Das komplette Altpapier - Auszüge aus den Werken von Gunar Musik

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Das komplette Altpapier - Auszüge aus den Werken von Gunar Musik
Iris Geiger-Musik
Gunar Musik
Das komplette Altpapier
Roman
2. Auflage 2008 © Geiger-Musik & Musik
ISBN 978-1-4092-3990-1
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Inhalt
Einleitung – Danach
Verführung – Mai 1970
Brainstorm No. 9 - Waiting for my man - Theater der Grausamkeit Some kind of love - Riders on the storm
Traummann – ein Mann wie Oma
1972 - Misserfolgsstrategien 73-76 - Jahrmarkt der Eitelkeit
Verwaltete Welt
It's all over now, baby blue - Der Schaum der Tage - 1978 Portrait in
der Sozialarbeit - Stolpersteine im Bücherregal - Warmer Wind 78 Another brick in the wall - Zur Politik des Geschwätzes - Warmer
Wind 82 - Die renovierte Norm - 1983 Institutionsflirt - Das Paar - Die
kulturschwule Vereinigung - Rede an eine Abwesende - Vergebliche
Rückkehr - Gradus post Parnassum - Die brasilianische Nacht - Musik 84 - Palingenese im Computer
Werbematerial, Nachtgedanken, Träume
Zaubersprüche und Verzichterklärungen - Zeitgeist auf der Intensivstation - Das Erhabene - Wettrüsten: Von der Pornographie zum
Machtspiel - Traum vom 11.7.86
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TORSO. Nur wer die eigene Vergangenheit als Ausgeburt des Zwanges und
der Not zu betrachten wüßte, der wäre fähig, sie in jeder Gegenwart aufs
höchste für sich wert zu machen. Denn was einer lebte, ist bestenfalls der
schönen Figur vergleichbar, der auf Transporten alle Glieder abgeschlagen
wurden, und die nun nichts als den kostbaren Block abgibt, aus dem er das
Bild seiner Zukunft zu hauen hat.
Glücklich sein heißt ohne Schrecken seiner selbst innewerden können
Walter Benjamin – Einbahnstraße
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Danach
Mai 1984 – Portrait des Künstlers als Depp: Ein
Mittwoch, kurz nach vierzehn Uhr läutet es. Ge legt den Stift beiseite,
knickt die untere Ecke des Blattes ein und klappt das Buch zu. „Sitzen und bleiben!“ Die Hunde sollen im Zimmer warten. Er geht raus,
die Silhouette hinter dem Drahtglas der Wohnungstür ist nicht einzuordnen. Kein Erkennungszeichen, aber auch nichts, was auf einen Handwerker verwiese. Ein Mädchen oder eine Frau. Er stellt
sich auf Abblocken ein. Vertreter mag er nicht, aber es könnte ein
Familienüberfall sein. Der letzte liegt zwar schon ein paar Jahre zurück, aber wer weiß, wann diese Deppen meinen, sie könnten es
wieder probieren. Vergangener Mist, mit dem er nichts mehr zu tun
haben will. Er öffnet die Tür, ein unbekanntes Gesicht. Ein hübsches,
zierliches Mädchen, blond, weit aufgerissene Augen. Er setzt an, um
zu fragen, ob sie zu dem Steuerberater will. Es kommt öfter vor,
dass einer bei ihm läutet und dann gesagt bekommt: Gegenüber!
Doch sie ist schneller. „Sind Sie der Hausmeister?“
Er nickt: „Mhm“ – woher weiß sie das wohl, vermutlich hat sie beim
Friseur oder in der Boutique nachgefragt.
„Es handelt sich nämlich darum, Sie haben hier eine Firma im Haus,
für Computerimmobilien-Unternehmensberatungen, ist das eine seriöse Firma?“
Ge sieht sie sich an, wartet mit einer Antwort und sucht ihr Gesicht
ab. Sie macht keinen unsympathischen Eindruck, wirkt bestimmt,
aber nicht professionell. Der Blick scheint sie nicht zu beeindrucken,
und sie kann zurückschauen. Neugier bis Neutralität, ein Hausmeister stellt sie nicht in Frage.
„Das fragen Sie mich? Ein Laie kann doch heute längst nicht mehr
einschätzen, was ein seriöses Geschäft ist und was nicht?“
„Na, ich dachte, irgendetwas werden Sie schon wissen.“
„Wo kommen Sie denn her? Warum wollen Sie das wissen?“
„Ich soll mich nachher dort vorstellen. Ich will mich um eine Stelle
bewerben und mir ist aufgefallen, dass die keine offiziellen Schilder
haben, nur ein kleines Schild am Briefkasten, ein anderes am Aufzug“.
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Ge grinst sie an und fragt sich, ob sie Paranoiaspiele kleiner Mädchen nötig hat. Aber diese Einschätzung scheint nicht auf die Frau
zu passen.
„Die andern haben neben dem Eingang alle Messingtafeln. Es gibt
doch immer wieder Scheinfirmen, die für ein paar Monate Räume
anmieten, irgendwelche Geschäfte machen und dann sind sie plötzlich verschwunden. Wie lange ist die Firma schon im Haus?“
„So etwa zweieinhalb Jahre.“
„Ach, das klingt ja schon besser. Ich habe mich vor ein paar Wochen
bei einer Gesellschaft für Software beworben und als ich mich vorstellen wollte, haben sie gerade den Geschäftsführer verhaftet. Einen früheren Lehrer, der keine Ahnung hatte, die Geldgeber saßen
in der Schweiz.“
„Und da soll ich Ihnen helfen, Sie kennen sich ja sicher besser aus
als ich.“
„Ich will nur wissen, was Sie von der Firma halten, ich habe da gestern Abend angerufen und das klang schon sehr komisch.“
Sie macht keinen paranoiden Eindruck, eher das Gegenteil. Aufgeweckt und noch ungebrochen. Ein Illusionspaket, sicher! Aber besser
als ein Verwaltungskrüppel, dem die Eigeninitiative abgeschnitten
worden ist. Es fragt sich nur, ob das auf einen Unternehmensberater
den besten Eindruck macht.
„Was wissen Sie denn von dem Geschäft?“
Dann wird er ein bisschen erzählen. Er muss erst warm werden und
will auch nicht auf die Ebene des durchschnittlichen Tratsches absacken. Das mit der Hausdurchsuchung durch die Kripo, die ihn morgens vor sieben aus dem Bett klingelte oder dass die das erste halbe
Jahr von einem Rechtsanwalt daran erinnert werden mussten, die
Miete zu zahlen, lässt er weg. Interessiert nicht in diesem Fall, er hat
nicht vor, mehr zu erzählen, als so oder so mitzubekommen ist –
außerdem wird mitgehört. Die Auskünfte sollen nach freundlicher
Hilfe und neutralen Beobachtungen klingen.
„Was soll ich sagen, erst Mal geht es mich nichts an, dann habe ich
auch wichtigeres zu tun, als den Leuten hier nachzuspionieren. Aber
wenn es Sie weiterbringt: Mir fiel schon auf, dass da bis spät nachts
gearbeitet wird, das Personal wechselt ständig, am Briefkasten stehen zwei verschiedene Firmen und im zweiten Stock neben dem
Eingang hängt das Schild einer weiteren Firma, ein Kreditbüro.
Manchmal bin ich schon im Treppenhaus irgendwelchen Leuten
begegnet, die nicht so aussahen, als könnten sie sich die hohen
Zinsen leisten, eher als bekämen sie von einer durchschnittlichen
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Bank keinen Kredit mehr. Und da sind die natürlich aufgeschmissen.
Sie brauchen das Geld und werden gerade weil sie es sich nicht
leisten können, doppelt zur Kasse gebeten. Das hörte sich dann
immer stockend, holpernd an: äh, wo kann man denn hier ... in der
Zeitung war so eine Anzeige ... in welchem Stock kann man das
Geld leihen … Ich kann das nicht richtig nachmachen, aber es klang
meist so, dass ich den Wunsch unterdrücken musste, die Leute einfach wegzuschicken. Aber dann wären sie nur zum nächsten gegangen.“
Das Mädchen hörte zu und fragte dazwischen nach Kleinigkeiten.
Dann meinte sie: „So etwas habe ich mir schon gedacht. Der
Mensch am Telefon hat mir keine vernünftige Auskunft geben können. Ich weiß nicht einmal, was ich dort arbeiten soll.“
Sie sieht nicht so aus, als würde sie sich auf die Vorstellung freuen.
Ge rät ihr, erst einmal hinzugehen, die Vorstellung wird schließlich
nicht wehtun. Sie bedankt sich, erklärt noch einmal, dass sie schon
öfter von den letzten Beschissfirmen gehört hat und geht dann.
Die Frau des Steuerberaters war während dieser paar Minuten
zweimal zwischen Praxis und Klo hin- und hergependelt. Die Leute
waren neugierig, weil sie ihn nicht einschätzen konnten. War er wirklich Student und deswegen die meiste Zeit zu Hause? Oder was
hatte es auf sich, dass seine Freundin gelegentlich an ein ErosCenter erinnerte? Warum die zwei großen Hunde? Die Frau hatte
die ganze Zeit mitgehört. Aber was sollte es! Er grüßte die Leute im
Haus, wechselte nur das nötigste an Worten und war froh, wenn er
seine Ruhe hatte. Ansonsten war es ihm egal, was sie von ihm dachten oder über ihn redeten.
Mit zwei Hunden und als unverheiratetes Paar eine Wohnung zu
finden, die sie sich auch leisten konnten, war nicht einfach gewesen.
An eine Hausmeisterwohnung hatten sie nicht gedacht – noch dazu
in der Innenstadt am Rande der Altstadt. Diese Wohnung verdankten
sie den Beziehungen eines Bekannten, dem Gottlieb früher gehört
hatte und der ihn nicht mehr halten konnte, nachdem er sich bei
jeder Gelegenheit mit seinen fünf anderen Hunden angelegt hatte.
So kamen Mona und Ge also dank der Hunde zu einer Wohnung
und nebenbei hatte sich ergeben, dass nur ein kleiner Teil der üblichen Miete aufzubringen war.
Er geht zurück zu seinem Buch: 'Gesellschaft im Übergang', Horkheimers Aufsätze, Reden und Vorträge aus den Jahren 1942 bis 70.
Lesen und Unterstreichen, gelegentlich eine Anmerkung an den
Rand kritzeln. Er weiß noch nicht, was er für den Kurs über die
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Frankfurter Schule alles brauchen wird. Nebenbei kullern Assoziationen, ein abebbender Hintergrund nachträglicher Sympathie. Selbst
wenn die Forschheit des Mädchens auf Illusionen beruht, ist ihr zu
wünschen, dass sich das nicht zu schnell verliert. Aber welche
Chancen bestehen schon? Was kann jemand erreichen, wenn ihm
aufgegeben ist, sich in einen Arbeitsalltag zu integrieren? Noch dazu
als Frau, wenn es schon wichtig ist, sich um einen Scheißjob zu
bemühen... Die Wahnspirale Arbeit-Konsum ist die Folge, und manches Machtspiel hat den stillgestellten Alltag zu würzen oder als
Angstbewältigung zu taugen. Viel zu erwarten ist dann nicht mehr.
Kurz vor drei läutet es wieder. Es ist die gleiche Silhouette. Nach
dem gewohnten Befehl an die Hunde öffnet er die Tür mit dem Satz:
„Sie kommen jetzt wohl öfter.“
Kurz schaut sie ihn an, dann antwortet sie im Brustton der Überzeugung: „Nein, sicher nicht! Das ist das letzte Mal!“
Diese Ernsthaftigkeit wirkt aufgesetzt und spießig bei so einem
Püppchen. Sie hat die Kaninchenjacke unter den Arm geklemmt,
eine modische Bluse war darunter versteckt gewesen. Blumenmuster, ein paar Löcher und ein paar Rüschen. Spielzeugwaffen des
Weibchens und ein stramm geschnallter BH signalisiert, dass das
gar nicht so bös gemeint ist. Die Einblicke sind von der Stange vorgeschrieben. Im Hintergrund beginnt die Nachbarin wieder zu pendeln. Ge grüßt mal rüber, nickt dem Mädchen dann freundlich zu.
Desinteressiert, aber wenn sie schon dasteht, soll sie ruhig erzählen.
Das Nicken ist als Aufforderung gedacht. Gottlieb kommt. Es ist ihm
anzusehen, dass er damit rechnet, weggeschickt zu werden. Er
schnuppert misstrauisch in ihre Richtung, geht dann wieder ins Zimmer zurück. Auf Streicheln oder Begrüßen ist er nicht angelegt, er
kann nur stänkern.
„Das ist vielleicht ein Laden“, meint sie und schaut ihn fragend an, ob
sie hereingebeten wird. Der Aufwand ist ihm zu groß, er müsste das
Monster wegsperren.
Als sich nichts tut, spricht sie weiter. „Das mit der Unternehmensberatung ist nicht echt, das halte ich für eine Scheinfirma. Hauptsächlich wird dort Geld zu Wucherzinsen verliehen.“
„Das dachte ich mir, obwohl manchmal auch schon einer nach dieser
Firma gefragt hat. Einer hat mir mal einen langen Vortrag gehalten,
das sei der Beruf der Zukunft. Wenn es um das dicke Geld geht und
so weiter.“
„Das kann ja sein, aber vielleicht muss es erst noch anlaufen.“ Sie
stellt ihre Tasche ab und lehnt sich gegen den Türpfosten. Gottlieb
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ruckt auf seinem Sofa hoch und reckt den Kopf in Richtung Flur. Ge
sagt ihm, dass er sitzen bleiben soll.
„Aber ich habe verschiedene Verträge gesehen, nebenbei, während
der Mensch mir gezeigt hat, was ich zu tun hätte. Den hatte ich am
Telefon. Ich habe ihn auch auf das Schild von dem Finanzierungsbüro angesprochen. Er hat gesagt, damit hätte ich nichts zu tun und
das Schild sei noch vom Vorgänger.“
„Das hat er mir auch erzählt, als ich es nach der Treppenhausrenovierung wieder anbringen sollte.“
„So, wann war das?“
„Vor etwas mehr als einem Jahr.“
„So so, vom Vorgänger! Ich habe auf einem Schreibtisch einen Vertrag gesehen. Da hat einer 10 000 Mark geliehen und sich verpflichtet nach ein paar Monaten 16 000 zurückzuzahlen.“
„Nicht schlecht! Aber wer braucht denn so was? Als ich noch Zeitungen las, sind mir verschiedene vergleichbare Meldungen aufgefallen.
Klar ist das Wucher, aber da stand auch, wie schwer es ist, jemanden zu belangen, der den üblichen Marktmechanismus noch ein
bisschen zynischer handhabt.“
„Und der Witz ist dann, gerade wenn einer das Geld so zusammenstiehlt, der muss es doch dicke haben. Aber so einer ist dann besonders geizig. Der hat mir 500 Mark pro Monat geboten und keine feste
Arbeitszeit. Es könne auch mal sechs werden oder auch mal acht!“
„Das klingt nach schlimmer Ausbeutung, aber andere Ausbildungsplätze bringen wohl auch nicht viel mehr. Ich bin da nicht mehr auf
dem Laufenden.“
„Nein nein, ich habe mich um keinen Ausbildungsplatz beworben. Ich
will hier in Stuttgart auf die Berufsfachschule und wenn ich mir ein
Zimmer nehme, muss ich nebenbei jobben.“
„Da haben Sie nach einem Teilzeitjob gesucht? Dann hängt das von
der Stundenzahl ab, ob sich die 500 Mark lohnen. Ich komme im
Monat durchschnittlich auf 400, aber dafür habe ich viel Zeit.“
„Sicher nicht! Es waren mindestens vier bis sechs Stunden täglich
angesetzt. Das war auch das seltsame bei der Anzeige, die übrigens
schon zweimal drinstand. Gesucht wurde eine Schülerin oder Schulabgängerin. Es stand da nicht, für welche Tätigkeit, aber das hat der
Mensch noch nicht mal jetzt genau gesagt. Da müsste man die Polizei einschalten. Ich hätte gute Lust dazu.“
„Die Polizei nicht, zuständig ist da eher das Gewerbeaufsichtsamt.“
„Das habe ich gemeint.“
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„Ich kenne mich nicht aus, vielleicht ist es auch irgendeine andere
Stelle. Dann gibt es Papierkrieg, Laufereien und ob was rauskommt,
ist fraglich. Der ganze Behördenkram kostet nur unnütze Zeit. Aber
wenn Sie die Energie aufbringen, für Sie gibt es das Gerenne und
die Formulare. Wenn sich was tut, wäre das nicht schlecht, obwohl
es noch genügend andere Firmen gibt, aber ein kleiner Erfolg ist
doch schon was. Und für die da unten gibt es Ärger. Vermutlich verdient dann ein Rechtsanwalt dran, auch wieder ein Schmarotzerbetrieb, aber was soll's. Ob tatsächlich was rauskommt, bezweifle ich,
in den Akten versanden die besten Energien.“
„Ich hätte gute Lust dazu.“
„Tun Sie's! Ich würde mir sagen, die Mühe lohnt sich nicht, aber
dann geschieht auch nichts. Also?“
„Ja, also, das kann mich schon ärgern, aber mich sehen Sie hier
nicht noch einmal. Tschüss.“
„Ade.“
Sie geht die Treppe runter. Ge macht die Tür zu und sagt den Hunden: „is ja gut, ja klar!“ Gottlieb muss jetzt zur Tür, um hinterher zu
schnüffeln, während die Bess nur ein-zweimal müde wedelt – das
Alter. Er kommt sich wie ein Idiot vor, aber das hat er ja öfter. Daran
wird wohl auch das Rigorosum nichts ändern. Zurück am Tisch packt
er den Horkheimer weg, holt sich dann einen Apfel und einen Magenbitter. Was kann man in einem solchen Fall schon raten? Wenn
das ganze System nur funktioniert, weil sich alles ums Geld dreht
und es völlig unrealistisch ist, darauf zu hoffen, es werde unter veränderten gesellschaftlichen Voraussetzungen auch dieser Wertmaßstab verschwinden, was bleibt dann noch zu raten. Es gibt manche Tricks, sich durchzumogeln, aber keinen Grund, sich auch noch
freiwillig, wenn es gar nicht sein muss, auf die verwaltete Welt einzulassen.
…
Am 10.12.85, auf dem Rückweg eines Spaziergangs mit den Hunden, morgens um halb zehn. Ge beobachtet, während die Hunde auf
der nassen Wiese vor dem Hoppenlau-Friedhof stehen und sich
nicht entschließen wollen, zu pinkeln oder weiterzugehen, wie ein
blinder Student das Max Kade Wohnheim verlässt. Er ertastet sich
mit einem weißen Fiberglasstöckchen den Weg, scheint sich hier
noch wenig auszukennen und geht langsam und mit vielen Kurven.
Dann sind auch noch unübliche Hindernisse im Weg, ein Auto direkt
auf dem Gehsteig geparkt, ein herausgehobener Pfeiler daneben, er
muss ganz eng an einer Hecke entlang, zaudert, muss einen Schritt
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auf ein Randmäuerchen hoch, um über den Rasen auszuweichen.
Die Beobachtungen beklemmen Ge. Es dauert ewig, bis der Typ
zum Fußgängerübergang kommt, er ertastet die Stufe, die Ampel
zeigt zufällig gerade Grün, er geht rüber... Ein oder zweimal sagt
sich Ge: Jetzt rufe ich, jetzt muss ihn auf das Hindernis hinweisen.
Aber auch wieder: was geht es mich an, vermutlich würde ich ihn nur
verunsichern, Stigmatisierungen bestätigen. Betroffenheit, die anhält,
die Hunde haben sich ins feuchte Laub gelegt.
Dann eine Überlegung, vor der Ge erschrickt: Welcher Mut, welches
Vertrauen gehört dazu, sich als Blinder auch nur auf die Straße zu
wagen. Ein Studium, welche Erschwerung. Wie leicht lassen den
Normalstudenten Kleinigkeiten zweifeln, wie gehandikapt ist er
schon wegen irgendwelcher Nebensächlichkeiten und das mit funktionsfähigen Sinnen. Dabei macht der brav Angepasste es sich eben
selbst nur schwer, wann und wo er kann. Und daneben taucht auch
der Gedanke auf, ob vielleicht erst der Ausfall, der Defekt, dafür sorgen, dass ein Mensch seine Energien ohne Rest für sich investieren
kann und nicht immer wieder gegen sich selbst arbeiten muss. Die
Peinlichkeit, zusehen zu müssen, aber auch das bannende Moment,
nicht einfach weitergehen zu können, werden erst in dem überspannten, zynischen Vergleich abgefahren: So sieht doch der ideale
Student einer Behördenuniversität aus. So jemand kann die Bildungsbeamten und Kulturfunktionäre, mit denen Ge am liebstennichts mehr zu tun haben wollte, nicht in Frage stellen. Die wurden
schon durch die durchschnittliche Antriebsstörung in jeder Hinsicht
bestätigt!
…
Die Vorhölle auf der anderen Straßenseite:
Abends ein Gang mit den Hunden, nur noch kurz pinkeln auf die
Wiese im Innenhof des Finanzamts. Unten vor der Haustür hält sie
ein angesoffener Glatzkopf auf, der tagsüber in der Fußgängerzone
einen kleinen Blumenstand aufgebaut hat und jeden Morgen und
jeden Abend die Bauteile aus Blech mit einem höllischen Lärm,
quietschend und kreischend, die Marienstraße auf einem Doppelrollbrett runter- bzw. hochzog. Fett und klein lehnt er an einem auf dem
Gehsteig geparkten Wagen und wackelt mit der Rübe, während die
Musikbox aus dem Kneiple gegenüber den letzten hohlen Schwachsinn zu uns rüber dröhnt. Niedergewirtschaftete, unästhetische Konventionalität, Anzug, weißes Hemd und Krawatte rufen einen
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schlimmeren Eindruck hervor, als eine ausgefranste und löchrige
Jeans oder ein dreckiger Pullover. Der Anzug sitzt zu stramm und
betont, wie dieser Mensch die Form verliert, das Hemd hat Flecken,
die höchstens in einem schlechten Roman als malerisch gekennzeichnet würden und die Krawatte liegt ihm wie eine schlecht geknüpfte Schlinge um den Hals. Nichts war Ge unangenehmer, als
abgesackte Spießer, das erinnerte ihn zu sehr an die Scheißfamilie,
mit der er sich nicht mehr beschäftigen will – solche Leute hatten
früher wegen der Haare versucht, ihn zu verprügeln oder hatten Cola-Dosen nach ihm geworfen.
„Eine Frage! 'tschuldigen's bitte mein Herr, wir feiern nämlich gerade,
erlauben Sie mir, ich darf sie was fragen?“ Unterwürfig, alles weich
und verschliffen hervorgesprudelt, nicht dass er schon lallt, aber an
den Demutsfloskeln und den ständigen Wiederholungen ist zu bemerken, dass er schon recht voll sein muss. „Wir feiern gerade, ein
Jubiläum, s'wissen doch, und jetzt sind uns die Zigaretten ausgegangen. Ich hab auch einen Hund, sind liebe Kerle, aber meiner ist
ein ganz linkes Aas. Ein Dackel, der liegt unterm Stuhl und muckst
sich nicht und wenn, Sie verstehn schon, da schnappt der einfach,
sind liebe Kerle, meiner ist schon alt. Wir feiern, ein bisschen, muss
doch auch sein, könn' Sie mir fünf Mark wechseln. Wir feiern nämlich
und jetzt, ich will Zigaretten raus lassen. Entschuldigen Sie, dass ich
Sie so frage...“
Ge kramt schon eine ganze Weile in seiner Tasche. Der Typ belabert ihn am laufenden Band mit denselben Satzfetzen – warum
wechselt der nicht in der Kneipe? So eine abgenutzte Sprache und
dazu noch diese Kriechergebärde. Er wechselt ihm das Fünfmarkstück und ist froh, als das Geschwätz hinter ihm zurückbleibt – der
ist nicht 'mal in der Lage, seine Geräuschmaschine abzustellen. Immer die gleichen Floskeln, das erinnert ihn an die Zeit, als die Welt
so beschissen schien, dass ihm nichts Besseres einfiel, als tagelang
zu zu sein. Am Briefkasten an der nächsten Ecke schaut Ge noch
einmal sichernd zurück: Der Typ scheint gerade so weit, dass er
wieder auf die Kneipenseite wechseln will.
Wieder auf dem Rückweg sehen sie, wie er hinter einem Penner
herläuft, dann über die Straße auf der Höhe des Hauseingangs geht.
Ein anderer Penner kommt aus der Kneipe. „Ha! Schorsch, du hast
eben Charakter.“ Sie führen sich einen stilisierten Handschlag vor,
nach einer weit ausholenden Bewegung finden die Hände ineinander, werden betont lange gedrückt, ausgiebig klopfen sie sich gegenseitig auf die Schultern. Ge findet diese pubertären Kinorück-
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stände bei kaputten Krüppeln besonders widerwärtig. Als müssten
die übelsten Klischees starker Männer bei den Underdogs nachleben; als müssten die therapierenden Vorbilder der Normalität in der
potenzierten Verdummung zu zwanghaften Nachbildern gerinnen.
Den anderen Penner sehen sie recht regelmäßig, wenn sie mit den
Hunden unterwegs sind. Er hat einen Mischling, der an einen Labrador erinnert. Der Typ schläft hinter den Müllcontainern der Oberfinanzdirektion, ist immer wieder auf der Königstraße zu treffen und
verbringt einen Großteil der Zeit in der Kneipe. Der Hund liegt dann
immer wieder vor den drei Treppen und wartet.
Als Ge die Leinen wegräumt, ruft ihn Mona ans Fenster. Der Dicke
wird aus der Kneipe geprügelt und fällt auf die Straße. Er rappelt sich
auf, torkelt auf die andere Straßenseite und verschwindet in der Hofeinfahrt, die zur Billardstube führt. Ge hat keine Lust, sich das weiter
anzusehen, aber das braucht es auch nicht, Mona kommentiert:
„Jetzt machen sie einen fertig, schmeißen sein Feuerzeug, die Zigaretten auf die Straße, eine Plastiktüte hinterher. Der Typ bleibt vor
der Kneipe liegen.“ Ge schaut kurz runter, es ist der Mann mit Charakter. Er rappelt sich auf und lehnt sich mit dem Rücken an die
Hauswand. Plötzlich hat er eine Blockflöte in der Hand, eine Weile
fuchtelt er damit rum, dann setzt er sie an die Lippen. Vielleicht spielt
er sonst auf der Straße? Ein paar müde und unsaubere Töne kommen raus, keine Melodie, nur die Umsetzung des Luftstroms, mal
schrillt es, mal stirbt ein Ton langsam ab. Im Hintergrund dröhnt die
Musikbox. Ein junges Mädchen kommt aus der Kneipe, sammelt die
Zigaretten ein und steckt sie dem Typ zu, sie legt die Plastiktüte
neben ihn. Der Penner mit dem Hund kommt dazu und flucht, es
klingt immer fies und versoffen, wenn er dem Hund Befehle gibt.
Zwei andere kommen dazu, es sieht schon wieder nach einer Prügelei aus, sie zerren den mit der Flöte auf die Beine. Die prügeln sich
recht häufig und wenn nicht, werden die Typen in der Kneipe so
abgefüllt, dass sie es oft nur bis auf den Gehsteig schaffen. Mancher
lag da schon stundenlang, mancher kam noch über die Straße, um
hier in den Eingang zu pinkeln, manchen haben die Bullen mitgenommen, manchen haben sie auch noch durchgeprügelt, wenn er
nicht mitkommen wollte oder schon nicht mehr konnte. Es kommt zu
keiner Schlägerei mehr, unten in der Straße taucht ein Streifenwagen auf. Das Mädchen verschwindet mit dem einen Typ in der Kneipe, der mit der Flöte rappelt sich hoch und versucht halbwegs gerade wegzugehen, die Tüte lässt er liegen. Die beiden anderen machen auf betont unverdächtig und schauen sich die Auslagen im
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Schaufenster des Scherzartikelladens an, der einem Ficker gehört.
Der Mann heißt wirklich so, der Geist des Ortes führt zu solchen
Konstellationen. Der Ficker ist ein dürrer kleiner Kettenraucher und
sieht aus, als wäre ein großes Kind unter dem Einfluss von zu viel
Schnaps oder den in der Folge aufgetretenen Entzugsschwierigkeiten zu einem ausgemergelten Wurzelzwerg eingetrocknet. Er trägt
eine zu große Hornbrille auf der schmalen Nase, hat immer den gleichen grauen Anzug an, unterhält sich mit den kleinen Jungs, die bei
ihm Knaller kaufen, streicht ihnen dabei gern übers Haar. Manchmal
kommt mit einem barbarischen Brüllen aus dem Laden gerast, wenn
jemand meint, den Hof kurz als Parkplatz missbrauchen zu können.
Er hat dabei fast das Volumen des Zweizentnermannes, der in unserem Hinterhof eine Billardstube betreibt und morgens zwischen vier
und fünf Uhr die letzten Besoffenen hinaus befördert und regelmäßig
unseren flachen Schlaf stört.
Das reicht für gemischte Gefühle, jetzt haben sie genug mitbekommen. Mona macht das Fenster zu.
Mitten in der Nacht einmal ein Riesengeschrei. Ein Polizist in Zivil,
der aus dem Hinterhaus des Scherzartikelladens einen der Typen
rausprügelt und vor sich her durch den Hof treibt, dabei schreit wie
ein Besessener, den Typ gegen einen Wagen knallt, die Hände mit
Handschellen auf den Rücken fesselt und dann den Kopf an den
Haaren hin- und her reißt, die Nase auf dem Blech platt drückt. Auf
dem Fickerdach – ein Haus, das im Krieg einen Treffer abgekriegt
hatte und in den Fünfzigern auf der Höhe des ersten Stocks begradigt und mit einem Flachdach aus Dachpappe abgedeckt worden
war – laufen zwei Bullen rum, schauen in die Einfahrt runter, in den
Hinterhof, verschwinden dann, bis im Hinterhaus alle Lichter angehen und durch die Fenster zu sehen ist, dass sie Schränke und
Schubladen leeren, irgendwas suchen. Manchmal waren aus dem
Haus grell geschminkte Nutten gekommen, Arbeitskleidung schwarzes Leder, freie Schultern, hochgepresster Busen; einmal hatte ein
Lastwagen dort eine ganze Ladung Computer abgeladen und dann
standen originalverpackte, neue PCs ein paar Tage bei jedem Wetter in dem Hinterhof; auffällig waren auch die beiden bleich und grau
gewordenen Junkies, die manchmal müde und kraftlos aus dem
Haus schlichen, der Ficker unterhielt sich ausgiebig mit ihnen.
Mitleid mit diesen früheren Heimkindern, obdachlosen Jugendlichen
oder viel zu früh gealterten Pennern hält Ge für überflüssig. Das
bringt den Leuten nichts und tatsächlich schien diese ganze Wirklichkeit verrottet. Außerdem erinnert es in mancher Hinsicht an den
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Mangel an Chancen, an das Fehlen jeglicher Perspektive in der
Krüppelszenerie seiner Kindheit. Wenn es ginge, wollte er gar nichts
mehr damit zu tun haben, aber die Hausmeisterwohnung war eine
Garantie für die freie Zeit, die er zum Schreiben brauchte – und so
gehörte dieser ganze Schwachsinn eben dazu.
Manchmal wenn er als Bote jobbt, erkennt er die Leute aus dem
Kneiple auf dem Schlossplatz oder vor dem Kunstverein wieder, oft
hackezu, in der Regel mit einem Radiorekorder ausgerüstet, scheppernd und krächzend, die reaktionärste Verblödung als Beschallung:
Schön-ist-es-auf-der-Welt-zu-sein…, Junge-komm-bald-wieder-baldwieder-nachhaus…, Mama-du-wirst-doch-nicht-um-deinen-Jungenweinen... Das ist so ekelerregend dumm, und die Leute sind auch so
unästhetisch verkommen, dass kein Vergleich mit dem früheren eigenen Ausflippen mehr gegeben ist. Das ist menschlicher Müll, das
sind die Kinder von sozialem Abschaum… Leere Hülsen, ein dumpfes sinnloses Leben, endlose Wiederholungen und mit jeder Drehung werden sie ein wenig weniger und erbärmlicher, nicht anders
wurde es in Dantes Vorhölle beschrieben.
Das Stichwort Musikbox lieferte das Assoziationsnetz Vorhölle: Dante führt dort Heiden vor, die eigentlich nichts dafür können, zum
„richtigen Gott“ zu ihrer Zeit nicht gefunden zu haben, und er kennzeichnet den Ort ihrer Qual durch den Ausfall der Kommunikationsmöglichkeiten: Bei dem unterweltlichen Lärm hören sie nichts und
können sich auch nicht mehr verständlich machen. Heute heißt der
richtige Gott Geld!
…
Beobachtung am 13.01.86
Auf dem Heimweg nach einem Tag als Hilfsarbeiter, als Ge müde
die Königstraße überqueren will, hört er einen Typ schreien: "Das
geht doch nicht, das muss mal ganz klar gesagt werden! Schämen
sie sich nicht, jawohl! Und da setzen sie auch noch ein Kind in die
Welt, als wenn es nicht schon genug gäbe! Das muss einmal ganz
klar gesagt werden..."
Immer wieder die gleichen Sätze. Erst nur ein lautes und unangenehmes Geräusch, dann, während Ge näherkommt, wird das Geschrei deutlicher, er beginnt zu verstehen, um was es geht. Ein junger Typ, höchstens dreißig, blaue Cordhose, ein grauer Spenzer
über einem blauen Hemd, ein zackig moderner Bürstenhaarschnitt.
Er trägt eine durchsichtige Plastiktüte mit zwei Taschenbüchern, auf
der sinngemäß steht: Ein Buch ist die Axt für das Eis in Dir! Er
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schreit und gestikuliert, ihm gegenüber eine junge Mutter mit Kinderwagen und dickem Bauch. Sie lächelt ihn an, vielleicht ein bisschen, aber sicher nicht sehr verlegen. Der Typ geht weiter in meine
Richtung, dreht sich noch ein paar Mal um, wiederholt die Sätze laut
und gleichförmig: "Das muss doch einmal klar gesagt werden..."
Jetzt klingt es schon, als müsste er seinen lautstarken Ärger rechtfertigen. Er verschwindet in der Menge vor der Kaufhalle. Eine alte
Frau tritt zu der jungen mit dem Kinderwagen, gibt ihr die Hand. Sie
hat noch immer das unentschiedene Lächeln im Gesicht, so als könne man den lieben Gott nicht verantwortlich machen.
Ge geht weiter und denkt, dass sie mit ihrem Säugling dasteht,
schon wieder schwanger, weil betteln mit dieser Ausstattung erfolgreicher ist. Er kann sich nicht vorstellen, so passiv abwartend stehen
zu können, warten ob ihm einer etwas gibt. Als Tramper hatte er
zugesehen, wie Typen, die er flüchtig kannte, schnorrten, hatte einzweimal ohne Überzeugung versucht, Geld für eine Flasche Wein
zusammenzubekommen und es dann gelassen. Ge arbeitet lieber
für das Geld, das er braucht und ein primitiver Scheiß ist ihm lieber
als ein Verwaltungsjob.
Welcher Widerspruch: Man müsste solchen Leuten das Kindermachen verbieten, intellektuell ist er auf Seiten des Typs, den er ablehnt: Dummes Geschrei und überangepasstes Äußeres. Die Leute
sind auf Seiten der Mutter, aber da stört ihn der dumme Gesichtsausdruck, das Kind, die restliche Welt. Und dann stellt sich die Frage: Wenn man ihn rechtzeitig gefragt hätte, wäre er dann dafür gewesen, dass ihn seine Mutter besser abgetrieben hätte? Er kann es
nicht klar bejahen, dazu gibt es zu viele Sachen, an denen er sich
freut. Aber wenn er den ganzen Krampf nimm, die Widerwärtigkeiten, die Ängste und Ausgeliefertheit… wenn er den ganzen Aufwand
eines solchen absurden Lebens betrachtet, müsste es eigentlich ein
einfaches Rechenexempel sein, um dann sagen zu können: Besser
nicht!
Und um sich vor der Entscheidung zu drücken, die ihm die Situation
gerade nahelegen will, beginnt ein innerer Moralapostel irgendwelche Forderungen zu stellen: Eine lautet, dass nur der Kinder in die
Welt setzen darf, der die materiellen und vielleicht sogar die psychischen Voraussetzungen für so eine Belastung tragen kann. Aber
dann kommt gleich das Gegenargument: Dann schauen wir uns die
verzärtelten, vollgepfropften und stillgestellten Wohlstandskinder an.
Ein Lehrerkind oder ein Psychologen-Klon. So geht es nicht! Und es
rattert weiter: Auch das Gegenbild am anderen Ende der Skala ist
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längst abgedriftet, schließlich wird die Armut ganz erfolgreich verwaltet. Es stimmt und ist trotzdem der übelste Hohn, wenn ein selbstgefälliger Beamter heute behaupten kann: Bei uns verhungert keiner!
Denn zur Strafe muss sich der Arme mit dem identifizieren, was er
nicht hat. Eine Form des psychischen Hungerns, die in unserer Welt
auch ihre Folgen haben wird... Vielleicht konnte einmal beschrieben
werden, wie rührend sich die Armen um ihre Kinder kümmern, weil
die Betroffenen wussten, dass nichts anderes für ihre Gefühle blieb.
Was sie ihren Kindern an Zuwendung und Wissen mitgeben konnten, war das einzige Kapital das sie hatten. In vielen unserer Lesebücher stehen Geschichten, die als erzählte und noch nicht abgelebte Ideologie dafür sorgen mussten, dass die armen Leute ihre Not
aushielten. Vielleicht konnte auf einer armen Kindheit ein goldener
Schimmer ruhen, weil die Phantasie noch nicht an die Medien delegiert worden war. Die Not gab zu tun. Heute stimmt das nicht mehr.
Heute sorgen die Medien für ein Bild des Überflusses, das schon
jeden Normalverbraucher in die Wahnspiralen der Sucht einschreibt.
Ge sagt sich: Nach allem, was ich gelernt habe, müsste ich versuchen, die ganze Welt zu ändern. Aber dummerweise wurde mir ganz
überzeugend beigebracht, dass das nicht funktionieren kann. Also
bleibt nur, sie in die Luft zu sprengen – und nachdem das schon die
letzten psychotischen Krüppel versucht haben, muss ich mich in
dieser Reihe nicht auch noch anstellen.
Also sollte ich erst mal bei mir selbst anfangen. Den Speicher der
alten Wünsche und Erwartungen leeräumen. Den eigenen Familienroman desinfizieren. Die Verzweiflung und die Hoffnungslosigkeit
ausräuchern. … Und so geschah es dann auch, gegen den Ballast
der Widersprüche, der der Antriebshemmung und dem Verzicht zuarbeiten wollte!
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ren! Treten Sie näher! Treten Sie ein! Links für Damen, rechts für
Herrn und in der Mitte für Sexualverirrte... Blase mir, blase mir, blase
mir doch 'mal den Schaum vom Bier...“ Er verstand manchen Witz
nicht.
Waiting for my man:
Die Alten wollten zu einer
Gartenparty gehen und sollten Ge mitbringen. Ein Familienfest des
Chefs, das Abitur seines jüngsten Sohnes musste standesgemäß
gefeiert werden. Die Mutter arbeitete halbtags in dessen Wohnungsbaubüro, der Alte leitete seine chemische Reinigung. Wie die anderen Angestellten wurden sie eingeladen. Nichts Besonderes, besonders wurde es erst im Kopf der Mutter. Sie wollte natürlich nicht hinter den anderen zurückstehen und machte das übliche Theater der
Vorbereitungen. Der Alte hatte zu tun. Wenn es dann soweit war,
wollte er sich amüsieren; sie dagegen musste beweisen, dass sie
eine Dame war und genau wusste, worauf es ankam. Widerwärtig,
wenn der Alte sie nachmachte, seine Übertreibung traf genau. Sie
war vor solchen Terminen sehr anstrengend. An den Schuhen, am
Handtäschchen oder an der Dauerwelle schien der Wert ihres Lebens bemessen zu sein. Vielleicht stimmte das sogar. Wer sah, welche enormen Energien sie in Nebensächlichkeiten investierte, konnte auf die Idee kommen, die kleine Frau kannte nichts Wichtigeres.
Glücklicherweise durchschaute sie keiner. Jedermann bewunderte
ihre Kraft und Geduld, bedauerte, dass sie mit diesem Mann gestraft
war; keiner sah, wie sehr sie den Kriegsschauplatz brauchte, um
jegliche Verantwortung für ihre panischen Rituale abzuwälzen.
Ge hatte eine Pepitahose mit weit geschnittenen Beinen und ein
schwarzes Baumwollhemd angezogen. Eine Damenhose zwar, in
der Reinigung liegengeblieben aber seine anderen Hosen waren
altmodisch. Er war mit seinem Spiegelbild zufrieden, hatte einen
poppigen Umhänger auf der Brust. Das Stichwort Friseur war gefallen: Er hatte ihn nicht vergessen, aber gedacht, nach dem letzten
Theater für einige Zeit verschont zu bleiben. Erst machte sie ihn
scharf auf das Gartenfest und dann meinte sie, er könne nur mitkommen, wenn er die Haare schneiden ließe. Das nannte sie Diplomatie. Prompt wetterte der Alte wieder über die Gammlermähne.
Dabei waren die Haare erst knapp über dem Kragen. Ge wollte sie
richtig schön lang. Als er sich beim letzten Mal weigerte, zum Friseur
zu gehen, hatte es Krach gegeben, wie lange nicht mehr. Irgendwann war er durch die Wohnung geflüchtet, mit dem Alten im Genick. Dummerweise rannte er ins Wohnzimmer und nicht nach drau26
ßen, aber darauf war er nicht gekommen. Der Alte erwischte ihn,
schlug ins Kreuz und auf den Kopf, packte ihn an den Haaren, riss
hin und her und klatschte ihn an den Schrank. Die Mutter, in solchen
Fällen immer auf der Seite ihres Sohnes — obwohl oft genug Auslöser — schrie ausnahmsweise nicht nur, sondern griff ein. Ge fühlte
sich recht kaputt. Sie drohte mit zwei Haarbüscheln, an denen blutige Haut hing, und mit einer Anzeige. Ge erholte sich schnell, er war
abgehärtet und das Thema Haare wurde nicht mehr angesprochen
— vielleicht war es das wert gewesen. Er wollte sie wachsen lassen.
Der Alte würde das Thema eine Weile meiden, die Stichworte Scheidung und Polizei zogen. Zur Anzeige kam es nicht oder sie wurde
später wieder zurückgezogen. Soviel zur vielgelobten Diplomatie der
Mutter: Hatte kaum sechs Wochen gehalten.
Der Alte war ein Arsch, klar, das war leicht zu sehen und gab manches zu befürchten. Aber die Mutter hielt offiziell immer zu Ge und
trotzdem setzte sie den letzten Quatsch durch. Manchmal sagte sie
danach, sie habe das nicht gewollt. Ihre verlogene Autorität war selten zu fassen. Nur wenn sie zu Lehrern hielt, wusste er, wie sie einzuschätzen war. Ihr Tick mit der Bildung: sie hätte ihn dafür schlachten lassen.
Er hatte den Friseur nicht vergessen, er war einfach nicht hingegangen. Er wollte nicht, er sträubte sich und brauchte die abstehenden
Haare. Ein Zeichen seiner Rolle in der Schule, in die er vor der Familie auswich. Eine Rolle ohne entsprechende Zeichen konnte nicht
funktionieren. Die Haare standen für seine Besonderheit, sie öffneten den Spielraum: KeinStreberkeinKriecherkeinKuscher... kein:
Idiot. Warum schon wieder? Und dann der blöde Spruch: „Du kannst
uns doch nicht blamieren!“ „Was heißt hier blamieren, dem seine
Söhne haben alle lange Haare.“ Später, als ihm Kinder auf der Straße Struwwelpeter nachriefen, unterlief ihr ein bezeichnender Versprecher: „Ich mag lange Haare, wenn sie kurz sind.“ Sie wollte sagen, gepflegt — Feigheit, Verlogenheit und Unentschiedenheit
machten den Sohn zum wandelnden Extrem.
Wieder kam ein typischer Kompromiss zustande. Die Mutter wollte
die Haare waschen, anföhnen und die Spitzen ein wenig kürzen. Er
machte mit, um einmal auf einer Gartenparty gewesen zu sein. In
der Klasse gaben immer die selben zwei, drei Leute eine Fete nach
der anderen, nicht schlecht, wenn die nicht mithalten konnten. Die
Mutter schnippelte wenig. Trotzdem fühlte sich Ge nach Abschluss
der Tortur beschissen, charakterlos. Er sah blöd aus, überhaupt das
angeföhnte Haar, eine angepasste Kacke. In der Schule hatte er
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geprotzt, was am Abend alles laufen würde, Samstagmittag war die
Stimmung beschissen. Dann begannen sich die Alten zu streiten.
Das war üblich, bevor sie etwas unternahmen. Feste, die sich mehrere Tage hinzogen, waren besonders schlimm. Schon jeder kleine
Schaufensterbummel musste mit Knatsch eingeleitet werden. Ob für
Ängste und Erwartungen ein Projektionsschirm nötig war, ob der Alte
sich wirklich daneben benahm, im Laufe der Jahre eingespielt, ergänzten sie ihre Verkrüpplungen. Der Alte begann mittlerweile pampig auf Vorwürfe zu reagieren, bevor die Mutter sie ausgesprochen
hatte. Vielleicht ein Gesichtsausdruck, vielleicht nur ein Gewohnheitsschema, er zitierte ihre Ratschläge herbei. Er wusste selbst, wie
er sich zu benehmen hatte und musste sich nichts von ihr sagen
lassen. Ge verkroch sich in sein Zimmer, dem Alten war zuzutrauen,
dass er zur Schere griff. Er sagte, er wolle noch Erdkunde lernen
und las in Frischs Stiller.
Um sechs würde die Sache losgehen. Die Geschwister durften fernsehen und sollten nach den Lottozahlen brav ins Bett. Während der
Fahrt stritten sich die Alten wieder. Die Mutter versuchte, dem Alten
einzuschärfen, er solle nicht so ordinär lachen und sie nicht blamieren. Vor allem sollte er keine derart ungebildete Figur abgeben. Ha,
er habe Herzensbildung und ließ das nicht auf sich sitzen. Außerdem
im letzten Jahr fast 80 000 Umsatz, da solle ihm nur einer kommen.
Uninteressant, die Mutter griff nicht einmal zu dem gängigen Argument, dass nur ein paar hundert Mark fehlten, sonst hätte er statt
zwei die ab dieser Summe vertraglich festgelegten drei Prozent Provision bekommen. Oft genug ein Thema, schließlich konnten sie das
Geld brauchen: War er einfältig genug, sich vom Chef bescheißen zu
lassen oder war er zu dumm gewesen, eine Kasse zu führen und
das bisschen rechtzeitig dazuzulegen. Aber er führte seine Kasse
nicht selbst und die Mutter hatte gerade wichtigeres im Sinn. Beispiele, wo er gelacht hatte und Witze erzählt, dass man sich schämen musste... Wo er so aufdringlich getanzt hatte und überhaupt
den ganzen Abend mit anderen Frauen... Er berief sich auf Bekannte, die unterstrichen hatten, was für ein guter Unterhalter er sei. Die
Mutter wusste Gegenbeispiele, außerdem waren seine Bekannten
primitiv.
Ge saß hinten im Kadett und versuchte, nicht aufzufallen: Kann ja
was werden, klingt, als gibt es heute noch Krach. Wenn die so weitermachen, hab' ich nichts von der Fete. Der Alte ist vielleicht ein
Arschloch, die blamieren mich total, wenn die so weitermachen...
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Die Mutter verfuhr sich und fand den Garten nicht. Sie betonte ständig, wenn sie einmal wo gewesen sei, finde sie wieder hin. Die Streitereien wurden widerlich, der Garten war nicht zu finden. Plötzlich,
Ge ruckte hoch, ganz unerwartet schnitt die Stille durch ihre Blechkiste. Kein Ton mehr, mitten im Satz den Saft abgedreht, die Alten
setzten ihr Besucherlächeln auf. Vor einer Gartentür standen ein
paar Leute, gestikulierten und lachten. Da musste es sein. Der Alte
stieg aus und wurde mit großem Hallo begrüßt. Er machte gleich den
Eindruck, als sei er eine Weile da. Die Mutter brauchte Zeit beim
Einparken, musste ihre Sachen zusammensuchen und wirkte dann
bei der Begrüßung verkrampft. Sie tat Ge leid, er dachte, das Theater wirkte nach. Wie sollte er auf den Gedanken kommen, dass sie
sich unsicher und fremd fühlte. Das waren Millionäre mit eigenen
Häusern, mit Apartments in verschiedenen Städten. Selbst der Garten gehörte ihnen.
Sie brauchte Zeit, bis sie verarbeitet hatte, dass es bekannte Gesichter waren und fing sich schneller als ihr Sohn. Mamas Liebling war
ein Idiot der Familie und der progressive Touch saß ganz an der
Oberfläche; dazwischen aber begann es zu wetterleuchten. Er merkte wenig von der untergründigen Spannung, war unsicher und
schüchtern, wie üblich bei solchen Gelegenheiten, bis es aus ihm
hervorbrach, wie später noch öfter.
Nach der allgemeinen Begrüßung fühlte sich Ge einigermaßen. Die
schlechte Stimmung verklang, vor dem Gartenhaus war eine Stereoanlage aufgebaut. Wenigstens gab es Musik! Dann lief Iron Butterfly:
IN-A-GADDA-DA-VIDA, ein toller Sound, vermutlich die Lp-Fassung.
Besondere Freude machte ihm, dass dem Alten hier Musik vorgedröhnt wurde, die der sonst in den Urwald verwünschte — Beatles
nannte der Affenmusik. Er grinste bei dem Gedanken: Jetzt sollte der
mal drauf tanzen.
Die Alten wurden eine Weile im Garten herumgeführt. Sie hatten
einen Garten gepachtet, der Alte betonte sonst immer: Der schönste
weit und breit, am besten gepflegt. Jetzt hielt er sich zurück, einmal
wollte er etwas genauer wissen, und der Verwalter wurde gerufen,
der Chef kannte sich nicht aus. Das war eben der Garten eines
Chefs, und es gab sogar Strom und fließend Wasser und eine richtige Küche. Ge stiefelte eine Weile mit. Bei den Abiturienten und ihren
Freundinnen wäre er gern geblieben, aber er wusste nicht, was er
dort sollte.
Er kam zu den ein paar Jahre jüngeren Söhnen des Ehepaars, das
den Garten versorgte. Eine Weile blieb er bei ihnen. Sie schossen
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mit der Luftpistole nach beweglichen Zielen in einem kleinen Schießstand. Dann setzte er sich wieder ab. Er wollte nicht zu lange bleiben, nicht den Rest des Abends zu den Kindern gerechnet werden.
Er schaute zu, als das erste Fass Bier angestochen wurde, bekam
fast eine dicke Schaumfontäne ab, denn der Hahn wollte nicht halten. Er half und fühlte sich nicht mehr so reingeschneit oder zu jung,
jetzt gehörte er dazu und bekam eine Halbe Bier. Den Krug trug er
spazieren. Bei der Tischtennisplatte blieb er stehen, das Spiel konnte er gut. Der frischgebackene Abiturient brachte einem Mädchen
Tischtennis bei. Ge setzte sich auf ein Mäuerchen, schaute zu und
hielt sich am Bier fest. Sie sah lieb aus, ganz ungelenke Bewegungen und fröhliches Lachen, sie hatte eine fast durchsichtige Bluse
an. Keine Ahnung vom Tischtennis, der Chefsohn auch nicht besonders.
Als er seinen Krug ziemlich geleert hatte, fragte der Typ, ob er ihn
ablösen wolle. Der flüsterte dem Mädchen etwas ins Ohr und verschwand. Ge hatte ein paar Jahre im Gemeindeclub trainiert und
legte Bälle vor, die sie zurückspielen konnte. Ein Zwiespalt, eigentlich wollte er Können vorführen, aber das hätte ihr sicher keinen
Spaß gemacht. Er strengte sich an, bis der Typ mit ein paar gegrillten Würsten zurückkam, für jeden eine. Das Mädchen lobte sein
Spiel, Ge machte sich bescheiden ans Essen. Er fand die Wurst
nicht schlecht und fragte — was sollte er schon sagen —, wie ein
Holzkohlegrill funktionierte. Dann ging er den Krug auffüllen. Als er
zurückkam, hatten sich ein paar Leute eingefunden. Vom Bier angeturnt, konnte er beim Mexi zeigen, wie gut er spielte.
Es war dunkel geworden. Die beiden Kinder wurden im kleineren
Gartenhäuschen unterhalb der Tischtennisplatte ins Bett gesteckt.
Ge hatte nichts mit denen zu tun, nur wusste er nicht, wie er sich
unter den älteren bewegen sollte. So führte er sich spazieren,
schwelgte in der Musik oder in mutigen Träumereien und tauchte
gelegentlich oben auf, um Bier nachzufüllen oder etwas zu futtern. Er
wollte zeigen, dass es ihn noch gab. Endlich bekam er einmal live
mit, nicht nur aus nachträglichen Erzählungen, wie der Alte sich
amüsierte — das fiel gar nicht auf. Aber Ge bemerkte die Blicke, mit
denen die Mutter in der Gegend herumleuchtete, um kundzutun, das
habe sie nicht verdient. War ja alles bekannt. Außerdem schien sie
sich gut mit einem Typ zu unterhalten. Der hatte längere Haare als
Ge, erinnerte an den Hauptdarsteller aus dem Film 'Zur Sache
Schätzchen'. Einmal tanzten sie ganz konventionell auf die Musik der
Who — sah komisch aus. Als er in der Nähe vorbeikam, wurde er
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vorgestellt. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Die Mutter sprach
für ihn und behauptete den letzten Mist: Er würde Jazz lieben, noch
dazu sagte sie Jatz. Der Typ war vom Fernsehen; unter einem Vorwand stahl Ge sich davon.
Am meisten frappierte die gute Laune des Alten. Der tanzte auf Musik, über die er sonst schimpfte, Beatles, Stones, fast alles hatte Ge
auf Kassette. Vor einiger Zeit gab es Stunk, er sollte ScheißEgerländer Musikanten aus dem Fernsehen mitschneiden und fand
keine freie Kassette. Er musste seine Aufnahmen löschen und war
gewaltig sauer. Wenn in der Bildzeitung stand, dass ein Gammler
von einem Metzger mit einem Bolzenschussgerät von einer Parkbank geschossen wurde wegen der langen Haare und der dreckigen
Schuhe, las der Alte das laut vor, um drohend zu unterstreichen: Die
Langhaarigen und die Studenten gehörten nach Sibirien ins Arbeitslager. Und jetzt tanzte der auf Popmusik und machte Stimmung, mit
einem der Mädchen schwofte er richtig. Das war seltsam. Meist war
Ge in der Nähe der Tischtennisplatte. Er betrachtete die Sterne und
dachte, er sei vielleicht ein Steppenwolf. In diffusen Gefühlen kam er
sich einsam und ein bisschen heldenhaft vor. Manchmal aber wie ein
Depp, er wusste nicht, was er machen sollte und wollte unbedingt
etwas tun. Irgendwann ließ er den Bierkrug stehen und ging wieder
hoch, zu dem Gartenhaus mit der Stereoanlage und den tanzenden,
lachenden Leuten. Er wollte sich was beweisen, vielleicht tanzen.
Getanzt hatte er noch nie, er kannte nicht einmal Schnüffelparties:
ein schweres Handikap, die Leute aus seiner alten Klasse probten
schon mit verschiedenen Mädchenklassen den Ernstfall Tanzstunde.
Auf jeden Fall wollte er jetzt irgendwas. Er ging zu dem Fass und
füllte stolz einen neuen Krug ab, immerhin schon sein vierter.
Aus einer Nische schaute er den Tanzenden zu und trank Bier. Er
hatte Lust auf eine Zigarette oder besser, sagte sich: Jetzt rauch' ich
erst 'mal eine und danach wird geschwoft. Der älteste Chefsohn
unterhielt sich am Rand der Tanzfläche mit einer Frau, er staubte
eine Zigarette ab. Der blöde Spruch: „Ja verträgst du das denn
auch? Nicht dass deine Eltern etwas dagegen haben?“ Bekam ihm
nicht. Er rauchte so, dass es zu sehen war. Dann nahm er allen Mut
zusammen und fragte den Alten, als der in der Nähe vorbeikam. Der
schenkte ihm eine angebrochene Packung, diese seltsame gute
Laune. Er schaute den Tanzenden zu, irgendwie beschissen, er sah
niemanden zum Schwofen.
