verschiedene Übestrategien darzustellen, die solche Komplexitäten aufdecken können, um damit
eine „schwere Stelle“ systematisch zu
meistern.
Die Leserinnen und Leser werden gebeten, den vorgeschlagenen Fingersatz aus
Gründen der Demonstration zu akzeptieren; es gäbe jedoch selbstverständlich
auch noch andere Möglichkeiten. Der
Ausschnitt stammt aus der ArpeggioneSonate a-Moll von Franz Schubert in der
Cello-Version (NB 1). Nicht-Cellisten können die aus den jeweiligen Aufgabenstellungen sich ergebenden methodischen
Schlussfolgerungen auf ihr Instrument
übertragen, auch dort, wo sie die instrumentalen Beschreibungen nicht genau
verfolgen können.
Der Schwerpunkt meiner Darstellung
liegt auf der beschreibbaren Komplexität
einer Passage für die linke Hand. Es würde den Rahmen sprengen, Grundfunktionen wie Handstellung, Ausdrucksbewegungen, Fragen der Dynamik und der
Klangqualität etc. miteinzubeziehen. Erwähnt sei aber als Ausblick doch, dass
beim Spielen eines Instruments die körperliche, die emotionale und die mentale
Ebene immer miteinander vernetzt sind.
Angesichts der sehr unterschiedlichen
Voraussetzungen, die jeder Spieler und
jede Spielerin mitbringt, ist es denkbar,
dass beim einen eine einzige der beschriebenen Übevarianten bereits das
Problem dieser Stelle löst, während bei
einer anderen erst mehrere verschiedene
Anläufe aus unterschiedlichen Richtungen zum Erfolg führen. Die hier aufgezeigten methodischen Optionen eignen
sich übrigens besonders gut für das
mentale Üben.
Viele Übende überfordern bei der Arbeit
ihre Aufmerksamkeit, und zwar sowohl
wegen der vorliegenden Häufung der Parameter als auch wegen der reinen Menge der zu verarbeitenden Elemente (=
Töne). Wir müssen also unser Material
so aufteilen, dass die einzelnen Portionen überschaubar bleiben, dass man
„nicht mehr in den Mund schiebt, als
man auch kauen kann“.
Zur besseren Verständigung wurden die
Viertel im Notenbeispiel 1 nummeriert;
die je vier Sechzehntel erhalten ebenfalls
die Nummern 1-4, sodass z. B. 5,2 für
das zweite Sechzehntel des Viertels Nr.
5, Daumen auf g', steht. (Die Takte 3 und
4 sind identisch mit 1 und 2 und deshalb
nicht nummeriert.) Die meisten Spieler
werden zunächst einmal versuchen, die
Stelle viele Male durchzuspielen, um sie
überhaupt kennen zu lernen. Dies ist sicher am Anfang sinnvoll, verliert aber
bald seinen Nutzen: Das Üben „nach
dem Prinzip Hoffnung“ kann ab einem
bestimmten Punkt die rein technische
Qualität einer Stelle nicht mehr verbessern. Es stellt sich sogar heraus, dass bei
einer massierten Wiederholung das Resultat wieder schlechter werden kann.
In einer Umfrage, die Christina Schonk
als Magisterarbeit an der Musikhochschule Frankfurt unter Studierenden
durchführte, gaben 80 Prozent der befragten Instrumentalisten an, dass dies
ihre am meisten oder sogar ausschließlich angewendete Strategie beim Üben
ist („mal sehen, ob es nicht doch von
selbst geht“) – eigentlich ein bedauerliches Resultat angesichts so vieler lernpsychologischer Studien, individueller
Bemühungen und instrumental-pädagogischer Veröffentlichungen! Es sei eingeräumt, dass auf diese Weise eine Stelle
bis zu einem gewissen Grad rein motorisch erlernbar ist. Die unzähligen Wiederholungen führen aber dazu, dass
schließlich beim leisesten Versuch einer
Modifikation, sei sie technisch oder musikalisch motiviert, die ganze Stelle zusammenbricht.
Schwierigkeitsparameter
Versuchen wir einmal, ein paar Parameter aufzuzählen, die eine Stelle schwer
machen können.