Der Krug war schon wieder halb leer. Nach der fünften oder sechsten Zigarette begann es zu tanzen und zu schlingern. Eine Weile
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war die Bewegung auszuhalten. Er trank vorsichtiger, in ganz kleinen
Schlucken und trat die Zigarette vorzeitig aus. Dann ging es doch
nicht mehr, er stellte den Krug weg. Ein übles Gefühl, er bemühte
sich, unauffällig im Garten zu verschwinden. Er peilte die Treppe an
und kam an der Zapfstelle vorbei, Schiffsschaukel auf dem Rummelplatz, eisiger Fahrtwind. In der Dunkelheit schwankte er, verlor das
Gleichgewicht, fiel immer wieder gegen ein Geländer, an dem er sich
halten wollte. Ein mühsamer Gedanke: Einen heimlichen Winkel
suchen und ordentlich kotzen, dann wollte er wieder hoch, um zu
tanzen. Der Satz: Hätte nicht rauchen sollen, wiederholte sich ständig. Dann waren Stimmen zu hören, da kamen auch noch Leute die
Treppe hoch. Er riss sich zusammen, konzentrierte sich auf die Beine. Irgendwie gerade und unauffällig an den Leuten vorbei, dass nur
der Alte nichts erfuhr. Er glaubte schon, es geschafft zu haben,
plötzlich ein wilder, dumpfer Druck von unten. Der Klumpen im Hals
war weg. Die Idee, er müsse etwas sagen, eine Erklärung oder Entschuldigung, dann wollte er nichts als vorbei. Es fiel ihm nichts ein:
„Guten Abend“ quetschte er hervor, wie ein Mainzelmännchen.
Schon zuviel, an einem Rosenstrauch tropfte die Ladung in dünnen
Schlieren runter. Nichts wie weg. Hinter das Mäuerchen bei der
Tischtennisplatte, hinter die Hütte, auf den Misthaufen und in ein
paar Gebüsche, jedes Mal kotzte er von den Zehenspitzen bis zu
den Haarwurzeln. Er bestand nur noch aus dieser warmen fadsäuerlichen Brühe, nach und nach wurde sie bitterer. Entweder fühlte er sich zum Kotzen oder zum Heulen. Der Kopf dröhnte, in der
Nase war das Zeug besonders widerwärtig. Jedes Mal danach eine
kurze körperliche Erleichterung, dafür setzte die Gewissenszerfleischung ein und nur wenn ihn Kotzgefühle schüttelten, schwieg die
innere Stimme.
Es sollte viele Besäufnisse kosten, bis er abgestumpft war. Erst sehr
viel später kapierte er: Das war nicht der richtige Weg, den Quälgeist
abzustellen. Er hatte Angst, sich zu blamieren, nichts anderes hatte
der Vater ihm bei jeder Gelegenheit eingeimpft, also trank er zuviel.
Selbstquälereien, Angst vor dem Vater und Angst vor der Blamage.
Sie mochten einmal identisch gewesen sein: Reflex der eifersüchtigen Reaktion dieses Mannes auf die Überhöhung eines Kuckuckskindes, auf die Größenphantasien der Mutter. In diesem Augenblick
waren sie wieder eins und vereinfachten die Vieldeutigkeit der Welt.
Ge floh vor sehnsüchtig herbeigewünschten Erfahrungen. Solange
sie am Register der Erziehung gemessen wurden, blieb nicht viel —
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ein ausgelaugter Körper, Schüttelfrost und Hitzewellen in einer lauen
Nacht im Mai.
Auf dem Mäuerchen ließen die Krämpfe nach, und ein HeldenAbziehbild verwickelte sich über der eigenen Unfähigkeit in lange
Monologe aus kurzen Sätzen und wenigen Wörtern. Viele Erniedrigungen des Alten hallten dumpf in seiner Jauchegrube nach — so litt
das verkannte Barönchen der Mutter. Seine Spannungen wurden
vom Motor ihrer Lebensangst gespeist. Bis zur Konfirmation hatte er
Ambivalenzen als Klassenkasper ausagiert. Die Mädchen im Konfus
brachten einiges durcheinander: Wie konnte er ihnen als Kasper
imponieren? Seit einem Jahr lief er bei Typen mit, die Freundinnen
hatten und progressiv waren. Von der Raucherecke am hinteren
Schulausgang oder vom Imbiss mit den Flippern eine Straße weiter
an der Ecke erwartete er Ungeheures; zu den Emblemen gehörten
Boots, Jeans und lange Haare. Seine Art zu stören und auf sich
aufmerksam zu machen, wurde als Protestverhalten deklariert. Fehlten nur die richtigen Sprüche und Schlagwörter, seiner Sprache ging
es wie den Emblemen — richtige Stiefel oder eine echte Jeans konnte er sich auch nicht leisten. Gebrauchte Klamotten der Chefsöhne
waren zu ordentlich, abgenutzte gaben die nicht her. Parolen, die er
aufschnappte, schienen nicht echt, vermittelten kein Gefühl der Zughörigkeit. Die Leute erkannten ihn an, daran lag es nicht. Doch war
für sie selbstverständlich, was ihm nachgemacht vorkam. Er fühlte
sich nicht nur zu jung, die Haare schienen nicht nur zu kurz. Er gehörte nicht dazu, hatte eben das Gefühl, schlecht zu schauspielern,
während es bei anderen echt aussah: Ein Grund der verbiesterten
späteren Suche nach alternativen Selbstdarstellungen. Mochte er
andere überzeugen, sich selbst überzeugte er nie. Es dauerte lange,
bis er erkannte, dass die anderen eben zu bereitwillig glaubten, was
ihnen präsentiert wurde oder was sie selbst darstellten. Der Klassenkasper übertrug Familienkonstellationen auf die Schule und
machte sich in der gewohnten Weise wichtig. Der rebellierende
Schüler wollte ernst genommen werden und meinte, endlich er selbst
zu sein. Verbohrt und todernst, das Wechselspiel aus Rausch und
Kater hatte eine andere Verkleidung angelegt.
Der Vater taugte zum stabilisierenden Feindbild: Die Mutter bekämpfte in ihm jene Welt der Armut und Ausgeliefertheit, für die sie sich
schämte; der Sohn sah eine Autorität, deren Zeit längst abgelaufen
war. Ein Taschenbuch über antiautoritäre Erziehung — von der
Buchhändlerin empfohlen — lieferte ein Stückchen gemeinsame
Theorie. Wirkliche Autorität beruhe auf Überblick und Vorwissen,
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niemals aber auf bloßer Gewalt und Unterdrückung: Das konnte den
Arbeiter abwerten und den ungerechten, brutalen Vater demaskieren. Mutter und Sohn hatten ihre gemeinsame Wahrheit gefunden:
Dieser Mann war im Unrecht, aber nicht mehr lange!
Diese Wahrheit war der tatsächlichen Familienstruktur fremd, nie
geriet in den Blick, wie geschickt die Mutter immer einen Sündenbock gegen den anderen ausspielte: Ein Schema, dessen Logik sich
über Generationen erstreckte. Aufmotz und alternative Selbstdarstellung waren, auch wenn sie ihr übertrieben oder unordentlich vorkamen, ganz in ihrem Sinne. Die erstrebte Unabhängigkeit sollte nicht
gelingen, je mehr Beweisversuche angetreten wurden. Je extremer
die Stilisierungen ausfielen, desto trauriger waren die Selbstbestrafungen. Immer, wenn sie betonte: Ich bin doch deine Mutter, hieß
das im Klartext: Du bist mein Sohn, mein Eigentum. Ein Delegierter
hatte seine Abhängigkeit gründlich zu verkennen, die psychotische
Maschine war jeder Wahrnehmung entzogen.
Aus Gründen der Triangulierung schwimmt einer durch ein Fass Bier
und hängt sich zum Trocknen in den Rauchfang. Auf ein wettergegerbtes Gesicht kommt es beim richtigen Mann an, oft fehlt zum
großen Helden nur die belegte Whisky- Stimme. Mancher will bemuttert werden, aber nicht wahrhaben, was er will; mancher strampelt
sich im Auftrag frei, bis er unter der Last seiner scheinbaren Freiheit
zu stöhnen beginnt und ihn ein Teufel der Abhängigkeit reitet. Für
Ge hatten sich im letzten Jahr diese Möglichkeiten aufgetan. Zu unterscheiden wusste er sie nicht, der Nebel einer flower-powerProgressivität verwischte alle Konturen.
Die Frau des Chefs und die Mutter kamen runter und kümmerten
sich um ihn, fragten nach, wie es denn geschehen konnte, sprachen
Mut zu und steckten ihn ins Gartenhäuschen. Er sollte schlafen und
sich erholen, dann ginge es ihm schnell wieder besser. Da lag er auf
einer Liege und hoffte, dass ihm nicht schwindlig wurde. Gelegentlich drehte sich die Welt, es war gleichgültig, dass sie sich nicht um
ihn drehte. Dann versuchte er vorsichtig die Lage zu wechseln.
Manchmal fiel ihm der ruhige Atem der Schläfer auf, und er ärgerte
sich, denn jetzt war er doch hier gelandet. Der Magen meldete sich
seltener, aber er kam sich vor, wie eine verätzte, ausgedörrte Mumie: Ein bitter gegerbter Lederlappen im Mund, heiße trockene Haut,
brennende Augen. Er glaubte, nicht schlafen zu können vor Schande
und merkte nicht, wie er zwischendurch immer wieder wegpennte.
Einmal wachte er auf, sofort lief die Strafpredigt weiter. Er hörte, wie
sich irgendein alter Sack hinter der Hütte auskotzte. Der musste
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schon alt sein, röchelte und hustete, wer das wohl war? Die Predigt
war lauter: Der da draußen konnte weitersaufen, hier lag ein Versager.
Ein anderes Mal wachte er auf, als ein Typ an seiner Liege saß. Es
dauerte, bis er kapierte: Den hatte die Mutter vorgestellt. Der fragte,
wie es ginge und ob er nun überm Berg sei und meinte, dass das
jedem mal passiere. Dann berichtete er von lustigen Beobachtungen, die er im Laufe des Abends gemacht hatte. Er kam auf den
Alten zu sprechen. Der sei viel zu beschäftigt gewesen und außerdem habe er es schließlich nicht einmal nötig, nach seinem Sohn zu
sehen. Der Typ sprach ihm Mut zu, so schlimm würde das nicht werden. Der schien den Alten einschätzen zu können, so beurteilte ihn
Ge, wenn er sich gut fühlte. Sie unterhielten sich eine Weile. Ge
erzählte von dem ungerechten Schwein und redete sich heraus,
dass er an dem Tag fast nichts gegessen und nur deswegen das
Bier nicht vertragen habe. Der Typ war ganz sympathisch. Es baute
auf, mit ihm zu reden, und er vergaß völlig, dass sie sich nicht kannten — eine Wirkung des Alkohols. Sonst war er zurückhaltend gegenüber Fremden, Striezmethoden des Alten und eine behütende Mutter sorgten für Misstrauen. Das kurze Gespräch war ein kleiner Anfang, es sollte sich vieles verändern. Vorerst wurde das Versagergefühl abgeschwächt. Der Typ gab manchen treffenden Spruch, manche witzige Charakteristik zu bedenken. Endlich riet er, eine Weile zu
schlafen und verschwand wieder.
Ge dachte über die Sachen nach und vergaß zeitweilig seine Strafpredigten. Kein übler Typ, endlich mal einer, der durchblickte und
ganz klar sagte, warum durchschnittliche Erwachsene Idioten waren.
Der hatte begründet, dass man erst durch die moralische Verkrüpplung so wurde. Ein Versprechen: In Kindern und Jugendlichen finde
sich jene Lebendigkeit, die nötig sei, um mit dem Leben etwas anzufangen. Er fühlte sich angesprochen, schlafen konnte er nicht mehr,
war dösig und unruhig. Manchmal horchte er auf regelmäßige Atemzüge in der Hütte und wünschte, so zu schlafen, manchmal nahm er
ihnen übel, dass er hier liegen musste.
Irgendwann kam die Mutter, es sei schon spät, sie wollten gehen.
Dann fragte sie, wie es ihm ginge, ob er etwas essen wolle und begann — wie üblich —, über den Alten zu schimpfen. Das sei ein
ganz ordinärer Mensch, man müsste sich schämen. Der habe sich
den ganzen Abend amüsiert, sogar mit jungen Mädchen in Ges Alter. Allein schon wie der lachte und Witze erzählte und überhaupt —
was für Witze! Wie konnte ein Mensch allein so ordinär sein. Und als
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sie ihm sagte, dass sie gehen wollten, die Kinder zu Hause warteten,
habe er sie einfach ausgelacht. Ge tröstete sie und gab ihr recht, vor
fremden Leuten ließ man sich in keinen Streit verwickeln. Er war
froh, dass sie alleine fahren würden. Der Alte konnte ihn dann schon
nicht fertig machen, weil ihm schlecht geworden war.
Er ging mit der Mutter hoch und hatte ein bisschen Angst, fühlte sich
erleichtert, als nichts geschah, er wurde nicht weiter beachtet. Die
Frau des Chefs wollte die Mutter nicht so früh gehen lassen. Sie
packte Ge in die Hollywood-Schaukel, wickelte ihn mit Mutters Hilfe
in eine Decke ein und brachte einen dampfenden Teller. Nach dem
Beschluss der Mütter löffelte er Erbsensuppe. Die Mutter saß daneben, wartete und unterhielt sich mit einer Mutter. Aufmunterungen
und freundliche Sprüche, die Suppe schmeckte nicht übel, vertrieb
Kälteschauer, das dumpfe Gefühl des Versagens rutschte weiter
weg. Einmal kam der Alte vorbei, lachte, klopfte ihm auf die Schulter,
fragte sogar, ob es wieder ginge und prostete ihm zu. Und weg war
er. Irgendwo hinter dem Haus oder unten im Garten hörte man immer wieder genau die Lache, die die Mutter so hasste.
Ge löffelte Suppe, die Mutter redete fortwährend auf ihn ein. Jetzt
ginge es ihm doch schon viel besser, aber er könne etwas daraus
lernen. Er solle sich bei der Chefin bedanken und die Suppe loben,
um seine gute Erziehung zu zeigen. Das tat er dann auch. Er kam
sich blöde vor, hatte aber Grund, brav mitzuspielen. Einen zweiten
Teller wollte er seinem Magen dann nicht zumuten. Ja, die gute
Erziehung. Die Frau gab nicht nach, das sollte gut tun, noch einen
Schöpfer. Die Mutter unterstrich wieder, dass sie jetzt gehen wollten.
Ge hätte den Teller am liebsten abgestellt und wäre vorausgegangen. Aber so leicht kam er hier nicht weg. Er rührte ausgiebig und
blies jedes Mal auf den Löffel, trotzdem durfte er den Teller nicht
stehen lassen. Nebenbei erzählte sie, sie wollten warten, bis der
junge Mann so weit sei, der Nette, der sich so freundlich um ihn gekümmert habe. Er sei ohne Auto gekommen, weil er nicht fuhr, wenn
er etwas getrunken habe. So ein vernünftiger, netter, junger Mann,
sie habe sich gut mit ihm unterhalten. Er sehe sofort, wenn einer
intelligenter sei und vertrete die Meinung, das gehöre heute viel besser gefördert. Das sei doch sympathisch! Ob er übrigens mitbekommen habe, dass der nette, junge Mann beim Fernsehen arbeite?
Deswegen wollte er früh nach Hause, er sollte am nächsten Morgen
einen Film drehen. So etwas sei doch sehr interessant! Er arbeite
sogar am Sonntag, aber er habe unter der Woche viel Zeit, um sich
kulturell auf dem Laufenden zu halten. Und bevor er ein Taxi nahm,
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konnten sie ihn auch mitnehmen. Die Mutter sprudelte. Nur wenn die
Chefin in der Nähe war, sprach sie langsamer und leiser oder sie
wechselte bei einem Stichwort auf ein anderes Thema über. Ge war
das gleichgültig. Die Suppe machte müde, er wollte jetzt ins Bett.
Dass der Alte nicht mitfuhr, war das brauchbarste. Der hatte am
Sonntag ein Theater zu erwarten, vielleicht würde das von ihm ablenken. Natürlich war beeindruckend, was der Typ erzählt hatte, aber
unangenehm, ihn mit der Mutter zu erleben. Bei solchen Gelegenheiten legte sie ihm alles Mögliche in den Mund. Wenn er etwas sagen
und sie nicht kränken wollte, blieb nur Schwachsinn übrig. Oder es
fiel ihm nichts ein und während sie seine Schüchternheit entschuldigte, stellte sie ihren Sohn dar, wie sie ihn gerne gehabt hätte. Das war
schon sehr peinlich.
Schließlich kam der Typ. Sie verabschiedeten sich von ein paar Leuten am Haus. Der Alte war nicht zu sehen, Ge war froh. Die Mutter
schien so verärgert, dass sie während der Fahrt ein paar böse Sachen verlauten ließ. Bei Fremden spielte sie sonst lieber heile Ehe.
Der Kameramann stieg auf das Thema ein und erklärte, er verstehe
sie gut. Er beschrieb seine Mutter, die sich ein Leben lang über seinen Vater geärgert habe. Er sei schon lange tot, aber heute noch
spreche sie verbittert von dem Mann. Nebenbei erzählte er von seiner Kindheit und beeindruckte die Mutter. Ge döste vor sich hin. Was
sollte das Getue? Als der Typ mit ihm gesprochen hatte, klang das
echt und baute auf. Jetzt nur hohle Unterhaltung, die Mutter sprach
mit einem gewissen Ton auf der Zunge. Beim letzten Male klang sie
so, als sie mit seinem Geigenlehrer sprach. Der erwartete längst
nichts mehr von Ge. Wenn einer nicht wolle, solle man ihn nicht
zwingen. Sie hatte ihm in allem recht gegeben und doch gebeten, es
noch einmal zu versuchen. Die Quälerei zog sich ein halbes Jahr
länger hin. Ihr Opa hatte verschiedene Instrumente gespielt und ein
Schulorchester geleitet — aus dieser Richtung bezog ihr Traum von
der Bildung Energien. Der Kameramann entsprach den Erwartungen
an einen Gebildeten, was er sagte, hatte Hand und Fuß, das traf sich
gut. Leider klang er nicht mehr wie ein Progressiver, vorne unterhielten sich Erwachsene, während er auf dem Rücksitz hin und her geschaukelt wurde. Der Typ erzählte, was für eine Beeinträchtigung ein
Vater sei, der nur schaffen könne und sonst nichts, der nur daran
dachte, aus seinem Kind wieder einen Schaffer zu machen. Das
danke keiner, sein Vater sei früh gestorben. Völlig abgearbeitet und
geistig beschränkt — was sollte so ein Mensch mit sich anfangen.
Tragisch sei, wenn die Intelligenz der Kinder beeinträchtigt werde. Er
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habe Glück gehabt, der Zufall und viele Anregungen mussten mitspielen, in dieser Hinsicht sei er eine Ausnahme. Er habe einen
Freund gehabt, der sich für ihn einsetzte und mit den Lehrern sprach
und vieles mehr. Sein Vater sei gegen eine weiterführende Schule
gewesen, es habe manche Mühe gekostet. So ein Vater gönne den
Kindern nicht, dass sie es später besser haben konnten.
Er fragte, wie Ge in der Schule mitkam, und als die Mutter ein paar
Schwierigkeiten durchblicken ließ, bekräftigte er seine Einschätzung.
Das sei üblich, wenn einer intelligenter sei. Gerade, wenn der Vater
Schwierigkeiten mache, fördere das vielleicht sogar die Intelligenz.
Man müsse sich nur vorstellen, wie viel mehr ein solcher Heranwachsender verarbeite, anders als einer, der nur dem eignen Vater
ähnlich werden müsse; Abschlüsse und spätere soziale Stellung
kämen von alleine. Geschickt hatte er das Thema soziale Ungerechtigkeit mit dem Familienwahn verbunden. Er erzählte, wie es bei ihm
ausgesehen hatte und konnte begründen, wie gut er die Lage der
Mutter verstand. Alles was er sagte, kam an. Ge mühte sich mit Fragen ab, die sie ihm stellten, meist antwortete die Mutter. Sie machte
einen aufgedrehten Eindruck und sprach mit dem Typ, als würde sie
ihn schon lange kennen.
Das Gespräch landete bei seiner Arbeit und der Kameramann berichtete, was er am Morgen zu tun habe. Er drehe bei Winzern und
könne sich nicht vorstellen, was in dieser Jahreszeit überhaupt zu
sehen sei. Aber er müsse nichts vorbereiten, das gebe nur einen
kleinen Beitrag für die Abendschau. Er sei bestimmt nach einer
Stunde fertig, dann habe er ab zehn Uhr frei. Wenn das Wetter mitmachte, wolle er ins Freibad. Es lag nahe, vorzuschlagen, der Sohnemann könne mitkommen. Der wurde gefragt, müde hatte er nichts
dagegen. Die Mutter entschied und machte den Termin aus. Als der
Typ vor seiner Haustür ausstieg, stand fest, dass er nach dem Mittagessen anrufen würde, um Ge abzuholen.
Die Mutter fuhr nach Hause. Die Geschwister schliefen bereits, behutsam bekamen sie einen Gutenachtkuss. Ge sollte sich keine
grauen Haare wachsen lassen. Obligatorisches Geschimpfe über
den Alten: Der saß im Garten, feierte und war so schnell nicht zu
erwarten. Die Nacht konnte für ein paar Stunden alles zudecken, Ge
fiel ins Bett wie ein Sack.
Theater der Grausamkeit:
Opfer und Sündenbock waren von Anfang an gemeinschaftsbildend, sorgfältig hergestellte Schuld hat noch heute diese Aufgabe zu erfüllen. Eltern
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brauchen ihre Kinder, um eigene Verkrüpplungen ertragen und abwälzen zu können; die Gesellschaft ist auf Kriminelle und Geisteskranke angewiesen, wenn die Norm ausgehalten werden soll. Familienkonstellationen als Machtbalancen ventilieren dieses Spiel: Wer
sie nicht kennt, bleibt ihnen treu. Die Kunst, Konstellationen zu
handhaben, sie aufzusprengen, sie in den Dienst der eigenen Zwecke zu stellen oder sie zu unterwandern, ist Voraussetzung jeglicher
wachen Lebendigkeit.
Die Weite des Horizonts menschlicher Möglichkeiten scheint ursprünglich lebensbedrohend. Den beruhigenden Gewissheiten der
Väter entsprechen infantiles Strafbedürfnis und schlechtes Gewissen, Versuche der gefährlichen Welt zuvorzukommen und den Kontakt auf Rituale zu reduzieren. Spätere Formen der Askese sperren
sie aus. Das Versprechen, die Angst zu bannen, dient als Köder der
ausbruchssicheren Gefängnisse des homo faber, die Charakter,
Geschichte oder Sinn getauft wurden. Wie zuverlässig, wussten
schon die alten Römer: Der Vater ist immer ungewiss. Längst vor
dem Aufbrechen der Horizonte wurde in der Sumpfwelt der Mütter
über seinen Stellenwert entschieden.
Eine Frau versuchte Nähe und Bezug zu meiden und spielte einen
abwesenden gegen den anwesenden Mann aus: Das Kind garantierte ihre Überlegenheit und diente als Kampfplatz widerstreitender
Interessen, als Delegierter von Rachegelüsten. Der Familienroman
einer Neurotikerin wurde für Ge wirkliche Welt. Es kriselte von Anfang an in der Ehe, Ge galt als Spritzling eines Rechtsanwalts. Der
hatte die Rechtsanwaltsgehilfin gelegentlich ausgeführt, Bildung und
Familie als Aphrodisiakum verwendet, von der großen Liebe geschwärmt. Heiraten durfte er sie nicht. Seine Familie bestand auf
dem Abitur der zukünftigen Frau und schickte den Sohn auf Reisen.
Die Unterlegene identifizierte sich mit der ihr angetanen Schmach,
um sie auszuhalten: Ihr Traum von der Bildung verdeckte ein Trauma.
Die enttäuschte junge Frau hatte eine Ehevermittlung aufgesucht
und den nächstbesten geheiratet. Weil er gut tanzen konnte, wie sie
sagte, und weil er mit ihrer Hilfe zu dem werden sollte, den sie sich
wünschte. Allerdings konnte sie der Versuchung nicht widerstehen,
ihren Rechtsanwalt kurz nach der Heirat zu treffen. Sie ließ sich anbumsen, machte ihn zum Patenonkel und verfügte seitdem über
einen Zweitmann. Sie wünschte sich ein Mädchen, Ge wurde ihr
Traumträger. Im Glanz ihrer Augen war zu lesen, dass er sich alles
erlauben konnte, solange er den Kopf für sie hinhielt.
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Gegenüber Mann oder Nachbarn war sie stolz auf den Erzeuger,
obwohl seine Urheberschaft nie bestätigt worden war. Der Traumträger bewies über den Umweg eines imaginären Vaters ihre Besonderheit; die Ehe mit dem Hilfsarbeiter machte sie zur Prinzessin auf
der Erbswurst. Wenn der Mann ihre phantastischen Luftschlösser
lächerlich machen wollte, nannte er sie „eingebildete Pute“ und das
Kind „den Herrn Baron“.
Sie brauchte einen Schuldigen, die Wünsche durften nicht irren: Die
erpresste Besonderheit saugte als Ventil des Imaginären an allem,
was der Mann zu leisten hatte. Zu Beginn wollte sie aus ihm einen
Idealmann machen, aber sie hatte allzu gut gewählt. Seine Mutter
hatte den unehelichen Sohn ins Heim gesteckt, sein Vater war nicht
bekannt; er galt als Störfaktor der Erwartungen von Adoptiveltern, als
Problemfall in den Augen katholischer Schwestern. Er war gestimmt
auf die Gesetzmäßigkeiten der Ehe — von der die Schwestern der
Frau abrieten.
Sie verheizte einen, der auf ihre Hilfe, ihren Willen angewiesen war
und machte ihn zum Arbeitstier. Prompt taugte er als Versager, was
er arbeitete bewies nur immer wieder neu, wie primitiv er war; sie
durfte ihren Träumen nachhängen. Welch ein Spiel! Er hatte keinen
Schulabschluss und brach alle Versuche ab, den Anforderungen
einer Lehre als Bäcker, Gärtner oder Polsterer zu genügen. Nachdem er über ein Anlernverhältnis chemischer Reiniger geworden
war, mit den Jahren Abteilungsleiter in einer großen Firma, dann
Geschäftsführer einer kleinen Firma, durfte es nicht mehr so weitergehen: Geschäftsführer in einem Einmannbetrieb, der ein oder zwei
halbtags als Büglerinnen arbeitende Hausfrauen unter sich hatte. Die
Mutter meinte, für einen leitenden Angestellten müsse beim Arbeitsamt etwas zu holen sein — es war empörend, dass er nur zum Verkäufer umgeschult werden konnte. Außerdem warf sie ihm vor, er sei
nie zu Hause — sein einziges wirkliches Plus. Arbeit diente zur Verdumpfung, das Langzeitprogramm hieß: Vernichtung durch Arbeit.
Wie seltsam objektiv wurde der Zwang, wenn er wenigstens den
Führerschein machen sollte und im Garten oder auf Feldwegen übte.
Alle drei Kinder hinten im Wagen und immer die Sprüche in der Luft:
Er solle sich beherrschen, solle sich konzentrieren, solle sich zusammennehmen. Er meldete sich nicht einmal bei einer Fahrschule
an. Zur Umschulung kam es nie.
Nach siebzehn Jahren Krise wurde die Ehe geschieden. Die Mutter
folgte ihrem Sicherheitsbedürfnis, erst musste sie einen Nachfolger
finden: Einen Gebildeten. Obwohl Ge zu dieser Zeit in der Schule
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das Image des Revoluzzers besaß, war er nicht auf der Seite des
Opfers. Das galt nur, solange man selbst zu den Opfern gehörte.
Obwohl er Parolen vom Klassenkampf, vom Sieg des Proletariats, im
Mund führte, war er nicht auf der Seite des Alten. Seine Prügel vergaß er nicht, er sah nur den Kleinbürger, den die Mutter aus ihm
gemacht hatte. Er half nicht beim Hacken, aber er schlüpfte in eine
Vermittlerrolle und schenkte dem Alten Gehör, um ihm weiterhin
jedes Recht abzusprechen. Er blieb sogar und zog nicht mit zur Mutter, er wollte keine Freiheit einbüßen. Der Alte begann zu betteln, die
Kinder zu umwerben und konnte sie nicht als Verbündete gewinnen.
Die einzige Unterstützung fand er bei dem Sohn, den er nicht seinen
eigenen nannte, er blieb als Unterlegener zurück. Ein halbes Jahr
nach der Scheidung hatte er einen Arbeitsunfall, war ein Jahr krankgeschrieben, später arbeitsunfähig, dann arbeitslos. Er übte sich als
Witwentröster und wurde bei dem Versuch zusammengeschlagen,
Zuhältern unter seinen Bekannten Arbeit abzunehmen. Drei Jahre
ging er Ge bei jeder Gelegenheit auf den Wecker, vergrub sich immer tiefer in die Geschichte seiner Ehe, um zu beweisen, dass er
keine Schuld habe. Manchmal versackte er im Familienalbum, in der
Regel stand er unter Alkohol- und Tabletteneinfluss. Eine letzte Erpressung sollte wenigstens nachträglich zeigen, dass seine Frau ihn
kaputt gemacht hatte: Er nahm sich mit 46 Jahren das Leben. Sein
Tod war eine Erleichterung. Ge war am Tag seiner Volljährigkeit in
eine Wohngemeinschaft umgezogen, Schuldgefühle beseitigte der
Bruch mit der Mutter.
Some kind of love: Sonntag früh, ein kleines Zimmer in einer Sozialwohnung. Wenn man die Tür öffnet, befindet sich
links ein alter, mit Raufaser tapezierter Kleiderschrank, an den eine
ebenfalls tapezierte und mit einer Sperrholzplatte abgedeckte Steinspüle anschließt. Zwischen Spüle und Schrank bleibt eine kleine
Nische für die Füße. Gegenüber und von der geöffneten Tür verdeckt, steht ein niedriges Regal voll Schulbücher und Kruschtelkistchen, oben drauf ein Kassettenrecorder, einige Kassetten, ein vorsintflutliches Röhrenradio. Auf das Regal folgt ein Klappbett — heruntergeklappt verstellt es den Weg durchs Zimmer, Bettkante und
Spüle sind etwa zwanzig Zentimeter von einander entfernt. Am Fußende des Betts wird der Raum weiter; linker Hand ein Tisch mit
abgerundeten Ecken, auf dünnen Füßchen in Messingschuhen,
rechts ein Schreibschrank, der in einem oberen Fach hinter Glas
eine Reihe Jugendbücher bewahrt, ein Fenster zur Straße, unter
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dem ein Zentralheizungskörper angebracht ist. An den Wänden ein
paar Poster von Popgruppen, auf dem Bett ein Zylinder, eine
Schreibtischlampe und eine Grünpflanze, auf dem Schrank ein Fotolabor in zwei Kisten zusammengepackt, auf der Holzplatte ein paar
Schulhefte, Buntstifte, ein Glas mit einem Rotweinrest. Vor dem
Sitzplatz zerdrückte und verdrehte Ölfarbentuben, ein paar Pinsel,
ein verschmiertes Uhrenglas als Palette, ein halbfertiges Bild auf
Zeichenpapier, auf dem Tisch drei kleine Sofakissen und eine leere
Fruchtschale, auf dem Schreibschrank ein aus gerollten, verklebten
Papierhülsen und Zwirn nachgebautes Modell des Floßes Kon-Tiki,
zwei Pfeifen, ein Stopfer, ein lederner Tabaksbeutel.
Sonntag früh, grelles Sonnenlicht, ein verwühltes und um ein Bein
geschlungenes, schweißnasses Federbett. Das andere Bein hängt
neben dem Bett schräg runter, ist abgeklemmt eingeschlafen. Die
Sonnenstrahlen, vom Store in kleine Rechtecke zerlegt, brennen im
Gesicht, auf der Stirn steht schmieriger Schweiß. Halbwach zieht Ge
den Fuß zurück, spürt das unangenehme Kribbeln. Der Kopf dröhnt
in der Hitze. Er ist nicht richtig da und baut träumend die Andeutung
einer Striptease-Szene weiter aus, will ein bisschen mehr entdecken,
als vor ein paar Tagen im Fernsehen zu sehen war. Eine Morgenlatte sorgt für angenehme Gefühle. Zum Feuerbohren ist er noch nicht
wach genug.
Soweit er sich zurückerinnert, hat er im Bett vor dem Einschlafen am
Pimmel gespielt. Die schönsten Bilder von vollbusigen Frauen stellten sich ein, wenn er Ritterphantasien umsetzte und nach einer großen Tat, vielleicht nachdem er schwere Wunden empfangen hatte,
an eine Brust sinken durfte. Irgendwann begann sich der Pimmel
immer unangenehm anzufühlen. Jahrelang hatte er sich dann Szenen aus einem Kasperletheater vorgestellt, das dumme Gefühl verschwand wieder; wenn er nicht schlafen konnte, begannen Phantasien und Spielereien von Neuem. Einmal hatte ihn ein Film im Fernsehen so erregt, dass er länger als üblich rubbelte. Er war dreizehn
Jahre alt, Aufklärungsunterricht war für die siebte Klasse noch nicht
vorgesehen. Als eine Nachbarin nach einem Kuraufenthalt ein Kind
von einem anderen Mann bekommen hatte und der Alte lästerte,
fragte Ge die Mutter, wie so etwas geschehen konnte. Er erhielt die
ausweichende Antwort, die Frau müsse einem Mann beim Baden zu
nahe gekommen sein. Das war natürlich zum Fürchten und passte
zu den vielen Klagen und Ermahnungen: Er solle darauf achten,
dass es ihm später nicht gehe wie der Mutter und er durch ein Kind
gezwungen sei zu heiraten. Zum Fürchten, man musste nur an den
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Alten denken. Dann erzählte ihr eine Nachbarin, wie man ein Kind
aufklärte. Sie machte es spannend und schrecklich feierlich, als sie
ihn am Küchentisch Platz nehmen ließ: Er sei nun alt genug, um zu
erfahren, wo die kleinen Mädchen und Buben herkamen. Sie erzählte von den Bienen und den Blumen und schließlich sagte sie klipp
und klar, die Menschen pflanzten sich in gleicher Weise fort. Er durfte Fragen stellen und war durch den feierlichen Ton stillgestellt, ihm
fielen keine ein. Außerdem wollte er nicht zugeben und die Mutter
erschrecken, dass er manches genauer von Freunden wusste: Andeutungen, Bildchen und Witze.
Nach dem Film hatte er wie üblich zum Einschlafen am Pimmel gespielt und statt eines unangenehmen Gefühls war es immer besser
geworden. Auf einmal und ganz überraschend ein Pinkelgefühl, Ge
sprang auf, packte sich schnell in die Schlafanzughose und rannte
aufs Klo. Er hatte befürchtet, ins Bett zu strullen — und auf dem Klo
kam nichts. Er ging wieder ins Bett, die Eltern im Wohnzimmer sollten nichts merken. Der Schwanz gab keine Ruhe, er wiederholte das
Spiel nach einiger Zeit mit dem gleichen Ergebnis. Im Lauf der nächsten Abende kam er langsam hinter den Mechanismus: Das war
wichsen. Wenn der Pimmel schön steif war, drehte er sich auf die
Seite und begann, das Ding zwischen den Händen zu rollen. Später,
als es auf dem Rücken liegend gelang, taufte er das Spiel: Feuerbohren. In einem Roman hatte er gelesen, die Wilden drehten einen
Hartholzstab in einer Unterlage aus weicherem Holz und erzeugten
schwelendes Holzmehl.
Irgendwann hatte ihn die Mutter auf Flecke in seinem Laken angesprochen. Sie wisse, was er täte, er brauche sich keine Sorgen zu machen, das sei völlig unschädlich. Er solle es nur nicht zu oft tun,
sonst würde die Schule drunter leiden. Seltsame Zeiten: Petrolg
glaubte noch, man könne sich das Rückenmark leerwichsen. Nach
der Verführung und einigen Lektionen Pädas hätte Ge Spaß gehabt,
die Schule leiden zu lassen. Er holte sich bei jeder Gelegenheit einen runter, ob er Spannungen hatte oder geil war und fühlte sich
herrlich unverkrampft: man musste locker sein.
Noch dachte er nicht einmal ans Feuerbohren. Ein Geräusch auf der
Straße, ein grölender Besoffener, zog ihn rüber, er musste pinkeln.
Auf dem Klo erinnerte er sich an die Schande bei der Gartenparty,
das war ja grauenhaft. Er ging wieder ins Bett und versuchte, ein Eck
zu schlafen. Aber es war schon Halbneun vorbei und viel zu hell im
Zimmer. Er fühlte sich ausgedörrt, im Genick und auf dem Hinterkopf
drückte ein Sandsack. Es half nichts, das Kissen doppelt zu legen
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oder ganz flach unter der Decke zu verschwinden. Er fühlte sich
beschissen, der ganze Körper signalisierte ständig: VersagerVersager-Versager. Wenn er an den Alten dachte, der würde den
Herrn Baron als Kotzbeutel abkanzeln oder schlimmer, die Zeit wieder heruntersetzen, wann er abends zu Hause sein musste — nicht
auszuhalten. Langsam zog er sich an, versuchte Zeit zu strecken.
Gegen den schlechten Geschmack im Mund putzte er zweimal die
Zähne. Er schaute sogar eine Spalte Englischvokabeln an: Nur nicht
zu schnell zu denen hoch. Er vergaß, dass der Alte an Sonntagen,
wenn sie nicht in den Garten fuhren, den halben Tag verschlief.
Schließlich ging er doch.
Die Eltern hatten jahrelang eine größere Wohnung gesucht. Eine
fünfköpfige Familie passte in die Zweizimmerwohnung, solange die
Kinder klein waren. Das größere der beiden Zimmer war durch
Schränke und eine Holzwand abgeteilt worden, dahinter befand sich
das auseinandergesägte Ehebett, davor ein Esstisch, das Klappbett
und zwei Sofas. Genug Belastungen lenkten die Eltern von ihren
Ängsten und Wünschen ab: Ständig war das Konto überzogen, kleine unvorhergesehene Ausgaben bedrohten die Haushaltskasse.
Obwohl sie viele Erschwernisse in den Alltag einbauten und immer
ein objektiver Maßstab der Unzufriedenheit präsent war, hatte es
irgendwann geheißen, es könne nicht so weitergehen. Es gab ja
Bekannte, man wollte jemanden einladen oder einen Kindergeburtstag feiern. Eine größere Sozialwohnung musste her: Aber in der
Regel waren Kinder unerwünscht oder die Wohnung kam viel zu
teuer.
Dann starb eine alte Frau im Haus, von deren Sohn abenteuerliche
Geschichten erzählt wurden: Er habe seiner Mutter nur ärger gemacht, sei von zu Hause weggelaufen und völlig verkommen,
schließlich in der französischen Fremdenlegion gelandet und verschollen. Der Alte räumte die Wohnung, sonst gab es niemand, der
für die Haushaltsauflösung zuständig gewesen wäre. Als Hausmeister war er nicht verpflichtet, aber er wühlte mit Begeisterung in Gerümpel, um brauchbare Dinge zu finden. Außerdem wollte er einen
guten Eindruck auf den Hausbesitzer machen. Das hatte Erfolg, sie
bekamen die etwa vier Quadratmeter größere Wohnung und außerdem eine Zusage: Noch zwei Zimmer unterm Dach, wenn der Mieter
ausziehen würde. Das war abzusehen: ein Jugoslawe, der zurückfahren wollte. Gelegentlich sprang der Alte nach Feierabend in der
Wäscherei des Hausbesitzers ein und arbeitete an der Reinigungsanlage. Die Zimmer waren ihnen sicher.
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Als sie Verwandte mit eigenem Reihenhaus in Mannheim besuchten,
ließ sich die Mutter erklären, wie man eine Treppe von einem Stock
in den nächsten legte. Sie träumte von einer Wendeltreppe für ihren
späteren Dachstock. Sie wollte schließlich innerhalb der eigenen vier
Wände und nicht im Treppenhaus von einer Wohnung zur anderen
gehen. Ein eigenes Haus war ihr größter Traum, in der Ostzone hatte ihre Familie einst Häuser und entfernte Verwandte im Westen
konnten mindestens eine Eigentumswohnung vorweisen.
Dann kam es anders. Ein alter Mann im vierten Stock starb. Verwandte holten wertvolle Stücke aus dem Nachlass des ehemaligen
Schiffskochs ab, der Alte räumte eine Wohnung. Sie hatten schon
einen ganzen Schrank voll alter Bettwäsche und Handtücher, dennoch brachte er noch ein paar Schubladen voll Geschirr und Silberbestecke dazu. Dann wurde aussortiert und die älteren Stücke, sei's
geflickt, sei's angelaufen, wanderten ins Gartenhaus, während der
Rest auf seine Verwendung warten durfte — wie vieles, was der Alte
organisierte. Ein Teil landete später, als Ge die Wohnung nach dem
Selbstmord auflöste, in der Gebrauchtwarenvermittlung und bei einer
Altkleidersammlung.
Der Hausbesitzer versprach ihnen die untere Wohnung, wenn sie
einen Wohnberechtigungsschein vorweisen konnten. Kein Problem,
die Mutter bekam sogar die Erlaubnis, ein Zimmer zu vermieten.
Eine einfache Rechnung ergab: Möbliert vermietet brachte das Zimmer mehr Geld, und sie würden Wäsche waschen oder ähnliches.
Der Untermieter zahlte fast die Miete der zweiten Wohnung, für die
Hausmeistertätigkeit wurden die Heizkosten aufgerechnet. Die Mutter spielte mit dem Gedanken, ein Haus im Haus zu haben, und Ge
kam zu einem eigenen Zimmer; die zweite, überflüssige Küche wurde umgebaut, für den Untermieter reichte eine Kochnische.
Es war seltsam still und bedrohlich, als er in die obere Wohnung
kam. Der Alte musste sehr spät nach Hause gekommen sein, die
Mutter hatte ihn wohl unten nicht mehr reingelassen. In solchen Fällen schlief er im Wohnzimmer auf dem Sofa und wartete nur auf eine
Gelegenheit, seine schlechte Laune auszulassen. Der Gedanke war
nicht abwegig: Das gehörte zu den Errungenschaften der zweiten
Wohnung, schließlich sollte es nicht mehr lange dauern und er bekam den Schlüssel des vierten Stocks abgenommen, sein Bett wurde entgültig hochgestellt. Die Mutter baute ihre Macht systematisch
aus und nutzte die Möglichkeit, Untermieter nach Bildungskriterien
und Ehetauglichkeit auszuwählen. Der Alte war selbst schuld,
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schließlich hatte er bei der ersten und einzigen Untermieterin alle
Register gezogen, um sich wichtig zu machen.
Mit einem schlechten Gewissen kann einer nicht auf die beruhigende
Erklärung kommen: Der Alte war noch nicht da! Die Mutter schimpfte, und Ges Schande schien vergessen. Beim Chef wusste keiner
vom seinem Verbleib. Um drei Uhr früh sollte er mit dem Verwalterehepaar und ein paar anderen gegangen sein. Sie hatte bei denen
angerufen, doch da ging natürlich keiner an den Apparat. Das waren
ganz verluderte, die schon bei seiner Altstadttour mitgemacht hatten.
Ge wurde klar: Seine Aktien stiegen! Wenn der nicht da war, konnte
er ihn nicht ärgern, erster Schritt; und wenn er kommen würde, zweiter Schritt, gab es erst mal Krach. Trotz Pochen im Hinterkopf und
schweren Armen, trotz der Mühe, den Tadderich beim Zerbröseln
des Kuchens zu verbergen, ging's ihm besser. Wenn der Alte endlich
kommen würde — hoffentlich nicht zu bald —, hatte er genug Dreck
am Stecken. Der Mutter war anzusehen, wie sie es genoss, in jeder
Hinsicht im Recht zu sein.
Zum Mittagessen war der Alte noch immer nicht da. Das beunruhigte
keinen mehr und vergrößerte nur sein Schuldkonto. Ge dachte hin
und wieder an die Verabredung, aber ungern, denn es war etwas
Neues! Er stellte sich vor, was er alles verpatzen könnte; also wollte
er lieber nicht und dachte sich, was er verpaßte. Neues machte ihm
Stress. Als ihn die Mutter beim Essen an den Kameramann erinnerte
und sagte, dass er sich ordentlicher anziehen solle, wurde er unruhig. Sie glaubte, dem Typ zu gefallen, und Ge sollte ihr keine
Schande bereiten.
Zu spekulieren, der Kleine habe geahnt, was auf ihn zukommen
wird, ist müßig. Dank Mamas Hysterie war er unfähig, ruhig abzuwarten. So wie ein Elternabend, ein Kaffeekränzchen, eine Besorgung in der Stadt, Mutters Stresspegel mächtig ausschlagen ließen,
reagierte auch der Sohn auf jede Fete, aufs Kino oder Freibad angespannt. Das waren die Erwartungen! Oder besser, die Furcht,
seine Wünsche könnten aus dem Zusammenprall mit der Wirklichkeit beschädigt hervorgehen.
Ge begann fast sehnsüchtig auf das Läuten des Telefons zu warten.
Schließlich gab es den Alten und ganz sicher Krach. Im Freibad
konnte es nur schöner sein. Er hatte mit der Mutter beim Essen
besprochen, dass es angenehmer wäre, wenn der Alte erst später
käme. Sie hatte nur stumm gelächelt. Er sagte sich, häufig genug
wäre sie lieber woanders gewesen, als hier in der Wohnung und
verheiratet mit diesem Mann. Er ging runter und lernte eine Spalte
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Französischwörter. Dann kam er wieder hoch, um die Telefonnummer des Kameramanns herauszusuchen. Er fragte die Mutter nach
dem Namen. Im Telefonbuch stand er nicht, weder unter der Straße,
in der sie ihn abgesetzt hatten, noch unter einer anderen. Was
brachte es, unter Peter Gog nachzuschauen, Ge konnte den Namen
erst abends an der Klingel ablesen: Der Typ hieß Petergog. Ihn im
Freibad zu fragen, hätte bedeutet, die Suche im Telefonbuch erklären zu müssen.
Endlich läutete das Telefon. Die Mutter ging an den Apparat, nickte
Ge zu. Sie sagte fast nichts und verabschiedete sich gleich wieder.
In einer Viertelstunde sollte es soweit sein. Während er seine Badetasche packte, klingelte es oben, die Glocke war in seinem Zimmer
zu hören. Kurz zuvor hatte einer dreimal auf der Straße gehupt. Aber
das kam häufig vor, beachtete keiner, irgendein Idiot, der sich am
Sonntag wichtig machte. Er ging hoch und setzte sich ins Wohnzimmer. Als es wieder klingelte, öffnete die Mutter die Tür. Die beiden
begannen im Flur über alles mögliche zu reden. Was, wenn jetzt der
Alte auftauchte? Der wäre garantiert gegen das Freibad. Das dauerte viel zu lange! Ge hatte seine Lufthansatasche neben der Tür abgestellt, stand blöde rum und wusste nichts mit sich anzufangen. Die
Mutter wendete sich ab und zu an ihn und stellte idiotische Fragen.
Er hätte sich am liebsten verzogen. Der Kameramann musste denken: Ein Blödel. So sagte er ja oder nein oder nickte und fand das
Gequatsche doof. Er wirkte linkisch — ein komischer Kontrast zur
Herzlichkeit der Mutter. Sogar vom Alten war die Rede. Verärgert
spielte sie nun die besorgte Gattin. Der Kameramann beruhigte sie,
sie brauche sich keine Gedanken zu machen; er unterstrich nebenbei, dass solche billigen Vergnügungen nicht in seinem Sinne wären.
Der Vater käme ganz bestimmt in der nächsten Zeit, er müsste
schließlich ausschlafen. Ge hatte diese eine Sorge — wenn der
wüsste, wie wenig Schlaf der Alte brauchte.
Dann waren sie endlich soweit. Es konnte losgehen, um sieben Uhr
wären sie spätestens zurück. Im Treppenhaus klang der Typ, als
unterhielte er sich noch mit der Mutter. Unangenehm, was sollte Ge
mit einem Erwachsenen reden? Ein ständiger früherer Anschnauzer
des Alten lautete: Halt's Maul, wenn du nichts gefragt bist! Er
schwankte meist zwischen pampigen Frechheiten und verlegener
Zurückhaltung. Jetzt brauchte es zum Entkrampfen einen flitzigen
Fiat-Zweisitzer mit heruntergeklapptem Verdeck, weiß mit roten Sitzen, die neugierigen Blicke manches Mädchens, mancher Frau, eine
Unmasse an Witzen und lustigen Erzählungen. Der Kameramann
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erzählte gern, wusste, wie gut er beschreiben konnte, und nahm so
Spannungen und Ängsten den Wind aus den Segeln. Langsam, erst
nach und nach lief Ge warm. Späteren Erzählungen zufolge war
Päda verwundert, hatte regelrecht gestaunt, wie langsam er auftaute, wie verstockt die Unbeholfenheit und Schüchternheit wirkten.
Angeblich schwäbische Mentalität. Dabei fühlte sich Ge schon fast
wieder auf dem Damm. Er konnte nicht richtig lachen und wusste nur
knappe Antworten auf weite Gebiete umfassende Fragen. Er war
unfähig, locker und sprachgewandt aufzutreten: Eingeprügelte Gewohnheiten wirkten nach. Ihm war beigebracht worden, wie wichtig
die Einschätzung der Leute, wie schrecklich eine Blamage war. Unter solchen Voraussetzungen konnte er sich immer nur wie ein Depp
benehmen, egal, was er tat und wenn er sich vorsichtshalber
schüchtern verkroch.
Er brauchte Zeit, bis er in der Lage war, statt des Fremden einen
Bekannten wahrzunehmen. Früher war es häufig vorgekommen,
dass er mit der Begründung, er habe etwas nicht richtig, nicht ehrlich
gesagt, eine dumme Haltung gezeigt, frech ausgesehen, gestraft
wurde oder einen Wunsch abgeschlagen bekam. Die Folge war,
dass er lange überlegte und probte, was er wie sagen wollte. War er
wieder erfolglos gewesen, musste er den Fehler bei sich suchen und
feilte endlos an den Formulierungen, malte sich immer wieder aus,
wie er Ausrede oder Bitte hätte anbringen müssen. Es war eine
Technik der Besessenheit, um nachträglich und in Gedanken wett zu
machen, was im entscheidenden Augenblick nicht gelungen sein
sollte. Der traurige Ursprung späterer Formulierfreuden, zu dem
Päda erste Zugänge fand. Der Tick des Alten und viele schmerzvolle
Versuche, mit den erlittenen Niederlagen zurechtzukommen, wurden
zu einer Technik verknotet: Wieder und wieder Situationen durchzuspielen, um knallige und treffende Formulierungen zur Hand zu haben. Dann brauchte es Geduld, bis sich der richtige Ansatzpunkt
zeigte, und er den Mut hatte, aufs Improvisationsvermögen zu vertrauen. Eine lange Zeit, in der sich Erfahrungsspielraum wie Erwartungen wandelten, und er die Gewissheit pflegen durfte, mit der Welt
des Vaters nichts mehr zu tun zu haben. Jahrelange Aufmunterungen waren nötig.
Als Erziehungsmodell ist die Frustmethode des Alten, obwohl sie
den Wahn eindämmte und bei Krüppeln weit verbreitet ist, nicht zu
empfehlen: Wer garantiert, dass rechtzeitig ein Schwuler zur Hand
sein wird? Vorerst war ein Punkt erreicht, an dem der Hang zur Stilisierung als Technik des Verpassens funktionierte: Erhaltung der
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Schüchternheit unter Bedingungen der Illusion ihrer Überwindung.
Lange Haare oder spätere Flickenjeans, die ein in den Hosenboden
eingesetztes Kaninchenfell zierte, gehörten ins Schema. Ein Stigma
wurde zum Emblem des Outsiders umgefälscht, die Narben nun
liebevoll gepflegt. Bei Rilke heißt es: Das Schöne sei des Schrecklichen Anfang — nur manchmal ist es vielleicht umgekehrt.
Der Kameramann erzählte Witze zum Entkrampfen und Geschichten
aus der Berliner Studentenbewegung: „Das gibt's doch nicht! Du
weißt nicht, was die APO ist? “ Er berichtete vom Besuch des PopMusicals 'Hair' und sprach seine Enttäuschung über die völlig durchkommerzialisierte Carnaby-street aus. Nebenbei steckte er sich eine
Zigarette an und als hätte er nur nicht dran gedacht: „Oh'tschuldigung“, bot er dem Kleinen auch eine an. Ge wusste nicht recht.
Wenn der Fahrtwind in den Haaren wühlte, spürte er keinen Brummschädel mehr. Er zögerte, wollte aber nicht zugeben, dass er Kopfschmerzen befürchtete. Es sollte keinen Anlass geben, auf den
Abend zu sprechen zu kommen. Dann nahm er die Zigarette doch,
rauchte und der Gedanke, dass er sie wieder vertrug, munterte auf.
Was der Körper bereits gestattete, musste der psychischen Ökonomie erst abgetrickst werden. Die bekannte Melodie hieß Selbstbestrafung. Er lehnte sich genießend im Fahrtwind zurück, ein bisschen
neckisch, und der blies ihm Asche ins Auge. Das brannte und tränte,
er rieb wie wild. Ehe er sich versah, war die Glut runtergefallen und
drohte ein Loch in den Sitz zu brennen. Päda griff ihm blitzschnell
zwischen die Beine und warf die Glut aus dem Wagen. Ein toller
Start, Mensch! So ein schwarzes Loch in den schönen roten Sitzen.
Ge schaute nach und rubbelte an der Stelle. Es war glücklicherweise
nichts zu entdecken. Jetzt war er wieder eingeschüchtert. Es dauerte
eine Weile, bis er erneut aufzutauen begann.
Sie fuhren nach Sindelfingen. Ge war noch nie dort gewesen, der
Kameramann nannte es das brauchbarste Freibad in der Umgebung.
„Das ist einigermaßen großzügig angelegt. Hocken sich die Leute
nicht so eng auf der Pelle. Ist doch widerwärtig, wenn die Leute wie
im Kaufhaus zusammengepfercht in der Sonne liegen.“ Er lachte und
sprach, als gebe er einen Geheimtipp weiter: „Und außerdem muss
genug Platz sein, ich will mir schon aussuchen, wer in meiner Nähe
liegt. Ich bin doch nicht blöd und gehe ins Freibad nur wegen Wasser und Sonne. Es gibt schließlich ganz andere Reize. Findest du
nicht auch?“
Ge gab ihm recht. Wenn er mit Freunden ins Freibad ging, suchten
sie sich eine Ecke, in der keine Familie störte, kein blöder Erwach-
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sener aufpasste, wer schon rauchte, Bier trank oder mit einer Freundin knutschte. Gerade der letzte Punkt hatte es ihm angetan. Er hätte den Kameramann gerne mit der richtigen Betonung bestätigt; es
sollte nicht aussehen, als kenne er das nur aus einiger Entfernung.
Aber er befürchtete zu verraten, wie wenig Ahnung er hatte. Also
bestanden Antwort und Kommentar aus einem piepsigen: „Ja, hm,
sicher.“
Während der Fahrt hörte er Formulierungen, die er selbst nie gefunden hätte, nicht einmal gehört hatte, die aber genau trafen, was in
ihm rumorte und sehnsüchtig nach richtigen Worten suchte. Ganz
toll! Überhaupt beeindruckte die Selbstverständlichkeit, mit der der
erzählte. Die meisten Erwachsenen schienen irgendwie schwachsinnig, Ge konnte nur nicht begründen warum. Dumpfheit, Desinteresse
oder Erwartung von Gehorsam waren es nicht allein. Er beobachtete, wie sie sich durch kluge Fragen belästigt fühlten und vermutete,
dass es noch viel unangenehmere Fragen gab. Was und wie der
Kameramann erzählte, lieferte ein genaues Gegenbild. Der Typ
wusste, was die anderen verheimlichten. Irre, wenn einer Kleinigkeiten so treffend packte, einfach unglaublich.
Er schüchterte Ge etwas ein, aber nicht schlimm. Schließlich hatte
Ge nicht viel zu sagen und war zeitweilig sogar vom Gefühl befreit,
sich beweisen zu müssen. Der Typ wusste über alles Bescheid. Es
war schon toll zuzuhören. Ein echter Progressiver, der mit jedem
Satz bestätigte, wie gerechtfertigt mancher üble Verdacht, manche
geheime Ahnung war. Die autoritären Arschlöcher mussten bekämpft
werden. Ge hatte vor Jüngeren geprotzt, dass er sitzengeblieben
war. Aber er hatte unter der Begründung gelitten, eine Klasse zu
wiederholen, weil er unreif sein sollte. Als der blaue Brief kam, hatte
die Mutter geheult und die Hände gerungen. Als der Klassenlehrer
aber meinte, nicht die Noten, sondern das Verhalten sei ausschlaggebend und die letzte Entscheidung liege in diesem Fall bei den
Eltern, hatte sie zugestimmt, und er bekam das blöde Etikett aufgeklebt. Beim ersten Mal konnte er noch nicht behaupten: Ein Jahr gewonnen. Was er gerade zu hören bekam, war besser. Den Nachweis: „In der Schule wird Lernen nicht nur nicht gelernt, sondern
Lernvermögen kaputt gemacht. Das ist die Reife, die für den Arbeitsalltag gefragt ist! “ Konnte er gut gebrauchen. Wenn er an den
Blödsinn in der Schule dachte, an Strafen des Alten: Nur saftlose
Anpassung oder unlogischer Kack. Das war mit dem richtigen Wissen zu begründen. Zwar viel zu viel auf einmal, konnte er längst
nicht alles behalten. Aber er glaubte, nun genau zu wissen, wo es
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lang ging. Die Dummheit der Spießer und die Anpassung an eine
kaputte und verlogene Welt galt es zu bekämpfen! Das war der Prüfstein für Progressivität und Durchblick.
Und das erzählte einer, der von sich sagte: „Traue keinem über
Dreißig! Ne traurige Wahrheit, aber so ist es nun mal! Bald darf ich
mir selbst nicht mehr trauen. Das ist doch paradox! Da hilft nur eins:
Man muss sich mit jungen Leuten umgeben, das hält jung; schon der
alte Goethe wollte junge und schöne Menschen um sich haben. Man
muss ja nicht unbedingt verblöden. Durchblick findest du nicht bei
denen, die sich mit der Welt abgefunden haben, so wie sie ist. Also
muss man sich auf die Seite der Jugend stellen. Ist doch klar! Und
auf die der Schönheit, denn die Hässlichen haben viel zu viel mit
ihrem Neid zu tun, die können einen nur behindern. Neid und Verblödung bewirken das gleiche. Du musst aus dem vollen schöpfen,
genießen ist 'ne Kunst!“
Was er übers Saufen erzählte, war phantastisch. „Wenn du 'nen
Kater hast, fällt dir alles mögliche ein: Der Gastgeberin in den Hintern gekniffen, den Chef erbarmungslos niedergemacht, während der
hinter dir stehen geblieben ist und sehr interessiert zugehört hat,
später noch vom Balkon gepinkelt. Was soll's! Nimm es als Selbstverständlichkeit, jeder blamiert sich mal. Das gehört einfach dazu,
wenn man nicht wie'n Angepasster aufs Leben verzichtet.“ Nur ein
Witz blieb übrig, die Pointe lieferte der Rausch.
Was er über Eltern sagte, besonders über Väter, leuchtete ein: „Weil
mich so einer früher behandelt hat, als kann er mit mir alles machen.
Der letzte kleine Arsch, der sonst keinem was zu sagen hat, dem
keiner zuhört, darf herumkommandieren. Eltern reagieren ihre ganzen Fehler und Schwächen am Kind ab und später kommt ein Neurotiker raus.“ Das knallte richtig und traf den Kern. Anschauungsmaterial lieferten Durchschnittsfamilien auf dem Sonntagsausflug. An
Haarschnitt oder Automarke, an Gesichtsausdruck und Klamotten
zeigte Päda, wie es um Leute stand, die sie überholten und hinter
sich zurückließen. Ge hatte ein gewaltig erhebendes Gefühl. Es
summte in der Magengegend und kündigte gelegentlich ein untergründiges Lachen an. Kitzelndes Staunen, dass er schon geahnt hatte, was als ausformulierte Kritik ganz frisch klang. Allerdings war er
zu gehemmt, um einfach rauszulachen. Witze, die der Kameramann
bei jeder Gelegenheit in seine Erzählungen einbaute und Charakterisierungen des Normalverbrauchers halfen weiter: „Lahme Sonntagskriecher zum verarschen!“ Der Fahrtwind zerzauste die Haare, der
Kleine freute sich an Geschwindigkeit und geschickten Überholma-
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növern. Wichtig war: Sie gehörten zum individuelleren und kritischen
Teil der Menschheit.
An der Kasse schämte er sich für seine Freikarte. Die Mutter beantragte jedes Jahr beim Sozialamt Ermäßigungen oder Freistellungen
für kinderreiche Familien; Ge holte sie ab. Nach der Fahrt im Flitzer
wollte er nicht zu den Spießern gehören. Der Kameramann schien
die Karte nicht zu bemerken, sie gingen zu den Umkleidekabinen.
Als sie ein paar Monate später in Holland die Woodstock Originalfassung sahen, deutete Päda in der Pause unauffällig auf einen Typ
und meinte, er solle genau hinsehen. Einer im Anzug, aber mit Western-Stiefeln, die Rock 'n' Roll-Tolle mit viel Pomade an den Kopf
geschmiert. Er sah nicht, worauf es ankam. Erst als Päda flüsterte,
das sei ein Arbeiter, der am Sonntag seine guten Sachen anzöge,
kapierte er: Eine jüngere Ausgabe des Alten, sicher ein guter Tänzer. Als der Typ böse rüberschaute, hatte Ge Angst; mittlerweile
identifizierte er sich mit neuen Wertmaßstäben, Peinlichkeiten einer
minderwertigen sozialen Rolle gehörten nicht mehr in seine Welt.
Der nachwachsende intellektuelle Horizont hieß: Ein Klassenkampf
würde vieles verändern, der Arbeiter war eine Triebkraft der gesellschaftlichen Entwicklung — als progressiver Linker stand man auf
der richtigen Seite. In der Praxis ging man diesen armen Arschlöchern lieber aus dem Weg: Der eigene Vater zeigte, wie beschränkt
und reaktionär sie waren.
Im Freibad wagte er endlich, bei interessanten Dingen nachzufragen.
Der weiche, einfühlsame Erzählton des Typs war nicht mehr unheimlich. Es besagte nichts, wenn er wie ein Lehrer klang, der sich einschmeicheln wollte. Ge berichtete einigermaßen zusammenhängend, wie reaktionär es in der Schule zuging, wie rigoros alles abgestraft wurde, was nach eigener Meinung oder Protest aussah. Egal
was er sagte, der Typ hörte interessiert zu und wusste sofort, wie es
einzuschätzen war. Ge hatte keine Mühe, sich verständlich zu machen. Wenn er nur den Mut hatte, etwas anzusprechen, war schon
klar, was er meinte. Päda hatte ein Kofferradio mit und fand nach
einigem Suchen SWF 3. „Da laufen die neuesten Hits und nicht nur
Schnulzen, wie in Stuttgart 3.“ Dufte Musik sorgte für eine angenehme Stimmung. Wichtiger war, zuzuhören und die richtigen Parolen
aufzuschnappen — die ließen sich in der Schule weiterverwenden.
Der familienbedingte Bedarf an Kritik wuchs aus dem Mangel, als
modische Oberfläche forderte sie nur zur Nachahmung auf, dennoch
wurde einer der wenigen noch nicht blockierten Schalthebel freigelegt. Hier war an Bedürfnissen anzuknüpfen, die nach einer Lösung
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suchten. Kritik rechnete mit dem Paradies, solange es eine Offenbarung war, manches überhaupt zu hören. Die Sachen endlich beim
Namen nennen zu können, setzte Interesse frei und solange Erschwerungen oder Strafen in die Quere kamen, wurde das Bedürfnis
nur radikaler. Die Enttäuschung, dass den meisten Worten keine
Taten folgten und sie als Prämie des Verzichts zirkulierten, erwartete
Ge nicht.
Erst in Holland — Goya-Ausstellung, 25 Pall Mall pro Packung, Flipperhallen, Superachtpornos, mit Käse überbackene Spiegeleier —
wurde deutlich, wie dünn die Kritik auf der Oberfläche saß. Er versuchte locker und interessiert zu sein, war aber ständig als verkrampfter Klemmer zu ertappen. An Kleinigkeiten bekam er vorgeführt, dass der Spießer in ihm am meisten Schwierigkeiten machte.
Die Kritik begann ernst zu werden: Es genügte nicht, nur unverbindliche Phrasen oder entlastende Feindbilder zu reproduzieren, sondern eine Änderung gewohnter Verhaltensweisen als erster und
notwendigster Schritt war gefragt.
In Holland konnte er vor keinem Pornoladen stehen bleiben, schämte sich und war trotzdem gebannt von ein paar bunten Bildern. Er
bemerkte nicht einmal, wenn ihm Päda die Zigarette verkehrt herum
hinhielt und musste sich zweimal die Lippen verbrennen. Er bekam
immer wieder vorgehalten, er sei unflexibel für zwei, und doch stürzte er sich ins Neue, wie ein prahlender Feigling ins kalte Wasser. Die
Lust war ungewohnt. Die täglichen Neuheiten waren nur mittels alkoholischer Verdumpfung auszuhalten, der Spießer in ihm musste
betäubt werden und oft genug versackte er völlig: eine seltsame Zeit.
Er sehnte sich nach allem und traute sich fast nichts. Das tägliche
Ballspiel zwischen Rausch und Kater wurde selbstverständlich: Sühne der Ausbruchsversuche, er bewahrte das Alte im Neuen und
suchte der Elternwelt nachträglich Recht zu verschaffen. Solange
Größenphantasien mit Schuldgefühlen abgezahlt wurden, bekam er
dieses Schema nicht in den Griff. Bald erkannte er Stolpersteine des
schlechten Gewissens, nur Mamis Fußangel entdeckte er nicht. Ein
Quäntchen Selbstbestrafung war immer irgendwo versteckt, ihr Ventil fand sich erst Jahre jenseits der hier geprägten Gewohnheiten:
Kritikvermögen im Dienst der Eitelkeitsdressur hatte der Verführung
als Köder gedient. In diesem Netz lauerte die Prinzessin auf der
Erbswurst; er versagte im Auftrag ihrer Majestät.
Von kritischen Anwendungen ist im Freibad wenig zu bemerken, fürs
erste reichten Sprüche. Feinere Unterscheidungen hätten weniger
gezogen und manche gute Einsicht ging flüssig über die Lippen, weil
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keiner sie beherzigte. Hier kam es höchstens zu einer versteckten
Andeutung von Kritik, sie betraf nebensächliches: Wortwahl und
Dialekt. Der Kameramann wollte ins rechte Licht rücken, über was
für ein ausgeprägtes Sprachgefühl er verfügte. „Es ist leider nicht nur
eine ästhetische Bereicherung, wenn du gut vorlesen kannst oder
dich in Rhythmus und Klang eines Gedichtes verlierst. Hör mal: La
lune blanche luit dans les bois. Das ist eine Melodie und dann der
Knall am Ende. Ein dunkler Wald in einer Winternacht, das ist hohe
Kunst! Aber manchmal scheint es fast eine Strafe, wenn der Sprachgebrauch ordentlich weh tut! Dialekte sind ärgerlich. Die Leute können nicht richtig sprechen, kein Wunder, sind sie so beschränkt!“
Ge erstarrte. Er konnte nicht einmal richtig vorlesen, und Gedichte
fand er uninteressant. Das war sicher übertrieben, er wusste wie
weh manches Wort tun konnte. Wenn er früher schwäbische Brocken aus der Schule mitgebracht hatte, straften die Alten die Zugehörigkeit ab. Ein Schlag hinter die Löffel oder ein Tritt in den Arsch:
„Wo du das wieder aufgeschnappt hast. Wie heißt das richtig?“ Sie
waren stolz auf ihr Hochdeutsch, sie hatten sonst wenig, worauf sie
stolz sein konnten — ein seltener Anlass von Einigkeit. Der Mutter
gefielen Musicals. Verlogene Schnulzenveranstaltungen, bei denen
das Happy end von Anfang an feststand. 'My fair lady' mochte sie
besonders: „Kann denn die Kinder keiner lehren, wie man spricht,
die Sprache macht den Menschen, die Herkunft macht es nicht...“
Komisch, jetzt vertrat der Kameramann ihre Meinung, das passte
nicht zu ihm.
Mit einer negativen Wirkung hatte Päda nicht gerechnet, schnell
wechselte er die Stoßrichtung: „Du musst dir mal vorstellen, ich
komm aus Berlin nach Süddeutschland, nach Stuttgart. Ich bin Weltoffenheit gewohnt, die Berliner Schnauze. Ich sage, was ich denke
und will nicht um den heißen Brei rumreden. Ich lande hier und stelle
fest, die Leute sind zugeknöpft und überpenibel. Aber deine Kehrwoche musst du machen, darauf achten sie! Wenn du wissen willst, wo
eine bestimmte Straße ist und an einen Schwabensack gerätst,
musst du dreimal fragen, dann meint der: Ha no! Weil es ihm zu
schnell ging. Musste erst mal dahinter kommen. Ein Erlebnis für
Götter, wenn er schwätzt und sagt: Dees wois i nedde. Als lebte man
in verschiedenen Jahrhunderten. Und wenn du mal mit einem nur ein
paar Worte wechseln wolltest, ein Bierchen zischen, nicht mehr,
kriegst du den plötzlich nicht mehr los. So sind die, das ist grauenhaft. Als Berliner hast du das Gefühl, die leben hinterm Mond. Nimm
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das Schwäbische, das hört sich schon so an. Nach dem bayerischen
der grauenhafteste Dialekt. Damit kannst du mich jagen.“
Ge hörte zu, seltsam, nur wegen der Alten musste der nicht falsch
liegen. Später übernahm er die Einschätzung: Sein Hochdeutsch war
literarisch durchwachsen, er baute viel zu lange Sätze und sprach,
als ginge er auf Stelzen. Passte gut zu den Haaren und zu seiner
Rolle. Er wollte nicht nur anders sein, er wollte betonen, dass er es
besser wusste und spielte mit den Eigenwerten der Sprache.
„Weißt du, es hat mich wirklich gefreut, was für ein gutes Deutsch du
sprichst. Das ist angenehm. Allerdings, tu mir den Gefallen und gewöhne dir dieses grauenhafte die-wo ab. Typisch schwäbisch, klingt
schlimm.“ Ge stutzte und verstand nicht, was er meinte: „Was für ein
die-wo? Sag ich doch nicht.“ „Doch, das sagst du ständig. Da drüben
die Frau, die wo den fetten Arsch hat, hat eine hübsche Tochter.“
„Finden Sie, sieht doch aus, wie ihr Bruder.“ „Na siehst du, du hast
es nicht einmal bemerkt!“ „Was denn? — Ach so! Aber ich sag doch
sonst nicht die-wo.“ „Doch doch, ständig, du bist das so gewohnt,
das merkst du nur nicht mehr. Aber wir werden das schon hinbekommen.“
Sie lagen in der Sonne und beobachteten zwei hübsche Mädchen.
Päda hatte ihn aufmerksam gemacht, als sich die beiden in der Nähe
niederließen. Der Kameramann zog die Linie der Oberschenkel
nach, begutachtete Pos und lobte Brüste. Ausführlich beschäftigte er
sich mit den Gesichtern: Lippen, Brauen, Wangenknochen, Kinnlinie
und Nasenrücken. „Am Gesicht zeigt sich das Geschlecht noch einmal, nur viel verspielter. Am Ausdruck kannst du sehen, ob die Frau
was bringt oder nur so tut.“
Ge bewunderte, wie gut der Typ beschreiben konnte und wurde unruhig; es war ihm peinlich, dass nur nicht auffiel, wie sehnsüchtig er
gelegentlich rüberschaute. Meist sah er nicht hin, gab vor, sich mehr
für seine Zigarette zu interessieren. Asche bedeckte die Glut, bis er
wieder tief durchzog; dann brachen Rüschen auf und zerfielen verbrannt. Wagte er einen Blick von der Seite, wurde er sofort festgenagelt. „Du schaust im rechten Augenblick, so hat sie den Busen
noch nicht gezeigt. Wenn du genau hinsiehst, kannst du ein Halbmöndchen Brustwarze entdecken.“ Das Spiel schien Päda köstlich
zu amüsieren. Er deutete verstecktere Teile an und schien erraten
zu wollen, wie gut sie gelungen waren. Er sprach leise und gleichförmig. Während Ge seine Erregung zu verbergen suchte, kommentierte er, wenn die eine sich von der Seite auf den Rücken drehte
oder die andere sich eincremte: „Na, das sieht doch erotisch aus!“
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Die beiden waren vielleicht zwei oder drei Jahre älter, aber gegen
die Geilheitsdressur konnte Ge sich nicht wehren, das Gefühl war zu
angenehm. Um nicht ertappt zu werden, bat er den Kameramann,
leiser zu reden, die Mädchen könnten sich belästigt fühlen. Päda
lachte ihn aus: „Ja, glaubst du denn, die haben das nicht längst bemerkt? Die genießen doch, wenn man sie beobachtet. Die schauen
wie zufällig rüber, wollen schon sehen, wem sie gefallen. Das ist
eine Sache des Fingerspitzengefühls. Wenn du zurückschaust und
zeigst, dass du bemerkt hast, dass sie bemerkt hat, dass du schaust,
gibt es zwei Möglichkeiten. Na, welche?“ „Das weiß ich nicht. Mir war
das zu schnell.“ Vielleicht hatte er ein völlig falsches Bild von den
Mädchen. Er dachte immer, er könnte sich verraten: Wer zugab,
dass er keine Ahnung hatte, bekam nichts ab! „Das ist doch ganz
einfach. Entweder sie schaut gleichgültig oder empört weg. Oder?
Oder sie schaut so, dass du merkst, sie hätte nichts dagegen, dich
kennen zu lernen. Aber meist kommt es nicht soweit. Jeder Frau
gefällt es, wenn sie angeschaut wird. Sie will nur nicht, dass man ihr
das zeigt. Sonst stellt man sie vor die Wahl und wer lässt sich von
einem, den er sich nicht ausgesucht hat, vor irgendeine Wahl stellen.“
Das war natürlich ein Hammer! So einfach sollte das sein! Man
müsste den Typ mehr fragen können, mit seinem Wissen gab es
keine Probleme. Alles hatte er nicht verstanden, es hörte sich aber
nicht schwer an. Er wusste nie genau, was er von den Mädchen
halten sollte, aber das war eine verlockend einfache Erklärung. „Und
was denken die da drüben?“
„Noch nichts. Die sind neugierig geworden. Das sagt wenig, ihre
Eitelkeit haben wir schon befriedigt. Es gibt genug Leute hier, die sie
mindestens genauso neugierig machen. Die meisten Frauen sind
ungeheuer eitel und in der Regel recht doof. Manche kannst du leicht
um den Finger wickeln. Du musst nur so tun, als interessiert sie dich
nicht, prompt springt sie an. Wir können mal schwimmen gehen oder
was trinken. Wenn wir zurückkommen, gehen wir in der Nähe vorbei
und schauen sie genauer an. Vielleicht kommen wir ins Gespräch.
Aber viel ist nicht zu erwarten, die sind noch zu jung.“
Zwar störte Ge die Abwertung der Frau, er idealisierte sie nach dem
Bild der Mutter; es klang trotzdem verlockend. Er vergaß dieses Urteil schnell, an seiner Stelle bildeten sich Wurzeln der sehr dauerhaften Erwartung: Mit Pädas Hilfe eine Frau aufzureißen. Fürs erste die
Hoffnung auf eine Freibadbekanntschaft: Ge wollte mitbekommen,
wie man sich am geschicktesten anstellt. Auf der Fahrt nach Holland
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köderten ihn Tramperinnen und als er und Päda sich jahrelang kannten, junge Prostituierte, deren Nummern als Geheimtipp unter den
Kollegen beim Funk zirkulierten. Die Beständigkeit dieser Erwartung
ist leicht zu erklären, denn sie wurde nie eingelöst.
Sie gingen schwimmen. Bisher nur ein fernes Hintergrundgeräusch:
Kreischen und Planschen, schrille Schreie, zischende Duschen,
gurgelnde Abflüsse und das Gesumme tratschender Eltern. Ehe er
sich versah, stand er vor dem Becken und mitten in diesem Theater.
Er fühlte sich nicht besonders, den Kater spürte er wieder deutlicher,
es war vor allem zu hell und zu hektisch. Der Kameramann hatte
sich längst abgebraust und schwamm irgendwo, Ge achtete nicht auf
ihn.
Er saß mit eingezogenem Bauch am Beckenrand; wenn er an sich
runtersah, glaubte er einen Bauch zu haben. In einer Badehose fühlte er sich nicht wohl, erst nach und nach ging das Unbehagen verloren. Dahinter lauerte der von der Mutter gewobene Familienroman,
die Negation war ins Fleisch eingeschrieben worden. Wenn sie ihren
Mann abwertete, hatte sie einen Blitzableiter im ältesten Sohn. Der
Alte gab weiter, was ihm selbst geschah, wenn er den Herrn Baron
zu besonderen Leistungen in Garten oder Geschäft antrieb und,
auch wenn Ge sich noch so anstrengte, nichts anerkannte. Zudem
hatte Ge das Erfolgsschema des schwachen, ausgelieferten Weibchens zu teilen: Sich verleugnen und beschämen, sich quälen zu
lassen, diente ihrer Diplomatie! Ein anderer musste die Verantwortung übernehmen, wenn sie etwas erreichen wollte.
Mutterfleisch: Unnatürlich weiß und formlos, in ein Korsett gezwängt,
um die Taille mit Plastikstäben und Gummibändern in Form zu halten und die Brust vor dem Wegsacken zu bewahren, enthaart, parfümiert und so gut wie tot, besonders leblos der welke Streifen zwischen Strumpf und Schlüpfer. Im Badeanzug zwangsweise straff, im
nur im Garten getragenen Bikini traurig lächerlich. Ein begriffloses
Unbehagen verfolgte den Sohn: Du siehst aus wie ein krummbeiniger Zwerg mit Glubschaugen, hast viel zu helle, fast unbehaarte
Haut, außerdem trotz Untergewicht einen Bauchansatz! Ohne Worte,
die Badehose war eine Strafe, angezogen kam er sich nur zu klein
vor.
Vaterfleisch: Der Alte hatte einen enormen Bierbauch, weiß mit
blauem Geäder und Gewebsrissen. Ein Dreifachschaffer aus Stahlplastik, Beweglichkeit musste er bierkistenweise nachfüllen. Die Mutter meinte immer wieder, er solle sich schämen und nicht so viel
trinken. Das berührte ihn wenig, ins Freibad ging er nicht mehr und
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im Garten behielt er sein Hemd an. Ein seltsamer Kontrast: Braune
muskulöse Arme und Beine, ein kantiges Gesicht, dann die schwabbelige Tonne. Zwei Zentner Käsefleisch! Ein Jahr nach der Scheidung brannten ihm schlechtisolierte Dampfrohre handtellergroße
Schwären und Wülste ins Kreuz. Als er sich vom Unfall und der anschließenden Arbeitslosigkeit nicht mehr erholte, wurden die arbeitsunfähigen Reste einige Wochen bei mildem Novemberwetter im
Wald abgehangen.
Ge schrak zusammen, er hatte ein paar Spritzer abbekommen. Vor
ihm im Wasser paddelte Päda und lachte: „Nun sei kein Frosch!
Komm schon rein. Es ist doch schön hier! Was hast du davon, wenn
du draußen rumbrütest?“ Was sollte er machen, Lust hatte er keine.
Er dachte an die Mädchen — grüne Augen, Froschnatur, von der
Liebe keine Spur, wurde früher im Sandkasten runtergeleiert. Er
stützte sich am Beckenrand auf und ließ sich vorsichtig ins Wasser
gleiten, die Haare sollten nicht nass werden. Wenn sie anklatschten,
bekam er ein richtiges Bubigesicht. Päda spottete: „Du siehst ja aus,
wie ein Walroß.“ Ein Stichwort: Der Alte hatte die Mutter als lahme
Seekuh bezeichnet. Sie war stolz, wie gut sie schwimmen konnte,
Brustschwimmen in Zeitlupe, während er es nicht einmal lernen wollte. Ge kraulte los und spritzte in der Gegend herum. Sie schwammen um die wette. Jetzt waren die Haare nass, kam nicht mehr drauf
an, er tauchte, so war er schneller. Wenn er hochkam, schleuderte
er die Haare mit einem kurzen Ruck kühn aus der Stirn. Sie hatten
die Bedeutung einer kleinen Welt, wenn sie erst lang waren, sah
man sein Gesicht nicht mehr.
Als sie nach einer halben Stunde zu ihren Sachen zurückgingen,
lästerte Päda über Sonnenanbeter. Schau dir mal an, wie dicht die
sich auf der Pelle hocken. Braten stundenlang blöd in der Sonne und
sind asexuell wie im Großstadtgewühl. Frigides Fleisch! Je mehr sie
zeigen, je weniger wissen sie, was Lust ist. Der Körper wird zur gegrillten Leiche. Schau dir die Leute an. Wie die aufeinander hängen,
müssten sie geil werden wie Pumascheiße. Du verstehst schon.
Aber nichts läuft. Es langt zu verklemmten Phantasien und die werden mit einem Sonnenbrand abgestraft. Ich finde das zum Kotzen!
Wenn schon Nacktheit, dann soll sie zu was taugen. Wenn es funkt,
macht man eine ordentliche Nummer! An solchen Veranstaltungen
siehst du, dass es zu keiner funktionierenden Sexualität langt. Das
ist für Deutsche typisch. Arbeiten, Sparen, Strammstehen, das können wir. Hier wird die Paranoia gepflegt. Heine schrieb schon: Denk
ich an Deutschland in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf ge-
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bracht. Die Folgen von zweitausend Jahren Christentum. Mach einem klar, dass er ein Sünder ist und er wird ein braver Untertan.“ Ge
dachte an die Mädchen, der Beschiss war sofort klar, er identifizierte
sich mit der Kritik. Die Art und Weise wie der Kameramann erzählte,
ganz ruhig und als sei es die selbstverständlichste Sache der Welt,
unterstrich: Er erwischte das Unbehagen mit einer vollen Breitseite.
Ge wusste jetzt, warum so viel schief lief. Ganz klar, was anders sein
musste. Und es kam mehr: „Tatsächlich ist der Mensch das sich
selbst befriedigende Tier. Damit fängt es an. Hier kannst du sehen,
ob jemand ein lustvolles Verhältnis zum eigenen Körper hat oder ob
er nur Schuldgefühle abruft. Du wedelst dir gelegentlich einen von
der Palme! Das ist gut und gesund! Und wenn es richtig laufen soll,
braucht es einen, auf den du spitz bist. Dann ist's wirklich befriedigend. Jetzt schau die Alte an. Wie die sich hingelegt hat, ein wunderschöner Busen, ein toller Hintern, lauter Typen drumrum und die
sehen aus, als werden hier Bademoden vorgestellt.“ Ge fand das
irre, so einfach war die Erklärung. Nur beim Thema wichsen fühlte er
sich ertappt. Das klang zwar gut, aber der sollte nicht merken, wie
sehr es ihn anging. Inzwischen waren sie an ihrem Platz, auf die
Mädchen hatte er nicht achten können. Jetzt sah er enttäuscht, dass
ein paar Typen dazugekommen waren. Die gehörten zusammen.
Päda schien es nicht zu bemerken. Vielleicht hatte er sein Versprechen vergessen. Auch gut! Der Wunsch war zu verschwistert mit der
Angst, etwas falsch zu machen.
Päda bot eine Zigarette an: „Rauchen wir erstmal eine, dann gehen
wir was trinken.“ Eine Dunhill. Ge fand endlich Zeit, die rotgoldene
Doppelkammerpackung zu bewundern, die ihm gewaltig imponierte.
„Die Stange habe ich aus England mitgebracht. Aber deshalb musst
du nicht nach England fliegen, die kriegst du in jedem Duty-freeShop. Kennste nicht? Ein Laden auf Flughäfen, in dem du zollfrei
einkaufen kannst. Sag mal, willst du auch ein Bier?“ Ge lehnte ab:
„Eine Limo ist mir lieber. Ich bin versorgt. So schnell trink ich nichts
mehr. Ich spüre das jetzt noch und ich habe sonst einiges vertragen.“ Päda packte die Sachen wieder zusammen und holte an einem
Stand zwei Currywürste, einen Zitronensprudel und ein Bier. Ge
wartete in der Nähe, als er das Fläschchen sah, fragte er sich: Warum eigentlich nicht? Aber der Vorsatz vom Morgen war stärker.
Päda lachte, als er zurückkam. „Einmal ist bei allem das erste Mal.
Das Gefühl kenne ich gut, man gewöhnt sich dran. Spätestens nach
dem nächsten Bier geht das wieder verloren. Weißt du nicht? Bier ist
das beste Mittel gegen einen Kater. Was soll's auch! Morgens
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wachst du auf und kriegst als erstes einen roten Kopf, vor Scham im
Boden versinken willst du. Und du erschrickst, wenn du überlegst,
was du vermutlich alles nicht mehr weißt. Das kann grauenhaft sein.
Hab ich ja vorhin schon erzählt. Das schlimmste ist die Vorstellung,
was die anderen von dir denken. Nach und nach kriegst du mit, dass
die immer viel zu sehr mit sich beschäftigt sind, um auf dich zu achten. Jeder will sich ins rechte Licht rücken, so bleibt wenig Aufmerksamkeit übrig. Das ist doch beruhigend, du findest den nötigen Mut
und tust, zu was du Lust hast. Übrigens, die Meinung der anderen tut
nichts zur Sache. Ich würde raten, erst daran zu denken, was dir
selbst wichtig ist. Was spielt sonst schon eine Rolle!“
Das klang nicht schlecht und manches, was hier erst zu erahnen
war, wurde später zum Programm. Die Gehemmtheit wurde über
Bord geworfen, auch wenn es vorerst so aussah, als fiele Ge nur aus
dem Rahmen. Hinter seinen Rücksichtslosigkeiten und Übertreibungen versteckte sich die Furcht vor den anderen. Wenn er erst einen
durchziehen musste, um unverkrampft zu wirken oder einen halben
Liter Wein brauchte, um witzig zu sein, ging der Schuss oft in die
Hose: Dann war er schon zu, bevor er zum Zuge kam.
Päda bot ihm das Du an. „Wenn ich schon angepasste Idioten verfluche, ist gleich zu unterstreichen, wie Konventionen den Menschen
behindern. Weißt du, Konventionen sind komische Regeln, über die
man lachen müsste, wenn ihr Resultat nicht zu traurig wäre. Wer
grüßt wen zuerst? Ist doch eigentlich egal. Aber wo denkst du hin!
Man hat sich danach zu richten, um mit den anderen auszukommen.
Sonst gibt's ärger! Dabei stinkt es verlogen und stimmt hinten und
vorne nicht. Viel zu häufig ist die Konvention schuld daran, dass wir
uns nicht verständigen können. Mich stört zum Beispiel seit geraumer Zeit, dass du Sie zur mir sagst, und ich wie selbstverständlich
von Anfang an das Du verwende. Fast, als hab ich dir was zu sagen,
und du hast zu gehorchen. Das ist doch autoritär! Unter solchen
Bedingungen kann man sich überhaupt nicht richtig unterhalten.
Nimm die Engländer, die haben's leichter. Also, tu mir den Gefallen
und sag du zu mir, sonst sag ich ab jetzt Sie zu Ihnen.“ „Ja, dann
versuch ich jetzt, du zu Ihnen zu sagen.“ „Den ersten Versuch hast
du mit großem Erfolg bestanden!“ Er lachte. Oh, Entschuldigung.“
Es sollte einige Mühe kosten, obwohl Ge die Erklärung gut fand. Er
bemerkte nicht einmal, wie Päda das Stichwort autoritär äffte. Der
Kameramann war zu einer Autorität geworden; zuhören war wichtig.
In der Schule hatten sie einen jungen Biolehrer, frisch von der Uni,
der ließ sich mit du ansprechen und hatte erklärt, er wolle keine No-
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ten geben. Weil es aber nicht so ging, übersah er, wenn einer abschrieb. Das war ein dufter Typ.
Im Gegensatz zu den Praktiken der üblichen Erwachsenen wirkte die
Aufweichung des Autoritätsgefälles progressiv, sie war eine Solidaritätserklärung. Doch der kameradschaftliche Ton beseitigte keinen
Anlass, sondern nur Einsatzstellen der Auflehnung. Auf einmal gingen autoritäre Ärsche mit dem Du hausieren, um Hierarchien zu
verschleiern. Der Kameramann verkörperte das modische Mittelglied. Er wurde zur Autorität, weil er antiautoritäre Melodien pfiff.
Größte Erfolge verbuchte er als alternativer Sozialisationsagent.
Tabus mussten reflexiv gefedert werden: Die neuen Standards gaben Konsumfreude und Jugendlichkeit vor. Dass er zynisch über den
Kleinen verfügte, war im Augenblick unwichtig.
Sie lagen in der Sonne oder spielten Karten, schwammen noch einmal und machten ein Tischtennismatch. Zwischendurch übte Ge
vorsichtig das Du und Päda lauerte auf jedes Sie. Irgendwann hieß
es: „Du bekommst eine Schachtel Dunhill geschenkt und für jedes
Sie ziehe ich dir eine Zigarette ab.“ Eine gute Erklärung lieferte den
nötigen Sündenbock: „Das bist doch nicht du, Unflexibilität wird hergestellt. Daran siehst du, welche Blöcke das autoritäre Schulsystem
in die Köpfe einstanzt. In deinem Alter hat man eine ungeheure Lernfähigkeit. Aber in der Hauptsache wird einem eingepaukt, sie nicht
zu gebrauchen. Wichtig wäre, das Lernen zu lernen, und ich habe
den Verdacht: Das ist in der Schule unerwünscht. Den Lehrern ist
nicht mehr zu helfen, also verkorksen sie die Schüler. Jemand könnte sie in Frage stellen! Überleg mal! Dann kapierst du, warum du
solche Schwierigkeiten hast, dich auf die neue Situation einzustellen.
Was ist schon ein Du! Ich bin ja kein Mädchen, mit dem du schlafen
willst. Obwohl nicht mehr dabei ist, das sieht die ersten Male nur so
aus.“
Manchmal hatte er ähnliches vermutet. Den Kater spürte er nicht
mehr: „Du wirst sehen, wir kriegen heute das angekündigte Gewitter.“ Ging doch schon leichter über die Lippen.
„Dann hol ich mir noch ein Bier. Möchtest du jetzt auch eins?“ „Nein
danke, ich habe es mir wirklich vorgenommen.“ Als sie wieder 17
und 4 spielten, bildete sich ein feiner Film am Glas, dann Tröpfchen,
gelegentlich rollte eine dicke Kondenswasserperle an der Flasche
runter und hinterließ seltsam verzitterte Spuren. „Na, nun trink eben
einen Schluck, du kannst dich ja nicht auf die Karten konzentrieren.“
Natürlich zierte er sich, aber er hatte schon auf das Angebot gehofft.
Dass er nichts mehr trinken wollte, war weniger wichtig, als seine
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Versicherung, er habe es sich vorgenommen. Er wollte überredet
werden. Es war, wie Päda vorausgesagt hatte. Den ersten Schluck
nahm er vorsichtig und als sich nichts tat, ließ er sich immer wieder
einen Schluck abgeben. Er fühlte sich gut, das drehte auf.
Der Kameramann arbeitete im Laufe der Stunden an seiner eigenen
Verjüngung. Ausführlich erzählte er eine Geschichte, die er in den
folgenden Wochen noch häufig variierte: „Vor ein paar Monaten war
ich mit Kollegen in einem Sexfilm in der Nachtvorstellung, und du
glaubst es nicht: Die Kartenverkäuferin wollte mir tatsächlich nicht
abnehmen, dass ich schon 18 Jahre alt bin. Ich musste meinen
Ausweis vorzeigen! Was meinst du, wie die anderen gelacht haben.“
Bei Leuten, die ein paar Jahre älter waren, konnte Ge das Alter
schlecht schätzen. Außerdem fand er den Typ sympathisch, er hätte
ihm fast jede Altersangabe abgenommen.
Was Päda am Morgen gemacht hatte, wusste er ja schon. Endlich
fand er den Mut zu fragen, warum gerade morgens und noch dazu
so kurz. Päda erklärte: „Ich bin freier Mitarbeiter und kann mir aussuchen, wann ich arbeite. Manchmal hat man ja was Wichtigeres
vor, dann macht's eben ein anderer. Die zahlen eine Pauschale von
160 Mark pro Tag, Spesen gehen extra und an manchen Tagen ist in
einer viertel oder halben Stunde alles gelaufen, an anderen kann 'ne
halbe Nacht rumgehen — aber das ist selten der Fall. Für mich gibt's
fast keinen Unterschied zwischen Werktag und Wochenende, aber
sonntags arbeite ich am liebsten, dann hab ich vor bestimmten Kollegen meine Ruhe.“ Er schien ganz zufrieden: „Man ist ein bisschen
ein Künstler, weißt du. Die Kollegen sind keine üble Clique, einer
spricht ab der dritten Flasche Wein in Hexametern — sein Arzt gibt
ihm noch ein halbes Jahr, wenn er so weitermacht. Du musst dir
vorstellen, wie viel wir zusammen bechern, manchmal wird kreuz
und quer gevögelt. Die meisten sind progressiv, mit denen kann man
alles machen. Ein paar sind verheiratet und haben Kinder, aber das
sind Ausnahmen. Richtige Spießer, schwätzen dumm und stehen im
Weg. Mit dem Soundso kann man nicht mal richtig einen heben, der
bekommt sonst ärger mit seiner Frau. Aber was soll's, manchmal
lern ich Schriftsteller kennen oder große Stars und am meisten Spaß
machen Aufträge im Ausland.“
Ge war schwer beeindruckt — am meisten Spaß sollten die Reisen
machen. Allein der Gedanke, nicht immer am selben Ort herumzuhängen! Möglichst weit weg zu sein, ganz andere Erfahrungen zu
machen! Ein Bericht über Drehbedingungen in Tunesien, übers Essen und billige, ganz junge Prostituierte war umwerfend. „Da kann's
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dir passieren, ein Vierzehnjähriger bietet für ein Trinkgeld seine kleine Schwester an und wenn du ein paar Mark drauflegst, macht er
mit. Ein flotter Dreier — und das sind sehr schöne Menschen dort.“
Ein flotter Dreier? Eines dieser Fachwörter, die in kürzester Zeit seinen Wortschatz erweiterten. In der Schule konnte er endlich das
richtige Image vorweisen: Wörter aus der Fremde, mit denen er Erfahrungen vortäuschte.
Die Leute beim Fernsehen verstanden zu leben, und manche Anekdote nahm ihm die Luft weg. Vieles was Päda erzählte, klang selbstverständlich und war doch völlig fremd: Nicht minder exotisch als ein
fernes Tunesien. Er kam nicht einmal auf den Gedanken, für sich
dasselbe zu wollen. Was ihn aber wirklich umwarf und packte, war
das Geld. Der Typ konnte in einer Woche mehr verdienen, als der
Alte im ganzen Monat. Mensch! Der Alte war ja ein Arsch dagegen
— und der ging morgens nach sieben weg und kam manchmal erst
spät in der Nacht heim.
Der Himmel begann sich zuzuziehen, vereinzelt schon düstere Gewitterwolken; der Kameramann wies auf ihre harten, gezackten Konturen hin. Donnergrollen in der Ferne, man konnte zusehen, wie die
Schwimmbecken leerer wurden. Windstöße brachten hin und wieder
ein paar Tropfen mit, längst war die gute Laune der Leute weggeweht. Päda witzelte: Auf der Suche nach Natur hungern die nach
Sonne, brauchen zwei Zäune außen rum, ein spezielles Kostüm und
einen Garantieschein, dass sich nichts rührt. Total verlogen, man
müsste eigentlich drüber lachen. Kaum ist ein bisschen Natur zu
erahnen, nehmen sie Reißaus. Was meinst du, wie es erst mit dem
Trieb aussieht?“ Er klang ganz selbstverständlich, nicht einmal bösartig und deutete auf eine fette Frau, die eine Luftmatratze schützend über ihre Dauerwelle hielt. Sie trug eine Kühltasche am Arm,
deren Henkel tief ins aufgeschwemmte Fleisch schnitten. Dicke Kinder waren mit Liegestühlen und Taschen beladen. „Guck dir mal das
Monster an. Ein typischer Zivilisationskrüppel; für solche Leute gibt’s
Freibäder. Die kann weder atmen noch essen, die schnauft und
frisst! Nicht mal richtig gehen, die ist total verstümmelt! Jetzt kriecht
sie weg, eine panische Schnecke im Plastikgehäuse und in der
Schleimspur hat sie drei Kinder. Schlimm, genau solche Missgeburten. Wenn ich das sehe, überleg ich, warum ich ins Freibad gehe. Na
ja, man denkt viel und dann wird nichts draus.“ Während er Daten
zur bundesdeutschen Fettsucht referierte, deutete er auf eine aufbrechende Familie. Ein kleiner, dicker Idiot zerrte an einem Kind
herum, ohrfeigte es. Päda wurde lauter und stand auf. Ge fühlte sich
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nicht wohl, das war ein Arschloch, das sah man doch. Wenn der wie
der Alte reagierte, gab es üblen Krach. Aber es tat sich nicht viel.
Päda ging auf den Mann zu und sagte barsch: „Das ist wohl üblich,
seine Kinder zu prügeln.“ Eingeschüchtert tappte der weg und zog
das Kind lasch mit, die Frau schaute böse und lief mit dem anderen
hinterher. Ein komisches Bild, für kurze Zeit taten Ge die Leute leid,
aber dann imponierte ihm der Typ. Der traute sich, obwohl er nicht
besonders stark aussah; so sollte mal einer mit dem Alten umspringen. Irre war, dass der primitive Vater klein beigegegeben hatte.
Päda kam zurück und lächelte freundlich. Schau dir den Schwachkopf an! Ein Kriecher, am Kind reagiert der sich ab. Der hat bei mir
gekuscht, weil er bei seinem Chef kuscht. Eben, weil er alles so
macht, wie es alle machen! Ein mieser Kriecher!“
Eine ähnliche Situation ergab sich tatsächlich im Herbst. Päda holte
ihn am Sonntagmittag im Garten ab. Sie wollten ins Kino. Er sah
nicht ein, dass Ge schwere Kübel voll Fallobst und Mist durch die
Gegend tragen musste und legte sich mit dem Alten an. Der verschwand wütend mit seiner Blechbadewanne. Er war von Anfang an
gegen den Studierten — ein böses Schimpfwort in seinem Mund —
aber er konnte den Kontakt nicht verbieten, denn Päda war mit den
Söhnen des Chefs befreundet. Bei der nächsten Gelegenheit startete er einen Rachefeldzug: Der Kameramann sei schwul. Ein guter
Kunde vom SDR habe ihn gewarnt, er solle auf seinen Sohn aufpassen. Der Alte hatte Pech, ihm glaubte keiner mehr. Päda war geschockt, als Ge die Sache berichtete, meinte aber, der habe die Story wahrscheinlich erfunden. Beim Funk mochten intern die Fetzen
fliegen, nach außen hielten sie zusammen. Eine bessere Erklärung
lautete: Der Alte war im Heim aufgewachsen, hatte nach dem Krieg
mit einem Freund im Eisenbahnwaggon gewohnt, irgendwoher
musste der das ja haben, so etwas zog man sich nicht aus der Nase!
Es gab viel Wirbel, seitdem fanden Ges Besuche heimlich statt, da
eine Änderung des §175 nicht abzusehen war. Anfangs war die Mutter eingeweiht, als dann Schnüffelparties und andere Veranstaltungen für Ge wichtig wurden, schlief der Kontakt offiziell ein. Ge wurde
am Feuersee abgeholt, wenn er von daheim kam oder am Schlossplatz, wenn er zuvor auf einer Party war; fuhr er mit dem Taxi zurück,
stieg er einen Häuserblock früher aus.
Der Himmel wurde gleichmäßig grau; es war schwül, dicke Tropfen
hingen in der Luft und verdunsteten auf den Steinplatten. Leute rannten, um rechtzeitig die Umkleidekabinen zu erreichen. Gemächlich
packte Päda die Sachen zusammen, sie wollten es wirklich nicht eilig
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haben. Als es zu schütten begann, flüchteten sie zum Restaurant.
„Mal abwarten, wir haben ja viel Zeit. Wenn das Gewitter schnell
weiterzieht, haben wir das ganze Bad für uns.“ Der Raum füllte sich
allmählich. Päda holte zwei kleine Bier und lud Ge ein. „Da draußen
tobt es. Schau, wie das Wasser ans Fenster klatscht. Und hier drin
ist eine derart hässliche Bierzeltstimmung. Wenn's nicht bald aufhört,
gehen wir und überlegen, was wir mit der Zeit anfangen. Wird ja
widerwärtig, findest du nicht.“ „Ja, aber wenn wir jetzt gehen, kommen wir patschnass zum Wagen.“ „Das stimmt, da hast du recht.
Flippern wir 'ne Runde und warten bis der Regen nachlässt. Das
wird heute nichts mehr, es steht ja alles unter Wasser.“ Bisher galten
Bierzelte als etwas Besonderes. Der Alte brachte Bier- und Hähnchenmarken mit, Grund genug, aufs Volksfest zu gehen. Diese Lektion hatte Ge schnell geschluckt. Er begann Massenveranstaltungen
zu meiden: Nicht nur primitiv, das hätte die Mutter unterschrieben,
nein, man musste sehen, wer da hinging: Allein das Bedürfnis war
reaktionär. Schlimm, welcher Beschiss hinter den Freuden des kleinen Mannes lauerte. Hier fand die wirkliche Politik statt: Die Leute
wiederholen als Vergnügen Verdumpfung und Rudelgefühle, die
ihnen täglich angetan werden. Das war pervers, auf keinen Fall wollte er dazugehören.
Sie gingen zum einzigen freien Flipper. Er stand links neben einer
Tür, unter der Wasser durchdrückte; vor dem Kasten hatte sich eine
Pfütze gebildet. Sechs Spiele für eine Mark, und sie verausgabten
sich abwechselnd an der Maschine. Hier konnte Ge zeigen, was in
ihm steckte. Das Bier drehte auf, in der richtigen Stimmung konnte er
ein bisschen angeben und sich reinsteigern. Er rüttelte an dem Kasten, stieß voll dagegen, wenn eine Kugel mit dem Abgang drohte.
Flippern hatte er geübt, 'Tommy' klang mit. Er brauchte nicht verstehen, warum Tommy blind und taub sein sollte — wenn er auf die
Kugel konzentriert war, ging es ihm nicht anders. Während der
Schulzeit in der großen Pause oder in den Hohlstunden, oft nach der
Schule, wenn er eigentlich nach Hause sollte, um sein Essen aufzuwärmen, hatte er oft geflippert. Geschicklichkeit und Aggressionsabfuhr waren gruppenbindend, er rutschte in eine Clique rein und wurde als Zaungast anerkannt, außerdem ersetzten sie die Kontakte mit
Mädchen. Zwei, drei Typen hatten eine Freundin in einer anderen
Schule; den meisten reichte, dabei zu sein und die wenigen Mädchen aus einiger Entfernung zu begutachten; seit sie von der
Volksschule aufs Gymnasium gewechselt hatten, saßen sie in reinen
Jungenklassen. Nebenbei taugte die Verschmelzung mit der Ma-
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schine zu Rivalitäts- und Machtspielen. Sie wurde zum Schulungsgang: Hier hieß der Gewinn ein Freispiel!
„Wenn ich dir zusehe, komm ich aus dem Staunen nicht mehr raus.
Wo nimmst du nur die Kraft her? Das sieht geil aus, wie du das
machst. Manche Frau wird sich was dabei denken.“ Ge nickte und
konzentrierte sich aufs nächste Freispiel. Es kribbelte und vibrierte.
Wenn er völlig selbstvergessen losraste, hatte er das Gefühl, die
Mädchen würden hersehen. Das kratzte auf, und er konnte sich sagen: Ich hab's gar nicht nötig. Gebannt von der Maschine hoffte er
insgeheim, Eindruck zu schinden. Als das Gewitter nachließ, schlug
Päda vor: „Bevor wir die Zeit totschlagen, fahren wir zurück und
schauen vielleicht kurz bei mir vorbei, ich zeig dir meine Kameraausrüstung. Das wird dich sicher interessieren. Danach bring ich dich
nach Hause.“ Ge konnte sich nicht vom Flipper trennen, was sollte er
daheim? Er drückte die nächsten zwei Spiele rein. Dann hörte es auf
zu regnen, und Päda drängte: „Wir sollten jetzt schon gehen, wir
kommen trocken zum Wagen.“ Die restlichen Spiele blieben stehen.
„Einen Flipper hast du nicht? Schade.“
Sie gingen zu den Umkleidekabinen, holten ihre Sachen und zogen
sich um. Der Kiesweg stand unter Wasser, der Parkplatz war völlig
versumpft. „Bloß gut, dass ich das Verdeck hochgeklappt habe, wir
könnten sonst in einer vollen Badewanne heimfahren“, meinte Päda
und begann wieder Witze zu erzählen. Die vom kleinen Männchen
bei den Holzfällern in Kanada lieferten Parallelen zu Ges Phantasien
— er war auch so eine Missgeburt, aber vielleicht konnte das besondere Fähigkeiten garantieren. Im einen Witz wollte man nicht glauben, dass der Kleine mit einer Axt umgehen konnte. Zum allgemeinen Erstaunen besser und schneller, als jeder Holzfäller. Gelernt
hatte er in der Sahara, dass es dort keine Bäume gab, war kein Argument, es gab dort keine mehr. In einem anderen Witz hatte er eine
Aufnahmeprüfung zu bestehen: eine Flasche Whiskey ex, einen
Bären erlegen und eine alte Indianerin vergewaltigen. Den Whiskey
schaffen alle kleinen Männchen. Als er blutüberströmt aus dem Wald
torkelte und wissen wollte, wo die Indianerin geschlachtet werden
sollte, mischte sich unters anhaltende und immer wieder vom Glucksen bis zum Schreien aufsteigende Lachen eine Portion Grauen. Die
Witze dienten zum Entkrampfen und zum Stimulieren, nackte Wahrheiten köderten so gut, wie ziellose Erwartungen oder Ängste vor
dem anderen Geschlecht.
Sie holten das Gewitter ein und fuhren drunter durch. Es stürmte und
prasselte so sehr, dass sie langsamer fahren mussten. Eine aufge-
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wühlte Unterwasserlandschaft, der Flitzer wurde zum U-Boot.
„Kennst du den Film: Yellow Submarine?“ fragte Päda und begann
die Melodie zu summen. Er klebte an der Windschutzscheibe, befürchtete anscheinend, über den Straßenrand hinauszugeraten. Den
Film kannte Ge nicht, aber die Platte hatte er auf Kassette und schon
oft gehört — bei Ringo konnte man toll mitgrölen. Er sang ein paar
Strophen und immer wieder den Refrain. Der Text war nicht besonders, passte aber zu der guten Stimmung der beiden. Seine Lieblingslieder waren 'fool on the hill' und 'death of a clown'.
Er staunte, als Päda erklärte: „Weißt du, wie der enorme Erfolg der
Beatles zu verstehen ist? Zwar immer Liebe und Freiheit wie andere
Schnulzen, aber sie haben nie auf Hintergrundthemen wie Arbeitsalltag, Krieg, Alter oder Wahnsinn verzichtet.“ Als sie in seine Straße
einbogen, begann es leicht zu regnen. Vereinzelte dicke Tropfen, die
den Gehsteig sprenkelten, ohne ihn richtig nass zu machen. Vor
dem Haus bekam Ge den Garagenschlüssel in die Hand gedrückt:
„Machst du kurz auf und stellst dich im Eingang unter. Ich will noch
eine Kiste Wein mitnehmen, ich komme gleich.“ Ge mühte sich ab,
es begann zu prasseln; mit Garagentüren kannte er sich nicht aus.
Endlich kapierte er den Mechanismus und ruckte kräftig, als sich die
Tür schon in Bewegung gesetzt hatte. Prompt erwischte ihn das
Ding an der Schulter, das tat ganz nett weh. Er verkniff sich den
Schmerz und als sei nichts geschehen, sprang er in den Eingang.
Päda parkte ein, nahm einen Weinkarton, zog die Garage zu und
schlüpfte unter den Torbogen. Am Anfang ist mir das auch einmal
passiert. Eine saublöde Konstruktion, man muss höllisch aufpassen.
Du hast dir hoffentlich nicht wehgetan?“ Er klang besorgt. „Nein,
nein! Das hat mich nur gestreift.“ Es tat gut, dass der ihm keine Vorwürfe machte, er hätte sich blöde angestellt.
Es schüttete gewaltig und erbsengroße Hagelkörner sprangen die
Treppe herunter: „Da müssen wir noch hoch, Mensch! Warten wir
erst mal ab. Ich hab keinen Schirm im Auto und da geh ich jetzt nicht
hoch.“ Er stellte den Wein ab. „Bevor ich dich abgeholt habe, musste
ich erst mal ausladen. Der Wagen war voll, denn so günstig kommt
man selten ran. Die Flasche kostet regulär fast 16 Mark — sind
Bocksbeutel. Wenn wir drehen und gleich einkaufen, gibt's außer
dem Mengenrabatt einen Sonderpreis. Das ist meist so. Oft bekommen wir Proben geschenkt, für die Leute ist das eine Werbesache.
Ich will mir jetzt 'nen Weinkeller anlegen. Ein Bekannter hat mir erklärt, dass mein Keller gut geeignet sei. Das geht nicht bei jedem,
denn der darf nicht zu warm und nicht zu kalt sein, nicht zu feucht
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und nicht zu trocken. Weißt du, meine Eltern waren arme Leute.
Heute kann ich sagen, wenn ich was brauche oder wenn mir was
gefällt: Geld spielt keine Rolle! Genießen ist Trumpf, wenn nicht
mehr bei jeder Kleinigkeit der Geldbeutel streikt. Was heißt das mit
dem Wein schon. Ein Sonderangebot nimmt man eben mit, was
soll's? Wenn es drauf ankäme, würde ich's in der Apotheke kaufen,
beim Böhm oder so. Wichtiger sind Anregungen, die der Job vermittelt. Ich hab mal mit Colani gedreht, den Designer, den kennste
doch, der für den Ratzeburger Achter gearbeitet hat. Das war ein
komischer Typ, aber ganz unterhaltsam. Seitdem hängt ein signierter
Rudersitz bei mir in der Küche an der Wand. Oder vor zwei Wochen
war ich in einer Spielzeugfirma. Dort entwerfen Psychologen, Soziologen und solche Kaliber neues Spielzeug. Du glaubst es nich, aber
das Zeug sieht ganz einfach aus! Die Erklärung hieß nicht etwa: Die
Schule behindert die Intelligenz, weil sie steril ist. Sondern die setzen
viel früher an: Das industrielle Spielzeug verhindert die Entwicklung
der Kreativität!“ Er blies Luft zwischen den Zähnen durch und stülpte
die Lippen vor: „Pschuh! So einfach ist das — jetzt werden Dinge mit
einem Riesenaufwand industriell hergestellt, die mancher Papi zum
Zeitvertreib selber basteln könnte. Du kannst drauf warten, irgendwann kaufen sich die Eltern Anleitungen und Bastelsets. Nur was
man selbst kann, ist nichts wert! Also muss das Zeug teuer sein, mit
einem neuen Namen und von Psychologen entwickelt. Für alles
brauchen wir Fachleute, und wenn dann den Leuten die Ideen ausgehen, braucht's noch mehr Fachleute. Ich hab übrigens eine
Sammlung von dem Spielzeug oben. Vielleicht willst du's für deine
Geschwister mitnehmen. Dann dürfen wir's nachher nicht vergessen.“
Als der Regen nachließ, rannten sie die Treppe hoch. Die Luft im
Freibad hatte schon sauber und frisch geschmeckt. Hier war sie
dämpfig und drückend, das Gerenne strengte an. Vor dem Haus
roch es staubig nach Kartoffelkeller. Päda sperrte die Haustür auf:
„Ein ganz dunkles Treppenhaus, nach zwei Schritten musst du aufpassen, dass du nicht stolperst, vier Stufen hoch, dann links. Der
Lichtschalter ist weiter hinten, der Architekt hat sich was gedacht.“
Päda versuchte die Tür aufzuschließen und erwischte erst den falschen Schlüssel, dann war das Knacken im Schloss zu hören. Er
machte Licht. „Da isses! 'Ne kleine Wohnung, aber für meinen Bedarf vorerst ausreichend, und die Miete ist sehr günstig.“ Er zog die
Schuhe aus und ließ sie im Treppenhaus stehen. „Wartest du einen
Augenblick, ich hole kurz einen Lappen. Vielleicht ziehst du deine
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Schuhe auch aus.“ Er verschwand, Ge fühlte sich unbehaglich, das
erinnerte an den Sauberkeitsfimmel des Alten. Bei schlechtem Wetter am Wochenende brauchte der Alte spätestens nachmittags etwas
zu tun. Er mistete alle Winkel aus oder testete mit angefeuchteter
Zeigefingerspitze, welche Türkanten oder Schränke staubig waren.
Erinnerte an den Matheförderunterricht bei einem Studenten, der
noch bei seiner Mutter wohnte. Zwischen Omamöbeln und Plüsch
saßen sie zu viert an einem runden Tisch. Förderunterricht kam nicht
so teuer wie Nachhilfe. Im Treppenhaus musste man mit den Straßenschuhen in grässliche Filzpantoffel schlüpfen. Es muffelte ungelüftet, der Witz war aufgekommen: Manche Leute versuchten, die
schmutzige Welt auszusperren.