1. Analogiefallen: Musikalisch ähnliche
Stellen verleiten dazu, motorische Ähnlichkeiten zu erzeugen – auch da, wo sie
wegen der Eigenart des Instruments
nicht realisierbar sind. So entstehen motorische Versuchungen in Form von „Beinahe-Innervationen“, die den glatten Bewegungsablauf stören. Dies ist bei allen
sequenzartigen Gebilden der Fall, auch
auf ganz engem zeitlichen Raum – und
Musik besteht zu einem großen Teil aus
Sequenzen!
2. Ungewöhnliche Finger-Kombinationen
können auftreten, ohne dass sie als sol-
che erkannt werden. Bei Streichern gibt
es für vier Spielfinger nur sechs grundsätzliche Anordnungsvarianten, von denen allerdings einige stark dominieren
(auf- und absteigende Tonleitern, 1-2-34, 4-3-2-1), andere viel seltener vorkommen (1-3-2-4, 4-2-3-1, 1-2-4-3, 1-3-4-2).
Beim Cello kommen noch die entsprechenden sechs Folgen (ø-1-2-3 etc.) hinzu. Alle anderen Viererfolgen (ohne Fingerwiederholung) sind Ableitungen (als
Verschiebungen) hiervon. Bei einer
schweren Stelle kann es z. B. sein, dass
eine Spielerin die Folge ø-1-3-2 nicht als
automatisch ablaufendes Schema beherrscht. So entstehen „unerklärliche“
Blockaden.
3. Wenn ein Finger innerhalb einer
schnell ablaufenden Stelle einmal auf
einem rhythmischen Schwerpunkt vorkommt (z. B. dem ersten von vier Sechzehnteln), dann wieder auf einem
„Leichtpunkt“ (z. B. dem „schwachen“
zweiten oder vierten Sechzehntel), können ebenfalls Fingerblockaden entstehen.
4. Wechselnde Fingerabstände (eng – gestreckt), also wechselnde Fingerplätze
bei analogen rhythmischen Plätzen können ebenfalls den Fluss stören, wenn sie
nie bewusst gemacht wurden. Der erste
Takt im Notenbeispiel 2 ist zunächst
„einfacher“ zu denken und zu spielen als
der zweite.
5. Wenn bei einem Fingerwechsel ein
fühlbarer Impuls des Spielfingers fehlt,
kann dies den Ablauf erheblich stören.
Dies ist der Fall, wenn bei Abwärtsintervallen der betreffende Finger schon (richtig) liegt: Dann wird der rhythmische Impuls für diesen Ton im Allgemeinen nicht
von dem Finger erzeugt, der ihn spielt,
sondern (durch Aufheben) von dem davor gespielten, also immer einem anderen als dem Spielfinger. Bei allen Streichern trifft dies vor allem für die leere
Saite, zum Teil auch für den ersten Finger, beim Cello und Kontrabass außerdem noch für den Daumen zu. Durch den
fehlenden Impuls kann die Empfindung
einer Tonkette zerrissen werden, z. B. 2ø-1-3. Dem Daumen-Ton entspricht dann
meist kein Impuls in der Hand, er liegt ja
schon da. (Man kann einen Impuls natürlich „künstlich“ erzeugen, durch kleine
Druckerhöhung oder einen Zug des Daumens nach links, also nach außen).
Werkstatt
Schleppnetzstrategie
NB 1
NB 2
NB 3
NB 4
zu verwenden: Man spielt die letzten Töne einer Passage und fügt dann für die
folgenden Übedurchgänge jeweils einen
davorliegenden Ton hinzu.
4. Einen beachtlichen mentalen Aufwand
erfordert es zunächst, bei schnellen Stellen den Taktstrich um einen Ton (auch
zwei oder drei Töne) zu verschieben (NB
4): Man gewinnt dabei einen vollkommen neuen Blickwinkel auf eine Stelle,
ohne dass sich in Rhythmus oder Tonfolge irgendetwas ändert.
5. Eine ähnliche Wirkung (bei etwas geringerer mentaler Anstrengung) hat die
Methode der unterschiedlichen rhythmischen Empfindung von Auftakten: Ich kann
ein, zwei oder drei Sechzehntel deutlich
als Auftakt empfinden und erzeuge so jeweils eine ganz neue Übevariante.