Päda kam mit dem Lappen zurück. Während er die Schuhe versorgte und ein Paar Schlapper hervorkramte, erklärte er: „Ich mache
nicht sauber, weißt du. Ich hab keinen Staubsauger und find's zu
blöd. Meine Vorhänge habe ich nicht gewaschen, seit ich hier wohne. Mich stört's nicht. Man darf eben nicht zu nah mit der Nase rangehen. Nur mit dem Teppich ist das so eine Sache, denn man sieht
jeden Dreck drauf, jeden Fussel. Ein Fehlkauf! Ich versuch, wenig
Dreck zu machen. Ist doch eigentlich klar?“ Ge war einverstanden.
Der Teppich sah sehr fein aus, Kognakfarben.
Draußen war es dunkel geworden, das Gewitter legte über der Stadt
richtig los. Päda ging ins Zimmer vor, machte Licht, ließ die Jalousie
runter und begann aufzuräumen. Ge blieb unschlüssig im Flur stehen, die Badetasche in der Hand. Die fremde Wohnung verunsicherte ihn. Auf der rechten Seite eine hölzerne Garderobe, ein paar Jacken, ein Parka. Über einem recht großen Spiegel waren Bilder der
Beatles — echte Fotos! — an die Wand geheftet. Er überlegte, ob
der Typ die selbst geschossen hatte und traute sich nicht zu fragen.
Eine englische Flagge, ein Straßenschild der Carnabystreet. Unterm
Spiegel ein hölzerner Schrank mit Schnitzereien und Wurmlöchern,
ein paar uralte Fotoapparate. In der rechten Ecke hinter der Tür
standen Kästen aus schwarzem Leder, einige blecherne Filmspulendosen waren darauf gestapelt. Links zwei Türen. Erst die Küche, dort
entdeckte er einen Apparat, der an den Vergrößerer seines Fotolabors erinnerte, dann das Bad. In der Wohnung roch es angenehm:
Gebratene Spiegeleier und süßliche Weihrauchstäbchen, ein seltsames Gemisch. Seine Einschätzung der Leute war mit Gerüchen
verbunden, diesen hier mochte er. Er zögerte und fragte sich, ob er
seine Tasche im Flur abstellen sollte oder mitnehmen durfte.
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„Willste draußen bleiben? Komm doch rein.“ Er betrat den Raum mit
dem Gefühl: Hier bist du bei dem zu Hause, also Vorsicht! Und blieb
neben der Tür stehen. Wenn der Alte bei jemanden zu Besuch war,
ließ er sich alles genau zeigen, schaute sogar in Schränke oder
Schubladen. Ge fand ihn widerwärtig neugierig, so etwas würde er
nie machen. Aber hinter seiner Ablehnung lauerte die Angst vor allem Neuen. Er hielt sich zurück, war unsicher, ob er beim Flippern
keine zu große Show abgezogen hatte. Die Tasche hielt er mit beiden Händen vor dem Bauch, sollte lässig aussehen und er konnte
sich festhalten.
Päda lachte und meinte: Sieh dich um und mach's dir bequem. Ich
leg erst mal eine Platte auf, dann hol ich uns was zu trinken. Was
willste hören?“ Ge setzte sich in einen Sessel. Ein Riesenzimmer!
Und für einen, der vollgestopfte Räume gewohnt war, so gut wie
leer. An den Wänden Filmplakate, auf dem Boden an der Wand gegenüber ein weißer Fernseher, kein so altmodischer Holzkasten.
Rechts davon ein Tablett in den Farben der englischen Flagge, ein
paar Flaschen und Gläser, eine Kerze und ein Aschenbecher standen drauf. Ein schiefer Stapel Zeitschriften lehnte an einem Gasofen.
Nicht ganz in der Mitte des Raumes standen ein Glastisch und zwei
Sessel, dunkelblaue Cordsamtkissen in weißen Plastikschalen. Ge
saß mit dem Rücken zum Fenster im linken Sessel. An der Wand
eine dazupassende Schlafcouch, Päda hatte sie abgeräumt und
zusammengeschoben, als er im Flur stand. Gegenüber eine Regalwand mit einer bombigen Stereoanlage, die er sofort gesehen hatte,
und ein paar hundert Schallplatten. Päda wartete und schaute fragend. „Ich? Weiß ich nicht.“ „Na, dann guck mal, was ich habe.“ Er
stand auf und ging hin. Die Masse überwältigte ihn, er konnte sich
keine Platten leisten und nur zum Stöbern traute er sich in keinen
Laden. Er nahm Sachen aus dem Radio auf und manchmal lieh ihm
einer in der Schule eine Platte. Selten, er hatte nur einen einfachen
Plattenspieler, und es hieß, der machte die Platten kaputt. Er ging
mit den Fingern einen Stapel durch, warf einen flüchtigen Blick auf
die Covers, aber das war nichts Rechtes. „Klassik interessiert mich
eigentlich nicht“, erklärte er schüchtern. „Das ist ja kein Beinbruch,
ich hab genügend anderes da. Ab hier fängt die Unterhaltung an,
hier ham wir Jazz, hier Beat oder Pop, hier Underground und was
sich sonst nicht einordnen lässt.“ „Hast du Beatles?“ Alles, was du
hören willst. Aber wie wär's mal mit was Neuem. The Flock, ein Geheimtipp, hab ich vor ein paar Wochen aus England mitgebracht.
Insider schwören drauf und bis die hier rüber kommen, kannste 'ne
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Weile warten.“ „Hab ich noch nicht gehört. Ich schalte jeden Tag den
Club 16 und den Club 19 an.“ „Na siehst du!“ Päda legte die Platte
auf und meinte: Schau dich ruhig um. Nur an den Plattenspieler lass
ich dich nicht. Der ist ganz neu, für die Anlage hat mir ein Kollege
den Raum genau ausgemessen und ausgerechnet, welchen Verstärker und was für Boxen nötig sind. Das verstehst du doch, an die
Anlage lasse ich keinen ran. Ich lege dir jede Platte auf, die du hören
willst.“ Ge war mit den Platten beschäftigt, aber ein bisschen angeknatscht: Die Anlage sah kompliziert aus, war ja klar, er hatte keine
Ahnung. Päda begann, das Zimmer aufzuräumen: „Du musst entschuldigen, ich hab natürlich mit keinem Besuch gerechnet.“ Nebenbei sortierte er Zeitschriften und ließ ein paar zu unterst verschwinden. Einen Teil des an die Wand rutschenden Stapels, baute er ins
freie Fach neben dem Plattenspieler. „Tschuldige, lass dich nicht
stören.“ Ge fand Lps von den Beatles; der hatte die meisten Sachen,
die ihm gefielen. Die Flock klangen nicht übel, ein bisschen trocken
verjazzt, aber ganz lustig.
„Was willste trinken?“ „Ein Bier.“ „Was, schon wieder ein Bier? Das
ist doch langweilig. Du musst ein bisschen mehr experimentieren,
das gehört zum Genießenlernen dazu. Öfter mal was Neues, ich
mach uns einen Cocktail. Kennste 'nen Manhattan?“ „Ist da Alkohol
drin?“ „Klar. Ein drittel Whiskey, ein drittel roter und ein drittel weißer
Martini. Dann ein Spritzer hiervon und ein Spritzer davon, nur auf
Eiswürfel müssen wir verzichten. Ich hab keinen Kühlschrank, lohnt
sich nicht. Ich esse im Kasino, kaufe manchmal Kleinigkeiten ein, die
schnell zu verbrauchen sind, also wozu 'nen Kühlschrank? Wenn ich
wirklich was habe, kann ich's bei meiner Nachbarin unterstellen, eine
sehr nette alte Dame. Ich leg dir Beatles auf, welche nehmen wir
denn? Wie wer's mit der Revolver. Ich geh mal, schau dir ruhig alles
an.“ Nachdem Päda die Platte gewechselt hatte, nahm er ein paar
Pornos aus einer Schublade. Den halben Tag ging ihm durch den
Kopf: Ich hab schon Lust, aber das ist noch zu gefährlich. Mittlerweile war seine Spannung derart gewachsen, dass er dachte: Und wenn
schon, dann hab ich's hinter mir! Die Pornos legte er in Augenhöhe
rechts vom Plattenspieler ins Bücherregal. Dann schnappte er sich
die Flaschen und ging in die Küche.
Die Platten faszinierten Ge — dreiviertel davon war zwar so ein Zeug
für den Musikunterricht, aber der Rest schlug rein. Ein paar kannte
er nur dem Namen nach, von den meisten Lps aber einzelne Stücke,
manche hatte er auf Kassette. Aber selbst von der Revolver kannte
er einzelne Songs nicht. Kein Wunder, im Radio spielten die immer
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die gleichen Sachen. Hier wollte er einmal richtig reinhören, vielleicht
ein paar Platten auf Kassette aufnehmen, das wäre nicht schlecht —
allerdings müsste er den Recorder dann mitbringen...
Päda kam zurück und stellte die Drinks auf den Tisch. Es sah so
aus, als hätte der Kleine den Playboy entdeckt, er murmelte etwas
und ging wieder raus. Im Bad nahm er schmutzige Hemden aus
einer an der Heizung hängenden Plastiktüte, weichte sie in der
Wanne ein. Er nahm sich Zeit, die Hemden durchzuwalken, hatte
Kopfschmerzen, ein ganz gemeines Ziehen im Hinterkopf. Dann ging
er zurück und stellte enttäuscht fest, dass der Puzzi wieder auf dem
Sessel saß. Einen Stapel Platten auf den Knien, der studierte Covers. „Hast du schon probiert?“ „Was denn? Ach so, hab ich gar
nicht dran gedacht.“ Er nahm das Glas. Päda prostete, Ge kostete
ein vorsichtiges Schlückchen und nahm einen tiefen Zug hinterher.
„Na, schmeckt's? Aber trink nicht zu schnell. Das Zeug hat's in sich,
ist kein Bier.“ „Nicht schlecht, wie heißt das noch mal?“ „Manhattan.
Gibst du mir die Platten. Du scheinst dich ja auszukennen, wir machen jetzt ein Spiel.“ Er trug den Stapel zum Plattenspieler, die Zeitschriften lagen noch genauso da. Der Kleine hatte sich wohl nicht
einmal getraut zu blättern. Ge beschäftigt sich mit dem Cocktail und
wartet gespannt, er hatte den Packen mit dem Playboy nicht gesehen. „Ich spiele jetzt einzelne Stücke an und du sagst mir, was dir
einfällt. Den Namen der Gruppe, den Song, einzelne Musiker oder
ähnliches. Wenn du rauchen willst, bedien dich. Also, fangen wir an!“
Ge zündete sich eine Zigarette an, nahm einen großen Schluck. Ein
bisschen unruhig stimmte ihn dieser Test. Der Kameramann stellte
ihn durch seine ruhige Art nicht in Frage — eher umgekehrt, er
schien aufzubauen. Päda wollte versuchen, durch das Ratespiel
weiterzukommen. Für den Anfang nach der Devise: Erfolg baut auf,
ein paar bekanntere Sachen. „Na?“ „Fool on the hill, das ist eines
meiner Lieblingslieder, Beatles.“ Stimmt! So, ein Momentchen.“
„Golden earing — den Titel weiß ich gerade nicht.“ „Dann rate eben.“
„Nein, fällt mir nicht ein.“ Okay, die Nächste.“ „Emerson, Lake and
Palmer? Aber ich bin mir nicht sicher.“ „Ne, aber ganz knapp vorbei.“
„Dann sind's die Nice, five bridges.“ „Nicht schlecht! Nehmen wir die
hier, die Nächste?“ „Dylan, irgendwas von der New morning, die ich
vorhin in der Hand hatte.“ „Na ja, aber wie wär's mit der? Die kennste
sicher nicht.“ „Warte mal, ich hab das neulich abends vielleicht gehört, die haben bloß die Gruppe angesagt, keinen Titel — weiß ich
nicht.“ „Das ist King Crimson, Islands, wieder so ein Geheimtipp. Ich
hab die Platte aus London mitgebracht. Da gibt es einen komischen
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Laden, ich kenn hier nichts Vergleichbares. Ein Kollege hat mir den
Tipp gegeben. Du musst reingeschaut haben, wenn du was Ausgefallenes suchst. Nicht nur offizielle Platten, jede Menge Raubpressungen oder solche von ganz kleinen, völlig unbekannten Firmen,
die du im Handel nie bekommst. Oder Instrumente der Stars. Ich bin
nur hingegangen, um mich umzusehen. Die Leute haben Musik gemacht und wie selbstverständlich gekifft. Interessante Leute, ein
paar recht bekannte Musiker. Und dann bin ich quasi aufgeklärt worden, was gerade im Kommen ist. Mindestens 20 Platten hab ich
gekauft, wenn nicht mehr. Also, die Nächste?“
Päda machte weiter. Schließlich legte er eine Who auf, setzte sich
aufs Sofa und nahm eine Zigarette. „Weißte, mit Platten kennste dich
ja wirklich aus. So ändern sich die Geschmäcker. Vorhin haste mich
ja schwer enttäuscht, ich dachte schon, du bist ein desinteressierter
Langweiler. Aber jetzt seh ich, du hast einfach andere Neigungen.“
Ge wusste nicht, um was es ging, hatte erst einmal ein schlechtes
Gewissen. „Wieso, was hab ich denn gemacht?“ „Nichts! Das war es
eben, nichts haste gemacht. Du machst doch einen intelligenten
Eindruck, und dann hab ich schon gedacht, ich hätte mich getäuscht.
Jeder, der hier reinkommt und nur ein bisschen was gelesen hat,
stürzt sich auf mein Bücherregal, schaut, was ich habe. Mancher
sucht gleich raus, was ihn angeht. Hier hat jeder Bücher gefunden,
die ihn hochbrachten. Und was machst du? Nimmst das überhaupt
nicht zur Kenntnis, hat mich schon gewurmt.“
Ge wollte sich verteidigen, aber ihm fiel nichts ein. Das waren verdammt viele Bücher — die Wand über den Platten war voll. Als Päda
bemerkte, wie stark seine Kritik wirkte, zog er Büchernarren ins Lächerliche. „Weißt du, Bücher muss man nicht lesen, man muss sie
nur kaufen. Sie warten geduldig und bewahren auf, was wir wissen
können. Das gibt dem, der Bücher sammelt, ein tolles Allwissenheitsgefühl. Einmal wird man auf sein Thema stoßen, irgendwo steht
schon die Wahrheit deines Lebens. Eine Leidenschaft: Wenn ein
Buch zu dem und dem Thema erscheint, musst du es unbedingt
haben. Es könnte gerade hier stehen, was noch fehlt. Plötzlich wackelt die ganze Sammlung! Zum Totlachen! Manchmal ein Wahn,
bestimmte Bücher einfach haben zu müssen. Aber an Büchern
kannste das Genießen lernen. Es sind nicht die gebildetsten Leute,
die alles gefressen haben. Oft sind es Besessene oder Fachidioten.
Nein, man muss die Bücher ruhen lassen wie einen guten Wein.
Immer wieder mal hier und da ein bisschen nippen und schnuppern.
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Eine gesunde Halbbildung ist das einzig wahre.“ Er setzte sich, blätterte Covers durch, schien irgendwas zu suchen.
„Noch ne Zigarette? Nimm dir ruhig. Ah! Du hast ja nichts mehr zu
trinken. Ich mach uns noch einen, mehr ist nicht drin. Deine Alten
müssen nicht merken, dass du was getrunken hast. Bevor ich dich
heimfahre, hab ich was gegen die Fahne: Einen scharfen Gemüsesaft, das Rezept wurde im Twen empfohlen. Ich trink den immer,
wenn ich fahren muss.“ Ge grinste und war schon ausgesöhnt.
„Wenn du willst, zeige ich dir, wie man den Cocktail mixt. Komm mal
mit in die Küche. Ich nenns eben Küche, der Raum ist dafür gedacht.
Aber ich koche nichts. Ich hab mein Fotolabor hier aufgebaut und
außerdem steck ich alles rein, was in der Wohnung im Weg ist.
Schau mal hier! Das ist der Rudersitz!“ „Das Ding?“ Das Wichtigste
daran war wohl die Unterschrift.
Ein alter Schrank in der linken Ecke, auf dem Boden leere Flaschen
und an der Wand neben dem Fenster Bilderrahmen und Holzgestelle. Rechts auf dem Herd eine dreckige Pfanne, im Ausguss ein paar
kleine Teller, eine Tasse, ein paar Gläser, auf der Spüle der ProfiVergrößerer mit Zubehör. Ge schaute sich die Geräte kurz an —
teure Technik, aber ohne irgendein System einfach in der Ecke die
Wand hochgebaut. Eine riesige Trockenpresse zu unterst, die arme
Hochglanzfolie.
In ein paar Wochen würde er hier Rindersteaks oder Filet in Butter
brutzeln. Päda konnte nicht kochen, aber er kaufte feinste Sachen
ein. Ge überwand nach dem zweiten Mal die Furcht, etwas falsch zu
machen. Zu Hause musste er zwar bei allem helfen, hatte auch hin
und wieder gekocht, aber Steak kannte er nicht, das konnte schief
gehen. Den Bogen hatte er schnell raus: Medium — wie in einem
Krimi beschrieben! Von nun an durfte er sich mit Fleisch vollknallen
und wenn er wollte, gab es eine ganze Dose Würstchen zum Nachtisch. Das Fotolabor wanderte wegen der Fettdünste und weil es im
Weg stand in den Keller.
„Interessiert dich das? Ich mache selbst Abzüge.“ „Ja, klar. Ich hab
auch eines zu Hause. Allerdings viel kleiner“, meinte Ge stolz. Von
den gesammelten Geldern zur Konfirmation hatte er ein Fotolabor
gekauft; gegen den Willen des Alten, der einen Teil für die Ausgaben
der Feier verwenden wollte, und mit der Unterstützung der Mutter
und der Frau des Chefs. Seit dem letzten Ferienjob hatte er eine
Trockenpresse, die Abzüge sollten nicht wellen. Er kannte gängige
Handgriffe und Tricks, doch der erste Reiz war abgeklungen. Die
Presse wurde schnell überflüssig und er befasste sich immer selte-
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ner mit den Geräten. Es wurde langweilig ohne brauchbare Negative
— Familienfotos, Tiere aus der Wilhelma, ein paar Bäume oder Berge aus dem Odenwald — er hatte keinen Spaß am Fotografieren. In
Farben zu manschen war viel besser, er begann zu malen. „Das ist
ja toll! Hätte ich nicht gedacht, was du alles kannst. Vielleicht machen wir mal Abzüge zusammen, wär doch was? Du scheinst mit der
modernen Technik gut zurechtzukommen. Warum so was Altmodisches wie Bücher, hehe.“
Päda mixte die Drinks, führte Mischungsverhältnisse vor und erzählte nebenbei: „Ich hab lange auf die alten Chaplinfilme gewartet, jetzt
ist die Sperrfrist abgelaufen. Moderne Zeiten kommt in die Kinos, als
wär's ein neuer Film. Für jemanden in deinem Alter tatsächlich die
erste Gelegenheit. Chaplin hat mir früher viel bedeutet, vielleicht
schauen wir uns Moderne Zeiten zusammen an?“ „Ich kenn nur
Kurzfilme. Das sagt mir nicht viel, Stummfilme. Früher habe ich welche in der Nachmittagsvorstellung gesehen, Dick und Doof oder so
was.“ „Chaplin ist ganz anders, außerdem darfste nicht nach Kurzfilmen gehen. Oft wurden Gags zusammengeschnitten und berühmte
Szenen, so geht das Wichtige verloren. Er war ein ganz geschickter
Techniker, der bis ins Detail präzise gearbeitet hat. Du musst nur die
richtigen Filme anschauen, die tragen seine Handschrift. Er hat listig
gewaltige Portionen Sozialkritik aufbereitet und trotzdem ein großes
Publikum angesprochen. Sentimentalität ist eine Tarnung! Wer auf
die Tränendrüse drückt, darf bitterböse sein. Ganz unwiderstehlich,
der Tramp, der Outsider, der Kaputte, immer wird eine Menschlichkeit vorgeführt, die zur Ausnahme geworden ist. Sie wirkt echt, weil
sie im Kontrast zur Maschine, zur kapitalistischen Welt steht. Das
musst du einfach sehen. Wie der Mensch am Fließband zurechtmontiert wird und schließlich nur noch Schraubbewegungen machen
kann.“ Er führte einen so komischen Automaten vor, dass Ge lachen
musste. Oder wie ein Denkmal eingeweiht werden soll und nachdem
die Plane weggezogen wird, liegt der Tramp dort. In seinen Filmen
geht's immer um den Menschen, vielleicht galten die Feierlichkeiten
dem Tramp! Wer weiß? Vielleicht sind nur Unterlegene richtige Menschen, oft gehört ein ungeheurer Mut zur Feigheit. Das musst du
einfach anschauen.“
Wieder im Zimmer beschlossen sie, am Mittwoch in eine frühe Vorstellung zu gehen. Was Ge nachmittags machte, bekam keiner mit,
er wollte den Alten nicht um Erlaubnis fragen oder rechtfertigen
müssen, warum er Geld fürs Kino ausgab. Päda lachte und meinte:
„Ich kann dich ja einladen, dann geht es den überhaupt nichts an.“ Er
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schürte die Begeisterung, kramte eine Sammelmappe mit Ausschnitten aus Filmzeitschriften und Kinoblättchen hervor. „Ich hab seit
fünfzehn Jahren alles Wichtige gesammelt. Natürlich gibt's Filmbücher, ich muss schon wissen, wie's der Hitchcock gemacht hat. Aber
mit diesen Schnipseln hat es angefangen. Nicht nur Arbeitsalltag, ich
verbinde mit den Zeiten bestimmter Filme wichtige Erinnerungen.“ Er
merkte, wie der Funke übersprang und kurbelte schneller. „In deinem
Alter unwichtig, aber warte fünf oder zehn Jahre. Du vergisst das
meiste, was du erlebst. Irgendwann kommt der Punkt, wo du wissen
willst, wie sich eine Zeit oder ein Erlebnis anfühlten, mit allem Drum
und Dran. Und erst mal stehste dumm da, was dir einfällt, ist nicht
sehr konkret. Aber es gibt gute Tricks — jeder hat seine eigene Spurensicherung. Nicht nur leere Wörter oder blasse Bilder, sondern das
ganze Flair, die Kleinigkeiten, die Stimmung. Der olle Schiller
brauchte 'nen fauligen Apfel in der Schublade, bei mir sind's Filme.
Aber nicht, dass du denkst, ich schau alte Schinken an. Das klappt
heute genauso. Vor ein paar Wochen zum Beispiel Zadeks 'Ich bin
ein Elephant, Madame', der wirkt garantiert nach — den könnten wir
übrigens mal zusammen sehen. Ich schau mir gute Filme gern wieder an. Manchmal taucht gleich etwas hoch, manchmal sagt's mir
nichts mehr, und erst später beginnt eine Szene, eine Einstellung zu
fließen. Filme sind für mich, was für andere ein Tagebuch ist. Wir
verarbeiten unsere Erfahrung mit mehr und mehr Technik. Aber solange wir wieder rankommen, spricht nichts dagegen. Kennste
Proust? Nie gehört? Der hat einen der größten Romane geschrieben. Er führt vor, wie vergangenes Leben wenigstens für die Erinnerung zu retten ist. Zu Beginn der Suche nach der verlorenen Zeit
stößt er zufällig auf seinen Trick und taucht einen Keks in Tee. Plötzlich ist wieder präsent, was ihm als Kind den Zusammenhang prägte.
Das ist doch toll! Mancher hat vom fotografischen Gedächtnis geschwärmt, aber es ist sehr schwer, Stimmungen technisch einzufangen. Vieles ist nur mit Andeutungen zu machen und über den Grad
an Echtheit kann man streiten. Bei Proust stellte sich eine unwillkürliche Erinnerung ein. Auf die Assoziation kommt es an! Ein Aufleuchten der Welt seiner Großmutter, in der er Madeleinegebäck zum
erstenmal in Lindenblütentee eintauchte.“
Er schaute auf die Uhr und sprang plötzlich auf. „Das hätte ich beinah vergessen!“ Er ging zum Fernseher und erklärte: „Um halb
sechs kommt ein Beitrag, den ein guter Kollege gedreht hat. Ich
muss kurz reinschauen, welche Einstellungen sitzen. Der fragt mich
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garantiert und hat mir auch schon gute Tipps gegeben. Schau ruhig
noch mal Platten durch, das ist für dich uninteressant.“
Ge blieb sitzen und zeigte Interesse — die Geschichte mit dem Bücherregal wirkte nach. Päda schaute einen Bericht über eine Klinik
für Lungen- und Kehlkopfkrebskranke, drehte aber nach ein paar
Minuten das Gerät ab: „Das langt mir. Ist ja widerwärtig! Solche Sachen drehen wir hin und wieder auch.“ Er zündete sich eine Zigarette
an und zog tief durch. Ge musste lachen, kurz schaute der Kameramann verdutzt, dann lachte er mit. „Ich bin heute nicht richtig auf
dem Damm. Wenn man morgens zwei Optalidon braucht, bis die
Maschine richtig läuft. Kennste nicht? Ein Schmerzmittel, dreht auf,
musste mal probieren, wenn du 'ne Nacht durchgemacht hast —
wirkt spitze. Am Abend allerdings nich mehr.“ Er steckte die Zigarette
in eine Kammer des Aschers. „Wie funktioniert das?“ Ge deutete auf
den Aschenbecher. „Die Glut wird erstickt. Gar nicht dumm, nich?
Aus Holland! Dann stinkt's nicht mehr nach kaltem Rauch und in das
Ding passt 'ne ganze Menge rein.“
Er legte einen Stones-Song auf. Ge wollte jetzt etwas über Bücher
sagen, der Steppenwolf passte nicht schlecht, sonst kannte er zu
wenig. Wenn er zugab, dass er Science-fiction las, schüttelte der
sicher den Kopf. Während er Stichworte durchspielte, sprach der
Kameramann weiter. Was er über Proust oder Chaplin erzählte, war
phantastisch. Ge hörte gebannt zu: Wie stellt sich ein Unterlegener
dar, um gut wegzukommen?
Ihm fiel nicht auf, dass Päda immer monotoner sprach, schon die
ganze Zeit versuchte, Stress zu verbergen: „Wie gesagt, ich erwarte
viel von dem Film. Ich habe ihn mit einem Freund in Berlin gesehen,
vielleicht in deinem Alter. Er spielte eine wichtige Rolle in meinem
Leben. Damals ging ich auf den technischen Zug der Schule, hier
der Realschule vergleichbar, meine Mutter hatte zwar den sprachlichen Zug im Auge, mein Vater war aber dagegen. Solche Politikersprüche wie: Kinder, schickt eure Eltern aufs Gymnasium — äh,
umgekehrt — waren undenkbar. Der Freund sprach mit den Lehrern
und hat meinen Alten ausgetrickst. Er war ein paar Jahre älter, hat
mich intellektuell angeregt und mir finanziell unter die Arme gegriffen, als er mit dem Studium fertig war. Ihm verdanke ich, dass ich
studieren konnte. Aber was soll's! Das wird dich nicht interessieren.
Bei Chaplin hat mich immer fasziniert, welchen Männertyp der darstellt. Es gehört viel mehr Kraft dazu, Feigheit und Schwäche zuzugeben, als den großen, starken Mann rauszuhängen. Aus dieser
Perspektive ist die Kritik an der Welt der Normalen unwiderlegbar.
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Auf Seiten der Kinder und mit der Optik des Outsiders zeigen sich
durchschnittliche Lebensbedingungen als tödlich und in ihnen aushaltende Erwachsene als schwachsinnig. Na ja. Und mich interessiert besonders, wie er dir gefällt. Du siehst ihn mit anderen Augen,
das ist wichtig. Wir können uns drüber unterhalten, und ich bekomme Vergleichsmaßstäbe. Zadek hat sich mit dem Schülerprotest
identifiziert, sein Film ist ein Lernerfolg. Das könnte ich gebrauchen.“
Er spielte ein Stück auf der zweiten Seite der Platte an. Okay! Eigentlich sollte ich mal ausschlafen. Aber ich hab nachher 'ne Verabredung, hab zwar keine Lust, na ja, absagen kann ich nicht mehr. Ich
geh mich rasieren, du kannst dich ein bisschen umsehen, dann fahr
ich dich nach Hause.“ Er ging ins Bad und wusch sein Gesicht. Die
Hemden wurden ein zweites Mal durchgewalkt, mit klarem Wasser
abgeduscht, bis kein Schaum mehr kam, in regelmäßigen Abständen
am zur Seite gedrehten Handtuchhalter zwischen Waschbecken und
Badewanne auf Bügel gehangen. Gemächlich rasierte er sich und
vertröstete sich auf die Zeit nach den Modernen Zeiten — aber vielleicht nutzte der Kleine die Gelegenheit. Stichworte waren Strichworte.
Ge hatte mittlerweile in den Platten gestöbert und am Bücherregal
entlanggeschaut — was sollte er mit den Namen anfangen. Der
Playboy war ihm ins Auge gesprungen, er konnte an keinem Kiosk
vorbeigehen, ohne gierige Blicke auf die Titelblätter zu werfen. Er
zog ein Plattencover halb aus dem Fach, mit der andern Hand blätterte er Seiten um und behielt sie vorsichtshalber zwischen den Fingern, der Rasierapparat war im Zimmer zu hören. Das Wasser lief
ihm im Mund zusammen, er bekam einen heißen Kopf, trotzdem
versuchte er, den Stapel nicht zu verrücken. Er wollte jederzeit loslassen können, sah umwerfende Frauen, tolle Busen, war auf das
Aussetzen des Summtons fixiert, und bemerkte nicht, wie er lauter
wurde, näher kam. Es summte viel zu laut im eigenen Kopf. Plötzlich
stand Päda in der Tür und grinste. Der rasierte sich noch! Ge zuckte
zusammen, erstarrte, vergaß das Heft loszulassen. Peinlich, die
Beule in seiner Hose war sicher zu sehen. Der Kameramann beachtete ihn nicht und schien beschäftigt. Er zog die Haut über dem Unterkiefer hoch, widmete sich einer kniffligen Stelle. Ge schaute ihn
unverwandt an. Er traute sich nicht, aufs Magazin zu sehen, der
sollte den prallen Blick nicht bemerken. Päda schien nebenbei etwas
zu suchen, er machte eine Schranktür unter dem Regal auf, zog
zwei dicke Wälzer aus einem Fach, legte sie enttäuscht zurück, ging
im Zimmer hin und her. Ge ließ die Seiten los, das Heft blieb aufgek-
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lappt; er tat, als müsse er die Platte wegräumen. Langsam verschwand der Hammer. „Was hast du da für eine Ausgabe?“ Der
Kleine wusste nicht, was er sagen sollte, ihm fiel überhaupt nichts
ein. „Lass dich nicht stören. Die besten Bilder sind im Mayfair oder
im amerikanischen Penthouse. Das ist toll! Nicht nur Frau und klebrige Löcher, sondern sublime Ästhetik. Die sind derart fein herausgeputzt aufgenommen, da gibt's mehr zu sehen, als du sonst
träumst.“ Er schaute aufs Heft, in seiner linken Hand surrte der Rasierapparat. Aber die ist nicht übel, die hat ne Bombenfigur.“ Ge
meinte: „Hm.“ Er wollte schließlich nicht verklemmt wirken, konnte
aber nicht lange hinsehen.
Plötzlich trat der Kameramann einen Schritt auf ihn zu, nahm das
Kinn mit Daumen und Zeigefinger und rasierte blitzschnell die Wangen. „Du kannst das schon brauchen!“ Ge machte eine abwehrende
Bewegung, es raspelte verheißungsvoll unter dem Scherblatt, Päda
lachte und nickte bestätigend. Die Mutter hatte Ge einen Nassrasierer zum fünfzehnten Geburtstag geschenkt. Es war ihm unangenehm
und sah so aus, als könne er es nicht erwarten. Ein paar Klassenkameraden rasierten sich und hatten richtige Stoppeln oder Koteletten. Mit seinem bisschen Flaum war nicht zu rechnen, er hatte das
Ding hinter anderen Geschenken versteckt. Dann fragte die scheinheilige Alte vor Besuchern, warum er den Rasierer hinter die Blumenvase geschoben habe, als ob sie das nicht wüsste. Einen Augenblick war die vom Playboy ausgelöste Hemmung weg.
Aber du hast recht! Wenn du erst anfängst, musst du dich bald regelmäßig rasieren, eigentlich lästig.“ Der Kameramann ließ den Rasierer neben dem Plattenspieler liegen. Er nahm ein paar Zeitschriften vom Stapel, ging zum Sofa und legte sie auf den Tisch. Der Kleine lief einfach mit und blieb neben dem Tisch stehen. Päda begann
ein Heft durchzublättern. „Na, wo is sie denn? Hab ich erst gestern
gekauft und nur kurz reingeschaut. Da war eine, die gefiel mir besonders. Wie findest du die, die ist doch Klasse!“ Ein dunkelhaariges
Mädchen, sagenhaft... Er bemerkte nicht, wie er sich automatisch
neben den Kameramann setzte, das Blut stieg ihm in den Kopf. Päda zeigte weitere Frauen, manchmal blätterte er mit. Sie gingen
Playboy und Penthouse durch, Päda kommentierte, der Kleine verschlang die Bilder. Nach und nach fing er sich, der Kopf dröhnte
weniger. Es wurde selbstverständlicher, weil sie die Lust am Schauen teilten. Fast wie das Spiel mit den Schallplatten, ihm gefielen
allerdings andere Frauen. Päda meinte: „über Geschmack kann man
nicht streiten, aber bei der einen waren wir uns doch einig.“ Er such-
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te sie und legte das Heft aufgeklappt vor ihn hin, dann griff er zum
nächsten. „Der Mensch ist das sich selbst befriedigende Tier, das
zeigt ein richtiges Verhältnis zum eigenen Körper. Das Christentum
hat sehr viel verdorben, schon der Name Onanie ist falsch — Onan
machte einen Interruptus. Die Vorschule des Kapitalismus, deshalb
gibt es so viele Strammsteher und Mitläufer. Ein lustbetonter Umgang mit dem Körper bewirkt das Gegenteil. Man kann nicht immer
mit jemandem bumsen, manchmal ist man nicht in der Stimmung.
Dann hol ich mir einen runter. Wobei Bumsen natürlich schöner ist.
Nur können's Klemmer erst recht nicht. Das ist ja klar! Ob Kirche,
dumme Lehrer oder verbiesterte Eltern, alle verbieten die Selbstbefriedigung, um dir ein schlechtes Gewissen einzuimpfen. Das
braucht es, denn wer ein schlechtes Gewissen hat, ist ein guter Befehlsempfänger.“
Am Geist der Emanzipation gemästete Gedanken, die noch zehn
Jahre später genügend Kraft besaßen, Bestseller auf den Markt zu
befördern. Und doch fraglich: Die Aufmunterung zur Selbstbefriedigung entlastete zwar, aber im gleichen Zug wurden Behinderungen
einer partnerorientierten Sexualität verstärkt. Im Rahmen der reibungslosen Vollzüge war unwichtig, dass Ge nur fertig wurde, wenn
er dem Rhythmus der eigenen Hand gehorchte. Später bei Versuchen mit Mädchen ging es nicht besser, die Handarbeit war peinlich.
Erst als es gelang, ohne Verkrampfungen und Versagensängste aufs
andere Geschlecht einzugehen und sich hinzugeben, ging das Resultat einer homo faber-Dressur verloren.
Sie blätterten hin und her, ausgewählte Bilder lagen auf dem Tisch.
Ge bekam wenig mit, die wichtigen Stichworte waren gefallen. Er
brauchte keine Angst zu haben, die Stilaugen waren gebongt, der
rote Kopf störte nicht weiter. Er konnte sich einfach nicht satt sehen.
Päda zeigte auf verschiedene Aufnahmen: „Jetzt schau's mal genau
an. Was fällt dir auf? Na?“ Ge sah die ganze Zeit so genau wie möglich hin und war gewaltig fickrig, aber er sah nichts. „Die typisch
deutsche Verklemmung!“ Betont gab er einen Geheimtipp weiter:
„Die Frau hier oder die hier, liegt schön gespreizt da, man müsste
ihre Schamlippen sehen. Aber die Schamhaare gehen einfach über
in Schatten. Das ist retuschiert für den deutschen Markt. Nimm irgendein Bild aus dem amerikanischen Penthouse: Das zum Beispiel.
Du siehst jede Falte und ein hübsch geschminkter Kitzler ist nicht
etwa unästhetisch, überhaupt nicht. Bei den Engländern findest du
einen Kompromiss, die drucken ein Netz schwarzer Punkte drüber
und man kann einiges entdecken. Die Deutschen haben die sau-
80
berste Lösung gefunden. Eine Frage der Gesetzgebung, keine der
Ästhetik! Mit der deutschen Sauberkeit ist etwas faul. Hier werden
den Männern spezielle Wichsvorlagen verkauft: Die Frau geht unten
in einen dunklen Nebel über, weibliche Geschlechtsteile zaubert man
weg. Das sagt viel über den deutschen Mann.“ Ge hatte erst jetzt
den Unterschied bemerkt. Es pumpte wieder, bis der Kopf dröhnte.
Er konnte nicht mehr wegsehen.
Päda klopfte ihm auf die Schulter: „Ja ganz so wild ist das doch
nicht. Solche Fotos sind wohl ganz neu für dich? Das wundert mich,
in der Schule kriegt man so was doch mit. Wir sind früher aufs Klo
gegangen, wir haben alles mögliche durchgehechelt. Ich war sicher
jünger als du.“ Das konnte Ge nicht auf sich sitzen lassen. „Ich kenn
sogar Pornos! Aus dem Freibad.“ Päda lachte und stand auf. Während er zum Plattenspieler ging, sagte er: „Dann biste ja nich zu verderben.“ Er legte 'hair' auf und schien etwas zu suchen. „Wo ham wa
se denn, wo ham wa se denn?“ Er summte die Eingangsmelodie mit.
Einmal im Freibad bekam Ge mit, wie ein Typ einem anderen ein
Heft aus der Tasche stibitzte. Nach einem Gerangel schauten sie es
gemeinsam durch. Er hatte einen halben Meter entfernt gefiebert, ein
Porno leuchtete zwischen fremden Fingern. Ein Auge reingeworfen,
dann wurde er ausgelacht, weil die Badehose spannte. Ach, da sind
sie ja!“ Päda kam mit ein paar Heften zurück und erklärte: „Hier kann
man nicht mal alles kaufen und wenn du wählen willst, der letzte
Schund. Ich hab sie aus Holland und Schweden. Das ist dort viel
selbstverständlicher, kannste in 'nen Laden gehen, in aller Ruhe
anschauen, bis de gefunden hast, was dir gefällt. Na ja, du nicht,
aber das spielt jetzt keine Rolle.“
Er setzt sich neben den Kleinen und drückt ihm die Hefte in die
Hand. Der hält sie fest und saugt an seiner Zigarette, zittert. Päda
wartet. Der Kleine drückt die Zigarette in einer der Kammern des
Aschers aus, hat vergessen, das ist unnötig. Päda hilft beim Aufschlagen. „Na, was meinst du dazu? Das ist doch nicht schlecht.“ Er
legt das Heft aufgeklappt vor ihn hin und nimmt das nächste, dann
das dritte. Der Kleine ist nicht fähig, etwas zu sagen. Hochglanzpapier, Mösen und Schwänze in Aktion, er bekommt fast keine Luft
mehr. Ein Sog reißt ihn mit. Päda blättert die Seiten um. Wenn ein
Bild besonders scharf ist, legt er das Heft auf den Tisch und greift zu
einem anderen. Eine Hand wandert erst unters Heft, später über den
Oberschenkel, dann zum Hosenladen. Der Kleine merkt nicht mehr,
wie die Hose geöffnet wird. Die Hand am Schwanz ist eine Erleichterung, er hat eine knallrote Rübe, aber das Pochen im Kopf lässt
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nach. Die Bewegung fühlt sich gut an, fällt nicht auf, dass es nicht
die eigene Hand ist. Endlich geschieht was mit dem Ding. Die Starre
ist überstanden, er beginnt selbst zu blättern. Erst zurück zu ein paar
Bildern, die er noch einmal sehen muss, dann quer durchs Heft, das
nächste, die anderen. Er blättert schneller, legt aufgeschlagene Hefte vor sich hin, will alles gleichzeitig sehen. Ein Wahnwitz des Blätterns, er sieht bald nichts mehr. Die Bewegung der Hand stimmt
nicht mit dem gewohnten Rhythmus überein, nicht zu ändern, beide
Hände haben voll zu tun. Zwei hastige Schlucke und das Glas ist
leer, ein ganz trockener Mund. Er rast durch die Hefte, die Schnelligkeit des Umblätterns hat Reiz und Zufälligkeit eines wirklichen weiblichen Körpers zu ersetzen. Er platzt gleich, es gibt einen Stau. Er
ruckt unruhig auf der Sofakante hin und her, es tut sich nichts. Päda
leitet die Unruhe um, schiebt und drückt ein bisschen, die Hosen
sind freigestrampelt. Er wirft sie über den nächsten Sessel, knetet
den Schwanz. Der Kleine ist wild am blättern, nach und nach dämmerts, jetzt feuerbohren, er schiebt die Hand wie selbstverständlich
weg, bei dem langsamen Vor-und-zurück wird er nicht fertig. Keine
Überlegung mehr, jetzt müssen gewohnte Bewegungen folgen.
„Lass mich mal, ich...“ Er spricht nicht weiter, der Ich ist suspendiert.
Man muss es tun. Päda lehnt sich zurück, zieht seine Hose aus und
wirft sie zur andern. Er legt sich schräg hinter den Kleinen, die Hände arbeiten, er geht behutsam mit. Der Kleine liegt auf der Seite, die
Pornos auf dem Boden, sein Kopf pendelt schräg über der Sofakante, die Hände arbeiten wie wild. Als er kommt, greift Päda zwischen
Sofa und Wand, zaubert ein Wichstuch unter ihn. Er braucht noch
ein paar Bewegungen, dann zieht er dem wie tot daliegenden Kleinen das Tuch weg, tupft ihm Rücken und Arschbacken trocken,
streicht das Hemd runter, legt sich auf den Rücken und wartet.
Noch war es nicht soweit, dass die Schwanzlängen verglichen oder
die Spritzweiten bestaunt werden; oder dass nach der ersten Nummer ein Theaterbesuch ansteht und wieder zurück ein paar weitere
folgen dürfen. Oder dass in der Küche ein Stück Filet wartet, und der
Kleine après die Stärkung bereitet für die nächsten Nummern, zwischen denen sie Karten oder Würfel spielen, um sein Taschengeld
aufzubessern. Noch durfte nicht einmal über die erschwerende Praktik des Feuerbohrens gewitzelt werden, das hätte zu viel in Frage
gestellt. Erst in Holland gelang es, neben einer Reihe anderer
Selbstverständlichkeiten, ihn vom sozialeren und weniger anstrengenden Vor-und-zurück zu überzeugen. Eine der wichtigsten Beobachtungen hieß: Wie schwer er sich's in jeder Hinsicht machte, wie
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oft schon kleinste Freuden abgestraft werden mussten. Der Genuss
wurde kultiviert, die Behinderung hatte hier nichts verloren. Welch
ein Ereignis, wenn einem Film über Handke die 'Symphonie mit dem
Paukenschlag' unterlegt worden war und sie auf den Paukenschlag
warteten: Päda wusste, wann er kommen würde. Was für ein Wertmaßstab, wenn man Mahler Wagner vorziehen konnte... Leckereien
und Getränke, Filme, Musik, Theaterstücke oder Bücher durften den
gepflegten kulturellen Rahmen abgeben, innerhalb dessen das Lob
der Abkürzung kultureller Umwege gefeiert wurde: Diese kreative
Lustpolitik musste nicht begründet werden. Sie wurde gerechtfertigt
durch den Erfolg: Verminderung der Befangenheit, Zerstörung des
engen Horizonts der Elternwelt und Ankurbelung des Lernvermögens. „Ich bin ein Elefant, Madame... ich spritze an die Wand, Madame!“
Eine kleine Pause schlängelte sich hin. Noch war es nicht soweit.
Zähe Minuten tröpfelten hintereinander her. Der Kleine hatte die
Augen geschlossen, rührte sich nicht, stand kurz vor seiner ersten
Wiedergeburt. Pädas Spannungen brachen erneut durch, er wartete.
Was kurz vor der Nummer selbstverständlich ausgesehen hatte, war
wieder diffus zerfleddert, zurückgeworfen auf ein frühes Versuchsstadium. Seine Erregung war nur kurz abgeklungen. Während er zur
Decke schaute, tauchte die Frage auf, jetzt den richtigen Abgang zu
finden. Wie leicht es schien, wenn kein Ausweg offen war, wie
selbstverständlich, wenn die Entscheidung fiel: Eine Handlung bewegte sich aufgrund des vorbereiteten Gefälles immer schneller auf
ihr Ziel zu. Er angelte sich mit dem großen Zeh die Hose, schlüpfte
rein, zog sich unauffällig an und setzte sich auf. Ge wusste nicht,
was gerade gelaufen war. Am besten nicht denken, liegen bleiben,
nichts mitbekommen. Im Hintergrund lief 'hair': „... und weil ich ein
Genie bin, glaube ich an Gott, ich weiß, Gott ist nicht tot, er glaubt an
Claude und das bin ich — That's me!“ Er hörte hin und saugte sich
fest, um nichts zu denken. Später sollte er halbe Abende lang die
englische mit der deutschen Fassung vergleichen, um die Unterschiede herauszubekommen — weniger Übersetzungsspielerei als
Bewältigung eines traumatischen Ereignisses. Päda wartete eine
Weile. Als handle es sich um die selbstverständlichste Sache der
Welt, meinte er: „Na siehste, das hat sich doch gelohnt!“ Der Kleine
schaute kurz, verständnislos, es arbeitete in ihm; er blickte nicht,
was vorgefallen war. Nicht nur die Worte, sondern die Vorstellungsgehalte fehlten. Wenn er versuchte, das völlig fremde Geschehen
einzuordnen, bot sich außer dem Schamgefühl nichts Gewohntes
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an. Er fragte sich, wie es anzustellen sei, möglichst unauffällig in die
Klamotten zu kommen. Selbst die Schuld dämmerte erst in der Ferne, als Ahnung der Schande: Sich so gehen zu lassen, vor einem
fremden Typ! Er kapierte nichts, weil ihm beigebracht worden war,
die Schuld, egal für was, zuerst bei sich zu suchen.
Als in der nächsten halben Stunde das Stichwort: Schwul fiel, konnte
er nichts damit anfangen. Im Laufe der Tage versuchte er alle Erinnerung von sich fern zu halten, wollte nicht einmal überlegen, ob er
ins Kino gehen sollte oder nicht, schon der Gedanke war ihm peinlich. Als ihm einfiel, er müsse der Mutter eigentlich erzählen, was
passiert war, zögerte er und vergaß es lieber. Weniger, weil er wusste, was für einen gewaltigen Wirbel sie veranstalten würde; er ahnte,
dass er sich auf sie nicht verlassen durfte. Viel eher, weil er sich
schämte, von seiner Blamage zu erzählen. Die wollte alles genau
wissen, er hätte Fragen zu beantworten gehabt. Bis zum letzten
Augenblick konnte er sich nicht für den Kinobesuch entscheiden. Er
wurde unruhig, als es so weit war, wusste nicht, was er am Nachmittag machen sollte, hielt es nicht mehr aus und ging ziellos spazieren.
An den Film dachte er nicht. Aber die Frage, ob er den Typ treffen
sollte, stellte sich gelegentlich ein, um wütend verscheucht zu werden. Das war zu blöd! Mit welcher Begründung konnte er nicht wollen? Die Mutter würde ihn garantiert fragen. Er verhedderte sich in
Spitzfindigkeiten, um pünktlich zur vereinbarten Zeit wie zufällig in
der Nähe des Kinos aufzutauchen. Der Kameramann entdeckte ihn
und ging ihm freudig mit dem Ausruf entgegen: „Ich find's toll, dass
du gekommen bist! Ich bin mir nach dem Missgeschick nicht sicher
gewesen, ob du zum Kino kommst.“ Erst da wurde Ge bewusst, wie
nah das Kino lag und er erschrak.
Päda nahm die Klamotten vom Sessel und legte sie behutsam zu
dem Kleinen. Er zündete zwei Zigaretten an, schob ihm eine zwischen die Lippen, wartete, bis der rauchte. Dann legte er eine Beatles-Lp auf und setzte sich in den Sessel gegenüber. Der Kleine lag
auf der Seite, qualmte mit geschlossenen Augen vor sich hin. Päda
beobachtete ihn eine Weile. Dann sammelte er die Pornos ein, legte
sie zu den Zeitschriften ins Regal. Er hob die Gläser hoch, stieß sie
aneinander: „Ich mach uns noch was zu trinken, magst du ne Cola
mit Schuss?“ Die Antwort wartete er nicht ab und verließ den Raum,
es war leichter zu Ende zu bringen, wenn der Kleine sich wieder
angezogen hatte. Ge horchte, bis er den Typ in der Küche hantieren
hörte und griff sich schnell die Hose. Er hatte sich nicht vor ihm anziehen wollen, lieber war er liegen geblieben. Dann rauchte er, kon-
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zentrierte sich auf die Musik. Er wollte vor allen Dingen nichts denken, fühlte sich lasch. Die Beatles taten gut. Der Kameramann stellte
die Gläser auf den Tisch, setzte sich ihm gegenüber hin und schaute. Ge nahm sein Glas und trank. Er hielt den Blick nicht aus, ließ
den Kopf sinken, machte die Augen wieder zu. Nach einer kurzen
Pause begann Päda zu sprechen. Erst klang er heiser, als fühle er
sich nicht wohl. „Da hab ich was ganz dummes gemacht. Ist mir
noch nie passiert, gleich beim ersten Mal! Ist ja gefährlich, war das
Gesaufe. Ist fast unverzeihlich. Wenn du das deinen Alten erzählst,
gibt es einen Mordsärger, und ich wandere in den Knast. Normalerweise bin ich sehr vorsichtig. Da wartet man ein paar Wochen, bis
sich Gemeinsamkeiten einspielen und man sich sicher ist. Aber du
hast so einen intelligenten Eindruck gemacht, dann bist du mir sympathisch, dann hab ich gestern zuviel getrunken, heute Nacht nur
vier Stunden geschlafen und dann und dann und dann. Ich kann
nicht aufhören, alles klingt wie eine miese Entschuldigung. Also, es
tut mir leid! Hab ich nicht gewollt, ich wollte mich mit dir anfreunden.
Jetzt schau doch nicht so, es tut mir wirklich leid.“ Er wartete. Während er sprach, verstand Ge ungefähr: Der ist also schwul! Aber das
wollte er gar nicht wissen. Der Gedanke ging im Gerede unter, anstelle eines diffusen Unbehagens fand sich die ganz klare Schuldvorstellung ein: Oh Mann, ich hab mich nicht beherrschen können! Ich
hab mir vor einem Fremden einen runtergeholt! Nur nebenbei hörte
er, was der erzählte. Ihn würgte der Gedanke: Ich hab mich schon
wieder nicht zusammenreißen können. Wie bei der Gartenparty! Voll
daneben, einfach zum Kotzen! Der Kameramann erzählte weiter.
Immer wieder, dass es ihm leid tat und dass er einen Fehler gemacht habe und dass das nichts daran ändere, dass er ihn wirklich
sympathisch finde... Ein Hintergrundgeräusch, ein monotoner Singsang. Bei manchen Stichworten hörte Ge hoch, er konnte gerade
jedes Lob gebrauchen. Aber wen interessierte, dass der Kameramann Angst hatte, die Alten könnten die Polizei einschalten. Was
juckte die Geschichte von einem Kollegen, der zweieinhalb Jahre
bekommen hatte und für den während der ganzen Zeit die Stelle
freigehalten wurde. Was sagte das schon, wenn einer vom Fernsehen von Chef und Mitarbeitern sogar im Gefängnis besucht wurde.
Die waren alle viel besser dran als ein kleiner Arsch.
Päda hätte schon viel erreicht, wenn es für den Kleinen ein Missgeschick bleiben würde: Eben sein eigenes. Er machte eine Pause,
drehte die Platte um und spielte ein Stück von der zweiten Seite an:
„... nothing's gonna change my world...“ Er klang jetzt wie gewohnt,
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schaute den Kleinen eine Weile an und brach in Lachen aus. „Jetzt
mach nicht so ein Gesicht! Du hast doch kein Jungfernhäutchen
verloren. Sieh es mal anders: Ab jetzt kannst du, immer wenn du
willst, die tollsten Pornos durchblättern.“ Weil der Kleine seltsam
schaute, sprach er gleich weiter. „Du weißt ja: Das kann jedem passieren, dass er zuviel säuft und irgendwelchen Schwachsinn macht.
Aber was soll's? Kaum ist der Kater überstanden, schmeckt es wieder. Um was geht es denn, wenn nicht darum, sich in einer beschissenen Welt ein paar kleine Wünsche zu erfüllen. Unsere Wünsche,
unsere Lust, sind ein Gegenbild der Welt. Und sie zeigen, was es
heißen könnte, wenn die Phantasie erst an die Macht kommt.“ Den
letzten Satz sprach er bedächtig, betonte jedes einzelne Wort, es
klang feierlich.
Der Kleine nahm eine Zigarette. Es arbeitete in ihm. Päda wartete
eine Weile. Endlich stand er auf und sagte: „Wir sollten jetzt fahren.
Du musst heim, und ich hab 'nen Termin. Ich mach dir den Drink,
dann hast du keine Fahne.“ Er holte eine rote Flasche aus der Küche
und schenkte ein. „Kennste den? Soll schon manchen Führerschein
gerettet haben. Eine Art Gemüsesaft, schmeckt nach Gewürzen,
kann man doch trinken?“ Der Kleine nippte vorsichtig und nickte,
trank kleine Schlucke. Er wusste nicht, was er sagen sollte, hätte
sich gerne entschuldigt, aber das passte nicht. „Du bist nicht gerade
gesprächig. Ich seh schon, du musst es erst verarbeiten, so was
dauert immer. Aber wir können uns ja am Mittwoch nach dem Chaplin unterhalten. Einmal ist bei jeder Sache das erste Mal und wenn
man sich mit jemandem besprechen kann, hilft das weiter — zu mir
kannste schließlich Vertrauen haben. Wir gehn doch ins Kino, oder?“
Er fixierte den Kleinen und lächelte. Ge nickte wieder. „Na siehste.
Wir treffen uns vor dem Kino. Wie gesagt, bis dahin hast du Zeit und
kannst dir alles überlegen, wir werden uns richtig aussprechen.“
Er packte zusammen, ging in den Flur, kam mit einer Stange Dunhill
zurück, riss sie auf, hielt Ge zwei von den rotgoldenen Schachteln
hin. „Die sind für dich. Na nimm schon.“ Der Kleine zierte sich und
wollte nicht. „Ich kann mir denken, was es heißt, wenn du von deinem Taschengeld Zigaretten kaufen musst. Das war bei mir nicht
anders, kann sich ja ändern. Wenn du einen Film sehen willst oder
ein Buch brauchst, du musst es nur sagen. Ich verdiene gut, das fällt
nicht ins Gewicht. Wenn du später einen guten Job hast, lädst du
mich mal ein. So lief das mit meinem Freund auch.“ Ge wollte nicht,
auch keine Zigaretten, klang alles viel zu verlockend, angefangen bei
den Pornos. Davon wollte er nichts wissen. Er hatte jetzt zweimal
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hintereinander vorgeführt bekommen, dass er sich nicht beherrschen
konnte. Das war ja die Schande! Als Päda bohrte: „Na nimm schon!“
bedankte er sich, nahm die Schachteln. „Ja ja, so lief das bei mir.
Herbie hat dafür gesorgt, dass ich an geistige Nahrung rankam und
wenn ich heute nach Berlin komme, schau ich bei ihm vorbei. Wir
gehen gut essen, machen eine Kneipentour. Letztes Mal waren wir
in einem Nachtclub, nich übel. Dann besprechen wir, was wieder
alles gelaufen ist. Wir kennen uns jetzt fünfzehn Jahre, längst eine
abgeklärte Freundschaft. Erst hab ich ihn gebraucht, um mich aus
meiner Familie frei zu strampeln — er war mein Berater und wusste
über alles Bescheid, ich brauchte den Durchblick. Später wurden wir
gute Freunde, haben wichtige Theaterpremieren besucht und die
gleichen Frauen gebumst.“ Er wartete, bis ihn der Kleine fragend
ansah. „Na, so ist das! Komm mir nicht mit dem Kleinbürgervorurteil:
Schwul. Taugt nichts! Jeder Mensch ist in erster Linie bisexuell, im
Laufe der Jahre neigt er mehr zum einen oder zum andern Geschlecht. Aber erst mal musst du Erfahrungen machen — das unterscheidet einen vom Spießer. Die natürliche Bisexualität liefert ein
wirklich breites Erfahrungsspektrum.“ Der Kleine hörte aufmerksam
zu. Solche Sprüche waren beeindruckend, jenes bewohnbare Eckchen seiner Welt war wieder greifbar, im 'Steppenwolf' stand ähnliches. Er krampfte weniger und fühlte sich erleichtert. Päda lächelte
freundlich und sprach weiter: „Man muss im Leben den Mut aufbringen und experimentieren, sonst findet schnell nichts mehr statt. Ein
breites Erfahrungsspektrum hilft; wir können im Laufe der Zeit lernen, was nur Oberfläche ist und was interessant sein könnte. Ich
steh zum Beispiel auf knabenhafte Frauen, sprechen mich wirklich
an. Aber das hatte keinen Einfluss auf meine Freundschaft mit Herbie, unsere gemeinsamen Interessen lagen anders. Es ging um
wichtigeres, um kulturelle Feinheiten. Wir wissen heute noch genug
zu bequatschen.“
Er schaute auf die Uhr und sprang auf. „Es ist ja kurz vor halb acht!
Packen wir's! Für mich heißt das jetzt höchste Eisenbahn. Ich fahr
dich heim, dann könnt ich's gerade noch schaffen. Und nicht vergessen, am Mittwoch werden wir deine Probleme besprechen. Ich kann
dir sicher helfen. Meist hilft es wirklich, wenn man jemanden hat, mit
dem man sich vernünftig unterhalten kann. Na, gehen wir?“ Sie brachen auf, der Kleine vergaß seine Badetasche. Päda trug sie grinsend hinterher und wartete, bis die Schuhe zugebunden waren. Bevor er sie weitergab, machte er die Tasche umständlich auf und fragte: „Du hast die Zigaretten hoffentlich eingesteckt?“ Ge nickte und
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nahm sie; das Geschenk erinnerte unangenehm an die Schande.
Während der Fahrt erzählte Päda wieder von Chaplin, von einer
rührenden Menschlichkeit, die durch Ausgeliefertheit und Armut
durchschien, die es eigentlich nicht geben konnte, so schön sollte sie
anzusehen sein. Ge wirkte, als könne man ihn ohne Bedenken zu
Hause abliefern. Je näher der Westen kam, je bekannter die Straßen
wurden, desto unbehaglicher fühlte er sich — jetzt war der Alte auf
jeden Fall da. Päda erinnerte an den Mittwoch und meinte, er habe
die nächsten Tage viel Arbeit zu erwarten. Er bremste vor der Drogerie an der Ecke. Ge wusste nicht, was er sagen sollte, ein ganz förmliches: Auf Wiedersehen und vielen Dank“, brachte er zustande. Der
Kameramann lachte und meinte: „Mach's gut und nimm's nicht
krumm! Bis dann!“ Er fuhr los und winkte. Der Kleine schaute ihm
nach, reagierte nicht. Päda beobachtete im Rückspiegel einen süßen
Puzzi. An der nächsten Kreuzung drehte er um, er musste in die
entgegengesetzte Richtung. Der Kleine stand noch an der Ecke, der
Kameramann hupte. Dieses Mal winkte er schüchtern zurück. Er
stand da, wie bestellt und nicht abgeholt.
Das Problem war, unauffällig zu Hause reinzukommen; auf ihn wartete nur Theater und Gescheiße. Er stellte die Tasche im vierten
Stock ab und hängte die nassen Sachen ins Bad. Dann ging er hoch
und wurde nicht beachtet. Die Alten stritten im Wohnzimmer, in der
Küche standen ein paar Sachen zum Abendessen. Ein gutes Zeichen: kein gemeinsamer Abendtisch! Er schmierte sich ein Brot.
Während er aß, bekam er alles Nötige mit. Die waren laut genug,
das halbe Haus konnte die bekannten Sprüche mithören. Der Alte
war erst vor zwei Stunden gekommen und hatte behauptet, er sei bei
dem Ehepaar gewesen. Die Mutter wusste es besser, die hatten ihn
morgens zwischen drei und vier Uhr zuletzt gesehen. Es ging um ein
nichtvorhandenes Vorbild für die Kinder, um das Gerede der Geschäftskollegen, um eine heile Ehe, um die Schande. Was sollten
denn die Leute denken? Und so weiter: Sinn und Blödsinn der Welt
dieser Arschlöcher. Und natürlich verdiente der Alte nicht genug und
wie immer sollte die Mutter doch als Bardame gehen... Der Alte kam
zur Rechtfertigung mit Geschichten aus der Urzeit der Ehe, die Mutter nagelte Neuzeit darüber. Immerhin kamen die nicht auf das Gekotze, das war schon was. Gelegentlich wurde auf den Tisch getrommelt, manchmal ging die Wohnzimmertür auf und krachte wieder
zu — das waren die Argumente des Alten! Genug Theater, um zu
verdrängen, was bei dem Typ vorgefallen war. Zwischendurch ging
es einmal um die Haare. Ein blödes Thema, aber die Mutter drohte,
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sie werde die Anzeige beim nächsten Mal nicht mehr zurückziehen.
Die Drohung klang nicht schlecht. Was sollte es, die hatten schnell
wieder ihre Lieblingsthemen. Nicht nur der Alte war ein Arschloch,
Ge machte gerade wenig Unterschiede. Widerlich, beide! Da war
nichts zu retten. Am Schluss war er der Depp, ihm würde keiner
helfen. Wenn das Glück in ihrer Welt überhaupt einen Ort fand, blieb
es auf die Chance des Unvorhersehbaren angewiesen.
Ge versuchte sich nach dem Essen heimlich zu verdrücken. Er war
geschafft, wollte früh schlafen. Die Wohnzimmertür wurde aufgerissen, der Alte schien sie aus den Angeln zu heben. Ein Mordsschlag!
Er schrie mit hochrotem Kopf: „Das lass ich mir nicht bieten! Ich
hab's satt! Ich verdiene hier das Geld und solange ihr die Füße unter
meinen Tisch steckt...“ Der kurze Augenblick hatte gereicht. Die Tür
ging wieder auf, er meinte zu Ge: Und du schleichst hier nicht heimlich rum. Im Bad ist Wäsche, die schleuderst du und bringst sie auf
die Bühne. Du könntest deiner Mutter helfen.“ So leitete der den
Waffenstillstand ein: Das war eine Kackarbeit, blieb immer an ihm
hängen. Er schleuderte zwei Körbe voll Wäsche und trug sie hoch.
Auf der Bühne war es dunkel, eine schwache Birne beleuchtete die
Lattenverschläge nur spärlich. Früher hatte er sich gefürchtet, erst
die dunklen Gänge abgesucht, um sicher zu sein, dass niemand
oben war. Um ihn zu ärgern, hatte der Alte manchmal am Schalter
im Korridor das Licht abgestellt. Besonders widerwärtig war es, wenn
er im Keller Kartoffeln entkeimen musste: die schmierigen Strünke
schienen sich in der Dunkelheit zu bewegen. Er schlüpfte an feuchter Wäsche entlang, Bettücher strichen eklig über Gesicht oder Arme, er bekam eine Gänsehaut. Nach und nach stellte sich das beruhigende Gefühl ein, mit der beschissenen Arbeit abzudienen, was
die letzten Tage an Patzern gelaufen war. Als er endlich müde in
sein Zimmer gehen konnte, war die Sache bei dem Typ weit weggerutscht. Er hörte eine Weile Radio und schlief ein.
Riders on the storm:
Ein kurzer Schock, 1970
waren Parolen wie: „Schwul in die Zukunft!“ einer breiteren Öffentlichkeit nicht zuzumuten. Der Wandel des Schwulenbildes, sein Einfluss auf die Mode, war für einen Fünfzehnjährigen nicht abzusehen.
Doch die Erschütterung seines Normalitätsdrills zog Kraft aus dem
Unbehagen an der Normierung. Der Schwule lieferte einen Rückhalt
gegen schwachsinnige Arbeitsdressuren des Vaters und gegen
kleinbürgerliche Bildungshorizonte der Mutter. Sein intellektuelles
Repertoire schloss pubertären Protest und Studentenbewegung
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kurz: besseres Wissen und Verklärung der eigenen Besonderheit.
Das waren keine leeren Sprüche! Was Ge lernte, stellte ein großes
Versprechen dar.
'Das kleine rote Schülerbuch' und Amendt's 'Sexfront' machten den
Anfang, weitere Bücher und Zeitschriften dienten gleichermaßen der
Bewusstseinserweiterung und der Bestätigung der Sexualität: Trimm
dich, fick mal wieder! — eine Parole, die nichts vom asketischen
Betrug der Trimm-dich-Bewegung ahnen ließ. Der Schwule übernahm eine Ersatzpapirolle, gab Tipps und beriet ihn bei wichtigen
Entscheidungen. Intellektuelle Anstöße und kreative Förderungen
verdankte Ge dem neuen Freund — ohne zu sehen, wie in ihrer
Beziehung ein typisches Modell der gesellschaftlichen Entwicklung
ausgeprägt wurde. Weit hinterherhinkende Behinderungen fanden
einen zeitgemäßeren Ersatz. Er hatte schnell kapiert, dass er entdecken und probieren durfte, was innerhalb der Elternwelt im besten
Fall als Gegenbild zu erträumen war.
Alle spießigen Borniertheiten wurden für schwachsinnig erklärt, geheime Ahnungen endlich in ihr Recht versetzt. Neue Verhaltensweisen traten an ihre Stelle, er lernte subversive Techniken des Doppellebens. Neben der gewohnten Welt übte er ein paar Stunden pro
Woche die Bewegung jenseits von Verklemmung und verkrüppelnden Machtspielen. Ein Erwachsener, der doppelt so alt war wie er,
anerkannte ihn als Partner; er ermutigte ihn zu Lust und Selbstentfaltung, half Spielräume aufzuschließen und stellte Möglichkeiten zur
Verfügung, Freiheiten zu verkörpern. Die eingeschmuggelten
Selbstbestrafungen fielen anfangs nicht ins Gewicht, das waren
eben puritanische Exzesse mit einem Kater im Gefolge. Gegen die
Versteinerungen früherer Ängste wirkte ein Kater lebendig, er taugte
sogar als Ratgeber. Eine Bestätigung der Eigenliebe, eine Steigerung des Selbstwertgefühls führten in die Welt des Schwulen. Abwertungen durch den Vater spielten keine Rolle mehr, Verheißungen
der Mutter schienen sich zu erfüllen: anerkannt zu werden, jemand
Besonderer zu sein, die eigenen Fähigkeiten zu entwickeln... Und er
bekam eine universale Problemlösungsformel: Das Paradies müsse
sich ervögeln lassen!
Die Techniken des Abstrafens zeigen, wie schwer der Umgang mit
allem Neuem fiel: Erst war die alkoholische Verdumpfung nötig, um
Fremdes überhaupt heranzulassen; dann brauchte es den Kater, um
wenigstens nachträglich die Negativität von Gewohnheitsmustern
aufzubewahren. Erst viel später wurde deutlich, dass gerade die
Bestätigung abgestraft werden musste: Der lustvolle Exzess wurde
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oft zum qualvollen Ritual. In der psychischen Ökonomie sorgte ein
Opferschema für die Aufrechterhaltung gewohnter Negationen — die
Kulissen mochten sich ändern, das Fest blieb heilig, solange widerlegte Schuldzuweisungen einfach fortwucherten. Ein ständig verkatertes Gleichgewicht aus Behinderung und Selbstentfaltung prägte
die nächsten Jahre: Autonomietraining als Selbstzerstörung. Die
Fähigkeit, nein zu sagen, Grundlage von Identität, Denken, Selbsterhaltung, war am Köder der Eitelkeit stark geworden und wurde in
Exzessen abgegolten.
Eine wichtige Funktion hatten lockere Sprüche und bösartig intelligente Kennzeichnungen: Selbstdefinitionen, die schnell eine Atmosphäre der Gemeinsamkeit schufen. Ihre Wirkung beruhte nicht allein
auf psychischen Abfuhrleistungen, sprich: unverbindlichem verbalen
Wind. Häufig genug wurde das Wechselspiel aus Narzissmus und
Selbstbestrafung zur Grundlage aller großen Leistung deklariert. Ge
identifizierte sich mit Sprüchen, die das andere Ufer verklärten, weil
sie die erwünschte psychische Eignung für Kunst und Kultur behaupteten. Er las, was ihm ausgeliehen wurde, sah Filme, die der Kameramann empfahl, besuchte Ausstellungen und Theaterstücke. Der
Anschluss an die Gegenwart war hergestellt. Vor der Verführung
hatte er angefangen zu malen, nun wurde das Spiel mit Farben und
Formen zum Medium der Spannungen, die das Neue auslöste. Von
Bearbeiten konnte nicht die Rede sein, das war den Gesprächen
vorbehalten. Wichtig war, was er aufgenommen hatte, wie große
Köpfe darüber urteilten und was der Freund davon hielt. Anfangs war
viel zu schildern und zu erklären: Die Geschichten aus dem Arbeitsalltag eines Kameramanns befriedigten dessen Eitelkeit und seinen
Hang zur Selbstdarstellung. Er brauchte die Aufmerksamkeit des
Heranwachsenden, um lustvoll zu reproduzieren, was beim Funk
Alltag hieß. Ge gewöhnte sich entlang vielfältiger Anekdoten an die
alternativen Normen einer Welt, in der Progressivität gelebt wurde;
Unflexibilität und Angstbereitschaft waren unzeitgemäß. Die Geschichten des Heranwachsenden dienten einem Zweck: Schnell auf
entscheidende Gesetzmäßigkeiten zu kommen und Konsequenzen
aus dem besseren Wissen zu ziehen: Nichts war wichtiger als der
Abstand gegenüber der Elternwelt. Für Päda war es eine Bestätigung, seinen Einfluss wachsen zu sehen, für Ge die Möglichkeit der
Emanzipation. Beide Tendenzen arbeiteten lange Hand in Hand.
Nebenbei wurde gesoffen und gespielt, hin und wieder machten sie
eine Nummer. Eine zweite Flasche Wein, ein gutes Pornoheft unterstrichen die lustbetonten Zugänge zur Wirklichkeit. Parolen der
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Studentenbewegung waren nicht nur Mittel zum Zweck, sondern
dienten der Selbstdefinition. Ge hatte einen Freund, der zwar älter
war und viel mehr wusste, der ihn aber teilhaben ließ und zu eigenen
Interessen ermutigte. Der Abstand wurde überbrückt, verschwand im
Spiel der Identifikation. Je mehr die fünfzehn Jahre Altersunterschied
verblassten, desto mehr sättigte sich Ge an Wissen und Urteilsvermögen des älteren Freundes. Ges Beziehungen wurden unverbindlicher, Freundschaften stellten sich seltener ein; die anderen erschienen nun im Licht der Frage: Was kann ich mit ihnen anfangen?
So schnell ist der gesellschaftliche Standard des Zweckdenkens
einzuholen! Die Werte der Eltern hinkten weit hinterher: Es ging ums
Geld! Die eigene Rolle durfte nichts mit masochistischen Lebenslügen zu tun haben! Wer verkaufte sich unter Preis? Was zählte das
Vertrauen von Deppen, die Freundschaft von Leuten, die nicht wussten, welche Dummheit oder Lüge hinter solchen Wörtern versteckt
war. Man durfte den Leuten nur nicht zeigen, was man von ihnen
hielt; soweit reichte das von der Mutter vorgegebene Schema. Darüber hinaus ging die Feststellung, dass alle Leute Prostituierte waren
und dass am schlechtesten wegkam, wer sich weigerte, diese Tatsache anzuerkennen. Man musste wissen, um was es ging, die Ängste entsprangen der Dummheit. Nur dann konnte man seinen Einsatz geschickt nutzen, nur dann konnte man: Nein danke! sagen.
Ge schloss sich im Jahr nach der Verführung in den Ferien einem
Typ an, den er bei Päda kennen gelernt hatte. Er trampte zum ersten
Mal. Der Typ kam aus Berlin und kannte überall in der BRD Leute.
Sie besuchten Schwule in den verschiedenen Städten, fanden immer
eine Übernachtungsmöglichkeit, wurden durchgefüttert und schauten
Pornos an. Sie nahmen mit, was es gab. Ge lernte mehr Leute kennen, die ihm vor Augen führten, nach was er sich richten sollte. Ob
ein Künstler oder ein Reeder, ob in Feinschmeckerkneipen oder
während der Aufnahmen für Sexhefte. Bevor der Typ nach Berlin
zurückflog — dort waren die Schulferien früher zu Ende — warf er
den ersten Trip.
Berlin gewann ungeheuer an Bedeutung. Ob Ge sich auftanken oder
mit den richtigen Leute zusammen sein wollte: immer wieder Berlin.
Hier trennten sich zum erstenmal die Wege. Herbie gab eine Geburtstagsparty, und Päda holte Ge bei seinen Ausgeflippten ab —
Leute, die in Bonnies Ranch gelandet waren, Leute aus dem Rauchhaus. Zwischen Künstlern und eingebildeten Deppen vom SfB fühlte
sich Ge beschissen. Später bekam Ge zu hören, was für einen befremdenden Eindruck er hervorgerufen habe: „Meist warst du in der
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Versenkung verschwunden, und nur gelegentlich bist du hochgetaucht, um einen Redeschwall vom Stapel zu lassen. Keine dummen
Sachen, aber eben total monoman.“ Seitdem konnte es vorkommen,
dass Päda meinte, man könne ihn nicht überall mitnehmen. Bei feinen Konzerten oder Theaterpremieren hieß es manchmal: „So wie
du aussiehst, ist das zu auffällig.“
Seine Show des Ausgeflippten und die Ausflüge in andere Wirklichkeiten gewannen für Ge an Bedeutung und halfen ihm, die Maßstäbe
des Kameramanns zu relativieren. Päda hielt nichts von Drogen —
er hatte lediglich ein pseudoelitäres Register zur Verfügung gestellt.
Zum ersten Mal war die Diskrepanz zwischen Gerede und tatsächlicher Handlung nicht mehr zu übersehen. Mit Shit wurden gewohnte
Selbstdefinitionen aufgeweicht; ordentlich vorbereitete Trips vergrößerten den Abstand zueinander. Einmal bei einem Trip setzte Ge
sich ab, startete durch, warf alle guten Ratschläge aus Reiseführern
über Bord: Pink Floyds 'Atom heart mother' diente als Medium und
die Wände eines Außenklos begannen zu glühen, wurden weiß,
endlich durchsichtig — er stand in einem Raumschiff, die Pissintensität steuerte das Strahltriebwerk: 'The piper at the gates of dawn'.
Wunderbare Simultanwahrnehmung eines glitzernden Sternenmeeres — ein totaler Rundblick. Im leeren Raum beschrieb der Erleuchtete eine Bahn weit über Transpluto hinaus. Mit dem irren Erfolg,
dass er von Ewigkeit zu Ewigkeit versuchte, sich einen runterzuholen
und nichts mehr spürte. Der Anziehungskraft eines schwarzen Lochs
entkam er durch den Witz: Das Zauberwort hieß Schiff(en)!
Nach solchen Erfahrungen war Ge leer und für Tage wie erfroren.
Aber er kapierte, warum ihn Päda immer wieder striezte: Nie ein
Genie zu sein, nur ewig davon zu träumen, müsse die schlimmste
Qual auf Erden sein. Dem Freund ging es nicht anders. Zu den kulturellen Größen, mit denen er als Kameramann in Berührung kam,
würde er nie hochreichen — ihm blieben Bewunderung und Kennermiene. Wollte Päda ähnliche Rangunterschiede genießen, war er
auf unmündige Puzzis und auf alte Weiber angewiesen.
Erst als sie sich fünf Jahre kannten, gelang es Päda, seine Bindung
an eine alte Frau zu lösen: Eine freundliche Nachbarin, die einem
Junggesellen aushalf und in Konzerte mitkam, die als gebildet galt
und die Besuche seiner Neffen tolerierte. Bald aber hatte sie ihn
soweit, dass er regelmäßig zum Abendessen erschien. Aus der feinsinnigen alten Dame war eine Ersatzmutter geworden. Päda stellte
seine Lebensmittel in ihrem Kühlschrank unter, lieh sich den Staubsauger und kümmerte sich um technische Kleinigkeiten in ihrem
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Haushalt. Und schon begannen die Streitereien. Wenn er anfangs
keine Zeit für sie hatte, waren Fernseher oder Stereoanlage defekt;
er brachte die Sache schnell in Ordnung. Später kam es immer seltener vor, dass er keine Zeit für sie haben konnte. Er brauchte sie
wie Ge, um seine Progressivität unter Beweis zu stellen. Er diskutierte stundenlang über ihre enterbte Pflegetochter und stand dabei auf
Seiten der Lesbe. Wenn er solche Gespräche endlos reproduzierte,
vertrat er kritische Positionen, die er in alltäglichen Belangen schon
lange verriet. Aber der Streit brannte ihm unter den Nägeln: Sie
musste zu überzeugen sein, konnte doch nicht an ihrem Irrtum hängen bleiben! Es begann immer mit Nebensächlichkeiten, schnell
aber ging es ums Prinzipielle. Irgendwann stand fest, dass sie zwar
durch Allgemeinbildung glänzen, tatsächlich aber nicht kommunizieren konnte. „Immer die gleichen Geschichten, die gleichen Rationalisierungen, die gleichen Anlässe. Die ist völlig verbohrt, da kann ich
mich totärgern.“ So ging das jahrelang: Päda beschloss wegzuziehen, klemmte sich nicht dahinter und wurde mittlerweile in ihrem
Testament bedacht. Er fand keine geeignete Wohnung, wozu hatte
er die Alte so lange ausgehalten. Endlich vertrug er trotz Rollkuren
kein Steak mehr und durfte ein warmes Bier pro Abend trinken. Auf
die Gefahr hin, aus dem Testament gestrichen zu werden, zog er
endlich weg.
In diesem Herbst hatten sie vor Pädas Fenster einen wilden Apfelbaum entdeckt. Die knallroten, winzigen Äpfel waren ungenießbar.
„Ein Mann soll im Leben einen Baum pflanzen, ein Buch schreiben
und ein Kind zeugen! Nehmen wir an, den Baum hab ich schon gepflanzt. Was meinste, was jetzt kommt? Nach den Holzäpfeln!“ Päda
war zynisch und mit den Nerven fertig. Als er im Winter umzog, hing
an diesem Baum der Erkenntnis ein völlig verschrumpeltes Äpfelchen. Sie ließen es hängen.
Ge lernte Entscheidendes über Beziehungen. Er hatte an Erfahrungen eines Fünfunddreißigjährigen teil und erkannte, dass gewisse
Folgen rechtzeitig eingeplant sein wollten. Wichtig war, dass er erkennen konnte, was falsch lief. Manchmal sagte er sich: Mit ein bisschen mehr Konsequenz wären die Leute weniger verkrüppelt. Vor
allen Dingen versuchte er künstliche Abhängigkeiten zu meiden. Sie
waren nervig und gesundheitsschädlich. Später wurde ihm klar, warum der Wiederholungszwang früherer Abhängigkeiten mit einer
Sucht zu vergleichen war: Einer vergiftet sich an Müttern, ein anderer, das war der Hohn, an Lösungsmitteln.
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Die alte Frau starb einige Monate nachdem Päda ausgezogen war.
Der Erbe konnte sich trösten, die langen Jahre gegenseitiger Quälereien wurden belohnt. Zu rechtfertigen waren sie nicht. Als Ge bei
einem Gespräch nachbohrte, Päda brauche das Geld nicht, winkte
der Freund ab. Das war kein Thema mehr. Ein dickes Konto und ein
paar Möbel, ein paar hundert Platten und Bücher waren die positive
Seite. Aber sonst: Kein Thema! Nur ein Quälgeist weniger!
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Ein Mann wie Oma
1972:
Mona war dreizehn Jahre alt, als ihr auf dem Schulweg
der Typ auffiel. Er war groß und schlank, etwa drei, vier Jahre älter
und sah irgendwie verkorkst aus. Hilflose und verschüchterte Typen
faszinierten sie. Zuerst fand sie heraus, wo er wohnte: in ihrer Straße, nur ein paar Nummern weiter auf der anderen Seite. Sie konnte
das Haus gut von Fenster und Balkon aus beobachten.
Mona wiederholte gerade die achte Klasse. Das war nicht nur langweilig, sie musste den anderen mit Typen deutlich machen, dass sie
älter war; einziges Plus des Wiederholers. Ihr Vater hatte ihr geraten:
„An deiner Stelle und bei deinem Aussehen hätte ich jede Woche
einen anderen.“ So wechselte sie die Freunde, das war selbstverständlich, und dieser Typ ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. Man
sah, dass er noch nichts mit Mädchen gehabt hatte. Das würde sich
so einer nie träumen lassen, und ausgerechnet sie stand auf ihn.
Als eine Freundin aus Heidelberg ihren Besuch ankündigte, nahm
sich Mona vor, endlich seinen Namen rauszukriegen. Die Freundin
machte bei allem mit. Sie konnte sich das erlauben, denn sie wohnte
seit einem Jahr nicht mehr in Stuttgart. Die Eltern der beiden Mädchen hatten sich gekannt und privat getroffen, dennoch betonten
Monas Eltern, wie froh sie waren, dass diese Leute aus Stuttgart
weggezogen seien. Die verdrehte Mutter der Freundin war Auslöser
ständig wiederkehrender Lachanfälle der Mädchen. Ihre verrücktesten Aussprüche wurden gern zitiert. Die beiden sammelten sie und
führten im Mund, was von der gängigen Redeweise abwich: „Wenn
ich damals im Ballwerfen etwas besser gewesen wäre, hätte ich an
der Olympiade teilgenommen!“ Monas Eltern behaupteten, diese
Spinnerei könnte gefährlich werden. Ihre Mutter meinte sogar, die
Leute legten es auf einen Partnertausch an; und so etwas kam nicht
in Frage.
Der Vater erzählte immer wieder von einem misslungenen, unangenehmen Verführungsversuch: „Ich sitze also harmlos auf dem Sessel, und die Magott kommt im Bademantel auf mich zu und setzt sich
auf die Lehne. Und dann rückt die immer näher an mich ran. Und ich
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rück immer weiter von ihr weg. Und die redet auch noch so ein
dummes Zeug. Was sollste denn da tun! Und die Magott lässt sich ja
nicht bremsen. Mann, mir lief der Schweiß runter! Dann hat sie endlich doch aufgegeben. Was hätte ich da auch sagen sollen? Es ist ja
bekannt, dass die nicht richtig tickt. Und außerdem, stell dir vor, ihr
Alter und deine Mutter waren mit im Zimmer!“ Er ging in dieser Rolle
auf. Nicht, dass Monas Vater verklemmt gewesen wäre, aber auf die
Irre stand er nicht.
Die Freundin schrieb für Mona die Namensschilder ab. Mit Stift und
Zettel stand sie auf der Straße und notierte kichernd die Namen.
Mona wartete auf der andern Straßenseite und versuchte, sich das
Lachen zu verkneifen. Danach gingen sie wie geplant zur nächsten
Telefonzelle und suchten im Telefonbuch, wer in diesem Haus einen
Apparat hatte. Es dauerte lange, bis sie überhaupt einen fanden.
Von fünfzehn Parteien hatten nur drei ein Telefon. So ein asoziales
Haus, dachte Mona.
Sie hatte geplant, irgendeine Nummer zu wählen, sich als Polizeiwache 7 zu melden und ganz professionell die Personenbeschreibung
des Typs durchzugeben, um den Namen zu erfahren. Der Typ fuhr
ein Moped, er war leicht zu identifizieren. Vermutlich bekamen sie
am Nachmittag eine Hausfrau an den Apparat, die dann doof wäre
wie alle Hausfrauen und würde bei dem Wort Polizei einen gewaltigen Schreck kriegen würde. Mona ging von ihrer Mutter aus. Abends
wäre es gefährlich gewesen, wenn einer der Männer abgenommen
hätte; die würden das Spielchen eher blicken. Als Beamtentochter
wusste sie, das Wort Polizei zog bei den richtigen Leuten. Klar, dass
die Polizei am Telefon vermutlich keine Auskunft einholte und wenn,
dann durfte die Aussage verweigert werden. Was konnte schief gehen? Peinlich wäre nur, wenn sich der Typ selbst am Apparat melden würde. Aber dieses Risiko musste man eben eingehen. Das
Gespräch sollte die Freundin führen, das war sicherer. Die Sache
spukte Mona schon lange im Kopf herum, aber ausgeführt hätte sie
so etwas alleine nie. Wichtig war die Idee: Wem wäre sonst eingefallen, die Polizeiwache 7 ins Leben zu rufen! Sie brauchte einen Handlanger, denn sie wagte nicht, die Sache selbst in die Hand zu nehmen.
Eine Frau meldete sich. Nachdem die Freundin „Polizeiwache 7“
gesagt hatte, begann sie zu lachen und konnte nicht mehr weiter.
Mona nahm einfach den Hörer, es war sowieso schon alles verpfuscht durch dieses kindische Gelache! Jetzt konnte sie nur noch
retten, was nicht mehr zu retten war. Die Angst zu versagen war
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weg, nun übernahm sie den aktiven Part. Mona sagte ihr Sprüchlein
auf: „Hier spricht Polizeiwache 7. Wir suchen einen Jungen. Groß,
schlank, etwa 17 Jahre alt, mit langen blonden Haaren, auf einem
Moped. Er müsste bei Ihnen im Haus wohnen. Wir brauchen seinen
Namen.“
Die Frau am anderen Ende der Leitung glaubte ihr sofort. Sie war
völlig aufgeregt und ängstlich. Sagenhaft, wie das klappte! Das Wort
Polizei hatte wie erwartet genügt und schon reagierte sie unterwürfig. Aber den Namen wollte sie nicht so schnell herausrücken. Mona
wiederholte die Personenbeschreibung: „Ein großer Junge mit langen blonden Haaren und Jeans auf einem Moped.“
Die Frau platzte heraus: „Das wird doch nicht der Markus sein!“
Mona wiederholte den Namen, als schreibe sie mit. Jetzt hatte das
Ding endlich einen Namen. „Markus und wie weiter?“ Sie wollte den
Nachnamen wissen. Sie hatte im Hinterkopf, auf die Aussagepflicht
zu drängen. Die Frau wollte wieder nicht: „Der arme Junge und die
nette Familie!“ Mona sagte nur: „Den Nachnamen müssen Sie uns
schon angeben.“ Schneller als Mona gedacht hatte, gab die Frau
nach. „Lauritz. Ja was hat er denn getan?“ Jetzt brach die Tratsche
durch, und es wurde Zeit das Gespräch zu beenden: „Das dürfen wir
Ihnen natürlich nicht sagen. Vielen Dank für die Auskunft. Auf Wiederhören.“
Nachdem sie aufgelegt hatte, schaute sie auf ihre Liste. Er war
drauf! Es gab ihn! Der Trick funktionierte! Die Frau hatte nicht gelogen. Markus Lauritz, das war ein Anfang.
Eine ganze Weile tat sich nichts. Nachdem die Freundin wieder zurückgefahren war, rief ihre Mutter aus Heidelberg an, um Mona samt
Familie einzuladen. Monas Vater war zufällig am Apparat. Nach dem
Gespräch fluchte und witzelte er herum: „Zum Glück ist mir noch der
ihr Name eingefallen, Magott!“
„Ihr seid ja per Du!“ verarschte ihn Mona, denn ihre Eltern duzten
sich nicht mit jedem.
„Genau! Wir sind ja per Du! Magott! Ans Telefon geh ich so schnell
nicht mehr. Irre rufen bei mir hier an. Mensch Magott, mein Alptraum!“ Laut polternd und lachend hüpfte der Vater durch die Wohnung. So ein Telefon war eine tolle Sache. Mona gefiel, dass sich
ihre Eltern vor der Einladung drücken wollten. Sie fuhr lieber allein
nach Heidelberg, schließlich war sie schon vierzehn.
Sie hatte ihre Freundin Erika in die Lauritz-Geschichte eingeweiht.
Sie wiederholte auch die Klasse und im Laufe der Monate hatten
sich die beiden zusammengetan. Erst staunte Erika über den Trick
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mit der Polizei, dann fand sie ihn raffiniert. Bisher waren Mona alle
möglichen anderen Dinge im Kopf herumgegangen und nur gelegentlich, wenn sie den Typ sah, fiel ihr die Polizeiwache 7 wieder
ein. Zu zweit aber wurde der Reiz größer: Geteilter Wahn ist doppelter Wahn. Ihre erste gemeinsame Untat war, Markus' Geburtstag
herauszubekommen. Lauritz' hatten kein Telefon. Schon mal Scheiße, aber Erika war zu Hause ungestörter und sollte eine der drei
Nummern wählen, um den Typ an den Apparat zu holen. Sie sollte
so tun, als würde sie ihn kennen. Dummerweise wussten sie nicht,
wen Lauritz kannte: Rat mal, wer da ist? hieß deshalb ihre Überraschung. Mona hätte niemals angerufen, sie hatte bloß die Ideen.
Gelegentlich telefonierten die beiden Freundinnen stundenlang miteinander, jetzt war ihr Thema Nummer 1 gefunden. Wie ausgemacht, rief Erika sofort nach dem Gespräch zurück.
Mona hatte gespannt gewartet. „Na, wie war's?“
„Na ja, du hast recht. Das ist schon ein ganz schön komischer Typ“,
meinte Erika abschätzig und belustigt.
„Also erzähl von Anfang an: Rat mal, wer da ist?“ Mona versetzte
sich in die Rolle ihrer Freundin.
„Keine Ahnung.“ Erika spielte mit und übernahm Lauritz' Part.
„Hat der das gesagt?“ Mona hatte mit Weiß-ich-nicht gerechnet; das
hatten sie zuvor besprochen. Keine-Ahnung kam ihr intelligenter vor
und gefiel ihr. Beide hatten erwartet, dass er gar kein Mädchen
kannte, aber ganz sicher waren sie nicht. An diesem Punkt setzte die
ganze Planung aus, das Spiel musste eben irgendwie klappen.
Erika meinte: „Ja, das hat der gesagt. Und dann musste ich weiterbohren: Nun rat mal. Der hatte wirklich keine Ahnung. Da merkste
richtig, dass die kein Telefon haben.“
„Telefonieren sollte man können“, Mona fand beruhigend, dass er in
solchen Dingen nicht geübt war.
„Ich wollte ihn wenigstens den Anfangsbuchstaben erraten lassen.“
„Das ist gut.“ Erika hatte sich was einfallen lassen.
„Irgendwann sagte der Typ: i. Ich habe das gelten lassen und gemeint: Genau.“ Sie konnte sich vor Lachen nicht mehr halten.
„I, was bedeutete denn das?“ wollte Mona wissen. Sie wurde unsicher. Vielleicht kannte er doch ein Mädchen.
„Das war natürlich nur ein Ausruf. Also habe ich weiter gefragt, wann
er denn Geburtstag hat. Was glaubst du, was der mir geantwortet
hat: Rat mal?“
„Weiß ich nicht. Keine Ahnung!“ Mona zitierte und fand sich lustig.
„Komm lass den Scheiß, das hat der mich wirklich gefragt!“
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„Und was hast du gemacht?“ wollte Mona wissen.
„Januar, Februar...“, meinte Erika.
„Was, du hast dich so verarschen lassen!“ unterbrach sie Mona.
„Ein Glück, dass er nicht im Dezember Geburtstag hatte! Es ist der
Februar.“
„Und der wievielte?“ fragte Mona.
„Das hab ich ihn auch gefragt,“ sagte Erika amüsiert.
„Und?“
„Rat mal?“
„Was schon wieder?“
„Gesprächig ist der nicht,“ hob Erika hervor. „Was blieb mir übrig:
Erster, zweiter... Es war der vierte.“
„Der vierte Februar also.“ Mona fasste zusammen. „Und wie habt ihr
euch verabschiedet?“
„Oh, danach war das Gespräch schnell zu Ende.“
„Ich will wissen, was er gesagt hat!“ Man konnte nie wissen, nachher
war er auf Erika angesprungen. Neutral wäre auf Wiederhören gewesen, Tschüß klang schon intimer.
„Das weiß ich jetzt nicht mehr. Vermutlich hat er tschüß oder tschau
gesagt.“ Es schien ihr unwichtig und nebensächlich.
„Weißt du wenigstens noch, wie er sich gemeldet hat?“ Mona
brauchte den ganzen Rahmen, sie stand auf das Drumherum.
„Hallo hat der da gesagt, einfach Hallo.“ Daran schien sich Erika mit
Bestimmtheit zu erinnern. Der war ihr wohl sympathisch.
Wichtige Erweiterungen des Repertoires für einen Wahn zu zweit
hatten sie nun beisammen. Jede Einzelheit des Gesprächs wurde
wieder und wieder unter wachsender Begeisterung durchgekaut. Im
Gegensatz zum schleppenden und wortkargen Original, wurde es
mit jedem Durchlauf spritziger. Lauritz' spärliche Äußerungen: Rat
mal, iii, keine Ahnung, mussten nur im richtigen Zusammenhang
erscheinen. Und den hatten sie: Der arme Junge und die nette Familie. Cannes, Cannes! Kann es gut, kann es schlecht, Hauptsache:
Man kann es! Das war Daniel der Wilde: Curtis war der Name. Auch
später noch rätselten sie über das i. „Zumindest eine Tanzstundenabschlussballpartnerin müsste er gehabt haben, wenn sonst nichts.“
Mona schlug vor, dem Typ Briefe zu schreiben und Erika war begeistert. Liebesbriefe sollten es sein, natürlich unter einem Pseudonym
geschrieben, denn dann konnte man nachher alles abstreiten. Sonst
erklärte sie noch einer für verrückt. Mona unterschrieb mit Julia. Sie
hatte einen gefälschten Schülerausweis, darin war sie sechzehn
Jahre alt und hieß Julia Behrens. Den Nachnamen hatte sie von dem
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Schauspieler Stefan Behrens. Julia war ein Lied des österreichischen Sängers Wolfgang: Sing a song for Julia. Der Gag an der
Sache war: Er meinte — laut 'Bravo' — ein Mädchen in Wien das im
Haus gegenüber wohnte. Sie hatten nie miteinander gesprochen, er
wusste nur ihren Namen.
Den ersten Brief warf Erika an einem Nachmittag ein. Mona wartete
an der nächsten Straßenecke. Es war typisch für ihre Arbeitsteilung,
sie verfassten die Briefe gemeinsam, Mona schrieb sie ins reine,
setzte ihre Julia drunter und Erika warf sie ein. Mona brauchte das
Gefühl, die Sache in die Wege zu leiten, es stand nicht zur Debatte,
wer die Briefe schrieb. So nah ließ sie keinen an den Typ ran. Für
sie stand von Anfang an fest, dass sie ihn bekommen wollte: „Das
war keiner für eine Woche.“
Ihr Vater hatte aus dem Bekanntenkreis eine Anekdote mitgebracht,
die ihre Mutter mit Begeisterung weitererzählte. Sie erfand keine
Details dazu, die eigentliche Geschichte war faszinierend genug und
musste in der Originalversion reproduziert werden: Ein Kollege, ein
Zollfahnder, ging fremd und bekam den Spitznamen Kressin. Kressin
war der Name eines Junggesellen aus dem 'Tatort', den ihr Vater
absolut nicht leiden konnte: „Immer diese Weibergeschichten, der
hat wohl nichts Besseres zu tun. Dass das dem auf die Dauer nicht
langweilig wird.“
Der Kollege war hässlich, aus diesem Grund hatte ihn die Frau geheiratet. Ihr Vater war fremdgegangen und sie hatte sich deshalb
einen Mann gesucht, bei dem sicher war, dass er keine Chancen bei
anderen Frauen haben würde. Jetzt war er aber nicht nur fremdgegangen, er hatte die andere zur Gegenüberstellung sogar mit nach
Hause gebracht: „Die hat Geld und dafür sieht sie gar nicht schlecht
aus,“ meinte Monas Mutter. Mona glaubte plötzlich zu wissen, warum Lauritz sie faszinierte: Sie wollte keine typische Frau werden; ihr
Vater ging sicher auch fremd. Falls sie Lauritz kriegen sollte, dann
war sie der Kressin.
Mona wartete an der Ecke, während Erika zu dem Haus ging. Die
Briefkästen befanden sich in der Hofeinfahrt. Gerade als Erika dort
ankam, war ein Moped zu hören. Sie wusste von Mona, dass Lauritz
so ein Ding fuhr und blieb stehen. Mona atmete auf; zum Glück hatte
ihre Freundin geistesgegenwärtig reagiert. Erika wartete kurz auf der
Straße, den Brief betont unauffällig in der linken Hand. Mona konnte
von hinten beobachten, dass Lauritz völlig ahnungslos vorbeifuhr.
Als keine Gefahr mehr drohte, ging Erika in den Hof.
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Mona konnte sich danach die Bemerkung nicht verkneifen: „Das war
er!“
„Das hab ich mir gedacht!“ platzte Erika heraus. „Mann, oh Mann,
der sieht ja aus! Das ist schon fast wieder gut, so schlecht!“ Erika
hatte Lauritz zum ersten Mal gesehen — ein Aha-Erlebnis.
„Hast du die Nase bemerkt?“ fragte Mona herausfordernd.
„Und ob! Ich hab ihn doch im Profil gesehen. Und mit so was lässt du
mich telefonieren!“ Ihre Empörung sollte gespielt klingen.
„Ich hatte dich vor der Missgeburt gewarnt!“ Das war keine Entschuldigung, Mona triumphierte.
„Mann, oh Mann, sieht der beschissen aus! Der hat wirklich alle meine Erwartungen weit übertroffen!“
Sie hatten wieder etwas, worüber sie lachen konnten: „Ein Kretin, ein
Perversling“. So einig hatten sich die beiden Mädchen selten gefühlt,
obwohl sie ständig was zu lachen hatten.
Von nun an würde Erika morgens früher aufstehen, um vor der
Schule noch bei Mona vorbeizuschauen. Sie passten den Typ jeden
Morgen ab. Gegenüber jener berühmten Hofeinfahrt warteten sie, bis
er rauskam. Er schien sie nicht zu bemerken, „dieser Ignorant“. Das
Auffälligste war seine Nase — riesengroß, mit einem Knick in der
Mitte. Das Wort Nase verschmolz für immer mit dieser Nase. Die
Nase war das Thema Nummer 1, sie wurde zum Schwanzsymbol.
Die beiden variierten einen Spruch aus ihrer Lieblingsserie 'die 2'.
„Wie findest du meine? Sie hat zu dünne Beine. Du hast eine, ich
hab eine, kommen wir also doch noch ins Reine.“ Daraus wurde:
„Wie findest du meinen? Aber er hat doch keinen!“
Täglich schrieben sie den gleichen Brief an Lauritz. Erika probierte,
ihn wieder ans Telefon zu holen. Sie versuchte alle drei Nummern,
aber es klappte nicht mehr. Er ließ sich verleugnen: „Dieser Arsch“.
Die Hausbewohner hatten komischerweise Verständnis für die telefonischen Störungen. Sie waren sehr freundlich, fragten jedes Mal
geduldig nach und bedauerten dann, dass er nicht an den Apparat
käme.
Mona und Erika gingen immer wieder die gleichen Dinge durch den
Kopf. Ob bei den Telefonaten oder morgens in der Schule oder wenn
sie Lauritz mittags beobachteten — es gab nur die eine große Frage:
Wie bringt man den Typ ans Telefon? Die Idee mit der Polizeiwache
7 kam ihnen wieder in den Sinn. Die 7 wurde zur magischen Zahl,
das tatsächliche Unternehmen verblasste gegenüber Phantasien der
Wiederholung, die sich mit dem Stichwort verbanden. Die nächste
magische Zahl wurde zweieinhalb. Eine ganz schweinische Idee war
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ihnen da gekommen: Wenn sie Lauritz schon nicht selbst an den
Apparat bekamen, mußte seine Mutter dran glauben. „Der beste
Weg geht immer über die Schwiegermutter.“ Das war einer der Lieblingssprüche von Monas Vater. Sie würden der Mutter erzählen,
dass sie Lauritz' Freundin seien und von ihrem Sohn schwanger.
Und zwar im zweieinhalbsten Monat. Sie hätten gehört, eine Abtreibung wäre bis zum dritten Monat harmlos, man müsste sich allerdings beeilen. Und die Kosten hätten Lauritz' zu tragen.
Viel köstlicher als diese Gemeinheit war die Vorstellung: „Ob die
ihrem Sohn schon sexuelle Betätigungen zutraut? Oder überhaupt?
Das muss Krach geben, wenn Frau Lauritz uns die Geschichte abnimmt. Oder würde die zugeben, dass bei ihrem Sohn etwas nicht
stimmt? Dass er ein frigider Schwächling ist!“ Sie spielten die Geschichte x-fach durch, aber keiner traute sich anzurufen. „Das geht
vielleicht doch zu weit.“
Das Haus mit den drei Nummern machte einen richtig spießigen
Eindruck: „Da stehen wir natürlich haushoch drüber.“ Sie stellten sich
vor, wie die Kunde von Mund zu Mund ging. Die Familie Lauritz hatte
sicher schon einen schlechten Ruf. Ständig plapperten sie die gleichen Sätze runter. „Ii! Der arme Junge und die nette Familie. Rat
mal. Iii, der nette Junge. Die arme Familie und keine Ahnung...“
Mona ließ ihren Vater nachforschen, was Lauritz' Vater von Beruf
war. Er tat seiner Tochter den Gefallen und fragte ganz offiziell auf
dem Dienstweg nach. Mona war stolz auf ihn, denn das war illegal.
Sie hatte ein Machtmittel in der Hand und nutzte diese Möglichkeit
später noch öfter. Immer gut, wenn man mehr über die Leute wusste. Der Vater hieß Heinz Lauritz und war Gartenbauhelfer. Also ein
Hilfsarbeiter. Das gab viel Gelächter. Sogar Erika konnte sich freuen.
Nicht mal Arbeiter, wie ihr Vater, sondern Hilfsarbeiter.
In diesen sumpfigen Niederungen konnte sich Monas Vorliebe für
Deklassierte und die spätere Neigung zur Sozialarbeit entwickeln.
Sie war stolz, eine Beamtentochter zu sein, aber man musste den
richtigen Standpunkt einnehmen. Wenn die Mutter sich in ihrer Doofheit aufblies, um zu betonen: „Mein Mann ist Beamter“, war das peinlich. Wie beschränkt sie war, zeigte ihr Eifer, sich gegen Arbeiter und
Ausländer abzugrenzen. Waren Handwerker in der Wohnung, ärgerte sie sich: „Die Leute kapieren ja nichts. Alles muss man x-mal erklären, aber die sind so dumm und dann vor allem auch noch unverschämt, weil sie trotzdem nichts verstehen. Der wurde sogar noch
frech, da musst du regelrecht rabiat werden und dich durchsetzen.
Richtige Primitivlinge, aber was kann man schon anderes erwarten.
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Die kommen eben aus solchen Verhältnissen und haben es nicht
anders gelernt. Wundern braucht man sich da nicht. Man sollte sich
gar nicht mit ihnen anlegen, das bringt sowieso nichts. Man weiß ja,
wie die sind. Handwerker und Arbeiter, so ein Pöbel, Gesockse,
Primitivlinge. Von denen muss man sich distanzieren, man weiß ja
schließlich, woher man kommt. Aus so einem wird nie etwas. Genauso wenig aus den Kindern — die können ja nichts dafür, aber
wenn die erst erwachsen sind, zählen die auch zum letzten Dreck.“
Mona fand den Arbeiter unter Niveau und ihre Mutter primitiv. Die
Einstellung ihres Vaters lag ihr näher. Er wusste den Beamtenstatus
zwar zu schätzen, war aber viel zu intelligent, um damit anzugeben.
Er hatte mit genug schwarzen oder braunen Beamten zu tun. Vater
und Tochter teilten die Auffassung, dass mit einem, der es nur zum
Arbeiter gebracht hatte, nicht zu reden war. So etwas auszusprechen war aber unzeitgemäß und reaktionär. Sie lästerten lieber über
Beamte und bewiesen sich ihre Progressivität mit SPD-Parolen. Die
Mutter reproduzierte lediglich die braunschwarze Großmutter. Beim
Thema Ausländer war sie zurückhaltender, die stellten sie weniger in
Frage: „Die gehören ja gar nicht hier her. Außerdem haben wir genug Arbeitslose, die nehmen den Deutschen die Arbeitsplätze weg.“
Wenn Mona oder ihr Vater nachhakten — die Mutter wusste, dass
Vorurteile über Ausländer unerwünscht waren — und auf Dreckarbeiten hinwiesen, die kein Deutscher machen wollte, hieß es: „Das
stimmt ja auch wieder.“ In solchen Momenten war ihr anzusehen,
wie stolz sie war, Deutsche zu sein. Sie schmunzelte, als hätte sie
eine Streicheleinheit bekommen. Mona sagte sich: Kein Wunder,
wenn ihr Vater behauptete, Frauen seien doof: bei der Frau!
Gegen Ende des Schuljahrs nahmen die Mädchen Markus Lauritz in
ihren Stammbaum auf. Er war ihre ureigenste Erfindung: Sämtliche
Familienmitglieder waren Prominente aus dem Fernsehen, Schauspieler, Schlagersänger, Fußballer und Politiker. In den Phantasien
der beiden ebenfalls zum Clan gehörenden Mädchen waren alle
miteinander verwandt. Täglich teilten sie sich die Neuigkeiten aus
dem Familienleben mit. In der Schule schrieben sie Hefte voll, dokumentierten Verwandtschaftsverhältnisse oder bauten sie weiter
aus.
Früher waren sie wegen des Geschwätzes ermahnt und schließlich
auseinander gesetzt worden, jetzt wussten sie Besseres und störten
nicht mehr den Unterricht: sie schrieben ihre Dialoge. Das Heft wanderte ständig von der einen zur anderen. Um nicht nur Hirngespinste
zu produzieren, verwendeten sie aktuelle Meldungen aus den Mas-
104
senmedien über ihre Lieblinge. Erika schwärmte besonders für Ricky
Shayne, einen Schnulzensänger aus den USA. Mona fand ihn widerwärtig, so betont männlich, der musste doof sein. Sie stand auf
feminine Blondies, aber sie verhielt sich tolerant. Erika war Gina
Nancy Shayne, seine Gattin, reich und angesehen. Mona wählte
eine Männerrolle. Sie war Michel Martinay, „suppenschüsseldeckelbearbeitender Geräuschmusiker“. Stefan Behrens spielte diese Rolle
in dem Theaterstück 'Tschau'. Er sprach Mona an, und sie fasste
den blitzartigen Entschluss im Stammbaum diese Rolle zu übernehmen. „Das is' aber 'nen Hammer,“ war sein Lieblingsspruch. Der Satz
lag Mona nicht, aber sie verwendete ihn, um sich der Rolle anzugleichen.
In einer Kritik der 'Stuttgarter Zeitung' über das Stück hieß es: „Hier
wird das Generationsproblem einmal nicht soziologisch vertrackt,
sondern mit leicht überlegenem Humor angegangen.“ Solche Zitate
lernten Mona und Erika auswendig, um sie bei jeder Gelegenheit zu
reproduzieren. Vor allem die Fremdwörter klangen interessant, damit
konnte man angeben.
Monas Eltern hatten 'Tschau' zuerst gesehen, und zwar live im Marquard-Theater. Sie hatten ein Abonnement und waren im Buchclub,
der Vater sammelte Lexika. Zur Bildung gehörten Theaterbesuche.
Das Angebot wechselte zwischen Opern, Operetten, Komödien und
diesen seltsamen, langweiligen, modernen Aufführungen, die sie
nicht mochten. Einmal wurde Beckett aufgeführt: 'Warten auf Godot'.
Monas Eltern wollten es probieren, waren aber skeptisch. Der Vater
hatte im Schauspielführer nachgesehen: „Das Stück wird schon so
eigenwillig und verrückt beschrieben. Wie das schon klingt!“ meinte
er, „aber es soll ja sehr berühmt sein.“
Die Eltern hielten bis zur Pause durch, dann gingen sie enttäuscht
nach Hause. „Nein das konnte man sich nicht länger ansehen. Das
war wie erwartet tödlich langweilig. Nur ein Baum auf der Bühne und
die beiden Typen — die gesamte Kulisse. Und die quatschten auch
noch die ganze Zeit. Nichts passierte da, überhaupt nichts. Man
kann doch nicht ständig nur diese drei Dinge anstarren. Wenn wenigstens der Baum nach etwas ausgesehen hätte, aber der war ja
verkrüppelt! Nein, das wollte ich mir nicht länger zumuten. Das taugt
nichts. Damit kann ich nichts anfangen. Aber vermutlich war es mir
zu hoch.“ Der Vater berichtete, als verstehe er die Welt nicht mehr.
Aber er stand natürlich drüber.
Komödien waren um so besser, da konnte man lachen und sich
amüsieren. „Ja ein gelungener Abend, das kam beim Publikum an,
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was die Zuschauerzahl bewies.“ 'Tschau' gehörte zu den Erfolgsstücken. Begeistert erzählten sie Mona davon. Die Mutter betonte: „Einen ausgezeichneten Platz hatten wir, ganz nah bei den Schauspielern. Dem Stefan Behrens fiel beinahe die Zigarette von der Bühne.
Der musste der nachgucken, ob sie noch oben liegen bleibt. Ja, ich
hab genau gesehen, wie der in Schweiß geraten ist.“
Später kam das Stück im Fernsehen. Es war, wie ihre Eltern erzählt
hatten. Siegfried Lowitz spielte den Vater, Herrn Martinay. Er wurde
entlassen, ein Computer hatte ihn ersetzt. Eine lange Kette von Zahlen und Buchstaben stand für den Computertyp und die Zuschauer
lachten jedes Mal, wenn sie heruntergerattert wurde. Hier ging es
nicht um das Problem Mensch gegen Maschine, sondern um Techniken des unverbindlichen Geredes und der schlüpfrigen Andeutungen. Wichtig war das gewiefte Runterplappern von Nummern. Michel
wurde in die Kündigung des Vaters eingeweiht, seiner Mutter war es
verheimlicht worden. Sein Problem war keines der Generationen, der
Kritiker aus der Zeitung war ein Dilettant. Eine Liebesgeschichte
sorgte für das Happy-End. Michel lernte während eines Auftritts ein
Mädchen kennen — die Tochter jenes Industriekapitäns, der Herrn
Martinay gefeuert hatte. Das Stück war wie geschaffen für den
Stammbaum.
Als Michel war Mona ein Pleitetyp, bei ihren Auftritten trug sie einen
Mopp als Perücke: Geld war für einen Künstler unwichtig. Markus
Lauritz wurde der Sohn von Gina Nancy Shayne und Michel Martinay. „Unser Baby! Natürlich unehelich. Im Vollsuff gezeugt! Verdammte Inzucht! Und keiner sonst darf das wissen. Unser Geheimnis.“ Einem Witz entnahmen sie Details der Zeugung: Ein junges
Paar auf der Hochzeitsreise fährt durch den St. Gotthard-Tunnel. Es
ist ein schöner, langer, dunkler Tunnel und sie treiben es ordentlich.
Der Junge soll Gotthard heißen. In einer scharfen Kurve fällt alles
durcheinander. Als sie wieder ans Tageslicht kommen, meint sie zu
ihm: Du, ich glaub aus dem Gotthard wird nichts, der läuft gerade an
der Scheibe runter.
Natürlich wusste Markus nichts von seinen „wahren“ Eltern. „Der ist
sowieso missraten. Der gehört doch abgetrieben! Eine Schande, so
etwas kann man niemanden erzählen. Was sollen denn die Leute
denken! Man ist ja prominent. Im guten Glauben haben wir ihn zu
den Pflegeeltern Lauritz gegeben. Aber die verstehen nix von Erziehung. Kein Wunder, dass der verkorkst ist.“ Heimlich liebten Michel
und Gina ihren Sohn.
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Mona beobachtete den Typ weiter. Sie stellte fest, dass er auch
ständig am Fenster hing. „Der hat eben nichts Besseres zu tun! Es
soll ja Leute geben, die den ganzen Tag am Fenster hängen!“ „Was
du nicht sagst. Das könnte mir nie passieren!“ Solche spaßigen Urteile genügten und sie konnten sich noch ganz andere Dummheiten
erlauben; bei ihnen nahmen sie eine tiefere Bedeutung an. Sie
brauchten Fakten, wenn sie sich stundenlang über Lauritz unterhalten wollten. Mona vermutete, dass seine Eltern beide berufstätig
waren. „Der arme Junge ist sicher ganz alleine. Vernachlässigt! Und
dabei haben wir ein Vermögen an diese Adoptiveltern gezahlt. Eine
Schande, was! Undank ist der Welt Lohn! Verdammte Inzucht!“
Monas Mutter kam manchmal ans Fenster, um zu Lauritz rüberzuschauen. In gekünsteltem Ton meinte sie: „Aber du kannst doch den
Jungen nicht die ganze Zeit beobachten.“ Offensichtlich fand sie ihn
interessant. Manchmal ärgerte sich Mona — warum mischte die sich
überall ein —, manchmal rief sie ihre Mutter aber und freute sich
über deren Eifer. Die Ambivalenz wurde nie bewusst, weil sie in all
ihre Unternehmungen hineinreichte. Das da drüben war ihr Sohn:
Sie machte mit ihm, was mit ihr geschehen war.