Es gibt jedoch auch die umgekehrte
Möglichkeit, den Kern der jeweiligen
Schwierigkeit direkt, sozusagen „maßge-
schneidert“ anzugehen, ohne den Text
dabei zu verändern. Dies erfordert die
Fähigkeit, die Frage nach dem Grund des
Problems zu stellen und zu beantworten,
also eine gewisse Diagnosefähigkeit für
jeweils ganz unterschiedliche Gründe
von Schwierigkeiten zu entwickeln.
Regeln innerhalb der
Struktur suchen
Der Ansatz zu dieser Strategie heißt: Ich
versuche, innerhalb einer Stelle Sachverhalte zu beschreiben, Regeln ihres Aufbaus zu finden, die es mir erlauben, mit
der Methode der „Rotierenden Aufmerksamkeit“ mich jeweils auf nur einen einzigen Aspekt der Stelle zu konzentrieren.
Für das Schubert-Beispiel seien hier einige solcher beschreibbarer Sachverhalte
aufgeführt.
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Wir haben zwei grundsätzlich verschiedene Strategien zur Verfügung, schwere
Stellen zu üben. Die erste möchte ich
„Schleppnetzstrategie“ nennen. Ich verändere dabei mein Material so, dass es
dann, wie ich hoffe, „von selbst“ technisch verbessert wird, ohne dass die Aufmerksamkeit darüber hinaus auf ein bestimmtes Detail gerichtet wird. Hier einige Beispiele für die Schleppnetzstrategie, die jeweils unterschiedliche Grade
von Konzentration erfordern.
1. rhythmische Varianten: eine StandardÜbemethode mit recht ungewissem Erfolg. Denn es gibt durchaus schwere
Stellen in der Literatur, die durch simple
Punktierungsvarianten nicht nur schwerer, sondern auch schlechter, oft sogar
endgültig verkrampft werden. Rhythmische Varianten sind hingegen da sinnvoll, wo eine Reihe schneller Töne mit einer kleinen Ruhepause abwechselt wie
z. B. in Notenbeispiel 3.
2. Metronom: Die klassische Methode,
eine schnelle Passage zunächst sehr
langsam, dann mit dem Metronom in
kleinen Stufen allmählich immer schneller zu üben, hat im Allgemeinen ebenfalls einen gewissen Übeerfolg. Anzumerken ist dabei, dass eine schnelle Tonfolge etwas prinzipiell, nicht nur graduell
anderes ist als eine (beschleunigte) Folge von zunächst langsam gespielten Tönen, bei der ja vor jedem Ton eine Entscheidung gefällt werden kann. Langsames Üben hat natürlich zunächst seinen
Wert als „Sammelmethode“ für die reine
Textinformation. Es ist jedoch oft besser,
bei Schwierigkeiten die Portion zu verkleinern als das Tempo zu drosseln.
Denn manches Problem kann bei langsamem Spiel nicht gelöst werden, weil es
gar nicht auftritt. Hier geht es ja um die
Qualität der Tongruppe, nicht um die des
Einzeltons.
3. Carl Flesch empfielt eine Methode, bei
der von einer schwierigen Passage eine
begrenzte Reihe von Tönen gespielt wird,
bis diese Reihe „perfekt“ sitzt. Dann wird
der nächste Ton angefügt, bis die verlängerte Folge ebenfalls perfekt sitzt, dann
der nächste und so immer weiter. Als Variante hierzu empfiehlt er, diese Methode
auch umgekehrt, von hinten nach vorn
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Foto: Inken Kuntze-Osterwind
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Positionen des ersten Fingers bilden
einen E-Dur-Quartsextakkord h-e'-gis'
(9,4/10,4/11,4), nur der letzte Lagenwechsel (c'', 12,3) ist die Ausnahme.
13. Der letzte Lagenwechsel (12,3)
kommt innerhalb des Viertels einen Ton
früher als die vorherigen.
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Üben als
kreative Tätigkeit
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1. Der dritte Finger kommt überhaupt nur
ein einziges Mal vor (Ton 4,4).
2. Der vierte Finger kommt nur zweimal
am Anfang vor (Töne 1,3 und 2,2), dann
nie wieder. Man kann ihn dann sozusagen „ablegen“. Beinahe-Innervationen
sind so nicht mehr zu befürchten.