Die Mutter hatte ihr Kind abgelehnt und sich geekelt. Aber sie hatte
das Baby gebraucht, um einen Mann zu binden und Angst wie Lebensunfähigkeit auszuhalten. Mona floh vor der Mutter und ihrem
Verhalten und identifizierte sich stark mit dem Vater. Die ersten vier
Jahre, solange die Eltern dort wohnten, war sie noch zur Oma ausgewichen. Das Thema Nummer 1, die Nummer 7, der Traummann,
die heilige Zweieinhalb oder die Phantomfamilie waren weitere Unternehmungen, den Einfluss der Mutter zu leugnen. Schließlich war
sie ein Kretin, ein Untermensch; wer hätte zugeben wollen, dass
Ängste und Aggressionen von ihr geprägt worden waren. Jede Ähnlichkeit wurde verleugnet und konnte in der Folge maskiert und unerkannt weiterwirken.
Die Kommentare der Mutter waren nicht für voll zu nehmen. „Die
zählt sowieso nicht. Die heißt Gisela, das sagt alles.“ Im Stammbaum gab es eine Gisela Trowe Baronin von der Auer. Sie spielte
einmal in der Serie 'Salto mortale' eine uralte verrückte Adlige. Den
Geburtstag der Baronin legten die Freundinnen auf den Volkstrauertag, das einzige wechselnde Datum. Nur der Monat November blieb
gleich — der Totenmonat. Gisela bedeutete geisteskrank. Nomen
est Omen. Sie gefiel den beiden so gut, dass sie aufgenommen wurde. Irre waren gefragt, und 'Adel vernichtet' hieß es schon in 'die 2'.
Jene Krimiserie mit Roger Moore und Tony Curtis, mit deren Hilfe die
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Mädchen die meisten Sprüche zustande brachten. Beide gehörten
zur Familie: Lord Bret Sinclair war Michels Onkel und Danny Wilde
der Onkel von Gina, zwei weitere Onkel waren Herbert Wehner und
Willy Brandt.
„Nomen est Omen.“ Monas Vater hatte das große Latinum. Er
schmiss gern mit Sprüchen um sich, und die Mädchen ahmten ihn
nach. Eine Klassenkameradin brachte von ihrem Bruder den Satz
mit: „Puto me herere.“ „Witzig was! Ich glaub, ich hänge.“ Monas
Vater war gebildet und modern: „Intelligenz säuft, Dummheit frißt!“
war sein Lieblingszitat und so soff und witzelte er über den Branntwein-Willy. Als die SPD 1969 an die Regierung kam, hatte er den
Wahlsieg mit Sekt begossen. Mona merkte sich Wehners Kommentar während der ersten, noch miesen Hochrechnung: „Das ist
Quatsch und das wird nur noch quätscher!“ Ein wunderschönes Zitat, später lieferte er noch viel bessere: „Korinthenkacker, Pappkameraden...“
Willy Brandt und Herbert Wehner waren wichtige Identifikationsfiguren. In der Schule wählten die meisten Lehrer CDU, die reaktionären
Schweine. Einer von ihnen konnte mit dem Ohr wackeln. Er brachte
sauschwere Arbeiten. Die Schülerinnen mochten ihn nicht, bis sie
hörten, dass er SPD wählte und einen Sohn bei den Jusos hatte.
Nun war er ihr erklärter Liebling. Monas Vater steckte in der gleichen
Rolle: ein überzeugter SPD-Wähler, dessen Kollegen fast alle
schwarz waren.
Ein schöner neuer Begriff fand Eingang in den Wortschatz der Mädchen: „Konstruktives Misstrauensvotum“. Sie nahmen am Schweigemarsch für Willy Brandt teil und sahen darin „eine Familienangelegenheit“. Die Mutter freute sich, als der Vater berichtete, ein Geschäftskollege habe ihm erzählt: „Du kamst im Fernsehen! Dass du
für so etwas schon Interesse hast, hat der der Tochter deines Vaters
nicht zugetraut.“ Monas Vater witzelte über ihr politisches Engagement, die Mädchen waren alles andere als politisch.
Der Stammbaum wurde zwar dichter und verzweigter, aber ihren
Sohn verloren Mona und Erika nicht aus den Augen. Mona beobachtete, dass Lauritz einen Freund in der Straße hatte, der nur ein paar
Nummern weiter im Parterre wohnte. Sie selbst wohnte genau dazwischen. Die Mädchen schauten auf das Klingelschild und fanden
heraus, dass er Wolf hieß. Der Freund fuhr schon ein Motorrad, eine
Honda 250 ccm, Lauritz nur eine Maico. Sie begannen sich für Mopeds und Motorräder zu interessieren und kauften die Zeitschrift
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'Motorrad'. Mona lief immer ans Fenster, wenn sie das Moped hörte.
Sie erkannte die Maico am Klang des Drehschiebermotors.
Endlich hatte Lauritz mitbekommen, wer die Briefe schrieb. „Wer
steht auch immer so permanent provokant in der Gegend herum! Ob
dem schon klargeworden ist, dass er unter Dauerbeschattung
steht?“ An einem Wochenende lief er die Straße entlang und entdeckte Mona auf dem Balkon. „Da gingen ihm wohl die Lichter auf,“
erzählte sie Erika. „Ja, ja! Er denkt schnell. Er ist ein richtiger
Schnelldenker.“
Amüsiert hatte sie beobachtet, wie er kurz stehen blieb, beide Arme
in den Hüften aufstützte und hochschaute. Er ließ sich nicht an der
Nase herumführen, so läuft das also, er nickte ihr zu. Endlich hatte
er kapiert, wie nah sie wohnte. Sie freute sich über seine Entdeckung. Wäre es reizvoller geworden, wenn er noch eine Weile gebraucht hätte?
Danach konnte sie ihn nur noch selten beobachten, denn er verschwand, wenn sie am Fenster auftauchte. „Das können wir natürlich
nicht mit ansehen!“ Um Aufmerksamkeit zu erregen, mussten sich
die Mädchen etwas einfallen lassen. „Dieser Ignorant! Dafür machen
wir uns sogar zum Gespött der Straße.“ Monas Vater benützte diese
Formulierung mit Vorliebe, wenn er sich über seine Tochter lustig
machte. Erika bekam Monas alte Rollschuhe umgeschnallt und durfte üben. Sie konnte zwar Schlittschuh laufen, war aber noch nie auf
Rollschuhen gestanden. Einigkeit herrschte: „Findest du nicht auch,
dass das in unserem Alter etwas komisch aussieht?“ „Ja, aber dafür
um so auffälliger.“ Zuerst übte Erika heimlich im Hof — sie bestand
darauf. Dann endlich ließ sie sich von Mona auf die Straße führen.
Die beiden konnten sich vor Lachen kaum halten: einmal flog Erika
auf den Hintern, obwohl sie nur herumstand. „Lauritz, dieser Krüppel
ist wieder nirgends zu entdecken! Und dabei haben wir eine der
günstigsten Fensterzeiten gewählt! Wo steckt der eigentlich?“ „Ich
hab’s! Der lacht sich schon längst krumm und schief! Der kann sich
vor Lachen nicht mehr aufrecht halten! Deshalb sehen wir den nicht
am Fenster!“ „Klar, der wälzt sich längst am Boden vor Lachen!“
„Erfolgreich ist das ja nicht gerade, aber es kann ja jederzeit wiederholt werden.“
Die Mutter verwendete das Thema Lauritz für ihre Zwecke. „Hm, die
Figur ist nicht schlecht, aber er hat eine so schöne Größe für einen
Mann.“ Sie behauptete, dass eine Frau so besser zur Geltung käme;
sie selbst trug hohe Stöckelschuhe, weil sie zwanzig Zentimeter
kleiner war als ihr Mann. Mona störte Lauritz' Größe: „Die ist zu blöd
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zum Reden. Die ist nicht zurechnungsfähig!“ Die Mutter nahm Markus in Schutz: „Aufdringlich seid ihr schon, das ist fast gemein.“ Aber
sie tolerierte doch schmunzelnd, was die Mädchen trieben und fragte
scheinheilig: „Was macht denn das Markuslein?“ Oder: „Nun lasst
doch den armen Jungen. Ihr macht ihn noch ganz verrückt.“
Sie selbst therapierte sich an sogenannten Dummheiten der Mädchen. Auf diesem Umweg konnte sie manche Kränkung verwinden
und wieder hereinholen, was ihr abgegangen war. Wichtig war das
Behagen, eine uralte an ihrer Frauenrolle klebende Ungerechtigkeit
abzustrafen. Die Tochter aber suchte sich einen frigiden Schwächling, um ihn letztendlich doch nicht zu bekommen, weil die Mutter
den Anstoß gegeben hatte. Über den Umweg der Tochter konnte die
Mutter ein Männermodell reproduzieren, das nach dem Bild der
Großmutter entworfen worden war.
Lauritz bestätigte die Besonderheit der Mädchen. Die ganze Klasse
widmete sich ihrer Dauerbeschäftigung. Sie stachelten die beiden
auf und erzählten, wenn sie Lauritz gesehen hatten: „Ihr mit eurem
Gespinne! Lasst doch den Jungen in Ruhe, der will doch nichts von
euch!“ „Ja, ja, der arme Junge und die nette Familie,“ entgegneten
sie.
Endlich durfte Mona ihre Freundin in Heidelberg besuchen. Die Eltern fuhren wie erwartet nicht mit. Der Vater hatte ihr vorgesungen:
„Ich hab mein Herz in Heidelberg verloren, in einer lauen Sommernacht. Ich war verknallt bis über beide Ohren...“ Sie war eine Woche
in diesem sympathischen Städtchen, nur Markus kam zu kurz.
„Wenn der wüsste! Der würde diesen Erholungsurlaub richtig genießen! Aber der hat ja keine Ahnung! Wahrscheinlich ist er schon sanatoriumsreif!“ Am zweiten Tag wählte sie ein Kärtchen aus: Hallo
Kleiner, Grüße aus H. Deine große, heiße Liebe. Julia. „Der soll mal
Post aus einer anderen Stadt kriegen. Das hat er verdient. Wo er
jetzt doch so alleine ist.“
Mona fand es abwechslungsreich, sie war gern von zu Hause weg.
Besonders war natürlich die irre Magott. Jeden Abend stellten sich
alle drei vor den Schlafzimmerspiegel auf und verglichen die Oberschenkel. „Na, wer hat jetzt die schönsten Beine?“ eröffnete Magott
das Spiel. Mona fand ihre Beine etwas zu dünn, was die Mutter unterstrich, während die Freundin widersprach. Fest stand, dass Mutter
und Tochter zu dick waren. Trotz der Beanstandung fühlte Mona sich
in ihrer Eitelkeit bestätigt. Sie wusste, dass sie mit Abstand die
Schönste war. Warum gab das die Mutter nicht zu? Mona war von
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klein auf beigebracht worden, sich ständig zu verleugnen: Sie hatte
diese Durchschnittstypen zu bestätigen.
Magott war auch nur eine Irre, für Mona aber aktualisierte sich das
Verhältnis zur eigenen Mutter. Bis sie zwölf Jahre alt war, hieß es,
sie sei zu dünn und zu klein. Dann wurden Hot-pants Mode und ihre
Fragen nicht mehr eindeutig beantwortet: „Du bist schon ganz schön
dünn, aber wer Hot-pants trägt, muß sehr sehr schlank sein.“ In der
Regel ließ sie die Mutter im Ungewissen. Sie konnte endlos aufzählen, was alles nicht stimmte, während sie dennoch zugab, wie schön
ihre Tochter sei.
Bisher hatte die Schönheit nicht den gewünschten Erfolg gebracht.
Unter hässlichen Weibern stieß Mona auf ständigen Neid und versuchte, deren Urteil süchtig zu beschwören. Von verkorksten Typen
war eine Bestätigung nicht zu erwarten, die hatten Angst vor ihr. In
beiden Fällen wäre eine Bestätigung aber auch nichts wert gewesen.
Sie bezog sich nur auf Missgeburten und war ihnen insgeheim unterlegen — so sah die Mutterbindung aus. Jedem, der es hören wollte,
erzählte sie: „Ich habe meine Mutter immer gehasst.“ Dennoch gehorchte sie dem Zauberspruch: Schönheit muss leiden!
Was real ablief, gab nicht genug her, das Thema Markus nahm in
ihrem Kopf breiten Raum ein. Also wollte sie wieder zurück.
Nach den Ferien nahmen sich Mona und Erika vor, herauszubekommen, welche Schule er besuchte. In der Gegend gab es zwei
Gymnasien für Jungen. Eines Morgens verfolgten sie ihn einfach.
„Da kommt Johann Sebastian Brahms, das schwarze Luder.“ Erika
deutete auf die Hofeinfahrt. „Neuerdings schießt der nur noch wie
eine Bombe da raus,“ kommentierte Mona und lachte sich einen ab.
„Und immer der sichernde Blick nach allen Seiten: Wo stehen sie
heute,“ ergänzte Erika. Mona gab das Kommando: „Los hinterher!
Anti-dynamo! Andiamo!“
Lauritz lief unheimlich schnell. Jedes Mal, wenn er um eine Ecke
gebogen war, rannten sie los und stellten dann erstaunt fest, dass
der Abstand sich nicht verringert hatte. „Man der rennt ja auch! Dieser Stress am frühen Morgen. Nicht mal zum rauchen kommt man
hier.“ Sie fanden das Spiel köstlich. „Seine Eltern so durch die Gegend zu hetzen.“ „Wir müssen doch wenigstens wissen, in welche
Schule unser Sohn geht. Da haben wir schließlich ein Recht darauf.“
„Jedes Mal, wenn er um die Ecke verschwindet, rennt der.“ „Wenigstens müsste man ihn doch beim Rennen erwischen! Wie macht der
das nur?“ „Unser Baby läuft und läuft! Der berechnet das Tempo so
gut, dass wir ihn nicht rennen sehen.“ „Gott sei Dank, sieht der uns
111
nicht!“ „Schau mal die Hochwasserhosen! Die lassen den Jungen
vergammeln! Aber das wird sich jetzt ändern!“ „Der strategische
Punkt ist die Ecke.“ „Das muss ja zum Schreien aussehen! Stell dir
vor, der rennt los und wir rennen los!“
Sie konnten ihn gut von hinten beobachten, denn er drehte sich nicht
ein einziges Mal um. Auffällig waren seine Hochwasserhosen, wie
üblich Jeans, aber viel zu kurz. Ein Grund mehr, sich über ihn lustig
zu machen — die Schule kannten sie nun auch.
„Ist dir schon aufgefallen, wir stehen nur noch auf der Straße rum!“
„Aufdringlich was!“ „Da könnte man fast Paranoia kriegen.“ Paranoia
war ein Lieblingswort der beiden. Monas Vater benutzte gern termini
technici — als sie eine Entschuldigung für die Schule brauchte, blödelte er und schrieb: 'Meine Tochter leidet an dementia praecox und
hat paranoide Zustände, Spätfolgen einer Gonorrhö. Glück auf!' Vater und Tochter lachten sich schief über den Brief. Danach wurde
eine richtige Entschuldigung geschrieben.
Der Deutschlehrer hatte einmal eine „tolle“ Definition geliefert: „Eine
Metapher ist, wenn man ein Wort aus einer Kategorie mit Hilfe eines
Wortes aus einer anderen Kategorie definiert. Beispiel: Der Meerbusen oder: Das Tischbein!“ Man musste sein Wissen ja an den Mann
bringen. Der Lehrer unterrichtete noch Religion und wenn mittwochs
beim Probealarm die Sirenen heulten, sah er so aus, als würde er
gleich in Tränen ausbrechen. Wenn er lachte, klang er komisch und
verklemmt, die Stimme überschlug sich, wie bei einem Eunuchen. Er
wohnte mit seiner achtzigjährigen Mutter zusammen. Einmal fing er
den Schrieb ab, der zwischen Mona und Erika hin und herwanderte.
Peinlich, denn der Inhalt war für Außenstehende nicht zu begreifen
und konnte als komplette Idiotie bezeichnet werden. Er ließ sich
einige Zeit, betrachtete das Geschriebene, schließlich gab er es
schmunzelnd und leise in sich hineinlachend zurück. Er konnte
nichts damit anfangen. Sie hatten eine Privatsprache entwickelt, auf
die sie stolz waren: Da konnte keiner mitreden. Der Text lautete:
'Gestern haben wir eine SS (Sex- und Saufparty) gefeiert, wo warst
du denn da? — Ich hatte eine Unterredung mit dem armen Irren. —
War Daddy wieder blau? — Der war nicht nur blau, der war schon
fast lila! — Gina, wir müssen noch den Brief für unseren Sohn abfassen. — Erinnere mich nicht an diese Missgeburt!'
Nach der Schule standen sie an den Ecken herum und lehnten an
Autos. Einmal fragte ein Mann, ein dynamischer Mittdreißiger, dem
der Wagen gehörte: „Was macht ihr jetzt, wenn ich wegfahre?“ Erika
antwortete schlagfertig: „Dann nehmen wir den nächsten.“ Der Typ
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lachte über die kleinen Mädchen, aber er wusste nichts zu erwidern.
So einer stellte sie nicht in Frage: „Alberner Wichtigtuer! Der soll sich
da rausmischen.“
Der Besitzer eines Fotoladens in der Nähe wurde aufmerksam. Er
quatschte sie an, sie setzten sich auf sein Motorrad, die 5000 MarkMaschine stand vor dem Laden. Weil er den Mädchen imponierte,
machten sie sich lustig über ihn. „Der geht bestimmt schon an die
fünfzig ran. Schau mal, wie verfettet der ist“, meinte Erika. Er fotografierte und filmte Mona, wenn ihre Freundin nicht dabei war. Mona
hatte ihn einmal im Lebensmittelgeschäft an der Ecke erlebt. Er
konnte nicht übersehen, vor allem nicht überhört werden. Gemüseund Wurstverkäuferinnen begrüßte er mit großem Hallo, Umarmungen und Küsschen, bis sie kreischten. Es gefiel ihr, wie der Typ sein
Unvermögen demonstrierte. „Bei Verkäuferinnen hat der's nötig.
Bekannt, dass er ein Schwätzer ist!“
Lauritz reagierte weiterhin nicht. „Diese Nichtresonanz wird ärgerlich!
Jetzt wird was unternommen.“ Sie erwarteten, dass der Typ anspringen musste, kamen aber zu dem Schluss: „Es tut sich nichts!“ „Es tut
sich nichts, einfach nichts!“ „Wo nichts ist, kann sich auch nichts
tun!“ „Mein Dingeling, dein Dingeling, der Lauritz, der hat kein Dingeling...“ Aber gerade dieses Nichts machte ihn so ungeheuer sympathisch. „Warum springt der Typ nicht an?“
Manchmal überlegten sie, ob er ihre Briefe überhaupt noch las, ob er
sie aufgehoben hatte oder seinem Freund zeigte. Einmal standen sie
nach der Schule gegenüber der Hofeinfahrt und warteten. Die übliche Zeit, zu der sie sonst ihre Post losgeworden waren. Er hatte
einen längeren Schulweg und kam etwas später nach Hause. Als er
die beiden stehen sah, holte er demonstrativ den Schlüssel aus der
Brusttasche und öffnete seinen Briefkasten. „Lauritz ist ja humorvoll.“
Sie schauten rüber und Erika schüttelte demonstrativ den Kopf: „Ne,
ne, nicht mit uns, schief gewickelt. Diesmal nicht, Pech gehabt!“ „Der
hält doch tatsächlich schon den Briefkastenschlüssel bereit!“ „Der
kann froh sein, dass wir die Briefe nicht per Post schicken. Was sollte denn der Postler von ihm denken, früher hat der doch nie Post
bekommen.“ „Was glaubst du, hätte der gemacht, wenn ein Brief von
uns drin gewesen wäre?“ „Tja, das ist die Frage. Vermutlich zerrissen!“ „Wenigstens nimmt er die Dinger selbst aus dem Kasten und
nicht seine Mutter.“
Am nächsten Tag schrieben sie einen gehässigen Brief und lieferten
ihn ab: „Die Chance soll er haben. Der Junge darf ja nicht immer leer
ausgehen. Wir können ihn nicht ständig enttäuschen.“ Sie waren
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sich einig, nachdem er sich diese Show geleistet hatte, sollte er mal
ordentlich eins unterhalb der Gürtellinie verpasst bekommen. Dann
allerdings schieden sich die Geister. Über Erikas Schlüsselerlebnis
wurde nie gesprochen: sie hatte sich in ihn verknallt. Und Mona
meinte, ohne zu wissen warum: „Der nächste Brief muss völlig vernichtend ausfallen.“ „Wie kommt dieser frigide Schwächling dazu, zu
uns rüberzugrinsen“, kommentierte Erikas amüsiert. „Richtig“, betonte Mona. „Strafe muss sein!“
'Hallo du geistiges Embryo! Jetzt gibt's eins auf den Solar komplexus! Du mit Deiner speckigen Lederjacke von der Müllabfuhr und
Deinen Hochwasserjeans von der Fürsorge. Du femininer Dandy mit
Deiner unterentwickelten Asthenikerfigur. Und deine IscoUnterhosen vom Wohltätigkeitsverein. Du mit Deinen fetttriefenden
Haaren. Du mit Deinen wasserblauen Augen. Du impotenter Schnösel. Du bist ja völlig verklemmt, du Korksling. Du missratenes Subjekt. Du vulgäre Missgeburt gehörst ja abgetrieben. Der Kolben im
Gesicht soll wohl Deine Nase darstellen. Du frigider Schwächling du!
Leck mich doch am Arsch! Julia.'
Mona bestand auf den blauen Augen, obwohl das nicht passte. Aber
sie flog auf blond und blauäugig ausschließliches Ideal ihrer Mutter,
während ihr Vater nur auf dunkle Frauen stand. Sie packten rein,
was sie an passenden Zitaten zur Verfügung hatten. Die Unterhose
schaute beim Mopedfahren hinten raus. „Isco war der Name, weiß
mit breitem Bund. Taugen die was?“ fragte Mona. Sie schauten sich
Exemplare im Kaufhaus an. „Die gelten als bessere Mittelklasse“,
erklärte ihre Mutter. „Na ja, Schiesser ist es nicht.“ Die meisten Diffamierungen hatten sie aus einer Kritik am Schauspieler Peter Wyngard aus der Serie 'Department S'. „Impotenter Beatopa“ kam dazu.
„Das können wir leider aus Altersgründen nicht verwenden.“ „Verdammte Inzucht!“ Die Fürsorge war nicht aus der Luft gegriffen, sie
hatten mal einen Brief aus Lauritz' Kasten genommen, durch den
schönen breiten Schlitz. Absender: Evangelische Familienfürsorge.
Unsere Gemeinheiten sind schon ganz schön präzise. Den Gartenbauhelfersohn lassen wir lieber weg das wird zu abfällig. Aber die
Nase muss rein, jedes Moped hat einen Kolben!“ Über die Haare
lästerten sie ständig: jeden Sonntag wusch er sie und ab Montag
waren sie schon wieder fettig. An dem seinen fetten Haaren kannste
den Wochentag ablesen!“
Er reagierte nicht auf den Brief. Danach schrieben sie noch ein, zwei
harmlose, aber es machte keinen Spaß mehr.
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Mona kam auf die Idee, Lauritz zu fotografieren. Was hatte sie schon
von ihm? Wenigstens ein Erinnerungsfoto wollte sie. Manuela, ein
Mädchen aus der Klasse, besaß einen Fotoapparat; sie war sofort
einverstanden und machte mit. Überraschend gab es ärger mit Erika:
„Das ist doch blöd!“ Mona fand die nichtssagende Begründung lächerlich was hatte die auf einmal? Erika wehrte sich, weil sie zum
austauschbaren Handlanger gemacht wurde. Sie hielt sich für mindestens so wichtig wie Mona und Lauritz hatte mit ihr geflirtet. Außerdem wollte ihr Vater sie von der Schule nehmen, sie sollte eine
Lehre machen. Erika fand das nicht besonders tragisch, sie wäre so
oder so rausgeflogen. Wenn sie erst die Lehre machte, musste sie
an die Zukunft denken. Erika Lauritz gefiel ihr gut Mona hatte von all
dem keine Ahnung.
„Auf dem seine Straßenseite lauf ich nicht rüber“, hatte Mona gleich
gesagt. „Wenn du dir das traust?“ „Klar, das mach ich!“ Manuela
protzte, sie hatte immer eine große Klappe. Dann kam Lauritz angefegt, wie der letzte Paranoiker, und sie blieben auf ihrer Seite. Es
war ihm anzusehen, er wollte nicht fotografiert werden. Die Aufnahmen fielen mickrig aus.
Erika war sauer und redete nicht mehr mit Mona. Eine aus der Klasse versuchte die zwei zu versöhnen: „Der Zustand so ist doch zu
blöd.“ Ein paar Tage kriselte es zwischen ihnen, dann schien wieder
alles beim Alten: „Ja, ja, mein Freund, du hast ganz recht. Die Welt
ist ganz erbärmlich schlecht. Und jeder ist ein Bösewicht. Nur du und
ich, wir sind es nicht. Aus! Schluss! Basta! Babbella!“
Mona kannte nur liebste Verbündete, die zugleich ihre Feinde waren.
Sie hatte Erika ausschalten wollen, ihr fiel nicht auf, wie sich für die
Freundin vieles änderte.
Sie beschlossen, Lauritz morgens anzuquatschen. Die Briefe
stammten zwar offensichtlich von ihnen, aber sie wollten ihm weiß
machen, dass Manuela Julia sei. „Intelligent, was?“ „Das ist so sonnenklar, dass wir das sind.“ Erika beschloss ihn aus der Reserve
locken. Selig sind die, die da geistig arm sind. Meinst du, der kauft
uns den Schwachsinn ab?“ „Hältst du unseren Sohn etwa für blöd?“
Für Erika war die Sache klar.
Sie passten ihn an einem Junimorgen ab. Nervös warteten sie auf
der gegenüberliegenden Straßenseite, bis er wie üblich aus der Hofeinfahrt stürmte. äh, Kattelbach kömmt!“ sagte Mona. Sie liefen los
und als sie die Straßenseite wechselten, rief Erika: „He, wart mal!“
Mona schüttelte sich, das war ihr zu primitiv. Aber das waren ja beides Arbeiterkinder. Der Typ lief einfach weiter, auf so was hätte Mo-
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na auch nicht reagiert. Erika brüllte: „Markus Lauritz, verdammt noch
mal!“
Es war in der ganzen Straße zu hören. Ruckartig blieb er stehen
und drehte sich wie auf Kommando um. Er wartete, bis sie bei ihm
angekommen waren, dann raste er im üblichen Tempo weiter. Dieser Vollidiot! Die beiden konnten kaum Schritt halten. „Morgen!“ Er
erwiderte nichts, sah bloß verwirrt und fragend aus. Sie redeten nun
abwechselnd und gleichzeitig auf ihn ein: „Nicht dass du denkst, wir
hätten diese Briefe geschrieben.“
„So?“ meinte er.
„Mit der Julia!“
„Aha,“ meinte er.
„Das war die Blonde, die Manuela.“
„Und?“ fragte er.
„Die mit dem Fotoapparat.“ „Du hast doch sicher geglaubt, die Briefe
stammen von uns?“
Er begann: „Ich meinte ja nur, ich wollte...“
Mona unterbrach sein Gestammel, das konnte sie nicht mit anhören.
So hatte sie sich einen Klemmer immer vorgestellt. „Nicht, dass du
glaubst, wir wären so verrückt!“
Da platzte er raus: „Sooo verrückt seid ihr noch nicht!“
An der nächsten Ecke raste er geradeaus weiter, obwohl er in ihre
Richtung mitgehen konnte. Sie riefen ihm „Tschau!“ nach.
Aktion 2. Juni: Erika schrieb die Geschichte nieder, Mona malte den
Einband. Gemeinsam wählten sie den Titel: 'So verrückt seid ihr
noch nicht' und schlossen mit den Worten: 'Auf zu neuen Untaten.'
Sie lachten sich schief: „Das muss ja ausgesehen haben, wir drei auf
der Straße!“ Der farbige Umschlagentwurf zeigte sie von hinten:
„Ganz links der Verdammt-noch-mal, in voller Lebensgröße. Du
rechts davon, einen Kopf kleiner und dann ich, noch mal kleiner“,
krähte Erika. Immerhin hatten sie wieder eine neue Redensart, die
sie überall anbringen konnten: „So, aha, und“.
„Sag mal, hab ich das richtig gehört? Ich meinte ja nur, ich wollte,“
fragte Mona. Erika bestätigte flüsternd: „Ja, ja. Das hat der tatsächlich gesagt. Um den scheint es schlimmer zu stehen, als wir geahnt
haben.“ Fast zu viel, beinahe traurig, ein Schockmoment. „Wie verkorkst muss der wirklich sein?“ Als sie seinen Satz zum Zitat umfunktioniert hatten, kursierte es in der Klasse als lustige Darstellung
eines Klemmers und Korkslings.
Seitdem ließ Lauritz manchmal eine Bemerkung fallen, wenn sie an
einer Ecke standen: „Macht das Auto nicht kaputt!“ Seine Stimme
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Verwaltete Welt
It's all over now, baby blue:
Ge hatte Mona
auf dem Schulweg angesprochen. Er sah sie regelmäßig auf der
anderen Straßenseite und wollte sie kennen lernen. Sie gefiel ihm
so, dass Päda nach einigen Erzählungen spottete: „Das hat jeder
mal gehabt! Die Traumfrau, die er ansprechen wollte. Aber keiner
bringt den Mut auf und später fragt man sich, warum eigentlich?“
Also musste es sein. Zur Beruhigung sagte er sich: Wenn ich nichts
mache, geschieht nichts und wenn sie nein sagt, hab ich's immerhin
versucht. Mit einiger Mühe war es beim dritten Anlauf soweit. Sie
schaute nicht einmal erstaunt, schien nicht abgeneigt. Nur konnte sie
zu keinem der vorgeschlagenen Tage sagen, ob sie Zeit haben würde: Gerade lief die Fußball-WM. Sie machten zwei Daten aus. Er
erwartete nicht viel von dem Treff, das Mädchen trug die StonesSingle 'Let's spend a night together' unterm Arm. Die Stones waren
blöd, wer trug schon so eine Platte spazieren! Und dann Fußball, ein
gewaltiger Schwachsinn! Er wollte sie vergessen aber wartete trotzdem. Als sie ihn auch beim zweiten Termin versetzte, rechnete er
nicht mehr mit ihr.
Ein halbes Jahr später rief sie an. Ein Mädchen, mit dem er früher
gegangen war, hatte sie neugierig gemacht. Sie besuchte ihn ein
paar Mal, obwohl ihre Alten den Kontakt verbaten. Sein Plus: Er
stellte beamtete Anpassungsleistungen zu sehr in Frage. Als die
Alten bei Bekannten waren, lud Mona ihn ein: Beim abendlichen
Kontrollanruf, ob sie zu Hause sei, drückte sie Ge den Hörer in die
Hand. Es gab ein telefonisches Donnerwetter: der Alte polterte für
drei, erteilte Hausverbot, ein weiteres Plus! Die Schwulengeschichte
und ein paar andere Sonderlichkeiten — Ge lackierte seine Nägel
grün oder blau, legte Lidschatten auf und hatte bei einem der ersten
Treffs erzählt, dass er nicht mit ihr schlafen wollte — machten ihn
noch interessanter. Besonders anziehend wirkte, er war rhetorisch
nicht zu schlagen; sie setzte immer wieder Leute auf ihn an, aber die
hatten keine Chance. Mona begann, treffende Formulierungen einzusammeln; sie benützte seine Parolen, um Typen zu beeindrucken
und um den Finger zu wickeln. Nach einem Jahr zogen sie zusammen, nebenbei machte er das Abi.
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Die Alten luden ihre Tochter zum Essen ein, vom früheren Theater
war nicht mehr die Rede, natürlich sollte der Freund mitkommen.
Mona hatte Angst vor dem ersten Zusammentreffen. Ge nahm sich
vor, sie nicht vor den Kopf zu stoßen und war erstaunt, wie jung diese Eltern waren, wie locker sie sich gaben. Der Alte kannte anscheinend nichts Schlimmeres, als braunschwarze Durchschnittsbeamte.
Am meisten frappierte, dass beide am laufenden Meter schlüpfrige
Andeutungen machten, hin und wieder knallharte Witze. Ge fühlte
sich seltsam eingeschüchtert. Die Frau schien stolz auf den Status
einer Beamtengattin, während der Typ nur dementierte. Bei jeder
Gelegenheit musste sie die Vorzüge unterstreichen, bis der Alte sie
unwirsch zurechtwies: „Ach, halt dich da raus! Du bist doch blöd,
unterhalt dich mit dem Hund!“ Als müsste ein bekloppter Mann an
seiner besseren Hälfte beweisen, dass er zu etwas taugte — das
passte nicht zu den lockeren Sprüchen. Mona reagierte nicht, sie
schien sich zu Hause wohl zu fühlen. Anscheinend gefiel ihr, wie gut
der Alte sich in Szene setzen konnte.
Es wurde spät an diesem Abend, der Alte animierte ihn zum Trinken.
Mona hatte öfter erzählt, dass ihr Alter enorme Mengen vertrug —
Ge hielt es nicht für wild, er konnte mithalten. Irgendwann wollte
Mona gehen, doch er bekam noch ein Glas vollgeschenkt. Er trank
schneller, prompt stand das nächste vor ihm. Obwohl sie ungeduldig
wurde, wollte er das Glas nicht stehen lassen. Endlich stand sie erbost auf und schrie den Alten an. Der lachte fett vor sich hin. Ge
versuchte zu vermitteln, er konnte sich von keinem vollen Glas trennen. Sie ging, er entschuldigte sich, trank aus, lief hinterher. Auf dem
Heimweg schwieg sie erst, dann warf sie ihm vor: „Warum lässt du
dich einwickeln, ich hasse Besoffene! Es ist doch klar, der Alte will
mich nur ärgern." Sie begann zu jammern und zu schimpfen: „Nichts
hab ich gedurft und vor allem haben die mich gewarnt. Wenn mal
was lief, waren die Alten dabei und mischten mit. Alles nehmen die
mir weg! Immer das Gleiche, die gönnen mir nichts Eigenes!“ Ge
verstand sie nicht und machte den Fehler, von seinen Erfahrungen
mit Alten aus zu argumentieren: „Mit solchen Eltern kann man sich
doch arrangieren. Unter den Bedingungen wäre ich nicht ausgezogen, da ist alles durchzudrücken. Keine Probleme mit Jobben oder
Futter.“ Sie schaute ihn an und meinte: „Das verstehst du nicht.“ Sie
klang traurig, er hatte verloren.
Sie waren ein halbes Jahr miteinander gegangen, als Mona die
Schule schmiss. Ge hatte abgeraten, nichts war leichter, als ein paar
Stunden täglich abzusitzen, sonst Ruhe und viel Zeit zu haben. Sie
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wollte nicht mehr, der Versetzungsbetrieb nervte; das Notensystem
symbolisierte für sie den Einbruch der bösen Außenwelt. Sie hing
eine Weile rum, übernahm von den Leuten, mit denen sie zusammen
war, interessante Themen und kam täglich in die WG. Die Alten
drängten auf eine Lehrstelle und Mona ging zum Arbeitsamt. Beim
ersten Mal kam der Alte mit, danach interessierte ihn das Thema
weniger. Er fürchtete das Versagen seiner Tochter und verbarg diese Schwachstelle — man hütete sich vor zu großer Anteilnahme. In
schöner Regelmäßigkeit bekam Mona Adressen, Absagen und immer wieder den Rat unter die Nase gerieben, man dürfe ihr nicht
schon ansehen, dass sie weder Lust noch Interesse habe. Ge freute
sich mit ihr über die Absagen, sie hätten sonst weniger Zeit gehabt.
Außerdem: Geregelte Arbeit war was für Krüppel.
Ihr war gründlich beigebracht worden, welche Schande mit dem Versagen verbunden war, dass man praktisch überall versagen konnte
und besser jede Gelegenheit dazu vermied. Das Leben schien zu
zerbrechlich, man packte sich samt Familie in dicke Watte und irgendwann war ein Punkt erreicht: Watte wurde zur Behinderung.
Leben war lebensgefährlich, also aussperren; Leben war schmutzig,
also sauber bleiben. Das hatte den kleinen Nachteil, dass wenig
Leben stattfand. Die viele Watte ließ Gefährlichkeiten von innen
nachwachsen: als Spannung und als Krankheit. Jede Kleinigkeit ein
absolutes Theater, jede Krankheit ein Existenzbeweis, Reizhunger
erhöhte die Spannung vor dem Stress. Aufgrund der Watte wurden
Rücksichtnahmen bespöttelt und der Umgangston geriet härter mit
der Zeit. Als Pseudoalternative bot sich eine verkehrte Betonung des
richtigen Lebens an, verordnete Stumpfheit rief verbale Übertreibungen hervor.
Mona hatte nicht genau gewusst, vor was sie fliehen wollte, Ges
Erklärung blieb zu theoretisch. Solange sie gegen die Alten opponierte, war klar: Nichts wie raus. Auf keinen Fall wollte sie ihrer Mutter ähnlich werden; die Identifikation mit dem Vater diente diesem
Zweck, bis deutlich wurde: Er gönnte ihr nicht mehr als die Alte. Sie
schaute sich nach Alternativen um und schnitt ihre schönsten Versuche auf seine Infragestellung zu. Das hatte unerwünschte Nebenwirkungen: Wenn sie Papi Unrecht gab, schien sie die Mutter und ihre
Lebensangst zu bestätigen. Eine Weile trat Mona auf der Stelle.
Während sie nach und nach zur Identifikation mit dem Alten zurückfand, wurde aus Ge ein Störfaktor; bessere Ansätze waren nun nicht
mehr gefragt.
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Ein weiteres Jahr verging. Mittlerweile erkannte der Kameramann Ge
nicht mehr, wenn sie sich in der Stadt begegneten. Das Ende, allerdings ein anderes, war angekündigt und vorbereitet worden. Päda
betonte gern: Homoerotik brachte selten Dummheiten hervor wie
Eifersucht oder enttäuschte Liebe, das sei typisch für klebrige Beziehungen der Heteros. Geplant und funktionalisiert hieß das richtige
Programm: Lustmaximierung zur rechten Zeit bei gleichzeitiger Minimalisierung der Enttäuschung durch Erwartungen an den Partner.
Päda hatte in den letzten zwei Jahren häufiger angedeutet, dass
sein sexuelles Interesse ab einem gewissen Alter nachlassen würde.
Eine behaarte Brust oder Bartwuchs machten ihn nicht an, er stand
auf Knaben und knabenhafte Mädchen. Aber sie konnten ja Freunde
bleiben! Die ersten Male dachte Ge nichts dabei, gegen Ende war er
mit Mona beschäftigt. Er kam zum Saufen zu ihm oder um sich reden zu hören. Die Zeit ging träge im Kreis, ihn juckte nicht, wenn es
einschlief; er hatte mitgespielt und sich an Pornos gefreut. Zeitweilig
wunderte sich Päda, manchmal war er verstimmt, auf Dauer machte
es wenig Unterschied. Nur gelegentlich kam die Infragestellung hoch
und ging ins Schlagwort ein: „Du bist eben unheilbar normal.“ Das
traf, allerdings nur die gesellschaftliche, nicht die sexuelle Stoßrichtung — mit der Klassifizierung 'normal' wollte Ge nichts mehr zu tun
haben. Er stand wirklich nur auf Frauen — kein Grund, an der
Freundschaft zu zweifeln, erst recht keiner, zu brechen, nachdem
der erotische Reiz erloschen war. Der Anstoß kam von außen, träge
Gewohnheiten mussten überwunden werden.
Mona wollte mit Ge zusammenwohnen; er war dagegen, sein Job
brachte nicht genug, um sie durchzufüttern. Außerdem genoss er die
jahrelang vermisste Ruhe — gemeinsam in einem Zimmer, überhaupt täglich einander auf der Pelle zu hocken, das konnte nicht gut
gehen. Wenn sie ein paar Stunden am Nachmittag zusammen waren, lief es toll, besser ging es nicht. Päda musste ihm gut zureden:
Mona wäre endlich in der Lage, sich vom Elternhaus abzuseilen, das
Allerwichtigste, später könnten sie ja wieder auseinanderziehen. Ge
sagte zu und fühlte sich beschissen, denn nach dem Abi wollte er
eigentlich ein Jahr lang trampen. Ein paar Monate besuchte er Päda
noch, seltener als früher und oft brachte er Mona mit. Nachdem die
alte Nachbarin gestorben war, hatten sie ein Gesprächsthema weniger, viele blieben nicht mehr. Er soff vor sich hin, Päda hörte Klassik
oder schaute in die Glotze. Gleichgültigkeit tränkte die letzten Abende, die Intensität der Zeit fand sich im Wein. Merkwürdigerweise
wurde Mona zu dieser Zeit eifersüchtig, sie lästerte ständig, stellte
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die Freundschaft in Abrede und knallte Päda einmal hin: „Nach
sechs Jahren muß ja wohl auch der Letzte gemerkt haben, daß der
gar nicht mit dir kann!“ Päda war angeknatscht. Aber er ließ sich
nicht davon abhalten, an den folgenden Abenden mit ihr rumzuknutschen und ständig an ihrem Busen zu spielen. Ge wurde eifersüchtig, schließlich war es verpönt, wenn er seine Freundin nur küsste.
Es fühlte sich widerwärtig an, wie der ständig versuchte, ihn auszustechen oder kaltzustellen.
Neue Bezüge wurden wichtiger: Päda hatte ein aktuelleres Reizthema und Ge verlor den süchtigen Blick. Er durfte das weibliche Geschlecht endlich genau untersuchen: Ein gieriger Pornograph hatte
besseres gefunden. Päda beschäftigte ein elf- oder zwölf Jahre altes
Mädchen, das bei seiner Firma im Haus wohnte — mittlerweile arbeitete er in der freien Wirtschaft. Er lernte die Eltern kennen, lud das
Mädchen samt Bruder zum Flippern in den Aufenthaltsraum des
Büros, brachte Geschenke vom Drehort mit. Mit den Eltern teilte er
die Begeisterung für klassische Musik; hin und wieder begann er das
Töchterchen in Konzerte mitzunehmen, für die er zufällig eine Karte
übrig hatte. Art des Interesses und Hoffnung auf Einlösung lieferten
die Kontrastfolie zu Ges Verführung: Reizvolles Spiel der Annäherung und detektivische Lust am Ausspähen, der Ehrgeiz, wichtige
Gemeinsamkeiten vorzuprogrammieren. Eine Erotik des Abwartens,
immer wieder wurde Ge berichtet, wie weit die Geschichte gediehen
sei. Zu erklären und zu beschreiben, auszumalen, was hier die Faszination bewirkte, Gerede schien das Wichtigste. Der Wechsel knabenhafter Schüchternheit mit mädchenhafter Keckheit in ein und
derselben Geste war angeblich traumhaft. Päda schätzte ab, welcher
Elternteil Schwierigkeiten machen könnte und ließ es doch nicht
soweit kommen. Ein bisschen begann Ge vom erotischen Spiel zu
erahnen: Zu kitzeln, abzuwarten, einzufangen. Wenn er da an seine
Verführung dachte: Er war ein Arsch gewesen. Die Kunst sah anders
aus, der Reiz wurde gebremst, entschärft an der ästhetischen Grenze zur Lust am Erzählen und Planen. Abzuwarten schien reizvoll. Ge
bekam nicht mehr mit, wie das Spiel weiterging; er war verärgert
über den Mangel an Rücksicht in seiner Geschichte — mit welcher
Selbstverständlichkeit der sich bedient hatte! Mona bestärkte seine
Abwehr, war eifersüchtig auf den Schwulen, als längst nichts mehr
lief. Der Kontrast zum Elternhaus hatte sie angezogen; nun bekämpfte sie den Einfluss, um über Ge zu verfügen. Ein Hintertürchen führte zu moralischen Verkrüpplungen zurück, die Ge mit Hilfe des
Schwulen verabschiedet hatte. Doch bei diesem Versuch trat er mit
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besseren Vorraussetzungen an: Er hatte hinter den Lattenzaun der
Moral geschaut — wer sich keine fremde Verantwortung aufbürden
läßt, hat auch keine Selbstzerstörung nötig. Von nun an, ob sie ihn
striezte oder hängen ließ, lieferte ihm Mona den Grund dafür, wenn
er sich wieder einmal beschissen fühlte.
Nach dem Tod des Alten reduzierte Ge den Drogen- und Weinkonsum und jobbte regelmäßig; er stellte die Besuche bei seiner Mutter
ein, als sie zu offensichtlich intrigierte und brach den Kontakt ab, als
die Störversuche nicht aufhörten; als sie nach einer Kündigung die
nächste Wohnung suchten, ließ er die Haare schneiden; statt einer
Weltreise begann er ein Philosophiestudium. Noch konnte übersehen werden, dass Mona ihn brauchte, um einen neuen Sündenbock
zu modellieren. Der Schwarze Peter ging hin und her, soweit es nicht
gelang, ihn auf verschiedene Haustiere abzuwälzen. Manches
Scheitern war nötig, um aus der Negativität erneuter Anpassungsleistungen dialektisches Lernen abzuleiten. Oft hatte er alles versucht und stand nur mit leeren Händen da: Wer spricht von heilsamer Frustration, wenn er am Boden krebst!
An einem Abend läutete es, sie kuschelten und wollten ihre Ruhe.
Ge hatte sein Quantum weg — ein halber Liter Wein war zu vertreten. Er schaute kurz vom Balkon, achtete nicht drauf, ob man ihn
sehen konnte und ließ Päda auf der Straße stehen. Um halb zwölf
war er nur ein lästiger Eindringling, sie mochten keine überfallartigen
Besuche. Ein paar Wochen später lief er auf einem Botengang vor
dem Neuen Schloss einem Kamerateam über den Weg. Päda konzentrierte sich auf Anweisungen eines hohen Tiers, vielleicht die für
den Zweck übliche Maske. Ge grüßte vorsichtig, der Kameramann
blickte durch ihn hindurch. In den nächsten Jahren begegneten sie
sich zwei-dreimal, sie kannten sich nicht mehr.
Der Schaum der Tage:
Nichts kam so, wie erwartet; vieles kam dazwischen und führte vor Augen, wie verhaftet
auch die Alternativen dem Familienhorizont waren. Mit der AntiHaltung ergrübelte Ge sich Freiheiten und quälte sich doch nur durch
einen Wust von Ablenkungen. Er war befreit von vorgeschriebenen
Dummheiten, ein erster kleiner Schritt, aber es mangelte an Freiheiten für Ziele, auf denen kein Schatten alter Abhängigkeiten mehr
ruhte. Nachträglich schien es wichtig, unverbindliche Fickereien kennen gelernt zu haben. Einschätzen zu können, woran es fehlte, hieß
einer Pseudoalternative weniger nachzurennen. Ob schnelle Münze
des Homospiels, ob mühsame Prostitution auf verkrampft enthemm152
ten Parties: mehr als ein Wichsen zu zweit kam in der Regel nicht
zustande. Anfangs sollte dieser Mangel mittels ständiger Wiederholungen behoben werden, Einwände oder Widerwillen wurden betäubt. Im Laufe der Jahre hatte der Alkohol den Rest ersetzt: Hackezu war keine Mühe nötig.
Die Angst, diesem Versagen wieder zu begegnen, prägte Ges verbiesterte Treue: Was er mit Mona zustande brachte, sollte kein Blödsinn entwerten. Ein schöner Spruch für den Anfang! Die Übersetzung hieß: Er hatte Erfahrungen gemacht und meinte begründen zu
können, warum man sich den Mist sparen sollte. Die Rationalisierung erreichte das Gegenteil, denn Mona ließ sich nicht schon wieder um Erfahrungen betrügen. Sie wollte endlich nachholen, was sie
versäumt hatte. Bei ihr war seine Schutzimpfung für kleine Jungs in
die Hose gegangen.
Solange die erste Verknalltheit anhielt, klappte es nicht schlecht im
Bett. Gemeinsame Interessen hatten sie keine. Frei nach Amendt
dachte er: Die wichtigste Voraussetzung war erfüllt, alles weitere
konnte noch kommen. Aber es kam nicht mehr viel, außerdem bedeutete ihr eine gute Nummer wenig — das war selbstverständlich
oder nebensächlich. Wichtiger schienen Sprüche und Andeutungen:
Verbalerotik.
Einen Hund hatte sie angeschafft, die Stunden gemeinsamer Spaziergänge lieferten eine schmale Basis für die Freundschaft. Oft kamen sie nicht weit und landeten bei einem Galeristen: Einer der Leute, die Mona kennen lernte, wenn sie unterwegs war und den Hund
als Kommunikationsmittel einsetzte. Sie saßen stundenlang in der
Galerie, hörten dem Geprotze eines Parapsychologen zu oder der
Besitzer erging sich in Hundelatein. Ge fand Hunde zu unterwürfig,
das Geschwätz war hohl, manchmal ging er nicht mehr mit. Erst als
sie einen Wurf junger Hunde mitbekamen, begann er sich für die
Viecher zu interessieren. So ein Gewirbel lebender Tuschezeichen
im Schnee, später dann Rasereien in allen Farben und Tönen aus
Wald und Jahreszeiten. Zwei- bis dreimal drei Stunden Hundespaziergang pro Woche sahen auf einmal ganz brauchbar aus.
Als die gemeinsame Wohnung selbstverständlicher Alltag war, hieß
sogar die Hoffnung auf eine abgestimmte Körperkommunikation an
vielen Tagen Verzicht. An manchen anderen: „Nun mach schon,
dass du fertig wirst!“ Insgesamt eine unerfreuliche Entwicklung. Nur
hatte Ge mit ihr ein irres Gefühl kennen gelernt. Das Sprichwort:
Munter, wie ein Fisch im Wasser, passte darauf. Die Möse hatte
manchmal bis zum Hinterkopf gezwitschert, auf der Schwanzspitze
153
balancierte er im Herz der Gegenwart, wellenweise pulsierte es den
Rücken hoch und runter. Bei der Intensität konnte kein Wichsen zu
zweit mithalten — also wartete er eben. Ein paar solcher Nummern
hatten ausgereicht und der Weinkonsum war geschrumpft. „Wenn du
besoffen bist, brauchst du nicht zu mir ins Bett kommen“, hatte sie
überzeugend gedroht.
Die Zeit verging von alleine: Er jobbte, besuchte gelegentlich ein
Seminar, las und schrieb, ging mit spazieren; sie half dem Galeristen
und lernte jede Menge interessante Leute kennen. Vor dem dritten
Semester erwischte ihn die Einberufung zum Ersatzdienst; eine
Freundin vermittelte Mona den Job in einer Institution.
Von da an stand er jeden Morgen ab sieben Uhr in der Zentralsterilisation eines Krankenhauses. Zwei bis drei Stunden täglich blieben
übrig, er versuchte diese Zeit sinnvoll umzusetzen. Als er einberufen
wurde, steckte die Beziehung in einer Sackgasse. Wenn Mona nicht
mit irgendwelchen Typen beschäftigt war, stritten sie und er machte
ihr Vorwürfe. Eine dumme Wiederholung: Früher hatte er stundenlang auf seinen Alten eingeredet und nichts war hängen geblieben,
jeden Tag hatte er den gleichen Schwachsinn, die gleichen Behauptungen gehört. Nun redete er bei Mona an eine Wand — ob beste
Argumente oder fiese Vorhaltungen, alles rauschte einfach vorbei.
Wenn er gekonnt hätte, hätte er geschwiegen. Erst als bei Arbeitstemperaturen um dreißig Grad Dampfsterilisatoren, Hochdruckgebläse und Ultraschallgeneratoren für Abstumpfung sorgten, war es
soweit. Er schaffte verbissen und verstummte. Die erste Zeit versuchte eine faschistoide Frontschwester, ihn zu schikanieren. Sie
wollte nicht erklären, was er tun sollte, sondern machte es einmal
vor: „So! So! Und So!“ und erwartete, dass er es von nun an konnte.
Sie reagierte jedes Mal biestiger, wenn er wieder nachfragte und
knallte ihm schließlich eine Mappe mit Einordnungsanweisungen auf
die Spüle. Die Zeit, die Listen genau anzusehen, hatte er nicht.
Wenn in mehreren OPs operiert wurde und Instrumente im Eilverfahren gereinigt, in Siebe einsortiert und sterilisiert werden mussten,
wenn die Stationen Kompressen, Tücher oder Flaschen bestellten,
rotierte die Frau. Sie kreischte lauter als die ganze Maschinerie,
fegte durch die Gegend, riss ihren Leuten die Arbeit aus den Händen. Schon an durchschnittlichen Arbeitstagen war sie ungenießbar,
sie konnte alles besser und schneller. Sie trieb die Leute derart an,
weil sie nicht wollte, dass jemand mithalten konnte und sie war außerdem überzeugt, dass alle anderen das Krankenhaus durch Verschwendung oder unsachgemäße Handhabung schädigten. Ein teuf-
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lisches Klima, gelegentlich drehte mal eine Frau durch, schmiss ihr
die Sachen vor die Füße oder bekam einen Weinkrampf.
Ge fand bald heraus, dass man sie ignorieren musste. Er blickte sich
nicht um, wenn sie angefegt kam, schaute nur ausdruckslos, wenn
sie wieder geiferte. Das klappte, nur ein Betriebsrat fragte: „Was
haben sie der versprochen? Hält doch sonst keiner bei der aus!“
Nach ein paar Monaten versuchte ihn die Schwester zu vereinnahmen: „Unser Ge...“ Er blockte ab, was interessierte ihr Lob, nachdem
es solche Mühe gekostet hatte, den Terror zu verdauen. Er machte
seine Arbeit wie gefragt, mehr konnte keiner verlangen und hielt sich
an einer Gewissheit fest: Sechzehn Monate! Die Zeit würde rumgehen.
Er schwieg, schaffte für zwei und erwartete, dass er in Ruhe gelassen wurde. In grüner Op-Kleidung, mit Maske und Kopfhaube, war
ein extremes Maß an Entfremdung erreicht. Die Hände arbeiteten
von alleine, vor der eingeschränkten Optik huschten grüne Figuren
zwischen Glas, Keramik und Edelstahl herum; Hitze und Lärm verfremdeten die Szenerie. Er verwandelte sich in einen Funktionszusammenhang: gleichzeitig l'homme machine im Räderwerk und unbeteiligter Beobachter. Wenn er nachmittags auf die Straße kam und
heimging, schienen Autos oder Häuser eingeschrumpft und weit
weg: Die sogenannte Realität war nur Geschwätz. Abends sank er
todmüde ins Bett. Ein angenehmes, beruhigendes Gefühl: Jetzt
schlafen zu können, verdient einfach wegzusausen. Monas Theater
war fast gleichgültig geworden. Er wusste, es war Zeitverschwendung, sich über sie zu ärgern. Ab einem gewissen Beanspruchungsgrad kam keine Hysterie mehr mit: Das war eine Verhandlungsposition, die bei späteren Notfällen wieder zur Verfügung stand. Sie sollte machen, was sie wollte. Ein Null-Niveau, aber so lange er nicht
mehr erwartete, ging es nicht übel. Es brachte ja nichts. Er schaffte
wie ein Blöder und konnte zusehen, wie Freundschaft oder Liebe
oder sonst was — die Wörter so abgenutzt, wie die Sache hoffnungslos — zerbröckelten. Ge wusste jetzt, warum ihm früher 'substitute' der Gruppe Who gefallen hatte. Das Lied tauchte in seinem
Kopf auf, wenn Grenzen der Belastbarkeit näher kamen. Meist nur
die Zeilen: „I was born with a plastic spoon in my mouth… I'm a
substitute for another guy…“
1978 Portrait in der Sozialarbeit:
Mona
kniete zwischen leeren Kartons und ausgelatschten Schuhen, einem
angebissnen Volksfestherz und zerknitterten Briefen von Behörden.
155
Maden krochen träge durch die Abfälle, gelegentlich huschten Spinnen über den Boden. Im Hintergrund lief die neue Genesis-Lp. Besessen schrubbte sie an einem Waschbecken. Sie hatte sich um
diese Arbeit gerissen: Fleckig graue Ränder und Spritzer, eingetrocknete Pisse, innen wie außen, Seifenablage oder Kacheln an der
Wand, alles hatte er vollgepinkelt. Sie strich mit der Nase entlang
und saugte den Gestank ein. Seine Spuren hatten sich reingefressen, Mona hätte sie ablecken können. Als sie wegen Frederico in die
WG reinschnuppern wollte, hatte sie aus dem Bücherregal 'Die
Gruppe' geschnappt und in einer durchsichtigen Plastiktüte spazieren getragen. Sie begegnete Ziegler beim morgendlichen Spaziergang mit dem Hund. Sie unterhielten sich über Hunde und die Köter
spielten miteinander, dann über Heimkinder und Knastkarrieren;
Ziegler hatte gefragt, ob sie vom Fach sei. Mona war an Sozialarbeit
interessiert. Der Rest ging von alleine, sie näherte sich mit Geschick
an und konnte mit Schlagworten protzen.
Bald imitierte sie Ziegler und fluchte über Frederico: „Diese verkommene Drecksau!“ Fast alles, was sie über ihn wusste, stammte aus
Zieglers Erzählungen. Sie erhielt den Auftrag, wichtige Schriftstücke
auszusortieren — die anderen kapierten den Unterschied nicht. Seit
einem dreiviertel Jahr kam sie fast täglich vorbei: Keine gewöhnliche
WG, hier wohnten nur frühere Heimkinder. Sie suchte die Regression im Dienste der Eltern; die soziale Hierarchie wollte in ihrer Funktionsfähigkeit erlebt und bestätigt werden. Wer mit Genuss an Stigmatisierungen teilnehmen durfte, stellte die Norm nicht mehr in Frage.
Der Leiter Ziegler war einer vom Jugendamt. Er stand auf Mona und
unterstützte ihren Versuch, sich an Heimkindern zu therapieren. Mit
seiner Hilfe würde sie den Fehler Lauritz nicht wiederholen. Das da
waren völlig Abhängige, sie sollten es auch bleiben. Die Typen faszinierten Mona. Die Asozialität stieß sie ab und zog sie an. Der Reiz
des Abseitigen, die Grenze zum Verbotenen konnten in vollen Zügen
genossen und dann an ihnen abgestraft werden. Hier war dafür gesorgt: Diese lebensunfähigen Krüppel wurden nicht gefährlich.
Am reizvollsten war natürlich einer, der nicht mehr da war. Angeblich
hatte Ziegler Frederico aus der WG geschmissen, weil er ständig die
Post klaute und zwei Brüche im Haus gemacht hatte. Wegen eines
zurückliegenden Bruchs war er sein Bewährungshelfer geworden.
Fredericos Zimmer sollte nun endgültig geräumt werden; der Rausschmiß lag fast ein Jahr zurück, seitdem war es unbewohnt. Ziegler
hatte weiterhin die Miete bekommen und nichts unternommen. Inzwischen wohnte Frederico auf eigenen Wunsch in einer Mormonen-
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WG. Er verdiente gut und konnte sich so zwei Mieten leisten. Ziegler
hatte ihm damals einen Job in einer Fachbuchhandlung besorgt, er
bekam zwischen 1300 und 1400 netto — irre viel Geld für einen Typ
ohne Sonderschulabschluss oder Ausbildung. Nach einem Jahr aber
kündigte der Buchhandel.
Mona hatte Frederico nachmittags mit einem Typ auf der Straße
gesehen: Schön, daß er sie noch erkannte. Er grüßte mit seinem
typischen „Grüß Gooott!“ So meldete er sich auch am Telefon. Ziegler freute sich über Monas Beobachtung, auf solche Infos war er
angewiesen. „Und ob mich das was angeht! Wenn dieser Typ am
helligten Tag auf der Straße rumläuft, anstatt zu arbeiten, dann
interessiert mich das sehr wohl. Dabei hat mir dieser Wichser versprochen: Du Alter, egal was aus uns wird, den Job verliere ich nicht,
so was krieg ich nie wieder.“
Für Ziegler waren alle Wichser, er ging von sich aus. Seinen Heimkindern mangelte es nicht an Sexualpartnern; sie witzelten, dass er
ohne Frau auskam. Ziegler flüsterte Mona einmal gespielt gekränkt
ins Ohr: „Du, die haben doch schon behauptet, ich würd es nur mit
der Hündin treiben. Stell dir vor, die hätte ihn mir doch abgebissen.“
Im Treppenhaus und an der Aufzugstür hatte er Warnschilder angebracht: „Postbeamte, Handwerker, Technische Werke usw. haben
sich vorher anzumelden bzw. in jedem Fall die Gegensprechanlage
zu benutzen. In den Räumlichkeiten befindet sich eine freilaufende
sibirische Wölfin!! Stadt Stuttgart: Stadtverwaltung.“ Schon der erste
Anruf, den Mona über Lautsprecher mithörte, zeigte genug über
Zieglers Verhältnis zur Sexualität. Eine Mutter jammerte besorgt, ihr
Sohn treibe es mit Pferden. Zieglers lapidare Antwort lautete: „Dann
tun Sie ihn weg von Pferden!“ Er brauchte keine Freundin. Zum Quälen hatte er seine Schwachsinnigen: Er konnte so brüllen, dass es
Mona körperlich berührte. Gebrüllt werden durfte nur in der WG und
wenn die Wohnungstür zu war, dann aber richtig. „Ich bin autoritär!
Aber gegen Schlagen hab ich was. Ich finde Prügel sinnlos!“ Ziegler
machte alles mit Stimmgewalt. Mona brüllte mit, durfte Sprachrohr
sein. Er nannte sie: „Mein Leutevergrauler und Blecheimer“.
Am Anfang wollte sie wissen, warum hier nur Sonderschüler waren.
Die Erklärung lautete: „Die hatten doch eine Gehirnhautentzündung!
Die kriegen doch fast alle im Heim eine Gehirnhautentzündung! Du
musst dir vorstellen, da wird das ganze Hirn zur Matsche! Dann
kommen sie in der Volksschule nicht mehr mit, also kommen sie in
die Sonderschule. So einfach ist das! Mit 21 Jahren hat der Frederico noch Folgeschäden gezeigt. Wenn der 'n Anfall hatte, schlacker-
157
ten die Arme und die Beine um den Körper herum.“ Sadistisch spielte Ziegler ihr den Debilen vor. Frederico bekam als einziger Medikamente. Ziegler lehnte Medikamente sonst strikt ab. Mit Vorliebe lief
er brüllend durch die Räume: „96 Prozent aller Krankheiten sind
psychisch bedingt!“
Es stellte sich heraus, dass Frederico krank geschrieben worden
war, denn er hatte sich operieren lassen. Danach ging er nicht mehr
arbeiten. Mona hatte mitbekommen, dass so was oft zu Entlassungen führte. Nach einer Krankheit oder nach dem Urlaub, ein Wochenende konnte reichen. Ziegler bemerkte: „Fredericos Konto ist
überzogen!“ Die Kontoauszüge der Leute gingen an ihn. Damit stand
fest, der Buchhandel hatte gekündigt. Mit der Miete war nicht mehr
zu rechnen; Ziegler stellte das Ultimatum: Am kommenden Montag
um zwölf Uhr sollte das Zimmer vollständig geräumt sein. Die Zimmerschlüssel hatte Frederico seinem Freund Patty gegeben. Sie
waren im gleichen Heim aufgewachsen und Ziegler hatte beide in die
WG aufgenommen. Patty benutzte das Zimmer zum Wäschetrocknen. Er wollte seine Wäsche nicht zur übrigen auf die Terrasse hängen. Ihn störte, wenn Mona seine Klamotten zu anderen in die Maschine steckte. Er fragte vorwurfsvoll: „Was, du wäscht meine Wäsche mit dem seiner?“ Er hatte außer diesem Fimmel einen Waschzwang. Jeden Tag wusch er seine Haare und zweimal täglich duschte er, Ziegler hatte für ihn einen eigenen Gaszähler anbringen lassen. Patty achtete sehr auf sein äußeres, ständig kämmte er sich;
der Kamm drückte sich in all seinen hinteren Jeanstaschen ab. Die
offensichtliche Eitelkeit faszinierte Mona, er hatte sogar seine Initialen auf dem linken Unterarm eintätowiert. Sie zog ihn auf und nannte
ihn Narziss. Er kannte das Wort nicht, aber er fühlte sich geschmeichelt und wollte wissen, was es bedeutete. In seinem Zimmer lag
eine Kassette mit einem vierundzwanzigbändigen Lexikon auf dem
Boden. Die einzigen Bücher, die er besaß; stolz hatte er sie Mona
vorgeführt. Ihr war klar, dass Frederico ihm diese Kassette besorgt
hatte, der arbeitete schließlich im Buchhandel. Der Tick musste von
Pattys Freundin stammen, einer Gymnasiastin. Anscheinend lag bei
ihr die gleiche Marotte vor, sie wollten was aus Patty machen. Mona
striezte: „Schlag doch in deinem Lexikon nach, wozu hast das denn.“
Er schien sich bestätigt zu fühlen. Mona dachte, jetzt endlich kapierte er, wozu es Lexika gab und erschrak, als sie bemerkte, dass er
sich nicht einmal im Alphabet zurecht fand. Sie zog den richtigen
Band heraus und zeigte die Stelle. Es war jetzt klar, dass er mit der
Erklärung nichts anfangen konnte. Peinlich wurde die Geschichte,
158
als er mimisch vorspielte: über solche Dinge machte man keine Witze.
Patty war ein harmloser Flippie und sah aus wie ein Mädchen. Als er
danach in die WG kam, konnte er angeblich nicht lachen, sondern
hatte bei jeder Gelegenheit gemeint: „Ich bring mich um.“ Mona bekam nur noch die spätere Version mit: „Dann hätt ich mich umgebracht.“ Die typischen Selbstmorddrohungen wurden überhört oder
sadistisch übertrieben. Sie hatte sich für die zweite Möglichkeit entschieden und verwendete übliche Zitate: „Ja Patty, nimm dir nen
Strick und häng dich auf. Auf dem Dachboden is noch viel Platz!“
Ziegler betonte: „Ein Risiko ist das schon. Eine sichere Methode
gibt's da nicht, manchmal machen sie's wirklich.“ Er erzählte selbstgefällig, er habe Patty das Lachen beigebracht. Mona testete das
Pet: Wenn sie ihm vorlachte, lachte er nach. Was sagte das schon
bei einem Kiffer! Als er sie mit dem Hund in der WG entdeckte, kam
er mit einer Schüssel aus der Küche und sagte verarschend: „Ah, die
Lassie ist da, die Lassie.“ Liebenswürdig weich beugte er sich zum
Hund herunter. Seit Mona den Collie hatte, ärgerte sie, dass jeder
Schwachsinnige auf der Straße Lassie rief. Bei Patty war das etwas
anderes, ihr Widerwille und seine Schmeichelei hielten sich die
Waage. Sie spielte Autorität und lenkte mit dem Essen ab: „Patty,
aber du gibst ihr nichts von den Spaghetti!“ Er richtete sich wieder
auf und meinte erstaunt: „Nichts?“ Mit einer typisch runden, gleitenden Bewegung vollführte er eine halbe Drehung: „Pah! Dann eben
nicht“, das hatte er nicht nötig. Er verließ das Zimmer, die Spaghettischüssel auf der flachen linken Hand balancierend. Die Maske des
Flippies verdeckte das Heimkind.
Dagegen schien Frederico ein gefährlicher Kleinkrimineller zu sein.
Das tollste war, dass er Brüche machte. Ziegler brüllte gern herum:
„Ich hab den Abschaum von Stuttgart im Haus!“ Mona imitierte ihn,
anders kam man gar nicht an die Leute ran. Wenn die Vereinnahmung erst einmal lief, konnte sie mehr Einfluss ausüben, wenn sie
mit Ziegler rivalisierte. Auf Patty wirkte am besten, wenn er unter die
Nase gerieben bekam, Ziegler sei eifersüchtig. Patty wiederholte
mächtig stolz: „Gell, der Alte is brutal eifersüchtig!“ Er meinte öfter zu
Mona: „Das sind doch lauter Gestörte hier. Man müsste einfach einen Film abdrehen, der tät irre werden. Verstehst, einfach nur abdrehen. Ich komm euch mal wieder besuchen. Mit dem Ge kann man
sich wenigstens vernünftig unterhalten.“ Er durfte sich einiges herausnehmen, Mona stand auf ihn. Aber er hatte längst nicht die Bedeutung des abwesenden Brasilianers. Frederico war für Ziegler ein
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schwieriger Fall. Vor Mona überging er den Rausschmiss, es gab ihn
einfach nicht. Als sie ihn direkt darauf angesprochen hatte, wurde er
kurz unsicher, dann legte er los: „Diese verkommene Drecksau! Brüche macht der! Mit 'n Kumpel ist der ins Heim eingestiegen! Die
Heimkasse ham die geknackt, deswegen flog der aus dem Heim.
Brasilianer ist der auch noch! Ohne Aufenthaltsgenehmigung ham
die mir den angedreht!“ Die Alternative hieß: „Knast oder WG. Auf
den Brustwarzen komm' se bei mir angerobbt!“ Frederico wurde im
Bundesstaat São Paulo geboren. Er hatte ein paar Jahre in Brasilien
gelebt, kam dann nach Deutschland zu einer Tante, kurze Zeit später ins Heim. Als Mona wissen wollte, ob der Typ ausgewiesen werden konnte, brüllte Ziegler: „Ja sicher! Bis ich für die miese Ratte 'n
Aufenthaltsgenehmigung bekam!“
Frederico kiffte nicht wie Patty und rauchte nicht einmal. Er klaute
natürlich wie alle anderen, aber er machte als einziger richtige Brüche. Sein Äußeres imponierte Mona. Meist lief er mit fettigen Haaren
und schwarzer Lederjacke herum. Er machte einen ungepflegten,
schmierig dreckigen Eindruck und sah richtig heruntergekommen
aus. Ziegler schimpfte, als hätte er vergessen, dass Frederico längst
nicht mehr über seinem Schlafzimmer wohnte: „Kein Wunder, sieht
der morgens aus wie seine eigene Großmutter! Der wäscht sich
nicht, der kämmt sich nicht, der schläft ja nachts nicht! Ständig läuft
der in seinem Zimmer auf und ab! Der ist eine einzige Katastrophe!“
Er hatte Frederico auf seine übliche Türkeifahrt mitgenommen, weil
er als erster in die neue WG kam. Täglich habe es während der
Fahrt Haferflocken gegeben. Haferflocken mit Milch und als die Milch
ausging, Haferflocken mit Wasser. „Gerade Frederico fluchte immer
über diesen Fraß! Als ich aber später mal nach Hause kam, sah ich
nur noch einen mit 'n Plastiktüte aus der Küche verschwinden. Das
war Frederico, der tat so schämig. Und ich dachte mir, was hat der
denn und will wissen, was in der Tüte ist. Da kriegt der 'n hochrotem
Kopf. Kauft der sich beim Aldi eine ganze Plastiktüte voll Haferflocken. Ausgerechnet der! Was hab ich gelacht.“ Sonst wurde Ziegler
meist aggressiv, wenn von Frederico die Rede war, und klassifizierte
ihn: „Der is doch so doof wie Scheiße! Mein Gott war der doof! Sonderschule S! — Ess!!“ Er hatte Monas Sympathien schnell bemerkt
und kitzelte das Interesse. Deshalb erfand er Geschichten, wie die
mit den Haferflocken und log mindestens soviel wie seine Heimkinder. Sein Urteil störte Mona nicht. Im Gegenteil, der Typ konnte nicht
doof und asozial genug sein. Um so interessanter war er und bestätigte alle Klischees.
160
Dann aber hielt Ziegler die Frist des Ultimatums nicht ein und blies
schon am Sonntag zum Angriff. Vor der Räumung musste er das
Zimmer fotografieren, er wollte die Arbeitszeit von Frederico bezahlt
haben. Es war ihm wohl zu ruhig, außerdem sollte der fünfzehnjährige Stricher, der seit Wochen sein Wohnzimmer blockierte, das Zimmer bekommen. Weil Ziegler überzeugt war, dass Frederico am
nächsten Tag sowieso nicht kommen würde, schleppte er zehn Fotoapparate an. Mit technischen Utensilien war die gesamte WG bestens versorgt. Jeder hatte Kassettenrekorder, Tonband, Schallplattenspieler und eine Flimmerkiste. „Das ist doch viel sinnvoller, als
wenn sich die Typen nächtelang in der Stadt rumtreiben, die Sitze in
den Straßenbahnen aufschlitzen und Dope nehmen.“ Als er ins
Zimmer kam, hatte Mona mit zwei Typen angefangen aufzuräumen.
So ging das natürlich nicht, er brauchte schon das nötige Chaos. Er
wühlte alles wieder durcheinander und ermunterte die anderen mitzumachen. Begeistert waren die Spinner dabei und nicht nur, weil
ihnen ein Geschenk auf Kosten des Brasilianers versprochen worden war. Das Zimmer sah nach der Aktion schlimmer aus als zuvor.
Endlich konnte Ziegler fotografieren und gönnte allen einen Lacherfolg. Wenn er sich als Depp gebärdete, wickelte er seine Leute ein.
Er knipste aus jeder Lage, um möglichst viel Chaos draufzukriegen,
zwei Apfelsinenkisten krachten prompt unter ihm zusammen. Natürlich hatte er rechtzeitig abgedrückt, er lachte fett vor sich hin. Der
Stricher meinte dazu: „Wenn er gekonnt hätte, hätte er auch von der
Decke aus fotografiert.“
Mona kannte Frederico fast nur aus Erzählungen. Sie waren sich ein
paar Mal — meist auf der Straße begegnet. Aber gerade diese Abwesenheit machte den Typ so interessant. Sie fand lediglich Überreste und erinnerte sich oft an die erste Begegnung. Sie wusste damals noch nichts von der WG, hatte das Gebäude aber schon eine
Weile beobachtet und bemerkt, dass komische Leute aus dem Haus
kamen. Mit den Typen stimmte etwas nicht. Vor Ge hatte sie betont,
was für ein schöner Altbau das sei. Einmal, als sie abends nach
einem Hundespaziergang vorbeikamen, hatte Ge es sich nicht verkneifen können zu bemerken: „Hier riechts nach gutem Shit!“ Patty
war mit einem Joint aus dem Haus gekommen und zu Frederico in
den Wagen gestiegen. Er hatte nicht reagiert. Später begegnete
Mona Patty fast jeden Morgen auf der Straße und sie flirteten miteinander, niedliche Augenspiele. Einmal morgens, es regnete in Strömen, kamen ihr Patty und Frederico entgegen. Die beiden alberten.
Sie drehten ihre Schirme, bis die am Handgelenk stoppenden Griffe
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immer wieder die Bewegung ruckartig unterbrachen. Das Wasser
klatschte im Schwall weg. Frederico meinte einfach: „Guten Morgen“.
Mona erwiderte: „Guten Morgen.“ Die beiden Typen lachten, hatten
wohl keine Reaktion erwartet. Frederico meinte im Vorübergehen:
„Schickes Weib!“ Mona war nicht klar, ob er vor sich hinredete oder
ob er bestätigte, was die Typen zuvor besprochen hatten. Der altertümliche Ausdruck stieß sie ab, darauf konnte sie nichts sagen. Von
nun an begegnete sie nur noch Patty, sie grüßten sich jeden Morgen. Wie Mona später erfuhr, hatte Frederico ein Auto, ein KadettKupee, wie ihr Alter. Er fuhr gewöhnlich zur Arbeit. Mona bekam
Frederico lange Zeit nicht mehr zu Gesicht, nur noch Akten über ihn:
drei Akten aus dem Heim und die Strafakte mit der Bewährungsfrist
vom Amtsgericht Tübingen. Sie konnte nachlesen, dass Frederico
1957 geboren wurde — und freute sich: Sie hatten das gleiche Alter!
Sie traf einmal auf Frederico in der WG. Kurz vor dem Ultimatum, als
er Patty besuchte. Ziegler war gerade nicht da. Patty hatte kurz angemerkt: „Ich bekomm nachher Besuch und möcht euch bitten zu
gehen.“ Außer Mona waren zwei Typen im Zimmer, die unpassende
Bemerkung wurde übergangen. Es klingelte, der angekündigte Besuch kam. Mona saß mit dem Rücken zur Tür auf dem Boden und
drehte sich um — Frederico stand auf der Schwelle. Einen Augenblick schien er total verunsichert, zappelte, blieb linkisch stehen, kam
nicht herein. Mona fand diese Verwirrung extrem, jeder Normalverbraucher hätte versucht, Schwächen zu überspielen. Außerdem
hatte sie ihm überhaupt keine Unsicherheit zugetraut, eher erwartet,
dass er sich freuen würde, sie zu sehen. Patty grinste und schwieg.
Frederico fixierte ihn einen Augenblick, dann ging er durchs Zimmer
und nahm sich den einzigen Stuhl. Mona wunderte sich, bei Patty
hockte man eigentlich auf dem Boden. Als Frederico saß, begann er
sofort zu flirten und fixierte sie. Überaus freundlich, ohne Unsicherheiten, mühelos ohne wegzuschauen, lächelnd, sie war gewohnt
Augenspiele zu gewinnen, aber nach kurzer Zeit war klar, gegen ihn
hatte sie keine Chance. Er war noch extremer, als Mona erwartet
hatte — sie wurde unsicher. Solche Umschwünge kannte sie nicht
und schaute weg, bis sie annahm, er hatte genug. Aber dieser
Schwachsinnige wartete, sein herausfordernder Blick überschritt
jedes konventionelle Maß. Wenig sozialisiert, dachte sie und fing
sich mit früheren Beobachtungen: All diese Typen rückten einander
auf die Pelle, wenn sie zusammenstanden, persönliche Distanzen
nahmen die nicht wahr. Das richtige Verhältnis aus Nähe und Distanz konnte einer, über den nur verfügt wurde, wohl nicht beherr-
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schen. Ziegler ebnete Abstände systematisch ein, wenn er jemanden
vereinnahmen oder einschüchtern wollte. Gesprochen wurde wenig,
zwei oder drei Sätze, die Mona nicht verstand; die Typen sprachen
nie viel. Frederico hatte nur einen Helm bei Patty abholen wollen,
kurz darauf fuhr unten ein Motorrad vor. Das war für ihn; er schaute
aus dem schrägen Dachfenster, Patty machte das auch immer. Mona rätselte warum, denn man konnte nicht auf die Straße runtersehen. Frederico verabschiedete sich nur von Patty. Ihr fiel auf, dass er
ihm die Hand gab. Das sprang ins Auge: Sie sprachen fast nichts,
während diese Geste sehr sprechend war. Sie nannten sich sogar
beim Vornamen!
Pattys Zimmer war schön eingerichtet, obwohl die Möbel nur vom
Sperrmüll stammten. Man sah, dass er Wert auf Äußerlichkeiten
legte. Nur den Teppichboden, mit dem Ziegler jedes Zimmer ausstattete, zerstörte er mit immer neuen Brandlöchern. Dafür saugte er
regelmäßig, um keinen Krümel im Zimmer zu haben. Jedes Mal,
wenn Ziegler das Zimmer betrat, tobte er: „Patty, schon wieder ein
neues Brandloch! Du miese Ratte, du! Den Teppichboden ersetzt du
mir auf Heller und Pfennig, wenn du hier ausziehst!“ Auf so etwas
antwortete Patty nicht, er schien aber interessiert zuzuhören. Genörgel, selbst größte Schweinereien wurden als selbstverständlich und
positiv hingenommen, die Sprache verstand jedes Heimkind. Wenn
Mona rumbrüllte, konnte es passieren, dass Patty zu ihr sagte: „Was
schreist denn so? Du wärst ein guter Erzieher geworden.“ Einmal
hatte sie den Fehler gemacht und Patty gelobt. Er wurde misstrauisch, ging zu Ziegler und meinte: „Du, ich glaub, die hat was gegen
mich.“ An den Wänden hingen Fotos seiner Freundinnen und ein
geklautes Schild: Rauchen verboten. Das hatte keine weitere Bedeutung, bei Patty wurde geraucht und gekifft. Kiffen gab er nie zu; wenn
Ziegler den eindeutigen Geruch in seinem Zimmer ansprach, meinte
er: „Das kommt von draußen rein.“ Ziegler erzählte, wie er Patty
einmal geärgert hatte. Der saß mit einem Kumpel abends in seinem
Zimmer und beide waren wie üblich stockzu. Sie kicherten nur noch
blöde herum. Egal was man zu ihnen sagte, alles war: „Hihihi“. Platten liefen, meist Genesis oder Supertramp, und die Flimmerkiste war
an. Ein Bekannter vom Rauschgiftdezernat hatte Ziegler besucht und
war mit zu Patty hochgegangen. „Da hab ich gesagt: Du Patty, das
ist der Herr Soundso vom RD. Du hättest sehen sollen, wie Patty
blass wurde, immer blasser wurde der“, erzählte Ziegler und ließ den
Sadisten raushängen. Pattys Freundin hatte den berühmten Spruch
Kahlil Gibrans mitgebracht, und er hatte ihn an die Wand geheftet:
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Deine Kinder sind nicht deine Kinder. Sie sind die Söhne und Töchter der Sehnsucht des Lebens nach sich selbst. / Sie kommen durch
dich, aber nicht von dir, und obwohl sie bei dir sind, gehören sie dir
nicht. / Du kannst ihnen deine Liebe geben, aber nicht deine Gedanken, denn sie haben ihre eigenen Gedanken. / Du kannst ihrem Körper ein Heim geben, aber nicht ihrer Seele, denn ihre Seele wohnt
im Haus von morgen, das du nicht besuchen kannst, nicht einmal in
deinen Träumen. / Du kannst versuchen, ihnen gleich zu sein, aber
suche nicht, sie dir gleich zu machen. / Denn das Leben geht nicht
rückwärts und verweilt nicht beim Gestern. / Du bist der Bogen, von
dem deine Kinder als lebende Pfeile ausgeschickt werden. / ... .../
Lass deine Bogenrundung in der Hand des Schützen Freude bedeuten.
Als Mona den Spruch entdeckte, hatte Patty sehr stolz gemeint: „Der
is gut.“ Ihr war klar, er verstand den Inhalt nicht. Die Freundin brachte auch 'Die neuen Leiden des jungen W.' mit. „Ja, ich bin schon
dahinter gekommen“, meinte Ziegler. „Patty rückt sogar nach einiger
Zeit das Buchzeichen weiter.“
Nachdem das Waschbecken einigermaßen sauber war, nahm Mona
sich die Tür vor. Frederico malte. Als Einziger hatte er seine Tür
nicht braun angestrichen, sondern den unteren Rand mit einem Blumenmuster verziert — an die Blumen ließ sie keinen ran. Sie
schrubbte um das Muster herum, die Farben waren nicht wasserfest
— laut Ziegler hatte er die Eierfarben selbst angemischt. Fredericos
Zimmer war beeindruckend, unmöglich eingerichtet, ein Chaos: Drei
Schränke in drei verschiedenen Größen, vom Kleiderschrank bis
zum Nachtkästchen, in drei verschiedenen Holzarten. Eine Matratze,
unter der er Zieglers geklaute Post versteckt hatte. Kartons, Schuhe,
das vertrocknete Lebkuchenherz, ein paar Bilder. Einen Obelix entdeckte sie, nur Kitsch, aber gut gemacht. Dann Briefe von Behörden,
die sie auf einem Stapel sammelte. Ziegler hatte öfter gelästert:
„Wenn man in Fredericos Zimmer kam, klebte und knirschte es vor
lauter Dreck unter den Schuhsohlen.“ Sein prädestinierter Ausspruch
hieß: „Du verkommene Drecksau mit deinen Milch- und Wichsflecken! Mona, ins Waschbecken hat der gepinkelt! Ich hab immer dazu
gesagt: Scheiß doch da rein und rühr mit dem Finger drin rum!“ Begeistert bohrte er mit dem Zeigefinger Löcher in die Luft.
Zwei Typen halfen Mona, sie waren auch aus dem Heim geflogen.
Philly war vierzehn Jahre alt und sah aus wie ein Neunjähriger. Er
war im gleichen Heim aufgewachsen wie schon seine Mutter. Nachdem er vierzehn Fensterscheiben eingeworfen hatte und mit dem
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Messer auf Türrahmen losging, kam er in die WG. Ziegler hatte sich
die humane Akte kommen lassen und an den wichtigen Stellen
nachgeschlagen: „Mona, schon wieder einer unter 90! Die drehen
mir nur noch solche an. Legastheniker. Und da steht auch noch:
Verdacht auf Gehirnschaden. So einfach machen die sich das.“ Sie
hatte selbst in der Akte nachgeschaut, der IQ war tatsächlich mit 85
angegeben. Ziegler wollte ihn nicht behalten, aber er fand so schnell
kein neues Heim. Schließlich meinte er: „Philly, wir stecken dir 'n
Fünfzigmark-Schein ins Haar und stellen dich damit auf die Straße.
Mal sehen, ob dich einer nimmt!“ Für ihn gab es nur einen sogenannten Notraum: Eine Dachkammer, runde fünf Quadratmeter.
Platz für eine Matratze, eine Flimmerkiste auf einem Schränkchen,
einen Kindercampingstuhl, ein Tischchen, an dem er später Hausaufgaben machen sollte. „So schlecht ist das Zimmer gar nicht“,
räsonierte Ziegler. „Ich kenn Heime, da würden sie zwei in so einem
Raum unterbringen.“
Gegen die unerträgliche Hitze hatte Ziegler bald eine Lösung gefunden: Das Klappfenster wurde mit einem blauen Müllsack zugehangen. Von Phillys Vorgänger stand noch eine leere, mit einem Pariser
überzogene Bierflasche im Schrank. Ziegler hob das Ding triumphierend hoch: „Mona, ich will dich ja nicht beleidigen! Aber das war
doch typisch.“ Er konnte mittlerweile darüber lachen. Der Typ war
schon nach drei Monaten gegangen — eine gelungene Therapie.
Während er in der WG wohnte, riefen immer wieder Nachbarn an
und beschwerten sich: Der hatte die gebrauchten Pariser aus dem
Fenster geworfen. Ziegler fand für seinen Neuzugang eine Zeitlang
keinen Platz in der richtigen Sonderschule. „Für jeden hat die Schule
begonnen, nur für mich nicht“, jammerte der ständig vor sich hinquasselnde Philly. Ziegler stellte trocken fest: „Der Kleine bekommt
schon richtige Komplexe, wenn ich nicht bald eine Schule für ihn
finde. Ich kann ihn aber nicht in jede Schule stecken! Ich brauche 'n
Sonderschulzug L für den!“ Als Mona später Phillys Schulaufgaben
durchsah, wurde er unsicher und schämte sich, er wollte sie erst
nicht zeigen. Mona war verblüfft, was die durchnahmen: Daß man so
etwas überhaupt lernen mußte. Darauf reagierte Philly gereizt: „Ich
werd ja auch bloß Fließbandarbeiter!“
Der zweite Typ sollte Fredericos Zimmer bekommen. Charly war
fünfzehn und ging auf den Bahnhofstrich; ständig war er mit einem
älteren Schwulen zusammen. Ziegler mochte diesen Einfluss überhaupt nicht. Charly war nicht schwul, er machte mit und meinte über
seinen Freund: „Der braucht das eben.“ In den ersten Tagen sollte
165
Charly Brot beim Aldi holen. Er kannte sich in Stuttgart nicht aus,
Ziegler erklärte ihm den Weg. Trotzdem kam er erst nach anderthalb
Stunden zurück. Es gab ein Donnerwetter: „Beim Holger bumsen
warst du! Gibs zu! Eine Nummer hat der gemacht!“ Charly gab nichts
zu: „Ich hab den Aldi nicht gleich gefunden.“ Er war clever und ahmte
Zieglers Sparsamkeitsfimmel nach. Ziegler zählte nämlich bei den
verschiedenen Waren immer auf: „Die hättest du beim Aldi für zwei
Mark bekommen!“ „Und in der Metro für fünfzig Pfennig!“ ergänzte
Charly. „Du hättest den Alten auf dem türkischen Basar handeln
sehen sollen. Nicht zu unterscheiden von 'n Türken!“ Ziegler hatte
auch ihn auf eine Türkeifahrt mitgenommen und weil er sich gut führte, behielt er ihn in der WG. Patty bekam bald mit, dass bei Charly
gekifft wurde. „Die nehmen ja Drogen da drüben. Ne Scene, die kiffen die ganze Zeit“, meinte er übertrieben empört. Ziegler dagegen
lobte ihn: „Auf Charlys Kennerblick ist Verlass, er bekommt sofort
mit, wenn ein Junkie auf Schuss ist.“
Charly war mit der Sonderschule fertig und musste zur Beratung
aufs Arbeitsamt. Mona erkundigte sich, was rausgekommen sei.
Charly vertrat eine erstaunliche Ansicht: „Ich werde entweder Arzt
oder Rechtsanwalt. Bei allen anderen Berufen verdient man ja kein
Geld. Das lohnt sich nicht.“ Er ließ sich genau beschreiben, welche
Möglichkeiten er hatte: Zuerst die Aufnahme in einer Hauptschule,
Hauptschulabschluss, eine dreijährige Berufsausbildung, dann
Abendgymnasium, Studium. Es klang ganz vernünftig, wenn man
nicht gewusst hätte, um wen es sich handelte. Charly fand es richtig,
dass die Bezeichnung Sonderschule eingeführt worden war und es
nicht mehr Hilfsschule hieß. Mona fand die Geschichte umwerfend
komisch und wollte Zieglers Meinung hören — allein, dass der Typ
sich traute, so etwas auf dem Arbeitsamt zu fragen. Ziegler winkte
nur ab, das war jetzt kein Thema. Er hatte ganz billig und gebraucht
zwei riesige Kühlschränke mit abschließbaren Fächern organisiert.
Die Leute sollten sich nicht ständig gegenseitig die Lebensmittel
klauen. Jetzt war er stinksauer. Am Herd hatte er ein durchgebrochenes Messer entdeckt, beide Teile waren aneinandergelegt. „Den
Kühlschrank hat dieser Stricher geknackt! Um dem Kleinen ne Milch
rauszuholen!“ schrie er. „Dem Patty wollte der imponieren! Kein
Wunder, wenn die alle im Knast landen!“
Nachdem sie Fredericos Zimmer geräumt hatten und die Reste in
grauen Müllsäcken verstaut worden waren, half Mona beim Einräumen von Charlys Zimmer. Bisher hatte er einen Stock tiefer auf der
Couch geschlafen. Sie wunderte sich erneut, wie wenig diese Leute
166
hatten — eigentlich nichts. Er wickelte einen weiß-roten Schal sorgfältig um Fenster und Tisch; ein Flokati aus Griechenland, Ziegler
hatte ihn gekauft, kam in die Mitte des Zimmers. Matratze und Kleiderschrank behielt er, die restlichen Schränke durfte er umtauschen.
Ziegler hatte auf dem Dachboden ein Sperrmülllager. Charly konnte
zwar keine Miete bezahlen, aber das war vorerst egal, durfte nur
nicht weitererzählt werden. Dabei hatte Patty gleich zu Beginn bei
Charly nachgefragt: „Was du wohnst hier? Zahlst du auch Miete?
Also, dann wohnst du auch nicht richtig hier.“
Am nächsten Morgen beim üblichen Frühstück auf Zieglers Terrasse
begann Philly Politiker aus dem Fernsehen zu zitieren. Er sprach
manche Wörter falsch aus: „Der Bunsleskanzler Helmut Schmidt hat
gesagt...“ Ziegler unterbrach ihn sofort und brüllte los: „Der Bundeskanzler Helmut Schmidt!“ Philly nahm den zweiten Anlauf: „Der
Bunsleskanzler Helmut Sch...“ Ziegler schrie auf ihn ein: „Der B u n d
e s k a n z l e r!!“ Philly war verbohrt: „Der B u n s l e s k a n z l e r!“
Ziegler brüllte noch lauter: „Der B u n d e s k a n z l e r Helmut
Schmidt! Mich interessiert deine Geschichte nicht, wenn du das
falsch aussprichst! Du kannst das nämlich, wenn du dich anstrengst.
Bundeskanzler!“ Philly probierte: „Der Bundeskanzler Helmut
Schmidt ...“ Ziegler lobte ihn: „Gut! Na also! Was hab ich gesagt, du
kannst das! — Du Mona, ich glaub, der hat doch 'n Gehirnschaden!“
Zum Frühstück gab es wie immer Kaffee, Brot mit Wurst oder Marmelade. Philly nahm einen Löffel Zucker nach dem anderen, bis die
Tasse zu einem Drittel voll war. „Hör auf zu zuckern!“ schrie Ziegler.
Die Leute nahmen alle so viel Zucker, rührten aber nicht richtig um;
am Schluss wurde die klebrige Pampe weggekippt. Nach einer Weile
zuckerte der Kleine weiter: „Der ist noch nicht süß!“ „Hör auf zu zuckern!“ schrie Ziegler wieder. „Zur Strafe kriegst du heute keine
Wurst aufs Brot!“ Bei Ziegler gab es aus Zeitgründen nur zwei Mahlzeiten pro Tag. Man musste sich morgens ordentlich voll knallen,
damit es bis abends anhielt. Philly begann trotzig, systematisch ein
Marmeladebrot nach dem anderen zu streichen. Ziegler bohrte: „Gell
Mona, die Wurst schmeckt gut! Mmh schmeckt die Wurst gut. Philly,
du glaubst ja gar nicht, wie gut die Wurst schmeckt, mmh!“ Unappetitlich schmatzte und mampfte er Philly vor. Der Kleine nahm den
morgendlichen Kampf gegen die Wespen auf. Anfangs hatte er nicht
auf der Terrasse frühstücken wollen, die Viecher stressten zu sehr.
Ziegler hatte vorgeführt, wie man damit umging und zerteilte oder
zerquetschte sie mit dem Brotmesser: „Schau dir das an, Mona! Die
stechen immer noch!“ Gern stocherte er in abgeschnittenen Hinter-
167
teilen herum. Philly lauerte, angespannt hielt er sich am Messer fest
und aß. Den Arm angewinkelt, wartete er verkrampft, bis eine Wespe
stillhielt. Dann klappte das Messer aus der Senkrechten in die Waagrechte, er kniff die Augen zu. Ziegler erlegte pro Morgen zehn Wespen, mit Phillys Hilfe fünfzehn. Trotzdem wurden es nicht weniger, in
der Nähe musste ein Nest sein. Mona rauchte und hatte Ruhe. Eine
Wespe kreiste über einem seiner Brote. Mona schaute interessiert
zu und überlegte, wie er das Problem lösen würde. Philly schlug zu.
Als er das Messer hochhob, steckte sie verkrümmt im Marmeladebrot. Angewidert schnitt er das Stück mit der toten Wespe raus.
Später klingelte es. Ziegler telefonierte gerade, Mona ging an die
Tür. Frederico kam, es war halb zwölf. Er blieb unsicher vor der Tür
stehen und streichelte die Hunde. Mona wusste, Ziegler wollte nicht,
wenn sie Infos rausgab und flüsterte: „Du kommst wegen dem Zimmer. Das hat er gestern schon ausräumen lassen.“ Er nickte nur.
„Wer ist denn das?“ polterte Ziegler im Hintergrund. Weil sie nichts
antwortete, wurde er aggressiv: „Wer ist denn das! Frederico! Jetzt
kommst du daher! Eine halbe Stunde vor Ablauf des Ultimatums!
Pass auf mit dem Hund, du weißt ja!“ Mona hatte schon ein paar Mal
mitbekommen, wenn das siebzig Kilo schwere Monster zuschnappte.
Für Notfälle hatte Ziegler Tetanolampullen im Schrank, er spritzte die
Leute eigenhändig in den Hintern. Sie wusste, dass ihr nichts geschehen würde, der Hund konnte sehr genau unterscheiden, wer auf
der Abschussliste stand. Aber sie hoffte, dass der Scheißköter diesmal nicht zubiss. Ziegler hielt seine Hunde so, dass er im Ernstfall
immer behaupten konnte, der Gebissene sei selbst schuld gewesen.
Der Brasilianer zeigte keine Schwäche, er streichelte ein paar Mal
beiden Tieren über den Rücken und zog dann die Hand vorsichtig
zurück. Nachdem die Einschüchterung nicht funktioniert hatte, schrie
Ziegler wie ein Besessener: „Du hast das Ultimatum nicht eingehalten! Das ist viel zu spät Frederico! Drei Leute haben das ganze Wochenende dran gearbeitet, das Zimmer zu räumen. Deinen ganzen
Dreck! Du hast das Ultimatum nicht eingehalten!“ Frederico sagte
nichts, gab abfällige Laute von sich und verschwand wieder im Aufzug. Ziegler brüllte ihm hinterher: „Frederico, du hörst von mir über
das Amtsgericht Tübingen wegen der Rechnung!“
I will follow you will you follow me / All the days and nights that we
know will be / I will stay with you will you stay with me / Just one
single tear in each passing year / I will follow you ...“ (Genesis 1978)
168
Stolpersteine im Bücherregal:
Ziegler
ließ gelegentlich durchblicken, dass Mona mindestens so asozial sei,
wie seine Heimkinder. Das juckte sie wenig. Nach ein paar Monaten
überredete sie Ge mitzukommen. Er lehnte Sozialarbeiter und Psychologen ab, witterte Verdummungsdressuren und Ersatzpapis; der
Arsch Ziegler hatte ihn zum Borderliner erklärt, um gleich ein Abhängigenregister zu ziehen. Anscheinend wollte sie Ziegler zeigen, was
sie in der Hinterhand hatte; der tat ausgesucht freundlich und führte
Ge in seine Bibliothek, empfahl Bücher und versuchte, ein paar zu
verleihen. Sie schien sich lustig darüber zu machen, denn bei Problemfällen half kein Bücherwissen. Ge hörte zu, deutete den Umfang
seiner Leseliste an und ignorierte Vereinnahmungen wie gewohnt.
Ein freundliches Geplänkel, Ziegler schwächte die frühere Verwünschung ab: Ge sei eben ein Katzenmensch.
Die behauptete Asozialität schien Mona egal, sie meinte einmal: „Der
braucht die Heimkinder gegen den Vater im eigenen Kopf.“ Als er
schließlich keinen Unterschied mehr machte und sie anfegte, wie
jeden anderen in der WG, ging sie nicht mehr hin. Das hatte sie nicht
nötig. Ein Restbestand ihres Interesses durfte ästhetisch entschärft
aufbewahrt werden: Obwohl Frederico kein Wort portugiesisch verstanden hatte, verdankte sie ihm die Anregung Brasilien. Sie besuchte Kurse und überredete ihren Alten, auch portugiesisch zu lernen. Filme wie 'Supermarkt', 'Die letzten Tage der Kindheit', 'Das
Ende des Regenbogens' oder 'Gibby West Germany' musste sie
sehen. Ge lehnte den Spracherwerb als sinnlose Beschäftigungstherapie ab, ins Kino kam er mit. Die Filme lösten bei Ge immer die
gleichen Gedanken aus: Ich will mich nicht mit diesen kaputten Typen relativieren. Immer das beschissene Gefühl, dass mir nur dumme Zufälle einen Ziegler erspart haben. Mona rieb ihm unter die
Nase: „Diese Leute verstehst du doch nicht, du hast gelernt, Verantwortung zu tragen und genau das können die nicht. Ich übrigens
auch nicht,“ fügte sie lachend hinzu. Ihre Besuche bei den Alten
wurden häufiger, und sie fühlte sich eine Zeitlang nicht wohl, wenn
sie an der WG vorbeigehen musste.
Monas Selbsttherapie mit den Heimkindern schien anfangs der Abwehr der Elternwelt zu dienen; die eingesammelten Erfahrungen
widerlegten diesen Versuch. Gegen die heile aber stillgestellte Welt
versprach der Umgang mit Asozialen eine Entlastung von den
Zwängen der Lebensangst und der Sicherheitsdressur. Ge hatte
gehofft, seine Freundin werde bei dieser Gelegenheit lernen, dass
die Wirklichkeit härter sei, als die Geschwätzwelt, aber auch echter.
169
Vor allem sollte sie sehen, dass es nichts umsonst gab. Sie hatte
Geschenke und Zuwendungen mitgenommen, ohne etwas zu schätzen, Gegenleistungen waren nicht zu erwarten — wofür war sie
schön. Die Hoffnung täuschte. Wieder schmiss Mona eine Sache hin
und verschwendete psychische Energien, um nichts aus der Sache
zu lernen! Ge konnte zusehen, wie sie sich ganz bewusst am Geschwätz der Elternwelt ausrichtete: Der warme Wind schien das
harmloseste Therapeutikum. Und die Institution, in der sie jobbte,
lieferte wichtige Gesprächsthemen und Reizvorstellungen: Referenten, Dezernenten, Doktoren und Professoren; sie konnte vor ihrem
Alten angeben.
Wehmütig stellte Ge fest, dass das Interesse an Abseitigkeiten nur
eine Pseudoalternative zur Norm gewesen war, das vorprogrammierte Scheitern bestätigte ihre Elternwelt. Er hatte wohl nur gereizt,
solange seine Alternative als Selbstzerstörung zu interpretieren war.
Domestiziert und auf die Beziehung umgestellt war er uninteressant
geworden.
Nach dem Ersatzdienst trat er ein rigoroses Autonomietraining an;
den Verwaltungskrüppeln fehlten glücklicherweise die Maßstäbe —
sie hätten ihn sonst mehr behindert. Auf der Uni ging er Beamtenkindern aus dem Weg, was sollte das Geschwätz, da wurde die Intelligenz systematisch durch Subalternität gemindert. Es kostete Enttäuschungen, bis die Beziehungsarbeit mit Mona anlief: Hoffnungslosigkeit und Ausgeliefertheit dienten als Sprungbretter lebenswichtiger Einsichten. Er war mit großen Erwartungen in ein Paranoiaprogramm reingerutscht, und jeder kleine Erfolg machte sein Scheitern
zwingender. Die Erinnerungen an Schizotraining lieferten ihm ein
Waffenarsenal, ein jüngerer Ableger hieß Lesetechnik. Gelegentlich
wollte er den Krempel hinschmeißen und alleine weitermachen, aber
er kannte genug unverbindliche Beziehungen, um keine Wahl zu
haben. Er wusste, was der übliche Schwachsinn lehrte. So ergab
sich eine psychische Arbeitsteilung: Weil ihm die Wünsche ausgingen, wurde er Wunscherfüller seiner Freundin, verwandelt in ihren
Zitatlieferanten. Wenn sie schmarotzte, ohne ihn ernst zu nehmen,
meckerte er und zog sich zurück. Er hatte die Schwachköpfe waren
aus seinem Leben verscheucht, angefangen bei der Familie; es blieben ein paar tausend Bücher, er hatte genug zu tun. Abwarten und
dazulernen, das war langwierig und traurig! Und doch begann er mit
den Jahren ein Erfolgsrezept zu erahnen. Jedes Mal, wenn er fast
kaputt war, wenn das Selbst in Trümmer ging und er die Geschichte
170
trotzdem durchstand, wuchs sein Durchsetzungsvermögen. Er hatte
bei jedem weiteren Anlauf bessere Voraussetzungen.
Zwei Register, in denen die Negativität und Lebensfeindlichkeit der
Welt, in der Ge aufgewachsen war, bewahrt wurden, schmuggelten
über Hintertürchen uralte Sozialisationsaufträge ein. Selbstbestrafung lauerte im Narzissmus, Subalternität klebte am verheißungsvollen sozialen Aufstieg. Nach und nach verstand er den Grund. Manche Enttäuschung führte vor Augen, wie schwachsinnig dieser Ballast durchs Leben geschleppt wurde. Was für ein Schund mit dem
dauernden Selbstbezug verbunden war: Das ganze Theater verbarg,
dass hinter dem Selbst ein anderer das Sagen hatte! Erst diese Einsicht annullierte den destruktiven Auftrag in seiner Biographie: Warum die Mühe, es gab schon genug äußere Behinderungen, die ein
sinnvolles Leben erschwerten! Während des Studiums wurde ihm
klar, wie wenige Probleme tatsächlich seine Probleme waren. Er
hatte durchzukauen, was seine Prägung mit dem allgemeinen
Schwachsinn verband, um Abstand zu nehmen. Jeder hielt eine
kleine Macke für einzigartig und investierte Energien in den heimlichen Selbstbetrug, sie aufzupolieren. Die Neurose lieferte Halt und
Sicherheit, so wusste man immerhin, wer man war — aber sie war
ein tönernes Fundament aufgeblasener Individualitäten.
Die Abseitigkeiten waren Ge nicht mehr anzusehen, sie fanden als
intellektuelle Erkundungen statt. Wenn es so etwas wie Castanedas
Nagual überhaupt gab, dann im eiskalten Reich der Schrift — er ließ
sich inspirieren und wurde Schamane im Bücherregal. Ein paar Wiedergeburten im Geiste und das anschließende Einsamkeitstraining
machten aus destruktiven Tendenzen ein kritisches Sensorium: Die
spaltenden und verkrüppelnden Auswirkungen der verwalteten Welt
waren Schritt für Schritt aufzudecken. Beweglichkeit und Bewusstsein der eigenen Wünsche sollten erhalten bleiben, dank dieses
Wissens — mit dem Resultat: Seine Kritik wurde fundierter und er
zog sich aus der Welt zurück. Die aus der Zentralsterilisation stammende Disziplin war auch für Lesetechniken einzusetzen; er ließ sich
nicht mehr auf fruchtlose Diskussionen ein: das waren doch Sandkastenspiele der politischen Emanzipation, bei denen das bisschen
vorhandene Energie verpuffte. Außerdem machte Ge die bösartige,
aber meist zutreffende Feststellung: Auf der Uni liefen fast nur unterdurchblutete Arschlöcher rum. Er suchte nach Lösungen jenseits der
vielen Pseudos.
Zu Beginn des Studiums hatten Monas Alten Ge zum Sonderling
erklärt, mittlerweile versuchten sie ihn lächerlich zu machen. Er igno-
171
rierte ihre Störversuche und wappnete sich mit härtesten Analysen
der Beamtenwelt. Die erarbeitete Gesellschaftskritik zeigte, was von
den Surrogaten und vom Sicherheitswahn zu halten war — die modernisierte Norm prägte integrierte Asoziale!
Ein Axiom von Monas Erziehung hatte gelautet: Mal schauen, wie's
die andern machen. Diese andern waren keine primitiven Arbeiter,
keine verstressten Karrieretypen, erst recht keine akademischen
Besserwisser. Die Alte fand Arbeiter primitiv; der Alte vertrug keine
Akademiker, weil seine Brüder studiert hatten; von Karriere war keine Rede, wozu die Sicherheit einer Lebensstellung. Diese andern
waren Beamte wie du und ich! Sie wohnten in Beamtenhäusern,
gingen mit Beamten wandern, kegeln, Skat spielen oder saufen,
schauten im Fernsehen Sendungen für den verwalteten Arsch. Falls
etwas anders lief, als bei den andern, griff man zur Selbstbestrafung
— man tat sich dieses Scheitern gern an, man wollte schließlich
wissen, was auf einen zukam. Nichts durfte vom Dienstweg, von den
Regelungen, von den andern abweichen. Maximen der Sozialität und
Kommunikativität waren oft nebensächlich, in vielen Fällen sogar
Störfaktor. Eine Theologie der Verwaltung modellierte intimste Ängste und Entlastungen: Alles war vorgegeben, was wollte man mehr!
Ein Jahrzehnt der Reformen wäre von vielen als Belastung verbucht
worden, wenn nicht im Hintergrund die feste Gewissheit bestanden
hätte: Das änderte doch nichts am Gewohnten. Man gab sich progressiv und hatte Teil an einer allgemeinen Informalisierung, um dann
doch nichts zu verändern.
Die Energien wurden absorbiert von der nächsten Beförderung, dem
nächsten Urlaub, dem nächsten Auto, dem nächsten Fest, dem
nächsten Wochenende. Die hohlsten Erwartungen hechelten einem
stumpfsinnigen Trott der Instanzenwege voraus, und die Gegenwart
war entwertet. Wenn der Weltkontakt ausgedünnter wurde, hatten
Besäufnisse, Fressriten und Hungerkuren die Lebensintensität zu
ersetzen. Ärzte und andere Spezialisten stellten die letzten Nischen
bereit, in denen Körper und Mitteilungsbedürfnis ernstgenommen
wurden. Auf die Dauer hatten psychosomatische Leiden zu beweisen, dass es einen überhaupt gab.
In solchen Zusammenhängen übten sich Monas Eltern an einer kleinen Show der Progressivität: „Ich stell mir doch nicht alle zwei Jahre
eine neue Blechkiste vors Haus! Ich bin doch kein Schwabensäckl,
der sich sein Häusle abspart! Ich zahl doch nicht in schmarotzende
Versicherungen rein!“ Abweichungen und kritische Sprüche wurden
modisch kultiviert. Sie waren zufrieden mit dem Beamtenstatus,
172
nichts ging ihnen über ihre Sicherheit. Für die Verwaltung nötige
Minderwertigkeitsgefühle wurden verdrängt und dann als Beamtenhetze wiedererkannt. Eine sekundäre Übernahme der Feindbilder
bewies: Es gab unmögliche Beamte, aber sie waren ganz anders!
Anhand reaktionärer Bekannter durften sie zeigen, wie aufgeschlossen und modern sie waren; Schlagworte und Lautstärke ersetzten
den Durchblick. „Ich wähle SPD! Ich habe nämlich etwas gegen das
C in der CDU! Der Papst ist tot! Habemus papam!“
Einmal lieh Mona dem Alten Vespers 'Reise'. Sie wollte ein paar
Kleinigkeiten genauer wissen, denn sein Vater war Nazischriftsteller
wie Will Vesper gewesen. Sie bemerkte nicht, dass er auswich, war
einverstanden mit dem Kommentar: „Mensch ist der verklemmt!“
Weil die Alte von solchen Themen nichts verstand, rastete wieder ein
früheres Register ein: Vater und Tochter, eine Elite an Durchblick,
und die Mutter war vorschriftsgemäß doof. Missliebige Wahrheiten
wurden laut herausposaunt; Fraglichkeiten des eigenen Lebens waren bei andern zu erkennen und zu kritisieren, solange es gelang, auf
abgedroschene Phrasen auszuweichen; man mußte sich längst nicht
danach richten.
Als Mona nach Hause kam, reproduzierte sie das Urteil ihres Alten
und fand es sogar akzeptabel, wollte dann aber wissen, was Ge
davon hielt. Er hatte den Vesper gern gelesen und versuchte ihr
klarzumachen, wo eine derart unangemessene Reaktion herrührte:
„Schon Goethes 'Wilhelm Meister' ist ein Bildungsroman, der vorführt, wie einer nichts dazulernt. Worum ging es? Ums Theater, um
Selbstinszenierungen! Eine Gesellschaft vom Turm spielte verwaltete Welt. Adorno hat auf neurotische Mechanismen der Dummheit
hingewiesen: Sie bewirken, dass alles, was Erfahrungen auslösen
könnte, geflohen wird und Neues oder Ungewohntes nicht zur Kenntnis gelangen. Dann stell dir vor, das sind Verhaltensweisen, die
paradoxerweise ein weit über durchschnittliche Belange hinausreichendes Maß an Intelligenz mobilisieren. Der Alte könnte aus dem
Vesper sonst etwas lernen!“
Warmer Wind 78: Mona
besucht ihre Alten: „Alô!“
„Grüß dich“, meint die Alte überschwenglich freundlich, verlogen wie
immer. „Alô, alô, hey, alê, aquele abraço, alô Rio de Janeiro, aquele
abraço, kennst du dieses Lied?“ Mona übergeht sie und begrüßt den
Alten. „Alô, alô — não conheço“, er kann nichts damit anfangen.
„Das ist von Gilberto Gil: 'Aquele abraço', die ich alle umarme, die
schönen Mädchen von Rio, aquele abraço“, erklärt sie. „Aha, die
173
schönen Mädchen von Rio. Die schönen Cariocas“, er grinst vielsagend, als blicke er wieder voll durch. „Wusstest du schon, dass über
50 Prozent der Cariocas unter 18 Jahre alt sind? Und was darüber
ist, kann sich auch noch gut sehen lassen.“ „Das kann ich mir allerdings gut vorstellen!“ Lüstern fragt er: „Und was macht mein Knackarsch?“ Sein Kosewort für Leandro, Mona hatte den Ausdruck nach
einem Film angeschleift. Knackarsch klang gut, machte geschlechtsdiffus und vergrößerte den Reiz des Spiels: Ein Außenstehender
konnte nicht nachvollziehen, ob es sich um ihren Partner handelte,
um eine Partnerin des Alten oder umgekehrt. „Das wollt ich dich
gerade fragen. Wer war denn gestern im Unterricht?“ Sie hatte Privatstunden Portugiesisch vermittelt, ein Typ, der in der Institution
auffiel. Sie stand ursprünglich nicht auf ihn, er war weder blond noch
blauäugig. Aber irgendwann war einer weggefallen, an den sie sich
gewöhnt hatte und die Lücke im Stundenplan musste neu besetzt
werden. Zufällig blieb zur gleichen Zeit eine Verehrerin Leandros
weg.