3. Die mit dem Daumen gespielten Töne
bilden ein bestimmtes rhythmisches Muster (im ersten Takt 3,1/3,4/4,2). Da der
Daumen schon daliegt, hat er zunächst
keine Impuls-Empfindung. Solche „Empfindungslücken“ lassen sich durch Auftaktempfindung und Akzentuierung ins
Bewusstsein rücken. In unserem Beispiel
entsteht durch die jeweilige Betonung
des Daumen-Tons eine „jazzige“ Akzentuierung teils auf betonten, teils auf unbetonten Tönen. („Jazzig“, weil der beat
hier nicht verlassen werden sollte.)
4. Der Abstand der Finger 1-2 ist am Anfang (auf der A-Saite) ein Halbton (Töne
1,1-2/2,3-4/3,2-3). Ab 4,1 ist der Abstand
1-2 hingegen immer ein Ganzton (4,1;
5,1; 8,1).
5. Damit ist der Abstand ø-2 als Terz
ebenfalls definiert: Am Anfang (3,3-4)
kleine Terz, ab Ton 4,1 nur noch große
Terzen für ø-2.
6. Der Abstand ø-1 ist in der ganzen Stelle immer ein Ganzton.
7. Die Position des vierten Fingers g' am
Anfang (1,3; 2,2) kann für die spätere
Verwendung des Daumens (5,2) auf dem
gleichen „Bund“ mental schon einmal
gespeichert werden.
8. Die für den vorgeschlagenen Fingersatz nötigen Saitenwechsel können wegen ihrer musikalischen „Inkongruenz“
(Saitenwechsel zuerst auf betontem Ton
4,1 und dann auf unbetontem Ton 4,4)
ebenfalls eine Störung verursachen. Sie
sollten bewusst gemacht werden, wobei
auch hier die Auftaktempfindung der Töne 4,3 und 4,4 das Bewusstsein schärft.
9. Der ganze zweite Takt zwischen den
Tönen 5,2 und 7,4 wird nur vom Daumen
und dem ersten Finger gespielt; erst bei
8,1 kommt der zweite Finger wieder vor.
Er kann unterstützt werden durch die
Vorstellung eines Auftakts des Viertels 8.
10. Auf die Lagenwechsel ab Ton 9,4 folgen jeweils Halbtöne mit dem Fingersatz
1-2. Nur auf den letzten Lagenwechsel
folgt ein Ganzton (12,3).
11. Die Serie der Lagenwechsel bildet folgendes Intervallmuster:
– 1. Lagenwechsel große Terz (10,4),
– 2. Lagenwechsel kleine Terz bzw. übermäßige Sekund (11,4),
– 3. Lagenwechsel Halbton (12,3).
12. Als Variante hierzu: Die ersten drei
Wir spielen den gewählten Ausschnitt in
einem leicht unter dem Originaltempo
liegenden Übetempo (also nicht sehr
langsam!) mit einer begrenzten Anzahl
an Wiederholungen (fünf bis sieben) unter Beachtung jeweils nur eines einzigen
dieser beschriebenen Sachverhalte: Es
gelangen dabei immer nur maximal vier,
meist aber nur drei, zwei oder gar nur ein
einziges Element (Ton) ins Zentrum unserer Aufmerksamkeit – die auf diese Weise nie überfordert wird.
Beim Wechsel zu einem neuen Aspekt
entstehen zwangsläufig Fehler als Verspieler oder Aufmerksamkeitslücken.
Diese Fehler können geradezu als Quittung für richtiges Übeverhalten angesehen werden. Sie pflegen spätestens nach
der dritten oder vierten Übe-Wiederholung zu verschwinden. Die einzelnen
Übedurchgänge dürfen wir dann getrost
vergessen – sie bilden ohne unser weiteres bewusstes Zutun neue Querverbindungen in unserem Gehirn. Die Passage
fühlt sich hinterher (wir dürfen dem Lernprozess auch ein paar Tage Zeit lassen)
einfach besser an!
Das vorliegende Beispiel kann natürlich
nur einen ganz kleinen Teil möglicher
Übemethoden beschreiben. Es zeigt jedoch, dass Üben eine ausgesprochen
kreative Tätigkeit sein kann, wenn es
nicht als gedankenlose Wiederholung,
sondern als Erforschung und Entdeckung
struktureller Zusammenhänge betrieben
wird. Über die musikalische Interpretation einer Stelle ist damit zunächst noch
nichts ausgesagt; es erweist sich aber in
vielen Fällen, dass eine solche technische Strukturierung wichtige Hinweise
auch auf die musikalische Darstellung einer Passage ergeben kann.