„Was gibt's Neues über den Brasilianer?“ „Nada!“ Mehr lässt der Alte
nicht raus. „Na wie war's?“ „Was soll schon gewesen sein?“ Er tut
auf völlig harmlos. „Keine besonderen Vorkommnisse?“ Er genießt
ihr Nachbohren: „Na, das übliche. Wir haben gefuselt.“ „So, gefuselt
habt ihr?“ Sie nimmt ihm die Behauptung nicht ab, obwohl er jedes
Mal sagt, dass er mit Leandro fusele. Er meint, dass sich ihre Beine
unter dem Tisch berühren, angeblich gehe das nur von Leandro aus,
exclusivo nur bei ihm. Alles Einbildung, denkt Mona: „Du hättest wohl
gerne, dass Leandro mit dir fuselt?“ „Na klar ham wir gefuselt. Das
glaubt sie wieder nicht. Wir fuseln immer!“ Er besteht auf seinem
Privileg. „Gib zu, dass das homoerotisch ist! Das hast du doch immer
strikt abgelehnt, schwule Typen sind was Ekelhaftes.“ Der soll seine
Klappe halten, bei Schwulen kann er nicht mitreden. „Ja, bei Leandro
ist das was anderes.“ „So, das gibst du zu?“ Sie staunt, dass er sich
die Homoerotik unterjubeln lässt. „Ja, das gebe ich in diesem Fall
zu!“ Er zappelt in seinem Sessel herum, führt vor, wie man Peinlichkeiten überspielt. Verlogen und dumm, in der Richtung ist keine
Steigerung möglich. Außerdem ist sie nicht in der bevorzugten Lage,
bei Leandro Privatunterricht zu nehmen. Sie genießt viel mehr, die
Fäden zu ziehen und im Hintergrund mitzumischen. „Doch! Jetzt fällt
mir´s ein. Gestern war was los.“ Er hat seinen üblichen, polternd
lauten Ton wieder gefunden. „O que aconteceu?“ Sie wird aufmerksam. „Und ob da was los war“, er heizt die Spannung an. „Voce lembra uma situaçao?“ Sie würzt die Sache vor. „Lembro-me uma situa-
174
çao...“ Weiter reicht sein Portugiesisch nicht. „Also, du kennst doch
das Bild mit der Frau, die ein Kleid kauft — a mulher compra o vestido — und Leandro nahm die Dona Catarina dran. Aber die hatte
keine Ahnung, was für einen Satz sie zu diesem Bild sagen sollte.
Und Leandro ließ natürlich nicht locker, du kennst ihn ja. Und dann
sagt die doch plötzlich, das fiel ihr eben noch so ein: Compra a mulher!“ Beide platzen raus vor Lachen. „Compra a mulher!“ Mona muss
diesen Satz ausgesprochen haben, der Gag ist zu gut. „Ja, ich hab's
natürlich gleich kapiert und schallend gelacht.“ „Das kann ich mir
vorstellen. Und wie hat Leandro reagiert?“ „Na, der hat auch schallend gelacht, mit mir zusammen, klar wir ham beide schallend gelacht. Aber das tollste ist, die Dona Catarina hat überhaupt nichts
kapiert. Die wusste gar nicht, was sie gesagt hatte.“ „Und wie hat
Leandro weiter reagiert?“ Sie unterbricht ihn, wenn zu viel Eigenlob
mitklingt. „Ach, der hat erst mal übers ganze Gesicht feixend nachgefragt: „Compra a mulher?“ Er kriegt sich nicht vor Lachen: „Ja, und
die Dona Catarina war frustriert. Die hat nicht mal ihren eigenen Witz
kapiert. Das weiß die jetzt noch nicht mal“. Monas Alte sitzt völlig
blöde da und versteht nichts. Die beiden erklären ihr den Gag,
„Compra a mulher heißt: Kauf die Frau!“ Als müssten sie ihr eine
Wahrheit eintrichtern. „Oh, da hat sie aber was gesagt“, ein besserer
Kommentar ist nicht drin. „Das ist natürlich nicht der klassische Imperativ“, fügt Mona belehrend hinzu, die Alte weiß sicher nicht, was
ein Imperativ ist. Und noch einmal muss sie den Satz vorsagen:
„Compra a mulher — nicht schlecht!“
Bei den Gesprächen zwischen Mona und ihrem Alten wurden die
schon bekannten portugiesischen Sätze und Ausdrücke genussvoll
wiederholt: „Zum Erlernen einer Fremdsprache gehören Ausdauer
und aktive Mitarbeit — auch außerhalb des Unterrichts.“ In deutsche
Sätze eingebaut, entstand eine Privatsprache. Einmal, als Mona von
ihrem Alten nach Hause gefahren wurde und sie an einer Ampel
warten mussten, lief ein Typ vorbei, der vielleicht ein Brasilianer war:
Woran erkennt man einen Brasilianer? Am gelben T-Shirt! Der Alte
animierte sie, bis Mona kichernd und leise fragte: „Que horas são?“
Der Typ grinste sie an, sagte aber nichts. Sie benützten diesen Ausdruck nun, wann immer sie einem möglichen Brasilianer begegneten
oder sich über einen unterhielten; ein: Que-horas-são.
Dann hatte Mona die Idee gehabt, ihr Alter sollte sie vom Geschäft
abholen. Der besondere Kitzel war: Entdeckte Leandro seinen Schüler? Was dachte er, wenn sie ganz selbstverständlich in den Wagen
stieg? Zu Beginn der Mittagspause wartete der Alte wie verabredet.
175
Mona wäre Leandro beinahe ins Auto gelaufen. Als sie kam, stieß
der Brasilianer zurück, um zu wenden und vorne rauszufahren. Er
musste mitbekommen, dass sie in ein Auto stieg. Erkannte er den
Chauffeur? Zufällig hatten sie die gleiche Richtung. Sie feuerte den
Alten an, schneller zu fahren. Das Fenster war heruntergekurbelt,
ihre langen, schwarzen Haare wehten im Wind. Leandro ruckte unruhig hin und her, schien etwas zwischen den Sitzen zu suchen,
aber er drehte sich nicht um. Vater und Tochter waren sich einig,
dass sie im Rückspiegel beobachtet wurden. Leandro hatte prompt
auf die vorgeführte Geliebte reagiert. Am nächsten Tag rief er im
Büro an und meldete sich mit: „Guten Tag, de Coimbra.“ Das klang
sehr ausländisch. Mona traute sich damals nicht, seinen Vornamen
zu sagen, meinte nur: „Ah, ja.“ Er begrüßte sie freudig: „Como vai,
wie geht's dir?“ „Gut.“ „Gut geht's dir! Sag mal, wie heißt du eigentlich?“ „Mona.“ „Mona? Ist ein schöner Name.“ „Und wie alt bist du?“
„Fast einundzwanzig.“ „Einundzwanzig. Was hast bislang gemacht?“
„Schule, aber ich war eine schlechte Schülerin.“ „Lag das an den
Lehrern oder an dir?“ „An beiden.“ „Ja, es gehören zwei dazu!“ „Zu
was gehören zwei dazu?“ Sie musste ihre Frage wiederholen, weil er
so tat, als würde er sie nicht verstehen. Er lachte: „Ja, zu allem gehören zwei dazu!“ Die Nummer einer Nebenstelle hatte sich geändert, er wollte die neue haben — nur ein Vorwand, aber sehr angenehm. Er klagte, die alte Nummer sei ständig besetzt gewesen und
sie erzählte von dem Trick, bis vor die letzte Zahl zu wählen und zu
warten: Das Amt war belegt, man kam als Nächster dran. Er dankte
für den Tipp. Sie verabschiedeten sich. Der Leandrowahn war angekurbelt und lief die ganze Woche. Sie sah ihn donnerstags, fieberte
dem Tag entgegen, die restliche Zeit nur mit dem letzten, mit irgendeinem vergangenen oder mit dem kommenden Donnerstag beschäftigt. Sie sah Leandro, sprach mit Leandro, redete über Leandro,
sie dachte an Leandro, träumte von Leandro, Leandro,... nur noch
Leandro.
Another brick in the wall:
Erst als Ziegler
gemieden wurde, schien die Tochter wieder voll ins Konzept ihrer
Eltern zu passen, Gesetzmäßigkeiten einer Institution vertraten immerhin legitime Interessen. Sie hatten Erfahrungen abgeschottet und
die Beschäftigung mit Asozialen schien bedrohlich. Nun lieferte das
Töchterchen wichtige, aber ungefährliche Anregungen. Sie wurde zu
Dummheiten ermuntert, der Alte stellte sich sogar als Chauffeur zur
Verfügung. Was nun in die Hose ging, war nicht mehr ihr, sondern
176
Ges Problem: So konnten sie gleichzeitig recht behalten und schmarotzen. Zwei-dreimal pro Jahr brachte Mona Ge zum Essen mit, er
durfte die Alte unterhalten, während Vater und Tochter verbalwichsten. Wenn Mona alleine kam, klinkten sich beide sofort in ihre Erzählungen ein. Sie lieferte ein Therapeutikum, um am Leben teilzuhaben, ohne sich die Hände schmutzig zu machen. Ein weiteres
Register stand zur Verfügung, wenn mit der Fremdsprache Intelligenz unter Beweis zu stellen war, die Alte wurde ausgeschlossen.
Portugiesisch: Sie unterhielten sich über Themen, die im Deutschen
langweilig oder nichtssagend schienen und verwendeten schlüpfrige
Andeutungen zur Selbststilisierung, die in der Muttersprache zu
Peinlichkeiten geführt hätten. Ge nannte dieses Theater einmal verbale Inzucht und erntete einen Lacherfolg.
Die Zeit verging. Längst hatte Mona aufgehört, die Welt ihrer Eltern
zu bekämpfen. In schwarzem Leder, grell geschminkt, spielte sie die
gefährliche Frau — kulturschwule Register der Verwaltung versüßten
den langweiligen Fernsehfeierabend der Alten. Ge lehnte Fernseher
ab, er hatte den ererbten Kasten verschenkt. Ein Grund für Mona,
zwei Abende pro Woche bei den Alten zu verbringen — bis er bereit
war, eine neue Glotze anzuschaffen, total verseucht kam sie immer
nach Hause. Was er las, interessierte sie nicht, aber er musste ihr
Tipps geben, wenn sie bei Typen nicht mehr durchblickte. Er wollte
nicht, sie kitzelte jedoch immer alles aus ihm heraus was sie brauchte. Einmal lästerte er: „In jedem James Bond Film könntest du die
phallische Frau spielen, die wandelnde Männerphantasie für den
Traum durchschnittlicher Kastraten: Da helfe nur noch, in die Luft
sprengen! Und wenn dann ein rauchender Schuh auf der Leinwand
übrig bleibt, könnte man überlegen, an was Nietzsche nicht dachte,
als er die Formulierung prägte: Wie man mit dem Hammer philosophiert!“
Aber er mochte noch so auf den Putz hauen; wenn sie überhaupt
zuhörte, nahm sie ihn nicht ernst. Gelegentlich begründete sie, warum ihr ein Job wichtig war: Hausfrauendasein sei eine fürchterliche
Vorstellung. Ihre Argumente stimmten, aber Ge behagte nicht, dass
sie sich in der Beschäftigungstherapie einigelte. Und wenn er mitbekam, auf wen sie stand, auf was für abhängige Muttersöhnchen und
selbstdementierende Schwätzer, fühlte er sich doppelt verarscht. Für
ihn hatte sie wenig Zeit und die Typen waren einen gemeinen Verdacht wert: Wie hatte er auf andere gewirkt!
Zu Beginn hatte Mona Stress gehabt, im Laufe der Jahre schienen
sich Tricks zu ergeben, mit den Leuten zurechtzukommen. Die Un-
177
ruhe wurde nicht weniger, sie wurde nur anders kodiert: Als Lebendigkeit und Libidospiel. Mona war mittlerweile gewohnt, sich auf
manchen zu freuen oder sich mit anderen anzulegen; sie hatte die
ganze Zeit diese Leute im Kopf. Sie prostituierte sich, weil ihr die
Arbeit sonst keinen Spaß machte und vergaß, wie wenig die Prostitution um der Prostitution willen brachte. Alles verlor sich in Wolken
aus Geschwätz; nichts geschah, aber Machtspiele heizten das
Nichts ständig an. Der Haken war, dass sie nicht unterscheiden
konnte und auch bei Ge zu Hause in diesen Wolken schwebte. Gerede entwertete jeden Lebensvorgang: Ein dauerndes Abwesenheitstraining, sie schien mit dem Kopf immer woanders zu sein. Der
Ursprung war wohl in den endlosen Duetten mit dem Alten zu finden,
die Reduzierung von Erfahrungen auf wohlklingenden, warmen
Wind. Lange Zeit war Ge mit dieser Erklärung zufrieden und wunderte sich nur, dass sie überhaupt nichts bewirkte. Dabei war ihm die
Kehrseite der Medaille gar nicht so fremd: Er suchte den Schuldigen
im Vater und übersah, dass das Gerede alte Wunden zu verdecken
hatte. Es gab wohl auch ein Urmisstrauen, das aus der Körperfeindlichkeit und Sexualangst der Mütter resultierte — den Opfern waren
dann lautstark dementierende Wiederholungen auferlegt: Reden
über Reden, aber auf keinen Fall handeln!
Der Status eines Hausmanns störte Ge nicht, das war mit der linken
Hand und nebenbei zu erledigen. Aber er wehrte sich, wenn Mona
ihm wie selbstverständlich eine Rolle unterjubelte, die ein Komplement der Beschäftigungstherapie schien: Er sollte auf das Bild ihrer
Mutter reduziert werden! Einer, der alles macht und dankbar sein
soll, dass er es machen darf. Eine seltsame Verkehrung, Ge hatte
am Ehekrieg seiner Alten gelernt und war mit vielen Forderungen der
Frauenbewegung einverstanden. Er sah, dass die übliche Rollenverteilung Verstümmlungen im Gefolge hatte, die er vermeiden wollte.
Nur auf den ersten Blick schien die Frau Opfer, durchschnittliche
Vertreter der Männerwelt zeigten, dass die Täter viel verkrüppelter
waren. Der Verdacht wurzelte in den letzten Lebensjahren des Alten,
er war nur nie richtig zu artikulieren.
Zur Politik des Geschwätzes: Ge mochte
seine Freundin, sollte sie sich die traditionellen Verdummungen doch
sparen — aber er begann vorsichtig zu werden, denn ihre Identifikation mit dem Alten schien die beschissensten Schwierigkeiten zu
konservieren. Die Verbalerotik war eine geschmeidige Kommunikationsstörung, seine analytischen Wahrheiten wurden einfach überhört
178
oder sogar noch als Zitate übernommen. Ge zog sich weiter zurück,
er verbiss sich jetzt manche böse Bemerkung und ging den entgegengesetzten Weg. Er dämmte den inneren Monolog ein, brachte die
eigene Affenhorde zum Schweigen. Während er geduldig Lacan
buchstabierte und mit der Lesegeschwindigkeit von etwa einer Seite
pro Stunde lernte, auf welchen Spiegelungen und Verkennungen das
Ich beruhte, wurde er ruhig und gleichgültig — die ganze Innerlichkeit war für Stunden verdampft.
Wenn es Mona noch gelang, Ge aus der Fassung zu bringen,
schrieb er seine Weisheiten und Verwünschungen auf. Einmal nach
einem Referat über Foucault befestigte er die folgende Notiz am
Bücherregal: „Das ist ein gesamtgesellschaftliches Phänomen! Nicht
mehr über Themen zu reden, die einen betreffen, dafür aber endlosen und unverbindlichen warmen Wind zu produzieren. 'Flatus vocis'
— vom Hauch der Stimme zum warmen Wind! Abzuspulen, was
keine Rolle spielt, niederzuhecheln oder auszulutschen, was in
harmlosen Quäntchen davon abweichen könnte. Das ist schließlich
das einzige, was Otto Normalverbraucher — der wie der Name
schon sagt, Norm verbraucht — heute von seinen Politikern lernen
kann und dieses Pensum schafft jeder Bekloppte. Die Psychologie
stellte Einsichten zur Verfügung, mit denen Massenmedien die Welt
in ein Familienphantom verwandeln. Phantasmatische Abhängigkeiten wirken auf die Charaktertypologie, sie modellieren und vereinheitlichen das Menschenbild. Heute greift nur noch die Unterscheidung: Zombie oder nachgemachter Mensch! Der nachgemachte
Mensch identifiziert sich mit der Norm und gleicht sich über Vorbilder
und Stars an; dem Zombie ist die Identifikation nicht gelungen, sie
wird ihm zwangsweise angetan und durch Arbeitstherapie aufrechterhalten. Beide sind Produkte von Mumifizierungen, Kinder der Mortifikationstechniken einer abendländischen Neurose.
Schon Kierkegaard klagte über eine Welt des Geschwätzes, über die
Vermessenheit des Menschen, Wahrheit und Gewissheit in Anspruch zu nehmen. Und Karl Kraus' Kampfansage gegen das Feuilleton folgte aus der Beobachtung der Phrasenhaftigkeit der Welt. Im
Terminus 'warmer Wind' wurde Lebensangst, Kommunikationsbehinderung und Ersatzbefriedigung verknüpft. Gegen Geschwätz und
Konvention bietet sich die Pseudoalternative der schlichten Tat an,
dummerweise steht die im Dienste des Bestehenden — siehe Mogadischu. Linker oder rechter Terror sind Fluchtbewegungen aus der
Phrasenhaftigkeit; sie setzen andere Konventionen oder provozieren
ein verkrampftes Klammern am Gewohnten. Die wirkliche Alternative
179
heißt: Volles Sprechen, Geistesgegenwart, auf Erwartung und Vorwissen fundierte Handlung.“
Mona lachte, als sie den Zettel am Regal entdeckte und meinte:
„Dann bist du also ein Zombie!“ Ge nickte nur, Wenn überhaupt etwas helfen konnte, dann die Widerlegung durch harte und unverrückbare Tatsachen. Er läutete die nächste Runde ein.
Warmer Wind 82:
Jetzt läuft die Fußball-WM, Mona
kann sich voll mit dem Alten identifizieren. Nur eine WM hatte sie
verpasst, denn weder Ziegler, noch die Heimkinder hatten sich was
aus dem Spiel gemacht. Allerdings stehen Mona und der Alte nicht
mehr auf deutschen Fußball, der ist für Leute, bei denen es nicht
stimmt. Nein, sie schauen brasilianischen Fußball: „Das ist OffensivFußball! Da wird nicht rumgefoult, als braucht es einen Ersatz für
den Krieg! Das ist Kunst! WeltklasseFußball, bei dem keiner mithalten kann! Perfekte Techniker, die
Überblick auf dem Spielfeld bewahren. Die vereinigten Solisten! Die
Ballartisten aus Südamerika! Fußball des 21. Jahrhunderts!“ Die
Begeisterung wächst, wahnhaft im Rhythmus der Sambatrommeln,
die im Laufe der Spiele das Gefühl hervorrufen, ein Zug umkreise
das Stadion. Neben diesem Siegestaumel verliert sogar Leandro an
Bedeutung. „Wer kann Brasilien noch schlagen?“ „Keiner,“ meint der
Alte. „Dann wird Brasilien Weltmeister.“ Mona weiß, dass ihre Frage
nur Rhetorik ist. Aber es gibt nichts Schöneres, als immer wieder
diese Bestätigung zu hören. „Hast du die langen Pässe gesehen,
über dreißig, vierzig Meter, und die kommen auch noch an“, bohrt sie
weiter. „Und wie schnell die sind, Mann, sind die schnell.“ „Hast du
Zico gesehen, wo bringen die diese Spieler her?“ „Die hatten immer
schon solche Spieler“, für den Alten ist das selbstverständlich.
„Weißt du noch Pelé, wie der nach jedem Tor immer auf dem Rasen
kniete und betete?“ „Klar, der robbte jedes Mal auf dem Rasen.“ „Für
die Brasilianer kommen die Tore eben von oben.“ „Na klar, vom lieben Gott. Das tollste an den Toren war immer das Herumrutschen
auf den Knien. Da hab ich jedes Mal drauf gewartet.“ „Deus é brasileiro.“ „Claro.“ „Hast du gesehen, wie sich alle Spieler bekreuzigen?“
„Ja, die küssen immer den Rasen ab.“ Er muss betonen wie lächerlich das ist. „Die Brasilianer sind ein fatalistisches Volk.“ „Allerdings
sind die fatalistisch. Das kannste laut sagen.“ „Ja, wer kann die Brasilianer noch schlagen?“ Sie muss es immer wieder hören. „Keiner,
die werden Weltmeister, das ist ganz klar.“ „Hast du gesehen, wie
die Argentinier beim letzten Spiel Zicos Hemd zerrissen?“ „Ja, und
180
der blöde Schiedsrichter steht daneben und pfeift nicht.“ „Meinst du,
dass das wirklich ein Foul war?“ „Aber sicher, der hielt dem doch das
Hemd hin. Da schau mal. So!“ Er reißt an seinem Hemd herum, um
es zu demonstrieren. „Hast du Éder gesehen, der soll den gewaltigsten Schuss haben?“ „Wer ist Éder?“ Offensichtlich kann er nichts
damit anfangen. Mit einem Mal beginnt sich die Alte zu rühren. „Éder
ist der mit den blonden Haaren.“ „Ja genau, der Linksaußen,“ fügt
Mona hinzu, „der gefällt mir gut.“ Die Alte gibt zu: „Na ja, so ein
Blondie, aber nicht so besonders. Mit dem ist doch nichts los.“ „Ich
finde ihn schön“, verteidigt Mona einen ihrer Lieblingsspieler. Der
Alten gefällt ein anderer: „Aber der große Schlanke, Sokrates, der
mit dem Bärtchen. Er ist zwar keine Schönheit, aber sieht doch ganz
nett aus. Und der ist fei Arzt!“ „Sokratschis!“ brüllen Mona und der
Alte gemeinsam. Nicht einmal die einfachsten portugiesischen Namen kann die aussprechen. Außerdem ist klar, dass ihr Sócrates nur
gefällt, weil er einen Doktortitel hat. Die frühere Verkäuferin weiß das
zu schätzen. Beide sprechen der Alten den Namen vor. Sie soll ihn
gar nicht lernen, nur auf ihre Beklopptheit hingewiesen werden.
„Sócrates Vieira de Oliveira“! protzt Mona weiter. „De São Paulo.“ Er
stimmt mit ein. „No Corinthians.“ Sie spielen sich die Bälle gegenseitig zu: „E da Seleção Brasileira.“ „Na Copa Mundial de Futebol.“ „Na
Espanha.“ Beide lachen. Sie steigern den Schwachsinn und werden
noch lauter: „Em mil nove cento e oitenta e dois. E quem vai vencer?“ Sie muss es einfach hören, auch auf portugiesisch. „BRASIL!“
Er tut ihr den Gefallen. „Eigentlich eine Schande, dass keiner der
Reporter portugiesisch kann. Wenigstens die paar Namen könnten
die sich aneignen.“ Er gibt ihr sofort recht: „Das stimmt, das könnte
man schon von denen verlangen. Vor allem bei der Bombenbezahlung.“ „Wenn ich bloß höre, wie die Zico aussprechen, da krieg ich
Zustände.“ Sie versucht, den Namen so schlecht wie möglich vorzusagen: „Tsiko“, dann lässt sie ihn auf der Zunge zergehen: „Sieku.“
„Hast du den Reporter beim letzten Spiel gehört. Der hat doch glatt
behauptet, er hätte sich davor mit Falcão unterhalten und der hätte
ihm erklärt, dass man seinen Namen Falsao und nicht Falkao aussprechen würde. Und deshalb spricht er ihn jetzt richtig aus, er
meint, das sollte man schon tun — dieser Kretin!“ Die Alte sieht wie
immer verständnislos drein. Sie reiben ihr die richtige Aussprache
genussvoll unter die Nase: „Faukaugn.“ Sie schweigen, bis er
schließlich einen Anknüpfungspunkt findet. „Mir gefällt der Trainer,
wie heißt er doch noch?“ „Telê Santana. Ja, Ge sagt, der sieht aus,
als hätte er ein Magengeschwür.“ Er lacht über die Bemerkung. Sie
181
unterstreicht: „Der raucht eine nach der anderen während dem
Spiel.“ „Ja, das gefällt mir, im Lauf des Spiels liegt dann so ein ganzer Haufen Kippen vor ihm.“ Er macht eine kreisförmige Handbewegung.
„Rat mal, weswegen ich eigentlich gekommen bin? Ich hab ein Gedicht gemacht, auf Zico.“ „Was hast du gemacht?“ Er blockt ab. „Ein
Gedicht auf Zico!“ „Em português?“ „Naturalmente.“ „Den weißen
Pelé?“ Widerwärtig, wenn er genau die Phrasen der Massenmedien
reproduziert. Ihre Standardantwort: „Das hört er aber gar nicht gern!“
Und sie fügt fachmännisch hinzu: „Zico hat gesagt: Ich bin kein Junge aus den Favelas. Und Fußball habe ich immer mit dem Lederball
und nie an der Copacabana gespielt.“ „Oha, zeig mal her.“ Er
schnappt sich den Wisch und schüttelt den Kopf: „Deine Tochter
spinnt!“ Die Alte schaut fragend. „Da, sieh dir das an. Deine Tochter
spinnt!“ Er weiß genau, dass seine Frau nichts dazu sagen kann.
„Steht da was Schlimmes drin?“ fragt sie vorsichtig nach. „Frag doch
deine Tochter!“ „Ich werde das nach der WM an Flamengo Rio de
Janeiro schicken!“ beharrt Mona. „Die will das auch noch abschicken. Die spinnt, ich sag ja, die spinnt.“ „Du wärst ja gar nicht fähig,
so ein Gedicht zu schreiben!“ verteidigt sich Mona. „Nee, ich würde
allerdings nie so was schreiben. Aber wenn du dich zum Gespött
machen willst!“ Die Alte wird unruhig: „Ja, steht denn da was
Schlimmes drin?“ „Ach Quatsch!“ wehrt er ab. Er liest das Gedicht
einmal langsam und laut vor, grinsend: „Zico / Uma festa em campo /
Um jogo, uma danca, o ritmo da bola / Futebol com tanta fantasia /
Perfeitas técnicas e satisfação emocional / Uma recíproca entre os
torcedores e o time / Cariocas com seus amistosos / Os solistas
juntos / O mágico número dez / Um artista encanta / Com a sua
beleza e expressividade / Com a sua magia de idéia e temperamento / Dominado por racionalidade e sentimento / E o seu corpo bamboleia / Como a linha melódica do samba / Não para a vitória nao
para a derrota / Só para a beleza do jogo / Para a fasçinacao dos
torcedores / Não vá à Italia! / O futebol brasileiro está vivendo! /
Saudades de um país / Onde o futebol já estava morto / Por causa
do dinheiro / Estou triste... Mona.“
Er legt das Blatt kopfschüttelnd beiseite: „Und was macht mein
Leandro?“ „Welchen meinst du denn?“ Sie geht auf das Spiel ein.
„Na, den Abwehrspieler natürlich.“ „Der soll Weltklasse sein.“ Sie
versucht triumphierend zu klingen, ein heikles Thema und lenkt dann
ab: „Also, wer kann diese Brasilianer noch schlagen? Wie sieht das
mit Italien aus?“ „Keiner, die kann keiner schlagen. Und die Italiener
182
schon gar nicht, schau dir mal an, wie die bisher gespielt haben.“ „Zu
null, hab ich gehört.“ „Ja, das sind lauter Nullen“, er findet sich witzig.
„Stell dir vor, ein Italiener hat Ge nach dem Argentinien-Spiel auf der
Straße angequatscht: Due a zero, amico und ihm dabei auf die
Schulter geklopft.“ Alle lachen, sogar die Alte fängt sich wieder: „Und
der arme Ge wusste gar nicht, was da mit ihm geschieht,“ meint sie
gekünstelt mitleidig. „Das kann ich mir lebhaft vorstellen, Ge guckte
ganz dumm und sagte sich, was will denn der da von mir“, platzt der
Alte raus. „Nee, das hat der schon kapiert. Der wusste doch von mir,
dass das Spiel läuft. Der ist doch informiert!“ Sie mag nicht, wenn er
glaubt, über Ge verfügen zu können. Ihm gefällt Ge als Blödel so
gut, dass er sich nicht beruhigen kann und weiter lacht. „Bom. Vou
para a casa.“ Sie beendet das Gespräch und packt zusammen, um
das Spiel zu sehen. „Para ver o jogo.“ „Dann wird Brasilien das vierte
Mal Weltmeister!“ „Pode ser“, ärgert er ein letztes Mal. Sie spielt den
typischen Brasilianer, der sich nicht festlegt: „Pode ser, vamos ver,
talvez, quem sabe!“ „Kann sein, wir werden sehen, vielleicht, wer
weiß! Ate a proxima vez, tchau“, er grinst sich einen ab „Tschüß“,
ruft die Alte. „Até logo. Tchau.“ Sie geht.
Die renovierte Norm:
Ge hatte gelernt, genau
hinzusehen und nicht bei dem halt zu machen, was der erste Blick
an der modischen Oberfläche wahrnahm; er entdeckte an den einst
ausgegrenzten Rändern, was gerade zur Norm von morgen gerann.
Mit dem erarbeiteten Abstand und einem tragfähigen Fundament der
Kritik sah der Befund lustig aus. Die Randphänomene waren gleich
doppelt ausgebeutet worden — erst gingen sie als schlechte Beispiele der Konstituierung von Normen voran, dann dienten sie auch
noch als Lebendigkeitsreservoir der stillgestellten Welt —, aber nun
schienen sie sich ironisch zu rächen.
Ges Rückzug ins Bücherregal war eine Erfolgsstrategie. Nur wenn
es Mona wieder einmal gelang, ihren Wirbel auf ihn umzuleiten,
merkte er, dass etwas nicht stimmte. Sie schien ihn zu brauchen, um
ihr ganzes Theater auszuhalten, aber gelegentlich machte sie ihn so
verrückt, dass er aus dem Regal fiel. Danach war sie besonders
umgänglich und gab sich Mühe, ihn wieder aufzubauen. Ein Hin und
Her, hochsteigernd bis zum Knall, und dann ging es weiter, als sei
nichts gewesen.
Als Ge ans Fenster tritt, hat er außer dem wärmenden Schnaps einen dumpfen Druck im Magen. Vier Stockwerke tiefer werden Menschenmassen bewegt — massenhafte Einsamkeit. Ein Brennen und
183
Bohren unter der Schädeldecke, ein Hängergefühl. Das Echo einer
Verzweiflung ist nur mit Mühe am Schreibtisch auszuhalten. Damals
hatte er keinen klaren Gedanken mehr zusammengebracht, jede
Anstrengung schien absurd: Entweder er fand keine Resonanz und
schaffte umsonst, oder aber ein Erfolg wirkte als Provokation und
löste Störversuche aus. Nur dumpfe Fragen hingen im Raum:
Kommt sie wieder? Was macht sie jetzt? Warum spielt sie das mit
mir? Warum geht sie überhaupt? Wann kommt sie endlich? Die Geschichte ist ein halbes Jahr alt, aber manchmal, wenn er am Fenster
steht, schleicht ein Schatten ins Zimmer. Das Gefühl war einmal mit
der Frage verbunden: Was soll ich noch hier? Ein funkender Solarplexus und Ziehen in der Schläfengegend; der Blick wird immer wieder stumpf, was gibt es schon zu sehen! Abgestorbene Kulissen,
steife, unbelebte Masken!
Die Aufforderung: Lass dich gehen! schien doch harmlos. Sich treiben zu lassen, den Eigengesetzlichkeiten eines Materials, eines
Gegenstands zu gehorchen, ist die Voraussetzung von Kreativität
und ästhetischer Haltung. Aber plötzlich war der Wunsch loszulassen in ganz alltäglichen Belangen lebensgefährlich. Ge hatte Infragestellungen pariert, hatte sinnvollere und effizientere Aufgaben
dagegen ausgespielt, bis in Augenblicken extremer Belastung ein
Fenster in der richtigen Höhe die Erlösung versprach. „day after day
/ alone on a hill / the man with the foolish grin is keeping perfectly still
...“
Früher hieß es: Wenn das alles nichts taugt, mach es besser! Dann
streng dich eben an, mach es anders! Wenn du nicht für dich, wer
dann? Und die Quittung des Erfolgs lautete: Mit der nötigen Anstrengung ist fast alles zu erreichen — wenn du auf deinen Weg verzichten lernst, vergessen was dir wichtig war, verlieren was den Antrieb
gab... Mittlerweile steckte er in einem Kampfpanzer und war bewaffnet bis an die Zähne — er benützte schon Schutzschilde und Verteidigungsrituale der verwalteten Welt.
Er hatte seine Zeit im Bücherregal verbracht und sich Dinge gespart,
die er für schwachsinnig hielt. Mona dagegen wollte was erleben, vor
allen Dingen wollte sie von ihren Abenteuern erzählen. Ob ihm oder
den Alten, am liebsten beiden, dann waren die jeweiligen Reaktionen
als zusätzlicher Kitzel einzubauen. Ständige Wiederholungen übertönten die realen Gegebenheiten. Wurde er dann ordnungsgemäß
eifersüchtig, war alles prächtig geregelt, Dünnschiss oder Sodbrennen ersparten ihm nichts. Das waren eben Ersatzmänner — sein
Ausdruck, den sie lachend übernahm. Sie leistete sich einen substi-
184
tute pro Jahr, irgendwann war jedes Mal wieder Ruhe. Keiner kam
auf den naheliegenden Gedanken: Vielleicht nicht nur die Alten, vielleicht hatte auch er ein heimliches Interesse an ihren Männergeschichten: Sie übernahm die Dummheiten, die er sich sparte!
Dann setzte er zum Magister an. Alles lief prächtig, ohne dass einer
dazwischengehustet hätte. Ein paar Tage vor der vorletzten Teilprüfung war ihr auf einmal ein Ersatzmann irre wichtig. Aus futsch vorbei! Sie wollte ausziehen. Nach über acht Jahren. Wegen eines Arschlochs, das abends um halb elf anrief: Er wolle nur ihre Stimme
hören. Angeblich lag es nicht an dem Typ — eine Verlegenheitslösung, weil ein anderer sich nicht gemeldet hatte — sie wollte vorübergehend bei ihm wohnen, bis sie selbständig genug wäre. Eine
perverse Lösung, nicht auszuhalten, aber statt aus dem Fenster zu
springen, ging Ge ins Bett. Er hatte seit Tagen nicht mehr richtig
geschlafen, ständig die Zwangsvorstellung: Spring und aus! Die Potenz war auch im Arsch, ein Null an Schwanzgefühl. Was sollte er
machen? Er ging ins Bett und schlief erschöpft ein. „Flight log: Stenographische Krakel auf einer Schreibmanschette, vor Haß und Verzweiflung triefende Anagramme! Gehirnschrift: Blutige Spritzer an
Autos und Fassaden, weißgraue Schlieren auf dem Asphalt!“ Als er
spät am Mittag wach wurde, lag sie neben ihm.
Eine akzeptable Erklärung hatte gelautet: Sie vertrug nicht, dass er
den Magister machte. Die Frage, ob er weitermachen, auf Angebote
zusagen sollte, war schnell geklärt. Natürlich war sie dafür, beide
waren zu sehr ans Wettrüsten gewöhnt. Ausgebrannt für einige Zeit,
brütete er im Bücherregal über Erwartungen: Er wollte dem Verbalwichs und den Pseudoalternativen dieser Beamtentochter mit einer
Promotion den Hahn abdrehen. Es gab sich wieder, die Beziehung
renkte sich ein, ein bisschen windschiefer als zuvor, aber immerhin.
Die nächsten Ersatzmänner waren auch zur Stelle, und wenn sie
sich nicht vergnügte, tippte sie sogar sein Manuskript ab. Das sah
wie ein kleiner Fortschritt aus; ein größerer stellte sich ein, als sie
endlich kapierte, dass die Störversuche im Auftrag geschahen: Nicht
sie, ihr Alter hatte den Magister nicht vertragen! Als die nächste
Runde ihrem Ende zuging, machte der den Fehler zu zeigen, wie
sehr er sich und seine ganze Welt dadurch in Frage gestellt fühlte —
ein typischer Verwaltungskrüppel. Was für ein wunderbares Feindbild: Frau oder Tochter sind Arsch der Welt solcher Männer! Mona
begann sich mit furchterregender Eile abzuseilen.
Wenn es jetzt weitergehen sollte, musste Ge den sicheren Platz im
Bücherregal endlich verlassen. Er glaubte, nichts mit ihrem Theater
185
zu tun zu haben und war doch in mancher Hinsicht mitverantwortlich.
Er wollte seine Ruhe und las, die Zeit schien zu schade, um sie auf
Mona abzustimmen, das war ja sowieso alles nicht ernst zu nehmen.
Er übersah, dass er sich nicht anders verhielt, als ihr Alter gegenüber seiner Frau. Wenn der nach Hause kam, knallte er sich voll, bis
er träge war und nichts mehr mitbekam, nebenher lief der Fernseher.
Am Wochenende wollte der seine Ruhe, wälzte Aktenordner und
durfte nicht gestört werden. Man hatte eine Frau, die den Haushalt
erledigte und das Gefühl vermittelte, dass man eine Frau hatte. Bei
Ge sah es ein bisschen anders aus: Er machte den Haushalt und
pumpte sich voll Wissen. Mit beinahe dem gleichen Resultat: Er war
schon lange nicht mehr verknallt, hatte vom Theater die Nase voll
und Mona machte nicht den Eindruck, als würde sie jemals für seine
Themen Interesse zeigen. An ihren freien Tagen gingen sie morgens
zwei Stunden mit den Hunden spazieren; sie hatten nicht viel gemeinsam. Er musste in schöner Regelmäßigkeit vögeln, sonst konnte er sich nicht konzentrieren. Ein beamteter Trottel mochte noch
glauben, Ge verfolge konsequent ein alternatives Ziel; er hatte längst
keines mehr. Nach einem Lesepensum von sechs bis acht Stunden
täglich war er leer und so gut wie tot. Nicht das übelste Gefühl. Wichtiges wurde unterstrichen oder abgeschrieben, der Rest vergessen;
ob die Sache einen oder vielmehr keinen Sinn hatte, war gleichgültig
geworden. Bevor er abends ins Bett ging, trank er einen halben Liter
Wein, um sich für die Anstrengung zu belohnen.
Der Alte konnte seine Tochter nicht abgeben — schon bekannt. Aber
wer nahm das Gespinne ernst, manche Ehe hielt nicht so lange, wie
er und Mona zusammenwohnten. Nachdem sich Ge hatte sterilisieren lassen — sie wollten beide kein Kind — wurde ihm vor den Latz
geknallt: „Wenn meine Tochter ein Kind will, muss sie es ja nicht von
Ihnen bekommen!“ Dieser Gegner wollte ernst genommen werden;
protzig löste er seine Probleme, indem er sie andern aufbürdete: Ob
er sich an einem Enkel therapieren oder nur genießen wollte, dass
Ge auf der Strecke blieb. Ge sollte scheitern, nur dann war die Welt
des Alten wieder in Ordnung. Die einfache Folgerung hieß: Dem
musste auf der Verwaltungsebene vorgeführt werden, dass er nicht
mithalten konnte. Gutachten, Abschlüsse, bis ihm die Ohren schlackerten! Auf diesem Umweg trat das kulturschwule Register wieder
voll in Kraft: Wie nebenbei sammelte Ge Anerkennungen ein; seine
Kritik zündete bei Professoren, die sich gegenseitig bestätigten,
Schriftsteller oder Intellektuelle unter Beamten zu sein. Die gesellschaftskritischen Analysen schlugen zwei Fliegen mit einer Klappe.
186
Er kam auf der Uni voran und legte Zitate von Fachleuten als Tretminen aus, schaute zu, wie der warme Wind seine Urteile wie gefährliche Sporen weitertrug. Während der agonalen Strategien war
zu übersehen, wie er den Leuten, die er bekämpfte, immer ähnlicher
wurde.
Wer an nichts glaubt, muss eine Portion Einsamkeitsschulung aushalten, intellektuelle Abstände aufgearbeitet haben und in der Lage
sein, einen relativen Sinn selbst zu erarbeiten. Sonst wird er nur zu
bereitwillig neuen Versprechungen und alten Betäubungen nachlaufen. Aus Theweleits 'Männerphantasien' hätte Ge lernen können: Der
Prothesenmann taugte zum Feindbild, wenn er eigene Defekte an
ihm entdeckte. Das hatte schon einmal geholfen: Juden oder Kommunisten waren nötig, um nichts aus der Geschichte zu lernen. Heute haben Krieg oder Kampf wenig zur allgemeinen Entlastung beizutragen, sanfte aber ständige Abwesenheitsdressuren haben diese
Aufgabe übernommen — die zugrundeliegenden Identifikationsangebote sind meist monströs.
Ge steht am Fenster und wartet auf den nächsten Waffengang.
1983 Institutionsflirt:
Nichts, kein Tchau! Vor
seinem Urlaub war der Brasilianer sehr zurückhaltend. Mona ahnte
schon, er würde sie diesmal nicht nach Hause bringen — in den
vergangenen Monaten hatte er keine Gelegenheit ausgelassen, den
Chauffeur zu spielen. Er verabschiedete sich nicht einmal, Mona war
ärgerlich, warum vernachlässigte er sie? Ohne ihn zogen sich die
Wochen ewig hin. Der Alte lernte seit langem kein Portugiesisch
mehr, war nicht auf dem laufenden und ödete sie an. Ein Jahrhundertsommer — 38 Grad rund um die Uhr, stumpfsinnig tippte sie Ges
Manuskript runter. Sie fühlte sich nicht schlecht: 'Moro num país
tropical', kreiste durch ihren Kopf. Ein Trancezustand, wie betäubt.
Das Telefon klingelte: „Ja.“ „Alô, Mona bist du's?“ „Ja, wer spricht
denn da bitte?“ „Leandro!“ „Oi, Leandro, alô!“ Diesen Anruf hatte sie
seit einem halben Jahr erwartet. „Meu amor, como vai?“ „Tudo bem.
E você também?“ „ótimo. Arbeitest schon, wie geht's dir?“ „Gut, nein,
erst nächsten Monat. Einen schönen Sommer haben wir.“ „Ja, wo
warst denn?“ „Hier, ich kann mir keinen Urlaub leisten.“ „Bist schön
braun geworden.“ „Nein, das nicht, in der Innenstadt gibt es noch
keine Balkons.“ Braun will er mich haben. „Es gibt noch andere Möglichkeiten, braun zu werden.“ „Ja, aber Freibäder lehne ich ab, wegen der vielen Leute.“ „Was hast gemacht die Zeit über?“ „Nichts
besonderes, Hundespaziergänge, gelesen.“ „Und was machst jetzt?“
187
Werbematerial, Nachtgedanken,
Träume
(Inkriminierte Reste und Schnipsel: 08.12.90)
Zaubersprüche und Verzichterklärungen: Mai 68 und die Folgen,
mittlerweile wurden schon Jubiläen gefeiert... Von gemeinsamen
Lernprozessen nehmen die zum Altpapier gebündelten Geschichten
ihren Ausgang: Intellektuelles Recycling biographischer Verwicklungen!
Verführung 1970, ein fünfzehnjähriger wird von einem SDRSchwulen zum anderen Ufer mitgenommen. Er darf, mit dem Wind
der Studentenbewegung in den Segeln, einer tödlichen Spießerdressur entkommen, Drogen, Pornos, auch sogenannte Bildungsgüter
sind die Prämien. Das Gegenstück heißt Traummann: Eine Beamtentochter entwickelt Misserfolgsstrategien, um ihre Schönheit auszuhalten. Sie flieht in eine Wolke warmen Wind, pseudoprogressives
Geschwätz renoviert Verzichtleistungen. Die beiden werden älter,
finden und bekämpfen sich in der verwalteten Welt: Was von Männerwissen und Männermacht übrig blieb, nachdem dieses Spiel
längst zur Modernisierung von Anpassung heruntergekommen ist,
erfährt er an einer Universität. Wie kritische Einsichten verraten werden, zeigen die Wichtigkeits- und Selbstbestrafungsspiele der jungen
Frau. In einer Institution zieht sie kulturschwule Register, um als
Delegierte Subalternität und Stillstellung zu garnieren. Das Scheitern
der Beziehung soll den Verzicht entgültig bestätigen. Wir führen vor,
wie zwei biographische Verwicklungen zum Agon werden und nach
vielen Jahren Wettrüsten ein Punkt erreicht ist, an dem nur noch hilft,
die Negativität an ihren Absender zurückzuschicken: Annahme verweigert. Zurück an die Mütter der Perversion!
Harmlos die Aufforderung, sich gehen zu lassen, loslassen zu können, sich treiben zu lassen, den Eigengesetzlichkeiten eines Materials, eines Gegenstands zu gehorchen. Voraussetzung von Kreativität, Forderung jeder ästhetischen Haltung — in alltäglichen Belangen
manchmal selbstmörderisch. Wenn einer Infragestellungen pariert
und sinnvollere oder effizientere Aufgaben gegen sie ausspielt, kann
in Augenblicken extremer Belastung ein Fenster in der richtigen Höhe Erlösung versprechen... "day after day / alone on a hill / the man
with the foolish grin is keeping perfectly still ..."
235
Im Februar 1983 sprang einer unserer Helden beinahe aus dem
vierten Stock, zwei Familienromane ergänzten sich zu gut. Ende
einer Beziehung, die vielleicht nie eine war. Es manchen Augenblicken schien Lebendigkeit lebensgefährlich, nur Philosophie half:
Unverwundbar klug, aber tot! Die Wahrheit dieser Geschichte: Wir
zeigen, wie es nicht dazu kam! Er sollte Stillgestellte bedauern und
ihnen aus dem Weg gehen. Aber weil diese Krüppel in der Mehrheit
waren und jede Geistesgegenwart behinderten, begann er sie zu
hassen, zu bekämpfen — und ihnen ähnlich zu werden: Umweltverschmutzer der Lebensangst, Krankheitsherde der Dummheit, ihren
Verzicht wollen sie als Gesetz vorschreiben, ihre beschnittenen Lüste mit dem gefährlichen Grinsen versuch-es-doch-auch-mal weiterreichen. Jede Selbstverwirklichung soll am Wiederholungszwang
scheitern. Ihr Erfolgsrezept: Idealisierung der Kastration.
Im Sommer unternimmt die junge Frau nach vielen vorsichtigeren
Anläufen einen ungeheuren Beweisversuch, Entlastungswahn und
Lebensangst ihrer Eltern zu bestätigen: Sie provoziert eine Vergewaltigung. Wir zeigen, wie es nicht dazu kam!
Opfer waren immer gemeinschaftsbildend, Sündenböcke schienen
nötig, um Gesetzmäßigkeiten der Stillstellung in derart fundamentierten Gesellschaften auszuhalten. Was geschieht, wenn in der verwalteten Welt ein verführter Sündenbock und ein prädestiniertes Opfer
aufeinandertreffen? ... Flight log: Stenographische Kürzel auf einer
Schreibmanschette, Formulierungen zum Fall; vor Hass und Verzweiflung triefende Gehirnschrift: Blutige Spritzer an Autos und Fassaden, weißgraue Schlieren auf dem Asphalt. Sicherungskopie: Tödliche Gewissheit!
Die Wiederholung der Komödie aus dem Geist der Musik: Simulationsprogramm für 491 Geigen! Sie hatte sich einen Fakir gesucht und
ihn nach langen Jahren liebevoller Pflege so weit gebracht, dass er
bei der leisesten Berührung mit der Fingerspitze vor Schmerz aufschrie. Keine harmlose Geschichte, schließlich waren sie niemandem begegnet, der nicht von Herzen gewünscht hätte, dass sie auf
der Strecke blieben. Die Leute waren neugierig, stellten sich dumm,
um sie besser ärgern und behindern zu können. Offensichtlich störte,
dass sie nicht an das Paar rankamen. War er wirklich Student und
deshalb die meiste Zeit zu Hause? Was hatte es auf sich, dass seine
Freundin gelegentlich an ein Eros-Center erinnerte? Warum die zwei
großen Hunde? Andeutungen und Blicke gaben zu verstehen, ein
Zuhälter sei fein raus. Er versuchte Institutionen zu entkommen und
war doch auf sie angewiesen. Lebendigkeiten und Kritik wurden
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verwaltet, viele Tricks und Schleichwege, um vorgeschriebene Hindernisse zu umgehen, unterlagen Reglementierungen. Dank technischer Möglichkeiten kamen neue dazu, die er zu nutzen verstand.
Dennoch wurde seine Kritik bösartig, wenn gewöhnliche Hemmer
oder Bremsklötze der verwalteten Welt beiseite geräumt werden
mussten, sie erfuhr ihre Angewiesenheit. Ein Schub Melancholie:
Wer intellektuell in die Lage versetzt wird, solche Verhältnisse zu
durchschauen, muss sich wie ein Depp vorkommen. Autonomietraining in der Behördenuniversität! Was heißen Kritik- oder Denkvermögen in dieser uralten Nische des Geistes und der Frechheit, wenn
ein Gutachten vonnöten ist! Welche Bedeutung haben Tratschen
und Kaffeetrinken auf die Ausbildung des Intellekts! Wie ist die Beobachtung zu verdauen, dass unterdurchblutete Kriecher für Forschungszwecke mobilisiert werden? Was fängt man mit der Tatsache an, dass Subalternität als Zugangsvoraussetzung gilt. Anlässe
akademischer Antriebshemmungen.
Wir zeigen, wie es nicht dazu kam! Zu diesem Zweck graben wir die
Geschichte einer Verführung aus und wenden Gesetzmäßigkeiten
des anderen Ufers auf klebrige Institutionslibido an. Ein verdecktes,
aber solides homoerotisches Fundament in der Übertragung zu Doktorvätern führt auf größte kulturschwule Veranstaltungen der
Menschheit zurück. Konsequenzen für das Paar: Beziehungsarbeit!
Egal wo, unter welchen Bedingungen — und wenn sie im Computer
stattfindet. Alan Turing erarbeitete das Konzept informationserzeugender Maschinen. Wir stellen unsere kulturschwulen Register in der
Maschine ab. Die Ironie der Geschichte: Turing wurde 1952 als Homosexueller verurteilt und unterwarf sich einer chemischen Kastration; zwei Jahre später starb er an einer Cyanidvergiftung.
Selbsterlebensbeschreibung als zweischneidige Kritik des auf Prothesen abgefahrenen Mannes. Er ist Produkt einer gesellschaftlichen
Entwicklung, an der die Frauen maßgeblich beteiligt sind, wenn sie
frühkindliche Störungen präparieren. Traummann jeder Frau, in deren Rollenverhalten Unentschiedenheit und Double-bind als Erfolgskriterien eingegangen sind. Geheimagenten im Auftrag ihrer Majestät
der Eltern, versuchen sich gegenseitig aus der Welt zu schaffen. Wir
visieren alltägliche Behinderungen an, jede Beziehung ist ihnen immer wieder ausgesetzt. Die Bereitschaft, sich behindern zu lassen,
ist auf Familienromane zurückzuverfolgen: Theater der Grausamkeit
versus Jahrmarkt der Eitelkeiten oder Volksfeste der Selbstverstümmelung. Im Dschungel der Biographien trockener Mist; aber
richtig verarbeitet allerbester Humus. Der Bann kann gelöst werden,
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rückwärts buchstabiert, Urszenen werden als Kriegsschauplätze
vorgeführt. Gerede und Rationalisierungen unserer Eltern, uralte
Ängste und Größenphantasien, kennzeichnen heilige Räume, in
denen wir am Martern und Schlachten in der Hauptrolle teilhaben
durften. Am Aufwand an Unwahrscheinlichkeiten, den gelingende
Beziehungen erfordern, wird deutlich, wie gesellschaftlich modellierte
Bedürfnisse dechiffriert und gesprengt werden können. Gesetzmäßigkeiten einer latent-homosexuellen Männergesellschaft sind als
Störfaktor aufzudecken, Kategorien der Entlastung und Verschiebung, kulturschwule und bewegungslesbische Register prägen die
verwaltete Welt.
Der Antikriminalroman: Wir haben divergierende Erinnerungen verarbeitet, ohne uns immer an getreue Wiedergaben zu halten. Das
Material wurde verdichtet, vieles zu Zwecken der Veranschaulichung
in erfundene Geschichten oder Stilisierungen transponiert. Nachdem
zu unseren Aufgaben dazugekommen ist, die Einverleibungslüste
des Lesers zu befriedigen, den Hunger nach Leben und Reiz zu
sättigen, haben wir uns erlaubt, die Brocken so zuzuschneiden und
geschwind einzulöffeln, dass sie Konsumenten im Halse stecken
bleiben. Wohl bekomm's!
Zeitgeist auf der Intensivstation — Zur Produktionsweise: Wir
gehen täglich drei Stunden mit den Hunden spazieren, da fällt einem
manches ein. Die Wirklichkeit scheint uns vielfältiger als die Fiktion,
alle Erfindung hatte wohl nur die Aufgabe, diese Vielfalt zu reduzieren, von Komplexität zu entlasten. Also halten wir uns an den biographischen Fundus und an die Wirklichkeit, beobachten und notieren, was uns auffällt. Dann gehen wir in der Biographie auf Spurensuche, bis wir jenes fiktive Fundament unserer eigenen Vergangenheit freigelegt haben: Urszenen dechiffriert als Kriegsschauplätze.
Wir machen jeweils eigene handschriftliche Entwürfe und können die
spätere gemeinsame Arbeit am Bildschirm unter ein Motto stellen,
das ein durchdrehender Kommissar Dreyfus in Der rosarote Panther
ausgeplaudert hat: Töten! Nur ein bisschen töten! Notizen, Originalzitate, Traumprotokolle, Fehlleistungen und zufällige Analysen liefern
Material für die Überarbeitungen: Jeder liest zwecks Verfremdung
den Text des andern vor und dann wird Wort für Wort verworfen oder
aufgefüllt. Dieses Teufelszeug aus Kreativität und Beziehungsarbeit
hält sich an den utopischen Vorschein der Parole: Macht kaputt, was
Euch kaputt macht! Wir haben die schamanistischen Tricks der Shifter und Weltenspringer jeder auf seine Weise in der Biographie exer-
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ziert. Die Formeln "Zerschlagung des Selbst" und "Wiedergeburt"
sind keine Metaphern, sondern ein in vielen Variationen getestetes
Erfolgsrezept — wir gehen davon aus, dass so etwas ein drängendes Bedürfnis unserer Zeit anspricht. Schreiben heißt mortifizieren.
Wir spiegeln unsere Geschichte nicht noch einmal in narzisstischen
Spiegelkabinetten, sondern wir schlachten und zerlegen, was uns
verletzte, behinderte oder deformierte. Scharf gewürzt, mit Liebe
gegrillt, fein mit Verzweiflung abgeschmeckt und mit viel Geduld
serviert, überlassen wir unsere Leichen geneigten Kannibalen.
Das Erhabene: Ein Traum Ende Oktober 83, die Nacht nachdem
das Literaturverzeichnis und damit die Arbeit über Benjamin abgeschlossen worden war. Ich wache morgens auf, weiß noch ein paar
Bruchstücke und habe einen Heliumballon im Bauch, sanfter Auftrieb. Vergesse irgendwelche Notizen zu machen und stelle nach
dem Frühstück mit Bedauern fest, dass der Traum jetzt weg ist. Erst
am Abend drauf, bei einem Hundespaziergang, fallen mir ein paar
Bilder und Sprachgirlanden wieder ein. Es ist dunkel, wir überqueren
die Silberburgstraße, um auf der unteren Seite die Grünanlage zu
betreten, ein Wagen quietscht in der Kurve hinter uns, kurze Zeit
zuckt ein Lichtkegel in den dunklen Büschen hin und her, einen Augenblick blenden mich die Scheinwerfer. Im dunklen Park gehen die
Nachbilder plötzlich in das Traumbild über. Ich weiß es wieder und
muss lachen, jetzt kenne ich auch die Deutung.
Wir gehen, die Begleitperson nicht genauer gekennzeichnet, nach
einem Regentag mit den Hunden durch die Altstadt. Viele Baustellen, Löcher im Boden, Kabelstrünke liegen offen, und alles ist voller
Hundescheiße. Ich soll mir irgendwas ansehen, ein Stück Menschheitsgeschichte, wichtig wie die Felsmalereien von... (ich kenne den
Namen nur im Traum, verbinde nichts bestimmtes damit). Irgendwann in der Nähe der Paulinenbrücke will ich die Scheiße von meinen Schuhen entfernen, setzte mich auf ein Mäuerchen gegenüber
der farbig angestrahlten Rückwand eines Hauses. Schabe grobe
Bollen unterm Absatz an der Straßenkandel ab und stochere mit den
Fingern in den Rillen der Schule (Schuhe!). Die Begleitperson sagt:
'Das wollte ich dir zeigen, das hab ich gemeint!' Es ist nun wirklich
eine berühmte Felsenmalerei. Spricht weiter, erinnert an einen
Schleimer und Kriecher, den ich schon böse abblockte: 'Das ist doch
großartig, wenn man überlegt, daß das nur aus gebrannten Schafsköteln und Blut hergestellt wurde, ist kaum zu glauben, bei dem erhabenen Ausdruck.' Ich schaue hoch, die Häuserwände sind mit
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